Politische Philosophie der Tierrechte - Bernd Ladwig - E-Book

Politische Philosophie der Tierrechte E-Book

Bernd Ladwig

0,0
21,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Alljährlich fügen wir Milliarden von Tieren schweres Leid zu und bringen sie ums Leben, nur um geringfügige Vorteile wie etwa den Geschmack ihres Fleisches zu genießen. Da diese Verletzung der Rechte von Tieren zu den gesellschaftlichen Grundordnungen gehört, die wir gemeinsam verantworten, ist sie ein Thema für die politische Philosophie. Bernd Ladwig gibt einen profunden Überblick über die heutige Debatte. Er zeigt auf, dass wir Tieren, deren Lebensbedingungen wir umfassend kontrollieren, Mitgliedschaftsrechte schulden, warnt jedoch zugleich vor ihrer Vermenschlichung. Die letzte politische Verantwortung für gerecht geregelte Beziehungen zu Tieren tragen einzig und allein wir.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 642

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



3Bernd Ladwig

Politische Philosophie der Tierrechte

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

407Ausführliches Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Inhalt

Vorwort

1. Einleitung: Tiere als Unterworfene sozialer Strukturen

1.1 Institutionalisiertes Unrecht?

Zwischen Sentimentalität und Instrumentalisierung

Zum Beispiel Zuchtsauen

Systemische Übel und individuelle Verantwortung

1.2 Tierethik: Von Menschenrechten zu Tierrechten?

Der Mensch als Stellung nehmendes Tier

Eine schlichte moralische Mengenlehre

Grenzen der Analogie zu den Menschenrechten

1.3 Zwei Visionen

1.4 Der Aufbau des Buches

Erster Teil: Moralischer Status

2. Moral und moralischer Status

2.1 Zum Begriff der Moral

Wohlwollen und Gerechtigkeit

Positionsunabhängig teilbare Gründe

2.2 Moralischer Status

Gleicher und ungleicher Status

Scala Naturae

2.3 Argumente für den Ausschluss von Tieren: Wechselseitigkeit

Ein Vertragsmodell der Moral

Ernst Tugendhat: Die Menschheit als moralische Familie

Jürgen Habermas und die Diskursethik

Axiologie und Epistemologie

2.4 Argumente für den Ausschluss von Tieren: Menschenwürde

Würdeverleihende Eigenschaften?

Moralfähigkeit als Bedingung der Würde?

Werte oder Interessen

2.5 Von Menschen zu Tieren

Christine Korsgaard: Praktische Identität und das natürlich Gute

Martin Seel: Ein zweistufiges Erweiterungsargument

2.6 Aggregativ oder (grundlegend) distributiv?

Die Unvertretbarkeit des Einzelnen

Grenzen der Aggregation

Das Recht auf Rechte

3. Begriff und Begründung moralischer Rechte

3.1 Was sind Rechte?

Ansprüche und Selbstachtung

Die Willenstheorie der Rechte

Die Interessentheorie der Rechte

Rechtspflichten

Geltungsbereich und Gewicht von Rechten

3.2 Wie stark sind Rechte?

Leitplanken und Trümpfe

Zu schwache Rechte

Die allgemeine Idee der Rechte

Sind Rechte graduierbar?

Sekundäre Gründe

4. Die Inhalte von Rechten bei Menschen und bei Tieren

4.1 Die Inhalte von Rechten bei Menschen

Ein pluralistisches Bild

Existenz

Aktivität und Selbstbestimmung

Wohlbefinden

Moralischer Status

Mündige und unmündige Menschen

4.2 Die Inhalte von Rechten bei Tieren

Existenz

Aktivität

Wohlbefinden

Alasdair Cochrane über Tierrechte ohne Befreiung

Freier Weltzugang

Zwei Arten der Schädigung: Leidzufügung und Deprivation

4.3 Martha Nussbaum und die Speziesnorm

4.4 Das Interesse am Weiterleben

Die Wunschkonzeption von Interessen

Die Güterkonzeption von Interessen

Subjekte des Erlebens

Argumentative Ausflüchte

4.5 Was schulden wir Tieren? Das Beispiel Ernährung

4.6 Ein vorläufiges Fazit zu (verletzten) Rechtsansprüchen von Tieren

5. Grenzen einer Interessentheorie der Tierrechte

5.1 Die expressive Bedeutung von Rechten und das Konzept der Tierwürde

Leuchtende Kaninchen und Zombie-Schweine

5.2 Rechte als Bedingungen sozialer Beziehungen

Elizabeth Andersons Kritik der Kritik am Speziesismus

5.3 Extrinsische Eigenschaften und Hilfen in Notlagen

Moralische Arbeitsteilung

Clare Palmer und die Laissez-faire-Intuition

5.4 Wechselseitigkeit und Krieg der Arten

Eine Analogie: Menschenrechte und humanitäres Völkerrecht

Unversöhnliche Naturen

5.5 Abwehr, Schutz und Einbeziehung

Zweiter Teil: Politische Kontexte

6. Politische Gerechtigkeit für Tiere

6.1 Das aristotelische Gegenstandsverständnis

6.2 Gerechtigkeit und Tiere

John Stuart Mill über Rechtspflichten

Verteilende Gerechtigkeit und assoziative Pflichten

6.3 Kooperation und Unterwerfung

Kooperation nach Rawls und die Ausbeutung von Tieren

Können Tiere mit uns kooperieren?

Mark Coeckelberghs Sozialphilosophie

Laura Valentini über Gerechtigkeit für Hunde

Zwei Einwände gegen das Kooperationskriterium

Unterwerfung als Grundlage assoziativer Gerechtigkeitspflichten

6.4 Wie politisch sollte die Philosophie der Tierrechte sein?

7. Dürfen wir Tiere halten?

7.1 Argumente für den Abolitionismus

Natürlichkeit

Tom Regan über Respekt für Tiere

Gary Francione über das Recht, nicht Eigentum anderer zu sein

Jason Wyckoff und das Ressourcenparadigma

Vermeidbare und unvermeidliche Frustration

7.2 Die Perspektiven der Tiere ernst nehmen

Faktische und kontrafaktische Zustimmung

Kimberly Smith und die Tradition des Sozialvertrages

Korsgaard und Valentini über die hypothetische Zustimmung von Tieren

7.3 Domestizierte Tiere

7.4 Wildtiere

7.5 Vorläufiges Fazit zur Legitimität von Tierhaltung

8. Politische Einbeziehung von Tieren

8.1 Das Wächteramt des Staates

8.2 Politische Mitgliedschaft für Tiere

Tiere und Territorien

Politische Vertretung tierlicher Interessen

Deliberative Demokratie

8.3 Spezies-Mainstreaming

Schutz vor Gefahren

Ansprechende Räume und Barrierefreiheit

9. Tiere als politische Akteure?

9.1 Handeln überhaupt und politisches Handeln

Ein Standardverständnis politischen Handelns

Normative Verantwortung für Normen

Tierliche

agency

in den Human-Animal Studies

Mobile Melkroboter und rebellische Tiger

9.2 Tiere als Mitbürger in der Zoopolis

Eine emphatisch politische Theorie der Tierrechte

Wer sollte Staatsbürger(in) sein?

Hunde im Park

Tiere am Arbeitsplatz

Ein Recht der Tiere auf Mitwirkung am Gemeinwohl?

9.3 Souveränität für wildlebende Tiere?

Was wir Tieren in der Wildnis schulden

Souveränität als normativer Status

Was spricht grundsätzlich gegen die moralische Korrektur der Natur?

Heraus aus dem Naturzustand!

Differenzierungen im Konzept des Naturzustandes

9.4 Eine ganz kurze Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse

10. Ideale und nichtideale Theorie der Gerechtigkeit für Tiere

10.1 Ideale und nichtideale Theorie nach Rawls

Die ideale Theorie als realistische Utopie

Das Problem des vernünftigen Pluralismus

Was folgt daraus für die nichtideale Theorie?

10.2 Robert Garners Theorie der Tiergerechtigkeit

Garners ideale Theorie: die Position des erweiterten Empfindungsvermögens

Garners nichtideale Theorie: die Position des Empfindungsvermögens

10.3 Radikalisierter Tierschutz als nichtideale Theorie

Ein moralisiertes Verständnis vernünftiger Gründe

First things first

10.4 Ziviler Ungehorsam zugunsten von Tieren

Irregulärer Protest und Widerstand

Zur möglichen Rechtfertigung zivilen Ungehorsams

Offenheit für die Öffentlichkeit

Namenregister

Fußnoten

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

3

407

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

58

59

60

61

62

63

64

65

66

67

68

69

70

71

72

73

74

75

76

77

78

79

80

81

82

83

84

85

86

87

88

89

90

91

92

93

94

95

96

97

98

99

100

101

102

103

104

105

106

107

108

109

110

111

112

113

114

115

116

117

118

119

120

121

122

123

124

125

126

127

128

129

130

131

132

133

134

135

136

137

138

139

140

141

142

143

144

145

146

147

148

149

150

151

152

153

154

155

156

157

158

159

160

161

162

163

164

165

166

167

168

169

170

171

172

173

174

175

176

177

178

179

180

181

182

183

184

185

186

187

188

189

190

191

192

193

194

195

196

197

198

199

200

201

202

203

204

205

206

207

208

209

210

211

212

213

215

216

217

218

219

220

221

222

223

224

225

226

227

228

229

230

231

232

233

234

235

236

237

238

239

240

241

242

243

244

245

246

247

248

249

250

251

252

253

254

255

256

257

258

259

260

261

262

263

264

265

266

267

268

269

270

271

272

273

274

275

276

277

278

279

280

281

282

283

284

285

286

287

288

289

290

291

292

293

294

295

296

297

298

299

300

301

302

303

304

305

306

307

308

309

310

311

312

313

314

315

316

317

318

319

320

321

322

323

324

325

326

327

328

329

330

331

332

333

334

335

336

337

338

339

340

341

342

343

344

345

346

347

348

349

350

351

352

353

354

355

356

357

358

359

360

361

362

363

364

365

366

367

368

369

370

371

372

373

374

375

376

377

378

379

380

381

382

383

384

385

386

387

388

389

390

391

392

393

394

395

396

397

398

399

400

401

402

403

404

405

7Vorwort

Wir haben viele Gründe, unser Verhältnis zu Tieren zu überdenken. Die industrielle Tierhaltung trägt mehr zum Klimawandel bei als der gesamte globale Transportsektor.[1]  Die Erde könnte mehr Menschen ernähren, wenn wir Getreide wie Weizen und Mais nicht an Tiere verfütterten, sondern selbst verzehrten.[2]  Durch die von Tieren produzierte und als Dünger verwendete Gülle gelangt gesundheitsschädliches Nitrat ins Trinkwasser.[3]  Auch der Einsatz von Arzneimitteln in den Ställen gefährdet die menschliche Gesundheit, weil dadurch Bakterien zunehmend gegen Antibiotika resistent werden.[4] 

