POLYBIUS - GAME OVER - David Irons - E-Book

POLYBIUS - GAME OVER E-Book

David Irons

1,0

Beschreibung

Halloween 1981. Alles wartet gespannt auf den neuen Spielautomaten, der pünktlich zur Halloween-Party in Jerry's Arcade geliefert werden soll. Ein Wahnsinnsspiel. Der absolute Killer … Der graue Lastwagen, der am Morgen des 31. Oktober 1981 durch die Vorstadt von Portland rumpelt, könnte unauffälliger nicht sein. Ebenso wie seine Fracht; ein Spielautomat. Doch der Schein trügt. Denn POLYBIUS, die neue Spielautomaten-Sensation für Jerry's Arcade, ist in vielerlei Hinsicht ein Mordsspiel. Bald schon heißt es GAME OVER … für jeden …  "Eine schwindelerregend köstliche Mixtur ... und mit mindestens so viel Achtzigerjahre-Charme vollgepackt wie mit blutrünstigem Schrecken." – Peter Atkins, Hellraiser II, III und IV 

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Polybius

David Irons

This Translation is published by arrangement with SEVERED PRESS, www.severedpress.com Title: POLYBIUS. All rights reserved. First Published by Severed Press, 2020. Severed Press Logo are trademarks or registered trademarks of Severed Press. All rights reserved.

Impressum

überarbeitete Ausgabe Originaltitel: POLYBIUS Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Sylvia Pranga Lektorat: Manfred Enderle

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-591-0

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Inhaltsverzeichnis

Polybius
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Epilog
Über den Autor

Kapitel 1

Portland, Oregon, Freitag, 30. Oktober 1981, 06.11 Uhr morgens

Der Morgen war ruhig und unterschied sich nicht von irgendeinem anderen Morgen.

In gewisser Weise war dieser Morgen wie der Inhalt des mattgrauen Ford-Versandwagens, der durch die Vororte von Portland, Oregon, rumpelte und nur eine Lieferung hatte. Der Schein kann trügen.

Kinder rührten sich in ihren Betten und träumten davon, am folgenden Wochenende ihre Halloween-Kostüme zu tragen. Mütter und Väter waren wach und bereiteten sich auf einen weiteren Tag vor, an dem sie auf der Arbeit wieder dasselbe machten.

Unauffällig – das unauffälligste Objekt an diesem Morgen auf der Straße hielt sich an alle Geschwindigkeitsbegrenzungen, setzte an jeder Abzweigung den Blinker und hielt gute drei Meter vor jeder roten Ampel an.

Alles an dem Truck war makellos, wie frisch vom Händler, mechanisch perfekt. Der Anlasser überdrehte nie, die Lichtmaschine erzeugte kaum jemals Strom, die Auspuffabgase waren nie schwarz, alles glänzte noch silbern und neu. Er hatte noch neue Reifen, die keinen Millimeter abgefahren waren.

Langsam bahnte sich der Truck seinen Weg durch die verschlafenen Straßen auf sein Ziel zu, seine Scheinwerfer glühten wie dämonische Augen. Er überquerte die Burlington Northern Railroad Bridge. Der Willamette River darunter sah wie ein dunkler Bildschirm aus, über dessen Oberfläche sich statische Wellen bewegten.

In der Fahrerkabine des Trucks saßen zwei schweigende Männer. Der Mann auf dem Beifahrersitz war schwarz und Mitte zwanzig, der Fahrer war weiß, etwa zehn Jahre älter, mit hellblonden, ergrauenden Haaren. Ihre Overalls waren stumpf kohlengrau, eine Farbe, die zum Truck passte. Jede Uniform hatte ein passendes aufgesticktes, weißes Logo auf dem linken Aufschlag. Dasselbe Logo war auf die mit Vinyl verkleideten Seiten des Trucks gedruckt: SINNBETÄUBEND.

Der Truck rumpelte von der Brücke und erreichte Doane Point. In den Lagerhäusern zur Rechten brannten Lichter, Rauch stieg von der Metro-Central-Sondermüllanlage zur Linken auf. Das Fahrzeug arbeitete sich beständig die St. Helens Road hinauf und kam dann auf einem verlassenen Parkplatz zum Stehen.

Ländlich, isoliert, abgesondert vom Rest Portlands.

Die Highschool und die Universität waren nur einen Steinwurf entfernt.