Schon Gründe des Eigeninteresses und der Gerechtigkeit unter Menschen sprechen darum gegen das heutige System der Haltung, Nutzung und Tötung von Tieren. In diesem Buch aber soll es um die Ansprüche der Tiere selbst gehen. Dabei interessiert mich nicht nur, ob wir ungezählte individuelle Tiere vermeidbar schädigen. Ich möchte auch wissen, wie ein gerechtes Zusammenleben mit solchen Tieren aussehen könnte, die ohne regelmäßige menschliche Zuwendung nicht gut leben könnten. Ich werde dazu Begriffe und Begründungen des politischen Denkens auf Mensch-Tier-Beziehungen übertragen. Tierrechte sind schon deshalb ein Thema für die politische Philosophie, weil das Unrecht, das wir Tieren heute antun und für das sich unsere Nachfahren einmal schämen werden, zur Grundordnung unserer Gesellschaften gehört.

Die Philosophie der Mensch-Tier-Beziehungen ist inzwischen 8zu einem fruchtbaren eigenen Forschungsfeld avanciert. Das Feld ist aber gerade noch begrenzt genug für eine Darstellung und Diskussion aller wichtigen Positionen. Ich habe mich daher für eine Vorgehensweise mit stark diskursiven Zügen entschieden. Wo immer sinnvoll möglich, entwickle ich meine eigene Konzeption in der Auseinandersetzung mit vorliegenden Vorschlägen. Dies hat mir geholfen, mich nicht zu verzetteln: Ich musste mir keine Gegner und Gegenargumente ausdenken, sondern konnte mich an Beiträge halten, die in der Fachdiskussion tatsächlich vorkommen. Auch wenn dieses Buch keine Einführung ist, so soll es doch einen fairen Überblick über die vorhandenen Ansätze geben. Dabei dienen Darstellung und Diskussion jedoch immer systematischen Zwecken.

Ich habe mich aus Gründen der Lesbarkeit dafür entschieden, bei Kollektivbegriffen für Menschen das generische Maskulinum zu gebrauchen; die Alternativen kommen mir allesamt unschön und umständlich vor und lassen sich auch nicht konsequent durchhalten (Bürger_innenmeister_innen zum Beispiel ist ein Bandwurm, FreundInnen passt nicht und Jüd*innen geht gar nicht). Aus Gründen ausgleichender Gerechtigkeit verwende ich dafür das Femininum, wann immer ich auf fiktive Einzelpersonen referiere (zum Beispiel »eine Tierschützerin«, aber ebenso »eine Jägerin«). In jedem Fall meine ich damit alle Geschlechter.

Zu danken habe ich vielen. Ich habe Überlegungen, die in dieses Buch eingeflossen sind, verschiedentlich in meinem Colloquium Politische Theorie und Philosophie an der Freien Universität Berlin sowie im gemeinsamen Colloquium mit dem Arbeitsbereich politische Theorie an der Universität Hamburg zur Diskussion gestellt. Ebenfalls in Hamburg fand ein Workshop zu Cooperation With Animals mit Laura Valentini statt, von dem ich sehr profitiert habe. Jan Brezger, Daniel Jacob, Martin Ebeling, Johannes Icking, Ulrike Mürbe, Timo Pongrac, Aiyana Rosen, Cord Schmelze, Thomas Schramme, Ursula Wolf und Gabriel Wollner haben mir mit Hinweisen zu früheren Veröffentlichungen und einzelnen Kapiteln geholfen.

Hilfreich waren auch die Rückmeldungen von Studierenden im Rahmen einer von mir angebotenen Vorlesung und zweier Seminare zur Thematik dieses Buches. Bei einem dieser Seminare teilte ich mir die Dozentenrolle mit Anne Peters, die mir die (völker-)rechtliche Perspektive auf Tierschutz und Tierrechte nahegebracht 9hat. Auch den jährlichen Kurs The Diversity of Human Rights am Inter University Center Dubrovnik durfte ich mehrfach für Vorträge nutzen, die mir halfen, meine Gedanken zu sortieren. Ebenso habe ich Vorüberlegungen zu diesem Buch am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, in Basel, Bern, Cottbus, Düsseldorf, Essen, Graz, Leipzig, Mainz, Münster, Potsdam, Utrecht und Zürich zur Diskussion gestellt.

Als besonderes Privileg betrachte ich einen Workshop zum Manuskript dieses Buches, den Christian Neuhäuser, Andreas Oldenbourg und Eva Deitert unter Mitwirkung von Carla Dondera organisiert haben. Auch Johann S. Ach, Stefan Gosepath, Felix Koch, Luise Müller, Peter Niesen, Friederike Schmitz und Tatjana Višak haben mir mit ihren detaillierten Kommentaren zu einzelnen Kapiteln und Abschnitten sehr geholfen. Peter Niesen danke ich außerdem für die Initiative zu der Tagung Animal Politics, die ich mit ihm zusammen im Rahmen der Sektion Politische Theorie und Ideengeschichte der DVPW organisieren durfte. An dieser Tagung nahmen auch Sue Donaldson und Will Kymlicka teil, die so freundlich waren, meinen Vortrag schriftlich zu kommentieren.

Herzlich bedanken möchte ich mich ebenso beim Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien in Erfurt, das mich im Sommersemester 2014 als Fellow beherbergt hat und mir eine wunderbare Forschungsatmosphäre bot. Rainer Alisch hat das Manuskript sehr sorgfältig formal korrigiert, die englischsprachigen Zitate übersetzt und das Personenregister erstellt. Jan-Erik Strasser danke ich für das vorbildlich gründliche und sachkundige Lektorat mit einer Vielzahl scharfsinniger Anmerkungen. Ein Dank besonderer Art gilt schließlich Sabine, meiner Frau, und Raimund, meinem Sohn, für ihre Geduld und Nachsicht. Ich weiß wohl, dass sie vor allem in der Endphase der Fertigstellung dieses Buches, in dem so viel von Gerechtigkeit die Rede ist, weniger von ihrem Mann und Vater gehabt haben, als ihnen gebührt hätte.

101. Einleitung: Tiere als Unterworfene sozialer Strukturen

In diesem einleitenden Kapitel lege ich meine Ausgangsannahme dar, skizziere den Argumentationsgang und nehme die wichtigsten Ergebnisse vorweg, die ich in späteren Kapiteln eingehend begründen werde. Meine Ausgangsannahme ist, dass vieles, was wir Tieren antun, institutionalisiertes Unrecht ist. Dies spricht dafür, die Tierethik mit der politischen Philosophie zusammenzuführen. Ich umreiße ein tierethisches Standardargument für Tierrechte, das bei einem menschenrechtlichen Minimalkonsens einsetzt. Anschließend gehe ich auf die Grenzen der so begründeten Analogie zwischen Menschen- und Tierrechten ein.

Wie deutlich werden soll, sind weite Teile der Tierethik bei einem eher unpolitischen Verständnis von Tierrechten stehen geblieben. Sie haben etwa die Schutzfunktion von Rechten verabsolutiert und deren Bedeutung für dauerhafte und faire Formen des Zusammenlebens vernachlässigt. Neuere Ansätze verstehen hingegen auch manche Tierrechte als Ansprüche auf Mitgliedschaft und sogar auf politische Mitwirkung. Sie tendieren aber dazu, die Übertragung von Kategorien aus der politischen Philosophie auf Mensch-Tier-Beziehungen zu weit zu treiben. Ich werde in diesem Buch begründen, warum manchen Tieren ein politischer Mitgliedschaftsstatus zusteht, während die Aktivbürgerschaft, wenn wir sie anspruchsvoll genug verstehen, ein menschliches Monopol bleiben wird.

Nicht alle Beziehungen zwischen Mensch und Tier und erst recht nicht alle Tier-Tier-Beziehungen eignen sich zu einer Neubeschreibung und Neubewertung in Begriffen des politischen Denkens wie »Demokratie« oder auch »souveräne Gleichheit«. Manche werden bis auf weiteres oder für immer Teil von Naturzuständen sein. Wenn mir daher ein hochgegriffener Vergleich erlaubt sei: Die vorliegende Theorie soll kritisch im kantischen Sinne sein. Sie soll die Möglichkeiten einer politisch-philosophischen Vertiefung und Erweiterung der Tierethik erkunden, indem sie zugleich deren Grenzen erkennt und benennt. Sie soll allerdings auch kritisch in dem gewöhnlichen Sinne sein, dass sie institutionalisierte Mensch-Tier-Beziehungen normativ beurteilt.

111.1 Institutionalisiertes Unrecht?

Die politische Philosophie fragt nach unserer öffentlichen Verantwortung. Sie will wissen, welche Normen wir uns geben sollten, um das Zusammenleben auf eine allgemein annehmbare Weise zu regeln. Besonders streng sind die Rechtfertigungsstandards für zwangsbewehrte Gesetze. Sie betreffen uns tiefgreifend und umfassend und wir können ihnen kaum entkommen. Diese Freiheitseinschränkung ist nur dann nicht tyrannisch, wenn alle Gesellschaftsangehörigen sie auch als selbstauferlegt begreifen dürfen. Dazu müssen alle als Gleiche gelten und mit ihren Sichtweisen und Interessen prozedural und substantiell Beachtung finden. Demokratie, Menschenrechte und ein Mindestmaß an egalitärer Verteilung – von Gütern und Chancen – sind hierfür notwendige Bedingungen.

So weit die Standardposition in der heutigen politischen Philosophie. Nun gibt es in allen Gesellschaften Unterworfene, deren Sichtweisen und Interessen prozedural wie substantiell kaum oder gar nicht Beachtung finden. Sie sind zwar keine Adressaten unserer Gesetze, wohl aber deren Leidtragende. Abermillionen empfindungs- und erlebensfähiger nichtmenschlicher Tiere (im Folgenden kurz: Tiere) sind von den Grundsätzen und Regeln, die menschliche Gesellschaften sich geben und mit Zwang bewehren, tiefgreifend, umfassend und unentrinnbar betroffen. Hunde an der Leine, Katzen in Einzimmerwohnungen, Gorillas in Zoogehegen, Elefanten in Zirkussen, Sauen in Abferkelbuchten, Kühe in Ställen, Kälber in Schlachthöfen, Ratten in Laboratorien oder Fische in Aquakulturen sind Unterworfene rechtlich eingeräumter Praktiken.

Zwischen Sentimentalität und Instrumentalisierung

Unzählige kooperative Unternehmungen von Menschen beruhen auf den Beiträgen von Tieren. Das gilt nicht nur für die Fleisch-, Eier- und Milchproduktion oder für Tierversuche. Tierliche Produkte spielen eine Rolle in Verfahren wie dem Klären von Wein, dem Filtern von Wodka oder dem Entfärben von Zucker.[1]  Wer sie ganz vermeiden möchte, muss sich gut auskennen und weite Wege 12gehen, denn sie stecken in den unauffälligsten Dingen des Alltags: in Tapeten, Tennisbällen, Klebestreifen und Filmmaterialien.[2]  Tiere begleiten und erfreuen uns aber auch als Gefährten, sie helfen uns bei der Verbrechensbekämpfung, sie erweitern unser Wissen und sie entfalten therapeutische Wirkung, etwa auf vereinsamte oder schwerstkranke Menschen.

Unsere Einstellungen zu Tieren schwanken zwischen Sentimentalität und Instrumentalisierung. Manche haben Namen, andere Nummern. Einigen errichten wir Grabsteine, andere werfen wir weg. Einige sehen wir gern frei herumtollen, anderen verweigern wir das Recht, sich um die eigene Achse zu drehen. Einige beobachten wir gern im Wald und auf Wiesen, andere lassen wir durch Spaltenböden die eigenen Exkremente riechen. Einige veranlassen wir zur Entfaltung staunenswerter Fähigkeiten, andere hindern wir an den schlichtesten Verrichtungen und treiben sie so in die Apathie oder in den Wahnsinn. Für einige bezahlen wir teure Operationen, damit sie sechs Monate länger leben können, andere bringen wir lange vor ihrem biologisch möglichen Ende um.

Allein in deutschen Schlachthäusern werden jährlich fast 628 Millionen Hühner und mehr als 58 Millionen Schweine getötet.[3]  Die Zahl der jährlichen Schlachtungen in den USA schätzt die Humane Society of the United States auf zehn Milliarden.[4]  Und dabei sind die 10 Milliarden Fische und anderen Meerestiere, die jährlich getötet werden, nicht einmal eingerechnet,[5]  obwohl zumindest Fische wahrscheinlich Schmerz empfinden können.[6] 

Die Individuen hinter diesen Zahlen sind kaum mehr als bloße 13Ressourcen, die menschlichen Zwecken dienen sollen. Viele Politiker in Deutschland sind stolz auf die vergleichsweise strenge Tierschutzgesetzgebung in unserem Land und in der Europäischen Union. Aber diese Gesetzgebung soll die industrielle Verwertung von Tieren, deren Verwandlung in Produktionsmaschinen für Fleisch, Milch oder Eier, nicht einmal perspektivisch ausschließen.

Das deutsche Tierschutzgesetz verbietet es, einem Tier »ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden« zuzufügen, dies folge »aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf«.[7]  Das Gesetz besagt sogar, dass man »ein Wirbeltier« nicht ohne vernünftigen Grund töten darf. Aber es legt diese Klausel großzügig aus. Als vernünftige Gründe gelten etwa die Nachfrage nach billigem Fleisch und das Bestreben, es preisdeckend zu produzieren.

Fleisch gehört nicht zu den Dingen, die Menschen, jedenfalls in unseren Breiten, unbedingt brauchen. Wir Bewohner wohlhabender westlicher Staaten und Städte sind in einer ganz anderen Lage als arme afrikanische Fischer oder als grönländische Inuit, deren ganze Lebensform auf der Robbenjagd beruhen mag. Wir haben genügend vegetarische und zunehmend auch vegane Alternativen. Uns steht ein breites Spektrum an erschwinglichen, bekömmlichen, schmackhaften und menschenwürdigen Nahrungsmitteln zur Verfügung. Wir können uns pflanzlich ernähren, ohne dadurch unsere Gesundheit zu gefährden,[8]  asketischen Genussverzicht zu üben, identitäre Pflichten etwa religiöser Art zu verletzen oder einen Zusammenbruch unserer Lebensform zu erleiden. Wenn wir dennoch Fleisch oder andere Tierprodukte essen,[9]  so aus Gewohnheit, gesellschaftlicher Konvention oder Vorlieben des Geschmacks.

14Zum Beispiel Zuchtsauen

Was steht dagegen für die Tiere auf dem Spiel, die wir zu Nahrungszwecken züchten und halten? Betrachten wir beispielhaft das für Zuchtsauen in Deutschland gesetzlich Erlaubte.[10]  Diese weiblichen Schweine leben in Ställen ohne Sonnenlicht und meist auch ohne Stroh, auf Voll- oder Teilspaltenböden. Sie werden künstlich besamt und dabei einzeln in sogenannten Kastenständen gehalten. Die Stände sind 0,55 bis 0,70 Zentimeter breit und 1,6 bis 1,9 Meter lang und somit geringfügig größer als die Sauen selbst. Diese können sich erheben, sich niederlegen und ihre Gliedmaßen strecken. Sich umdrehen oder herumlaufen können sie nicht. Vier Wochen nach der Besamung werden die Sauen allerdings in den Wartestall verlegt, wo sie in Gruppen von 10 bis 100 Sauen leben. Jede Sau hat dort bis zu zweieinhalb Quadratmeter Platz für sich selbst. Eine Woche vor der Geburt der Ferkel ist es damit aber auch wieder vorbei. Die folgenden fünf Wochen wird die Sau in der Abferkelbucht verbringen, die kaum breiter ist als der Kastenstand.

Sind die Ferkel einmal geboren, so verhindert eine Metallabsperrung einen natürlichen Kontakt zu ihrer Mutter. Die Absperrung soll verhüten, dass die Sau ihre Jungen aus Versehen erdrückt. Das ist nur rational, bedenkt man, wie beengt die Tiere leben. Die Kinder haben Zugang zu den Zitzen der Mutter, diese kann ihren Nachwuchs aber nicht pflegen, ihm nichts beibringen, nicht mit ihm spielen. Nach vier Wochen werden die Ferkel ganz von der Muttersau getrennt. Diese kommt zurück in den Kastenstand, wo sie etwa fünf Tage später erneut besamt wird. Nach durchschnittlich zweieinhalb Jahren mit fünf bis sechs Geburten ist eine solche Zuchtsau gesundheitlich am Ende. Sie gilt dann als reif für die Schlachtung.

Schweine sind ebenso intelligent und gesellig wie Hunde. Welche ihrer Bedürfnisse werden missachtet, welche Interessen verletzt, wenn sie so gehalten werden, wie das deutsche Tierschutzgesetz es erlaubt? So gut wie alle, ist die naheliegende Antwort. Die Sau lebt 15die ganze Zeit über auf Spaltenböden. Durch die Spalten fallen die Exkremente, die sie ständig riechen muss. Ihre Gelenke sind höchstwahrscheinlich entzündet. Jedes Aufstehen und jedes Niederlegen tun dann weh. Ihre Kinder darf sie nur vier Wochen lang sehen und säugen, durch ein Metallgitter hindurch. Kontakt zu anderen erwachsenen Schweinen hat sie einzig im Wartestall, unter beengten Bedingungen, die nichts mit der Gruppenbildung bei frei lebenden Schweinen zu tun haben. Die Zuchtsau sieht nie das Sonnenlicht, kann sich nie suhlen, nie auf Waldböden laufen und wühlen.