Die Örtlichkeit war für diesen Abend perfekt.

Während der Nacht hatte sich ein Nebelschleier herabgesenkt, eine natürliche Hülle der Geheimhaltung.

Die Türen des Trucks öffneten sich. Die beiden Männer stiegen heraus, ihre zuvor ungetragenen Overalls hatten ein paar Knitterfalten mehr. Sie arbeiteten präzise, jede Bewegung geübt und aufeinander abgestimmt. Sie öffneten die Hintertüren des Trucks so vorsichtig, wie ein abergläubischer Mann einen Sarg öffnen würde.

Sie stiegen hinein.

Der blonde Mann drückte einen Knopf. Die Ladebordwand des Trucks bewegte sich in die gewünschte Position. Die Männer zögerten, jeder hoffte, dass der andere es wagen würde, als Erster die Fracht zu berühren.

Schließlich sagte der Schwarze: »Komm, lass es uns einfach machen.«

Zögernd griffen sie gleichzeitig nach dem tiefschwarzen Spielautomaten, die Hände mit dicken Arbeitshandschuhen geschützt.

Auf den Seiten des Automaten gab es keine erkennbaren Markierungen, keine Aufkleber und kein Name auf dem Rahmen. Es war ein Phantomautomat, ein schwarzer Geist ohne Namen.

Ein typischer schwarzer Joystick.

Ein typischer einzelner Fire-Button.

Die Männer luden den Automaten auf einen Hubwagen und senkten die Maschine mit der Ladebordwand des Trucks so sanft auf den Asphalt, als wäre es eine Neutronenbombe.

Dann zogen sie den Hubwagen über den Parkplatz, wobei beide beim Gehen misstrauische Blicke über die Schulter warfen. Zwei beunruhigte Gestalten, die durch den Morgennebel wanderten.

Ein grell-pinkfarbenes, knisterndes Neonschild kam in Sicht – JERRY’S ARCADE. Es leuchtete auf einem zweistöckigen Gebäude, das einst eine Wäscherei gewesen, aber jetzt für die Achtziger modernisiert worden war.

Die Männer bewegten sich auf die riesigen Glasscheiben zu, die sich über drei der vier Seiten des Gebäudes erstreckten. Im Inneren waren Spielautomaten sichtbar, alle stillgelegt, wie Reihen elektronischer Särge.

Ein schwarzer Ford-Econoline-Kastenwagen fuhr vor der Spielhalle vor, er tauchte aus dem Nebel auf, als wäre er unter dem Umhang eines Magiers hervorgezaubert worden. Zwei Männer sprangen heraus und gingen auf die Spielhalle zu. Beide waren ganz in Schwarz gekleidet – dunkle Brillen und dunkle Anzüge. Der größere Mann – bärtig, schulterlanges Haar mit exaktem Mittelscheitel, auf seine Art attraktiv – holte einen Schlüsselbund hervor, öffnete die Glastüren der Spielhalle und ging schnell hinein.

Er zischte den Lieferanten mit deutschem Akzent zu: »Schneller.«

Der Begleiter des Deutschen in Schwarz stand an der Tür und hielt sie für die Lieferanten und den Automaten auf. Jetzt sah er sich misstrauisch um.

Die Lieferanten folgten dem Deutschen, der vor ihnen herging, und ein Klemmbrett mit dem Bauplan der Spielhalle konsultierte. Er geleitete den tiefschwarzen Automaten an Reihen von Videospielen vorbei: Pac Man, Space Invaders, Rally X, Defender, Phoenix.

Er zeigte auf eine Lücke in den aufgereihten Maschinen.

»Hier.«

Die Lieferanten schoben die neue Maschine schnell an ihren Platz, sie passte genau in ihr neues Zuhause.

Sie stand neutral neben den anderen Videospielen, ein Schatten im Vergleich mit den grellbunten Rahmen der anderen Automaten um sie herum.

Der schwarze Lieferant ging um die Rückseite des Automaten herum und schob den Stecker des Stromkabels in eine Steckdose.

Der Deutsche nahm ein Handgerät aus seiner Tasche, zog eine verchromte Teleskopantenne heraus und drückte einen Knopf.

Sofort erwachte ein tiefes Summen innerhalb des schwarzen Automaten zum Leben, wurde zunächst lauter und dann zu einem flüsternden Grollen.

Er lächelte listig und atmete tief ein, wobei ihm nur ein Anflug von Sorge anzumerken war.