Das Ende ihres Lebens beginnt mit dem Tiertransport. Dieser darf für Schweine bis zu 24 Stunden ohne Unterbrechung dauern.[11]  Einem 100 Kilogramm schweren Tier steht dabei ein halber Quadratmeter Platz zu. Im Schlachthof riechen Schweine das Blut ihrer Artgenossen, worauf sie offenbar panisch reagieren.[12]  Die Arbeit im Schlachthof erfolgt im Akkord. Von den über 58 Millionen Schweinen, die allein in Deutschland jährlich geschlachtet werden, wachen etwa 500 000 im 60 Grad heißen Brühwasser wieder auf, weil sie nicht richtig ›abgestochen‹ wurden.[13]  Und auch die wenigsten anderen Schweine dürften leidfrei ums Leben kommen. Die verbreitete Methode der CO2-Betäubung etwa besteht darin, mehrere Tiere zusammen in Gondeln zu einer Grube zu befördern und sie dort einem Gasgemisch mit mehr als 40 Prozent Kohlendioxid auszusetzen. Die Veterinärmedizinerin Ulrike Machold schildert, was dann geschieht:

16Das zur Betäubung eingesetzte CO2 führt in der Einleitungsphase zu stark atemstimulierender Wirkung mit Hyperventilation, ausgeprägter Atemnot […] und Erstickungsgefühl. Dies beruht auf einen Anstieg von CO2 in der Atemluft der Schweine, der wiederum durch Anregung spezifischer Chemosensoren zur massiven Steigerung der Atemfrequenz führt […]. Zudem wirkt das Gas auf die Schleimhäute reizend. Beides führt vor Eintritt der Bewusstlosigkeit zu deutlichen Abwehrreaktionen der Schweine u. a. mit Lautäußerungen, Zurückdrängen, Kopfschütteln, Maulatmung, Sprüngen in die Luft, Fluchtversuchen. Diese Aversionen konnten in mehreren Verhaltensstudien zur CO2-Betäubung nachgewiesen werden.[14] 

Zahlreich sind auch die Schilderungen von Arbeitern im Schlachthof, die etwa Schweinen Viehtreiber in die Hinterteile rammen,[15]  ihnen mit Messern die Augen ausstechen und die Nasen zerschneiden[16]  oder Ferkel gegen Boxenwände und auf Steinböden schlagen, bis sie tot sind.[17]  Das mag auf Sadismus hindeuten, vor allem aber dürfte es Überforderung verraten: durch den Arbeitsdruck, das niemals stillstehende Förderband, die Gefährdung durch schlecht betäubte Tiere, den Lärm, den Gestank, die Abstumpfung durch das ständige Töten.[18]  Die meisten Arbeitskräfte in der industriellen Tierhaltung und in Schlachthöfen sind mangelhaft ausgebildet, werden prekär beschäftigt und schlecht bezahlt.[19] 

98 Prozent der in Deutschland zum Verzehr bestimmten Tiere stammen aus Betrieben der industriellen Tierhaltung;[20]  bei Schwei17nen sind es 99,3 Prozent.[21]  Aber immerhin gibt es auch Betriebe mit einem Bio-Siegel. Sie akzeptieren strengere Bestimmungen und Kontrollen. Zum Beispiel müssen die einzelnen Tiere genügend Platz bekommen, um ihre ›artspezifischen Bedürfnisse‹ ausleben zu können: Sie müssen sich hinlegen, umdrehen, stehen, strecken und säubern dürfen. Schmerzhafte Prozeduren wie Kastration sind in Betrieben mit Bioland-Siegel nur unter Betäubung erlaubt. Nehmen wir die – nicht so seltenen – Fälle von Missbrauch einmal aus, so haben es die Tiere in Bio-Betrieben also besser. Das ist allerdings relativ zu sehen, denn auch Bio-Betriebe unterliegen der wirtschaftlichen Konkurrenz, auch ihre Tierhaltung muss sich rechnen. Die Milchwirtschaft etwa würde sich kommerziell kaum rentieren, wenn die Kühe mit allen ihren Kälbern zusammenleben könnten und wir keines dieser Tiere töten dürften.[22] 

Industrielle Tierhaltung ist die Regel, Bio-Haltung die große Ausnahme bei der Gewinnung von Fleisch und anderen Tierprodukten. In der industriellen Tierhaltung werden den Tieren viele Qualen schon angezüchtet. Sie sind schließlich einzig dazu da, möglichst schnell möglichst viel Fleisch anzusetzen, möglichst viel Milch zu geben oder möglichst viele Eier zu legen, ohne Rücksicht auf das Knochengerüst und auf Funktionen wie Atmung und freie Bewegung. Die Quälerei setzt sich fort in der Gefangenschaft und gipfelt im Transport und der Tötung. Ehrliche Betriebe mit einem Bio-Siegel vermeiden Qualzüchtungen und muten den Tieren weniger Einbußen an Lebensqualität durch die Haltung zu. Am Ende aber sind auch die meisten ihrer Tiere für die Tötung in gewöhnlichen Schlachthöfen bestimmt, wo sie das Gleiche erleben und erleiden wie ihre übrigen Artgenossen auch. Eine Ausnahme machen hier nur (Freiland-)Rinder, die per Kopfschuss auf der Weide getötet werden.[23] 

18Systemische Übel und individuelle Verantwortung

Das alles sind systemische Übel. Sie sind eine kaum vermeidbare Folge gesetzlich geschaffener Rahmenbedingungen. Sie gehören zur Grundordnung moderner Gesellschaften, die einen oder sogar den[24]  zentralen Gegenstand des zeitgenössischen politischen Denkens bildet. Dies spricht für die Zusammenführung von Tierethik und politischer Philosophie. Die Tierethik, die unseren willkürlichen und rücksichtslosen Umgang mit Tieren problematisiert, ist ein Teilgebiet der angewandten Ethik und diese wiederum eine Subdisziplin der praktischen Philosophie. Als Grundfrage der Ethik gilt gemeinhin: »Was soll ich tun?« oder auch: »Welche Art von Mensch soll ich sein?«. Sie richtet sich an jeden einzelnen Menschen und betrifft zentral dessen Umgang mit anderen einzelnen Menschen – oder auch Tieren. Dies scheint die Ethik von der politischen Philosophie zu trennen, die nach Normen für die Bildung und Gestaltung von Institutionen oder nach den ›Tugenden‹ ganzer Gesellschaftsordnungen fragt.[25] 

Doch die Unterscheidung ist nicht trennscharf. Schließlich muss auch die politische Philosophie an den Handlungen und Haltungen von Individuen Interesse zeigen, denn ohne diese gäbe es weder Institutionen noch deren gezielte Veränderung. Sie adressiert uns allerdings in besonderen Rollen, etwa als Bürger oder als Amtsinhaber. In solchen Rollen zeichnen wir direkt oder indirekt für kollektiv verbindliche Entscheidungen verantwortlich: Wir treffen sie selbst oder durch Repräsentanten, und wir können auf ihre Veränderung hinwirken. Politische Akteure nehmen intentional auf die Grundsätze und Regeln des Zusammenlebens Bezug und gestalten sie dadurch mit. Dies schließt gesetzlichen Zwang ein, betrifft aber etwa auch die informellen Normen, die unsere öffentlichen Debatten und deren Grenzen bestimmen.

Wenn es einen tierethischen Minimalkonsens gibt, dann den, dass unser Umgang mit Tieren nicht nur Privatsache ist, sondern auch die Öffentlichkeit beschäftigen sollte. Beinahe alle Tierethiker sind zudem davon überzeugt, dass wir ungezählten Tieren Unrecht tun und dass dieses Unrecht die systematische Folge der institu19tionellen Ordnungen ist, die wir gemeinsam verantworten. Auch Veränderungen zugunsten der Tiere wären individuell nur schwer oder gar nicht zu bewerkstelligen. Konsequente Veganer werden noch lange eine kleine Minderheit bleiben, zumal weltweit die nach Fleisch verlangenden Mittelschichten wachsen. Andere Hindernisse wie gesetzlich vorgeschriebene Tierversuche sind schon sachlogisch für individualistische Lösungen ungeeignet.

Auch wenn erst neuerdings von einem political turn der Tierethik die Rede ist, so war diese doch für ihre politische Bedeutung von Anfang an nicht blind. Bereits Peter Singer und Tom Regan haben in ihren tierethischen Pionierarbeiten politisch konnotierte Konzepte wie »Befreiung«, »Rechte« und »Gerechtigkeit« gebraucht und auf die Wichtigkeit öffentlicher Bewusstseinsbildung, kollektiven Handelns und neuer Gesetze hingewiesen:[26]  Der Staat, der seine Zwangsmittel dazu einsetzt, das institutionalisierte Unrecht an den Tieren etwa gegen die Undercover-Recherchen und Befreiungsaktionen von Tierschützern zu verteidigen, sollte sie stattdessen dafür verwenden, das Unrecht zu beenden.

1.2 Tierethik: Von Menschenrechten zu Tierrechten?

Auf die Unterschiede zwischen Singers und Regans Herangehensweise werde ich später eingehen. Hier mag der Hinweis genügen, dass Regan, anders als der Utilitarist Singer, eine tierrechtliche Position vertritt, die mir grundsätzlich richtig zu sein scheint. Sie kann sich auf einen menschenrechtlichen Minimalkonsens berufen, um aus ihm mittels Zusatzprämissen tierrechtliche Schlüsse zu ziehen.

Der menschenrechtliche Minimalkonsens besagt, dass jeder geborene und nicht (ganz-)hirntote Angehörige der Spezies Homo sapiens einfach als solcher, ohne weitere Vorbedingungen, bestimmte Rechte besitzt, darunter die Rechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit.[27]  Diese Rechte sind moralisch begründet. Sie gelten 20normativ gesehen auch dann, wenn sie in einer Gesellschaft nicht allgemein anerkannt sind und das positive Recht in einem Staat sie nicht vorsieht.[28]  Die überzeugende moralische Begründung, nicht die tatsächliche rechtliche Implementierung und Beachtung, bildet die Existenzbedingung der Menschenrechte. Wir reagieren spezifisch moralisch, etwa mit Empörung, wo wir sie verletzt glauben; und unsere Empörung würde wohl nicht nachlassen, wenn wir erführen, dass die Machthaber nun einmal nicht an die Menschenrechte glaubten und die Gesetze des Staates sie deshalb nicht vorschrieben. Eher würden wir darin einen zusätzlichen Grund zu moralischem Übelnehmen erblicken.[29] 

Der Mensch als Stellung nehmendes Tier

Der menschenrechtliche Minimalkonsens ist heute wenigstens formal breit akzeptiert und auch ins geltende Völkerrecht eingeflossen. Die Forderung nach Tierrechten kommt dagegen vielen Menschen immer noch abwegig vor. Streng genommen sind die Menschenrechte indes selbst Tierrechte. Wir Menschen gehören schließlich auch zum Tierreich: Stamm Chordatiere, Unterstamm Wirbel- oder Schädeltiere, Reihe Landwirbeltiere, Klasse Säugetiere, Unterklasse höhere Säugetiere, Ordnung Primaten, Unterordnung Trockennasenaffen, Familie Menschenaffen. Wir sind Produkte derselben Naturgeschichte, die auch Schwämme, Ringelwürmer, Amphibien, Fische, Vögel und Säugetiere, bis hin zu unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen und Bonobos, hervorgebracht hat.

Alle Arten stehen in einer naturgeschichtlichen Kontinuität. Der Unterschied zwischen Menschen und anderen Tieren ist, Charles Darwin zufolge, nur graduell, nicht grundsätzlich. Diese darwinsche Einsicht wird durch immer neue Entdeckungen etwa 21der kognitiven Ethologie gestützt und vertieft.[30]  Ein vermeintliches Monopol des Menschen nach dem anderen, von der Intentionalität über das schlussfolgernde Denken bis zum Werkzeuggebrauch und eventuell auch zur Empathie,[31]  fällt in sich zusammen. Viele Tiere können lernen, ihr Tun und Lassen an veränderliche Umstände anpassen und sind zu komplexer Kommunikation imstande.[32]  Gewiss, wir sind besonders schlaue und erfinderische Tiere. Aber im Tierreich ist es wiederum nichts Besonderes, etwas Besonderes zu sein. Alle Tiere sind irgendwie besonders, alle Arten unterscheiden sich auch voneinander, sonst wären sie keine: Menschen können mit ihrer Sprache Sinnfragen wälzen, Fledermäuse und Delfine mit ihrem Sonarsystem Beute orten.

Ein Monopol allerdings, das mit der propositionalen Sprache zusammenhängt, wird uns wohl bleiben. Wir sind die einzigen Tiere, die Rechte (an-)erkennen können. Das liegt daran, dass wir uns reflexiv fragen können, was wir denken und tun sollten. Wir sind nicht dazu verurteilt, unseren noch so deutlichen Sinneseindrücken zu vertrauen und unseren noch so starken Neigungen nachzugeben. Vielmehr können wir überlegend zu allen Eindrücken und Strebungen Stellung nehmen und sie aufgrund neuer Evidenzen und auch Einwände korrigieren. Wir sind an wahren Meinungen und richtigen Handlungen interessiert. Dies macht uns zu sinnvollen Adressaten einer Kritik, die uns nicht zu einem anderen Verhalten abrichten soll, sondern auf unsere eigene bessere Einsicht zielt.

Einen Löwen kann man nicht sinnvoll dafür tadeln, dass er den gesamten Nachwuchs seines Rivalen umbringt, weil der Löwe für die fatalen Folgen seines Tuns nur kausal verantwortlich ist. Weil der Mensch aber nicht nur ein Tier, sondern ein Stellung nehmendes Tier ist,[33]  trägt er auch eine normative Verantwortung. Nur er 22kommt deshalb auch als Subjekt moralischen Urteilens und Handelns in Frage.[34]  Ohne ihn gäbe es gar keine moralischen Rechte.

Als Stellung nehmende Tiere spielen wir allerdings eine moralische Doppelrolle: Wir sind moralfähig und moralbedürftig, Akteure wie Nutznießer kategorisch geschuldeter Rücksicht und Achtung. Wenig überzeugend ist auch die Annahme, wir seien nur deshalb moralbedürftig, weil wir moralfähig sind. Wir sind nicht erst hinsichtlich unserer ›höheren‹ Vermögen versehrbar; wir sind es bereits als leiblich existierende, sinnliche, leidensfähige, endliche und bindungsbedürftige Kreaturen. In all diesen Hinsichten bedürfen wir des Schutzes und der Schonung, der Fürsorge, der Förderung und der Hilfe.

Dies legt den Schluss nahe, dass wir dem Tierreich, dem wir evolutionär entstammen, auch moralisch verbunden bleiben. Die Reflexion auf unsere Tiernatur macht Hinsichten geschuldeter Beachtung kenntlich, die über die Gattungsgrenze hinausgehen. Wir sind schließlich nicht die einzigen leiblich existierenden, sinnlichen, leidensfähigen, endlichen und bindungsbedürftigen Kreaturen. Deshalb dürften die Menschenrechte, so argumentieren Tierethiker, nicht nur Rechte des Menschen bleiben. Sie sollten vielmehr als eine Teilklasse von Rechten aller empfindungsfähigen Wesen, von »sentient rights«,[35]  verstanden werden.

Ich teile diese tierethische Grundposition: Menschen sind nicht die einzigen Tiere, die moralische Rechte haben. Versuche, etwa Grundrechte für Schimpansen gerichtlich einzuklagen und damit 23die Kategorie einer tierlichen Rechtsperson zu etablieren,[36]  stoßen unter Juristen zwar noch mehrheitlich auf Skepsis und Abwehr. Aber wie angedeutet, ist die Behauptung der Existenz moralischer Rechte auf den Nachweis von Rechten im positiven Sinne nicht angewiesen. Die Tierrechte, von denen im Titel dieses Buches die Rede ist, sollten jedenfalls als moralische Rechte verstanden werden.

Eine schlichte moralische Mengenlehre

Ein tierrechtliches Standardargument besagt nun, dass es willkürlich wäre, grundlegende Rechte für alle geborenen und nicht (ganz-)hirntoten Menschen zu akzeptieren, dann aber an der Speziesgrenze stehen zu bleiben. Ein moralisches Grundgebot verlangt von uns, wesentlich gleiche Fälle gleich zu behandeln. Wir begründen Rechte von Menschen aufgrund von Eigenschaften, die wir für moralisch erheblich halten. Einige dieser Eigenschaften teilen wir mit vielen anderen Tieren. Wenn wir diese gleichwohl ausschließen oder schlechter stellen, dann offenbar nur aufgrund ihrer Art. Die Artangehörigkeit als solche ist bloß ein biologisches Faktum, von dem wir nicht direkt auf eine moralische Norm schließen dürfen, weil wir uns sonst eines Sein-Sollen-Fehlschlusses schuldig machten.

Alternativ könnten wir versuchen, Menschenrechte einzig auf solche Eigenschaften zu gründen, die wirklich kein anderes Tier mit uns teilt. Dies spricht für einen Rückgriff allein auf unsere ›höheren‹ Vermögen wie Sprachlichkeit und normative Zurechnungsfähigkeit. Damit würden wir allerdings auch viele unserer Mitmenschen ausschließen. Manche geborenen und nicht (ganz-)hirntoten Angehörigen unserer Art sind nicht einmal potentiell sprachfähig 24und normativ zurechnungsfähig,[37]  weil sie etwa von Geburt an geistig schwer behindert sind.

Kurz: Unsere höheren Eigenschaften stellen vielleicht menschliche Monopole dar, doch nicht alle Menschen besitzen sie. Solche Eigenschaften hingegen, die so gut wie alle[38]  geborenen und nicht (ganz-)hirntoten Menschen besitzen, sind kein menschliches Monopol, wir teilen sie mit vielen anderen Tieren. Diese schlichte moralische Mengenlehre[39]  ist als Kritik am Speziesismus und als Argument der menschlichen Grenzfälle (human marginal cases) bekannt geworden.

»Speziesismus« ist ein unschönes Wort für einen kritikwürdigen Sachverhalt: die Schlechterstellung anderer Wesen in moralisch erheblichen Hinsichten einzig aufgrund der Artangehörigkeit. Vertreter von Tierrechten argumentieren, dies sei grundsätzlich nicht besser als Benachteiligungen anhand von Herkunft, Hautfarbe oder Geschlecht; es sei ebenso unhaltbar diskriminierend wie Rassismus oder Sexismus. Dagegen ist die Rede von »menschlichen Grenzfällen« grundsätzlich fragwürdig. Einen Grenzfall bildet die menschliche Unmündigkeit eigentlich nur für eine Vernunftmoral, die als unproblematisch unterstellt, dass Menschen moralisch ansprechbar sind. Die Vernunftmoral neigt zu der Verallgemeinerung, alle Menschen seien mindestens potentiell Personen, das heißt rationale und vernünftige, normativ zurechnungsfähige Individuen.[40] 25Sie geht damit aber nicht nur über viele individuelle Artangehörige hinweg, die niemals normativ zurechnungsfähig gewesen sind und es auch niemals sein werden. Sie wird selbst den mündigen oder zur Mündigkeit grundsätzlich begabten Menschen nur selektiv gerecht. Moralische Ansprechbarkeit ist voraussetzungsvoll und eine Frage des Grades. In existentiellen Grenzsituationen wie schwerer Krankheit oder dem Verlust geliebter Menschen kann sie auch bei prinzipiell zurechnungsfähigen Personen ganz oder teilweise versagen. Das Argument der menschlichen Grenzfälle ist auch politisch mit Vorsicht zu genießen. Man provoziert damit den Einwand, dass man Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen erniedrige, indem man sie mit Tieren auf eine Stufe stelle. Dieser Einwand trifft zwar die meisten Vertreter von Tierrechten nicht, da sie nicht etwa manche Menschen moralisch herabstufen, sondern viele Tiere moralisch besser stellen möchten. Sie sollten ihn aber dennoch aus pragmatischen Gründen der Nachvollziehbarkeit ihrer Position ernst nehmen.

Die in diesem Buch verteidigte Version der Tierrechte ist jedenfalls auf die Wahrheit des Arguments der menschlichen Grenzfälle nicht angewiesen. Sie stützt sich allein auf ein angemessen breites Verständnis der Tiernatur auch aller mündigen Menschen. Ein solches Verständnis, so möchte ich zeigen, spricht für eine pluralistische Konzeption der moralisch erheblichen Interessen von Menschen und baut damit zugleich eine Brücke über die Speziesgrenzen. Es erlaubt uns, frei von Willkür darüber zu befinden, welche 26Interessen von Tieren ebenfalls rechtlichen Schutz oder auch rechtliche Förderung verdienen. Dabei lege ich ein interessentheoretisches Verständnis von Rechten zugrunde, das nicht verlangt, dass alle Inhaber von Rechten sich auch als solche verstehen und von ihren Ansprüchen einen selbstbewussten Gebrauch machen können. Sie müssen nur über Interessen verfügen, die wichtig genug sind, um direkte Pflichten ihnen gegenüber zu begründen.