Diagnostische Zahlen erwachten auf dem Bildschirm vor ihm zum Leben und hinterließen dort, wo sie verschwanden, leuchtende Elektronenpunkte.

»So fängt es an …«, sagte er auf Deutsch.

Plötzlich leuchtete an der schwarzen Vorderseite des Automaten Licht auf. Gelber und grüner Text, von hinten beleuchtet, bildeten den Namen der Maschine: POLYBIUS.

Ein kurzfristiger, ohrenbetäubender Ton erklang, so hoch wie eine Hundepfeife, aber noch hörbar für menschliche Ohren.

Die Männer knirschten alle mit den Zähnen und kniffen die Augen zusammen.

Der Deutsche drückte wieder den Knopf auf dem Handgerät, und die Maschine wurde ruhig, der Bildschirm wurde schwarz.

»Kommt, lasst uns hier verschwinden«, sagte der Deutsche.

Er wandte sich zum Gehen, blieb stehen und drehte sich mit einer freundlichen Miene zu den Lieferanten um. »Kaffee?«, fragte er.

Die Arbeiter nickten. »Klingt gut, Mr. Röach«, sagte der Fahrer des Trucks.

Sie machten sich schnell auf den Weg nach draußen.

Als sie die Spielhalle verließen, warf Steven Röach einen letzten Blick auf die neu aufgestellte Maschine und das listige Lächeln kehrte auf sein Gesicht zurück.

Sie war bereit, wartete, und alles war nach Plan gelaufen.

Jetzt brauchte die Maschine nur noch Spieler.

Es war freitagmorgens.

Der Freitagabend näherte sich.

Die Highschool und die Universität waren so nahe, nur über die Brücke.

Die Spieler würden hier sein – bald.

Und dann würde der Spaß beginnen.

Kapitel 2

Freitag, 30. Oktober, 06.31 Uhr morgens

Matthew Riley schoss vom Bett hoch, geweckt von seinem wiederkehrenden Albtraum. Seine Stirn war von einem dünnen Schweißfilm bedeckt.

Er stellte den unerträglichen LED-Wecker ab, schwang die Beine aus dem Bett und schaltete die weiße Lampe mit dem beweglichen Hals ein. Beim Aufleuchten der Birne kniff er die Augen zusammen. Er streckte die Hand aus und griff nach seiner Brille – eine Nerd-Brille – und setzte sie auf die Nase.

Eine Nerd-Brille für einen Nerd.

Die Stimmen der Kinder in der Schule, die dieses Wort für ihn benutzt hatten, verbanden sich für einen Moment zu einem misstönenden Chor, der in seinem Kopf widerhallte.

Nerd, Nerd, Nerd!

Das N-Wort, das erste Wort, was ihm an diesem Morgen in den Sinn kam, würde später wieder in der Schule auftauchen – so war es immer.

Das Wort störte ihn nie wirklich. Es war eher nervig für ihn, als ein Beispiel für echtes Mobbing.

Manchmal war es wie eine Gewohnheit: »Yo! Matthew, du Nerd, kann ich mir dein Wissenschaftsbuch leihen?«

»Hey, Nerd, gibt es eine Chance, dass du die Ergebnisse des Tests nächste Woche mit diesem Computer rauskriegst?«

Leider war das die Einfachheit des urteilenden Highschool-Blicks.

Man sah so aus – dann war man es.

Es war nicht so, dass er in Cordhosen mit Schlag aus dem vergangenen Jahrzehnt und einer Tasche voller Stifte herumlief. Eigentlich sah er nicht anders aus als die übrigen durchschnittlichen Jugendlichen. Sweatshirt, Bluejeans, Tennisschuhe von Adidas.

Es lag nur an der Brille. Dicke Gläser mit einem glänzenden, schwarzen Rahmen. Die Brille – und seine Computerkenntnisse. Eine Mischung, die zusammen ein Ergebnis ergab.

Sofortiger Nerd.

Es war genauso, als wenn man jemand Großen ständig daran erinnerte: »Wow! Bist du groß! Du solltest Basketball spielen!«

Oder als ob man einem umwerfenden Mädchen immerzu sagte: »Wow! Bist du schön! Du solltest ein Model sein!«

Oder, in seinem Fall: »Wow! Du bist klug! Du trägst eine Brille! Du solltest ein Nerd sein!«

Wenn er ‚Nerd!‘ nicht im Bus oder auf dem Weg zur Schule hörte, dann konnte Matthew darauf wetten, dass es passierte, wenn Mr. Gilbert, der Lehrer für Computerwissenschaften, sich wieder verspäten und sie vor dem Klassenraum warten lassen würde. Und dann würden Rob Conroy, Gary Lynch oder Tom Rustler dafür sorgen, dass er es hörte: Nerd!