Nun verfügen viele Tiere über Interessen, die wir bei Menschen für rechtlich schützenswert halten. Aus dem moralischen Grundgebot der Gleichbehandlung gleicher Fälle folgt demnach, dass ein Tier in genau der Hinsicht ein Recht besitzt, in der es einem Menschen hinreichend ähnelt, der in ebendieser Hinsicht ein Recht besitzt. Oder etwas formaler gesagt: Wenn die Eigenschaft E des Individuums I ein moralisches Recht R von I hinreichend rechtfertigt, dann rechtfertigt die (im relevanten Sinne ähnliche) Eigenschaft E* eines anderen Individuums I* ebenfalls das moralische Recht R von I*.[41] 

Grenzen der Analogie zu den Menschenrechten

Die soeben skizzierte Interessentheorie spricht für eine konzeptionelle Kontinuität zwischen Menschen- und Tierrechten. Nicht alle menschenrechtlich erheblichen Interessen spielen allerdings im Tierreich eine Rolle. Ich werde an verschiedenen Stellen zu zeigen versuchen, dass manche Argumente für Tierrechte auf einer Vermenschlichung nichtmenschlicher Tiere beruhen. Das gilt für einige grundsätzliche Einwände gegen den Eigentumsstatus von Tieren oder gegen die ›Ausbeutung‹ von Tieren durch deren Haltung zu menschlichen Zwecken. Problematisch sind vor allem Bedingungen der (Gefangen-)Haltung und der Nutzung, die Tieren Leid zufügen, ihr Leben verkürzen oder sie an elementaren Betätigungen hindern, die ihnen Freude bereiten würden. Hingegen können Tiere nicht unter dem Wissen leiden, dass sie anderen gehören oder dass diese sie nicht fair ›entlohnen‹. Zumindest die allermeisten Tiere besitzen keinen Sinn für den eigenen moralischen Status und haben daher keine Selbstachtung zu verlieren. Auch Vorstellungen von Tierbefreiung können auf fragwürdige Weise 27vermenschlichend sein. Das ist der Fall, wenn sie Tieren normative Fähigkeiten zutrauen, die tatsächlich Menschen vorbehalten bleiben. Eine konsequente Interessenkonzeption der Tierrechte kann solche Fehlschlüsse von menschlichen Ansprüchen auf tierliche vermeiden, und das ist ein Grund, weshalb ich sie ausführlich vorstellen und rechtfertigen werde.

Die konzeptionelle Kontinuität von Menschen- und Tierrechten stößt aber noch aus anderen Gründen an Grenzen. Das in der Tierethik bis heute vorherrschende Verständnis von moralischen Rechten ist minimalistisch, atomistisch und geradezu unpolitisch. Das wird deutlich, wenn man es mit neueren Entwicklungen in der politischen Philosophie der Menschenrechte vergleicht. Ich werde verschiedentlich auf diesen Vergleich zurückkommen, um ein explizit politisches Verständnis von Tierrechten zu gewinnen und zu begründen. Ebenso soll er mir dazu dienen, überzogene Erwartungen an den political turn der Tierethik abzuwehren.

Philosophische Verfechter von Tierrechten wie Tom Regan, Gary Francione oder Paola Cavalieri wissen sehr wohl, dass ein rein interaktionales, auf individuelle Mensch-Tier-Beziehungen beschränktes Verständnis von Rechten nicht genügt. Sie schreiben dem Staat die Aufgabe zu, institutionelles Unrecht notfalls auch mit Zwangsmitteln zu beenden. Cavalieri charakterisiert die Menschenrechte, die sie als Vorbild für die Tierrechte betrachtet, folgendermaßen:

Menschenrechte decken in der Regel den Bereich der Moral im engeren Sinne ab und sind daher im Wesentlichen negative Rechte oder Rechte auf Nichteinmischung. Sie sind im Übrigen institutioneller Natur, da das Modell ihrer Umsetzung sowie ihrer Verletzung auf der Organisation und dem Handeln des Staates beruht.[42] 

Staaten haben demnach menschenrechtlich begründete Unterlassungs- und auch Schutzpflichten. Dabei sind die ersteren grundlegend. Positive Pflichten zur Hilfe oder auch zu wohlfahrtsstaatlichen Leistungen schließt Cavalieri aus der Moral im engeren Sinne aus. Sie umgeht damit das schwierige Problem, wie wir Leistungsansprüche von Tieren gegenüber solchen von Menschen gewich28ten sollten, wenn die Ressourcen knapp sind. Solche distributiven Probleme »könnten die Notwendigkeit implizieren, den beteiligten Wesen einen unterschiedlichen Wert zuzuweisen«.[43]  Vielen Menschen kommt beispielsweise die Vorstellung bizarr vor, Tiere hätten einen grundsätzlich gleich starken Anspruch auf begrenzte medizinische Ressourcen wie Menschen auch. Eine reine Unterlassungsmoral der Rechte könne Gewichtungs- und Wertfragen dieser Art jedoch auf sich beruhen lassen. Dies soll die Einbeziehung von Tieren in den menschenrechtlichen Geltungsraum erleichtern.

Auch Regan[44]  und Francione[45]  möchten schwer entscheidbare Verteilungsfragen aus dem Kernbereich moralischer Rechte heraushalten. Auch für sie sind diese Rechte vor allem negativer Natur, und staatliche Schutzpflichten kämen nur sekundär zu der primären Pflicht hinzu, das Leben und Wohlergehen der Tiere nicht aktiv zu beeinträchtigen. Die primären Pflichten gegenüber Tieren bestünden allein in Pflichten der Nichtschädigung. In Franciones idealer Welt würden wir die Tiere sogar ganz sich selbst überlassen.

In der Beschränkung auf negative Rechte liegt der Minimalismus solcher Theorien der Tierrechte. Das unterscheidet sie signifikant von den heute vorherrschenden Konzeptionen der Menschenrechte. Der tierrechtliche Minimalismus passt zum Beispiel schlecht zu der vielzitierten und auch von den Vereinten Nationen akzeptierten Behauptung Henry Shues, dass jedem basalen Recht (basic right) grundsätzlich drei Arten von Pflichten entsprächen, nämlich neben solchen der Unterlassung und des Schutzes auch solche der Hilfe oder Erfüllung.[46]  Diese dritte Kategorie von Rechtspflichten sei unverzichtbar, weil manche Menschen ohne fremde Hilfen nicht einmal ihre Grundbedürfnisse befriedigen könnten.

Die Menschenrechte verlangen darum nach einem aktiven, gestaltungsbereiten Staat. Dieser muss auch Leistungsrechte zumindest »progressiv«, also schrittweise realisieren, und alle anderen Staaten sollten ihm dabei notfalls helfen. Ebenso müssen Staaten beispielsweise für basale Bildung und Infrastrukturen sorgen, damit 29Menschen sich informieren und ihre Meinungen vernehmbar in die Öffentlichkeit tragen können. Menschenrechte haben, allgemein gesagt, den Sinn, tatsächliche soziale Teilhabe und Mitwirkung zu ermöglichen. Sie sollen Menschen effektiv in die Gesellschaft inkludieren.[47] 

Verglichen damit macht das Rechteverständnis von Cavalieri, Regan und Francione einen altliberalen oder libertarianischen (libertarian) Eindruck.[48]  Es schürt den Verdacht, das menschenrechtliche Argument für Tierrechte werde mit einer substantiellen Schwächung der Menschenrechte selbst erkauft. Das ist nicht verwunderlich, da beispielsweise Francione mit Tierrechten nicht den Zweck der sozialen Einbeziehung verbindet, sondern den gerade entgegengesetzten des Schutzes der Tiere vor menschlicher Einmischung. Flächendeckende Infrastrukturen der Rechteverwirklichung, die etwa über Wildhüter an den Grenzen tierlicher Lebensräume hinausgingen, wären diesem Zweck gewiss abträglich.

Aus demselben Grund ist dieses Rechteverständnis auch atomistisch.[49]  Es vermittelt keine positive Vision des Zusammenlebens. Zumindest Francione stellt sich die ideale Welt im Gegenteil als eine ohne alle institutionalisierten Mensch-Tier-Beziehungen vor. Rechte spielten in ihr nur die Rolle, Menschen an einer rücksichtslosen Behandlung von Tieren zu hindern. Rechte sind Mittel, die Individuen in Händen halten, um selbst oder durch verständige (menschliche) Vertreter fremde Übergriffe abwehren zu können. Das ist sicher auch eine Funktion der Menschenrechte, aber es ist nicht die einzige.

Die Abwehrfunktion der Rechte soll Individuen davor bewahren, von Gemeinschaften regelrecht erdrückt zu werden. Aber sie macht zugleich neue Formen sozialen Zusammenschlusses und gemeinsamen Handelns möglich. Sie ermöglicht beides sogar im strik30ten Sinne: Da sie die Individuen vom Zwang zu ganz bestimmten Formen der Gemeinschaftsbildung befreit, gibt sie ihnen den nötigen Raum, um neigungs-, überzeugungs- oder interessenbestimmt neue soziale Bindungen einzugehen oder bestehende zu bekräftigen. Die klassische Kritik an den Menschenrechten, diese seien auf den egoistischen und von seinen Mitmenschen getrennten Menschen zugeschnitten,[50]  passt aber verblüffend gut zu einem Rechteverständnis, das die Schutzfunktion der Rechte einseitig gegenüber ihren prosozialen Funktionen hervorhebt.

Inwiefern sind Theorien der Rechte wie diejenigen Cavalieris, Regans und Franciones aber unpolitisch? Cavalieri vertritt ja, wie gezeigt, ein institutionenbezogenes und geradezu staatszentriertes Verständnis menschenrechtlicher Pflichten, das sie auf Tierrechte überträgt. Regan und Francione halten die Beachtung von Tierrechten für ein Gebot der Gerechtigkeit, das dem Staat Respekts- und auch Schutzpflichten auferlege. Doch ein auf Pflichten der Nichtschädigung und des Schutzes von Individuen beschränktes Politikverständnis bleibt instrumentalistisch verkürzt. Die Politik ist nicht nur dazu da, Rechte notfalls auch mit Zwangsmitteln geltend zu machen. Sie rahmt und regelt auch das Zusammenleben und bildet selbst einen seiner Inhalte.

Politik ist die Kunst der institutionellen Ausgestaltung dauerhafter und konfliktträchtiger Beziehungen durch kollektiv verbindliches Entscheiden. Gelingt ihr dies auf eine allgemein anerkannte Weise und mit allseits akzeptablen Ergebnissen, so sind Konflikte zwar nicht ausgeschlossen, aber ihre zivilisierte Austragung wird wahrscheinlicher. Im besten Fall ermöglicht Politik Formen des Zusammenlebens, in denen man, in den schönen Worten Theodor W. Adornos, »ohne Angst verschieden sein kann«.[51] 

Das setzt allerdings auch Grenzen der Verschiedenheit voraus. Menschen können mit Klapperschlangen oder Komodowaranen nicht so zusammenleben wie mit anderen Menschen oder auch mit Hunden und Hausschweinen. Manche Tiere sind uns nicht einfach fremd wie viele Mitmenschen auch, sie sind radikal anders als wir. Wir finden beim besten Willen keinen verstehenden Zugang zu 31ihnen, oder sie sind dispositional wild: Sie fürchten und meiden Menschen oder reagieren mit Aggressivität auf alle Annäherungsversuche.[52] 

Für solche Tiere wäre es wohl wirklich das Beste, wir ließen sie vor allem in Ruhe. Ihnen gegenüber haben Rechte tatsächlich die primäre Funktion des Schutzes vor menschlichen Übergriffen. Wir sollten respektieren, dass sie biologisch für Naturzustände bestimmt sind, und davon absehen, das menschenrechtliche Ideal einer human und gerecht geregelten Welt auf ihre Lebensräume zu übertragen. Aber damit erkennen wir eben einmal mehr an, dass der Schluss von Menschen- auf Tierrechte an Grenzen stößt. Weil wilde Tiere nicht regelrecht mit Menschen zusammenleben können, sind die prosozialen Funktionen von Rechten in unserem Verhältnis zu ihnen ohne Belang.

1.3 Zwei Visionen

Wild lebende Tiere sind jedoch nicht das richtige Paradigma, um zu entscheiden, was wir den von uns gezähmten, gezüchteten und gehaltenen Tieren schulden. Domestizierte Tiere wie Hausschafe, von den schon genetisch auf uns eingestellten Hunden ganz zu schweigen, sind auf menschliche Hilfe oder auch Fürsorge angewiesen. Da wir sie schlecht auswildern könnten, müssten wir sie wohl aussterben lassen, um Franciones idealer Welt näher zu kommen. Aber wäre das wirklich eine moralisch vorzugswürdige Alternative zur Gefangenschaft und zum Zusammenleben mit Menschen? Wäre es nicht besser, unterdrückerische und ausbeuterische Formen der Haltung und Nutzung von Tieren in wirklich allseits (!) akzeptable Beziehungsformen zu verwandeln?

Einige Autoren bejahen dies. Sie schlagen vor, manche Tiere als Mitglieder unserer Gemeinwesen oder gar als Mitautoren der in ihnen geltenden Gesetze anzuerkennen. Solche Vorschläge sind politisch im engeren Sinne der Affirmation gerecht geregelter Mensch-Tier-Beziehungen. Sie sehen sich allerdings mit zwei Grundeinwänden konfrontiert.

Zum einen kann eingewandt werden, dass die Fremdheit zwi32schen uns und den allermeisten Tieren gegen die Möglichkeit einer wirklich gehaltvollen gemeinsamen Mitgliedschaft spreche. Tiere lebten eben nicht in unserer Welt öffentlich teilbarer Relevanzvorstellungen; ihre Bedeutsamkeitsbezüge seien von fundamental anderer Art und uns vielleicht gar nicht zugänglich. Das gelte nicht erst für Komodowarane, sondern beispielsweise auch schon für Schafe.[53]  Zum anderen spreche die unvermeidliche Machtasymmetrie zwischen Menschen und Tieren gegen die Möglichkeit wahrhaft egalitärer Beziehungen. Die Tiere würden immer einseitig auf unser Wohlwollen angewiesen bleiben, sie könnten menschlicher Dominanz nicht wirklich entkommen.[54] 

Gründe dieser Art sprechen aus Sicht mancher Tierrechtler für eine radikal abolitionistische Position, wie sie Francione einnimmt. Radikale tierrechtliche Abolitionisten wollen, analog zur gleichnamigen Bewegung gegen die Sklaverei, die Tiere von jeder Fremdbestimmung durch menschliche Haltung und Nutzung befreien. Ihr Endziel ist insofern unpolitisch, ja sogar anti-politisch, als sie Mensch-Tier-Beziehungen nicht neu und gerechter regeln, sondern jedenfalls in ihren institutionalisierten Formen ganz abschaffen möchten. Die Idee der Tierrechte steht dann im Dienst dieser un- oder antipolitischen Ambition.

Wer dagegen eine emphatisch politische Konzeption auch von Tierrechten bevorzugt, kann gegen den Abolitionismus einwenden, dass dieser sein namensgebendes Vorbild missverstehe. Dessen maßgebliches Ziel sei nicht das Ende aller Beziehungen gewesen, sondern die Verwandlung von menschlichen Sklaven in freie und gleiche Mitglieder der Gemeinwesen, in denen sie nunmehr lebten.[55]  Ebenso sollten wir uns vorstellen, unterdrückerische und ausbeuterische in gerecht geregelte Mensch-Tier-Beziehungen zu verwandeln. Damit gehe eine Umwertung der Gründe einher, die 33den radikalen Abolitionismus zu seiner Ablehnung aller Formen menschlicher Tierhaltung bewegen. Die andauernde Abhängigkeit von anderen, deren teils tiefgreifende Fremdheit und auch die ständige Möglichkeit von Konflikten sprächen nicht für den Abbruch aller Beziehungen; sie bildeten im Gegenteil, wie schon im menschlichen Fall, das Ausgangsproblem von Politik.

In diesem Buch werde ich eine solche emphatisch politische Sichtweise erläutern und verteidigen. Die Einwände, dass selbst domestizierte Tiere uns in anderer Weise fremd sind als unsere Mitmenschen und dass sie menschlicher Dominanz nie ganz entkommen können, sind sicher ernst zu nehmen; wie ich zeigen will, sprechen sie aber nur gegen übermäßig ambitionierte Vorstellungen von einer politischen Mitgliedschaft mancher Tiere. Sie schließen nicht grundsätzlich aus, dass wir Tiere als gleichberechtigte Mitglieder in die Gemeinwesen einbeziehen, in denen sie heute schon als Unterworfene leben. Wer die Lebensbedingungen von Tieren tiefgreifend und umfassend kontrolliert, schuldet diesen, über Nichtschädigung hinaus, auch regelmäßige Hilfe und Fürsorge.[56]  Und wenn die von uns gemeinsam verantwortete Gesetzgebung eine solche Kontrolle unter Umständen zulässt, müssten die Interessen der Tiere auch im politischen Prozess vorkommen. Sie sollten Ausdruck und Beachtung in einem nicht länger bloß anthropozentrischen Verständnis des Gemeinwohls finden.

Skeptisch sehe ich nur den weitergehenden Vorschlag, Tiere als politische Aktivbürger anzuerkennen. Auch wenn höhere Tiere in einem sinnvollen Verständnis des Wortes »handeln« können, macht sie dies noch nicht zu auch nur möglichen Mitwirkenden an der bewussten und intentionalen Gestaltung des Gemeinwesens durch kollektiv verbindliches Entscheiden. »Politisch« handeln Tiere allenfalls in Mikrokontexten, in denen sie sich wahrnehmend orientieren und auf die sie aktiv einwirken. Doch selbst da, wo sie Normen des Zusammenlebens folgen, können sie für diese Normen nicht auch eine normative Mitverantwortung tragen, wie wir es von politischen Akteuren im vollen Wortsinne erwarten sollten.

Zum Erfassen abstrakterer politischer Handlungszusammenhänge fehlen auch sehr sozialen und vergleichsweise intelligenten 34Tieren wie Hunden die Voraussetzungen. Sie nehmen nicht intentional auf die politischen Formen und Inhalte des Zusammenlebens in einem modernen Staat Bezug. Sie können die verschiedenen Perspektiven der individuellen Mitglieder nicht zu einem bürgerschaftlichen Wir verschränken, sie besitzen kein Verständnis für symbolisch integrierte oder ›vorgestellte‹ Gemeinschaften, und sie sind außerstande, institutionelle Tatsachen wie Ämter und Autorisierungsakte zu erfassen. Obwohl viele Tiere mit uns zusammenleben und auch interagieren, kommen unsere politischen Begriffe in ihren Bedeutsamkeitsbezügen nicht vor. Sie liegen jenseits ihrer Welten. Darum ist es nicht in ihrem ureigenen Interesse, als politisch verantwortliche Mitbürger anerkannt zu werden.[57] 

Wiederum gibt also die Interessentheorie der Tierrechte auch die Grenzen einer sinnvollen Anwendung politischer Konzepte auf Mensch-Tier-Beziehungen zu erkennen. Das gilt erst recht für die Beziehungen von Tieren untereinander. Bereits Hauskatzen werden viele kleinere Tiere jagen und fressen, wenn ihre Halter sie nicht daran hindern. Im Falle von wild lebenden Tieren sind nicht einmal schützende Eingriffe in großem Stil möglich, wollen wir nicht die gesamte noch verbleibende Wildnis in eine Art riesigen Zoo verwandeln. Wer dies nicht möchte, sollte auch davon absehen, normativ gehaltvolle Konzepte wie »souveräne Gleichheit« auf Wildtiergemeinschaften anzuwenden. Der Respekt vor den Naturzuständen, für die Wildtiere bestimmt sind, ist ein normatives Gebot zweiter Stufe. Es verlangt von uns, Normen erster Stufe wie das Gebot, Schaden von anderen abzuwenden, nicht überall anzulegen und durchzusetzen.

Die letzten Bemerkungen weisen auf die Kritik voraus, die ich vor allem an Sue Donaldsons und Will Kymlickas Vision einer Zoopolis üben werde. Ihr kommt mehr als jedem anderen Ansatz das Verdienst zu, Mensch-Tier-Beziehungen für die politische Philosophie erschlossen zu haben. Zugleich scheint sie mir aber beispielhaft für eine Überdehnung politischer Grundbegriffe durch deren Anwendung auf Tiere zu stehen.

Donaldson und Kymlicka vertreten eine zweistufige Konzeption der Tierrechte. Sie unterscheiden zwischen allgemeiner moralischer Statusbestimmung und verschiedenen politisch bedeutsamen 35Beziehungsformen. Ihre Antwort auf die Statusfrage ist radikal egalitaristisch: Jedem empfindungsfähigen Tier komme ein den Menschenrechten entsprechender Status der Unverletzlichkeit als Rechtssubjekt zu. Art und Ausmaß unserer positiven Verpflichtungen hingen jedoch außerdem davon ab, in welchen Verhältnissen wir zu Tieren stehen.

Die Haltung und Nutzung von Tieren, die wir zu unseren Zwecken gezüchtet haben, ergebe den für unsere Pflichten folgenreichsten Beziehungskontext. Aus diesem resultierten Staatsbürgerrechte, die auch einen Anspruch der Tiere auf Anerkennung als Aktivbürger einschlössen. Am wenigsten schuldeten wir wild lebenden Tieren, die wir als Angehörige eigener souveräner Gemeinwesen ansehen und darum recht weitgehend sich selbst überlassen sollten.[58]  Eine Zwischenkategorie bildeten kulturfolgende Tiere wie Waschbären; diese sollten wir analog zu ansässigen Nichtstaatsbürgern als Einwohner (denizens) ansehen, denen wir mehr schuldeten als Wildtieren, aber weniger als domestizierten Tieren.

Da ich diese Konzeption später ausführlich kritisieren werde, sei hier schon auf eine Grundübereinstimmung hingewiesen: Ich teile die Überzeugung, dass wir eine zweistufige politische Philosophie der Tierrechte brauchen. Wir benötigen eine politische Philosophie, die auf einer Klärung des moralischen Status von Tieren fußt. Diese Überzeugung gibt dem vorliegenden Buch seine Struktur. Der erste Teil dient der Erläuterung und Rechtfertigung einer Interessentheorie der Tierrechte; der zweite Teil handelt von Möglichkeiten und Grenzen einer Anwendung von Begriffen und Begründungen des politischen Denkens auf das Mensch-Tier-Verhältnis. Ohne den ersten Teil hinge die Argumentation normativ in der Luft, ohne den zweiten Teil bliebe sie mit Blick auf politisch bedeutsame Beziehungsformen unterbestimmt. Und wie angedeutet glaube ich, dass das Ergebnis des ersten Teils, die Interessentheorie der Tierrechte, auch für die Grenzbestimmung im zweiten Teil zentral ist.

Wir schulden Tieren eine politische Einbeziehung nur in dem 36Maß, wie sie direkt oder indirekt zu ihrem erlebensbezogenen Wohl beiträgt. So liegen zwar politische Mitgliedschaftsrechte wie die Zugehörigkeit zu einem Staat, die gleichberechtigte Beachtung bei der Gemeinwohlbestimmung und die Repräsentation tierlicher Interessen durch menschliche Stellvertreter im objektiven Interesse aller Tiere, die ohne regelmäßige menschliche Zuwendung nicht oder nicht gut leben könnten. Jedoch ist die Anerkennungsdimension der Rechte, die für selbstbewusste Menschen eine eigene Bedeutung besitzt, für Tiere zumindest nicht direkt bedeutsam. Sie können folglich auch nicht darunter leiden, wenn wir ihnen die Achtung als Aktivbürger verwehren, auf die Donaldson und Kymlicka Wert legen. Und da wir mit der Aktivbürgerschaft die normative Erwartung kritischer Stellungnahmen im öffentlichen Vernunftgebrauch verbinden, sollten wir sie nicht unter Wert verkaufen. Die Tiere können schließlich nicht selbst Kritik an den kritikwürdigen Verhältnissen üben, die wir ihnen aufzwingen.

1.4 Der Aufbau des Buches

Im zweiten Kapitel sage ich zunächst, was ich unter »Moral« und »moralischem Status« verstehe. Darauf aufbauend begründe ich, warum eine Einschränkung des moralischen Status auf einige oder sogar alle Menschen willkürlich wäre. Das vorläufige Ergebnis besteht in einer speziesneutralen Deutung des Grundsatzes gleicher Interessenbeachtung. Es verweist zugleich auf einen allgemeinen Inhalt der Moral: die Beachtung von Individuen mit Blick auf grundlegend oder zentral bedeutsame Güter. Ich erläutere, was es bedeutet, dass Individuen als Träger von Interessen ein Recht auf Rechte haben, und deute ein moralisches Begründungsmodell an, das diesem (höherstufigen) Recht entspricht. Das Recht auf Rechte bestimmt die Form der Moral und bildet den Rahmen, in den wir den Grundsatz gleicher Interessenbeachtung einbetten sollten.

Im dritten Kapitel diskutiere ich die Idee moralischer Rechte. Ich gehe dazu nacheinander auf Konzept und Konzeption gültiger Ansprüche und auf die Frage nach deren normativer Stärke ein. Die beste Konzeption bereits der Menschenrechte bildet eine Interessentheorie, in der auch Tierrechte einen Platz finden könnten. Zwar sind die wenigsten Rechte absolut; aber alle sollen ihren Trä37gern ein eigenes Leben nach Maßgabe grundlegender oder zentraler Interessen ermöglichen. Mit dieser allgemeinen Idee der Rechte ist der bereits etablierte Tierschutz unvereinbar, weshalb Tiere bis heute keine Rechte im juristischen Sinne besitzen.

Das vierte Kapitel handelt von den Inhalten der Rechte. Ich beginne methodisch bei den Menschenrechten, weil diese ein besonders differenziertes Bild möglicher Rechtsgüter vermitteln. Wie ich anschließend zeigen werde, besitzen viele Tiere Interessen in den Dimensionen der Existenz, des Wohlbefindens und der willensbestimmten Aktivitäten, und sie können sowohl durch Leidzufügung als auch durch Deprivation geschädigt werden. Eine besondere Art der Schädigung durch Deprivation bildet die Tötung, weshalb wir Tieren auch ein moralisches Recht auf Leben zuerkennen sollten.

Das fünfte Kapitel handelt von verschiedenen Grenzen einer Interessentheorie der Tierrechte. Diese kann manche Intuitionen, etwa solche bezüglich einer verletzbaren Würde der Tiere, nicht abdecken. Auch berücksichtigt sie nicht die Bedeutung sozialer Beziehungen und Hintergrundbedingungen für die Ermittlung mancher Rechtspflichten. Wir sollten daher die auf individuellen Eigenschaften beruhende moralische Statusbestimmung um ein kontextualistisches Rechteverständnis ergänzen. Dieses bildet zugleich eine Brücke zum zweiten Teil des Buches, der von politischen Kontexten unserer Zuständigkeit handelt.

Im sechsten Kapitel beziehe ich Begriffe und Begründungen aus neueren Gerechtigkeitstheorien auf das Verhältnis zu Tieren. Ich unterscheide zunächst zwischen allgemeinen, staatlich erzwingbaren Rechtspflichten und assoziativen Pflichten, die aus politisch bedeutsamen Beziehungen hervorgehen könnten. Wie ich zeigen möchte, ist weniger das rawlssche Kriterium der Kooperation als vielmehr das Kriterium der Unterwerfung unter einen Zwang geeignet, besondere Gerechtigkeitsansprüche von Tieren zu begründen.

Im siebten Kapitel diskutiere ich die Frage, ob Menschen überhaupt zur Tierhaltung berechtigt sein können oder ob wir diese, wie von radikalen Abolitionisten gefordert, in allen Formen abschaffen sollten. Wie gezeigt werden soll, sprechen die wichtigsten Argumente der Abolitionisten nicht kategorisch gegen die Haltung von Tieren. Diese müsste allerdings aus der Perspektive der Tiere selbst akzeptabel sein. Das ist am ehesten bei Tieren der Fall, die 38mit Menschen interagieren und das Zusammenleben oder auch die Zusammenarbeit intrinsisch wertschätzen können.

Im achten Kapitel bringe ich die staatliche Letztverantwortung für eine moralisch akzeptable Tierhaltung zur Sprache und plädiere für die grundsätzlich gleichberechtigte Einbeziehung mancher Tiere als Mitglieder unserer Gemeinwesen. Sie besitzen das Recht, auf einem staatlichen Territorium zu leben, das Recht auf Interessenbeachtung bei der Gemeinwohlermittlung sowie auf eine Repräsentation im politischen Prozess. Die Beachtung tierlicher Interessen ist dabei kein Nischenthema. Sie betrifft viele Sachbereiche und alle politischen Ebenen, weshalb ich vorschlage, von Spezies-Mainstreaming zu sprechen.

Das neunte Kapitel handelt von der weitergehenden Idee, Tiere auch als politische Akteure anzusehen und anzuerkennen. Ich kontrastiere zunächst ein hinreichend trennscharfes Handlungsverständnis mit Vorstellungen von tierlicher agency in Teilen der Human-Animal Studies. Der längste Teil des Kapitels ist dann der differenzierten Kritik an Zoopolis gewidmet. Dabei werde ich in erster Linie auf die Idee der Staatsbürgerrechte für gezähmte und gezüchtete Tiere und knapper auch auf den Vorschlag eines Souveränitätsstatus für Wildtiergemeinschaften eingehen. Das Kapitel schließt mit einigen Differenzierungen im Verständnis der »Naturzustände«, in denen wir wilde Tiere leben lassen sollten.