Wenn diese drei Arschlöcher es sagten, war es mit all der Verachtung, die ein Rassist aufbringen würde, wenn er das andere N-Wort sagte.

Aber das war alles, was diese Schimpfwortrufer in seinen (vier) Augen waren: Arschlöcher, beliebte Arschlöcher, normale Arschlöcher. Und Rob, Gary und Tom waren die drei Lieblingsarschlöcher des Leichtathletik-Teams.

Matthew stieg so leise wie möglich aus dem Bett, um niemanden zu wecken, der vielleicht noch schlief. Sein Pyjama entfaltete sich aus der Fetallage, in der er die ganze Nacht zusammengerollt gelegen hatte. Er zog die Laken mit dem schwarzweißen Karomuster wieder zurecht. Er langte zum unteren Teil des Bettes, schnappte das Black Flag T-Shirt, das ihm seine ältere Schwester auf einem Konzert gekauft hatte, wischte sich den Schweiß vom Gesicht und warf das T-Shirt in eine Ecke.

Dann erinnerte er sich, warum er überhaupt geschwitzt hatte. Es war zwei Monate her, seit er zum letzten Mal diesen Traum gehabt hatte. Seit er ihn in seinem Schlaf verfolgt hatte. Er war sicher gewesen, dass er seit dem letzten Mal verschwunden war … und jetzt war er zurück.

Die völlige Dunkelheit, das Bewusstsein, dass er irgendwie komplett in dem Albtraum gefangen war. Nicht nur gefangen, sondern gelähmt, unfähig, seine Hände zu bewegen, die Beine fest zusammengebunden, Teile der Dunkelheit selbst hatten sich um sein Gesicht geschlungen, zogen an seinen Augen, schnitten in die Seiten seines weit aufgezwungenen Mundes. Er wehrte sich panisch, fiebrig vor Angst, atmete angestrengt keuchend, und niemand hörte seine gedämpften Schreie. Sein Körper fühlte sich heiß und verschwitzt an, der Boden, auf dem er lag, war kalt und steinhart, sodass ihn dort, wo er entblößte Haut berührte, Schauer durchliefen. Er bekam nur bei dem Gedanken daran eine Gänsehaut.

Wenn er aufwachte, verfolgten ihn die Empfindungen des Traumes, brannten sich in ihn wie ein Geisterbild, das nach dem Ausschalten auf dem Fernsehschirm zurückblieb.

Leise und mit langsamen Schritten ging er über den dicken, sturmgrauen Teppich zu seinem Schreibtisch, wo er ohne nachzudenken seinen IBM 5150 PC einschaltete. Der Einschaltknopf klang, als würde ein Abzug durchgedrückt.

Der 4.77-MHz Intel 8088 Prozessor öffnete sein elektronisches Auge. Elektrizität lief durch seine gelöteten Adern, und der Bildschirm erwachte aus seinem Schlaf.

Der Computer war nagelneu, ein Vorteil des Jobs seines Vaters als örtlicher Manager von Radio Shack.

Für seinen Dad war der Computer nur ein Spielzeug, etwas, das man einem Kunden aufdrängte. Aber für Matthew war er viel mehr.

Manche Menschen konnten etwas mit Worten erschaffen, manche mit Bildern. Er verstand etwas vom Programmieren, und mit der Binärsprache konnte er alles erschaffen, was der Speicher des Computers erlaubte.

Für die Lehrer war er ein Wunderkind, für seine Eltern ein Genie, und für Gleichaltrige und Mitschüler ein Nerd. Es war nicht so, dass er uncool war, jedenfalls nicht seiner Meinung nach. Er war gut mit den ‚Computersachen’, wie seine Mutter es schwammig ausdrückte.

Das war seine Morgenroutine: Er stand um 6.30 Uhr auf und war an der Tastatur, bevor seine Mom um Viertel vor acht an seine Tür kam. Um acht Uhr ging er zum Frühstück nach unten.

Er legte, während er tippte, ein dickes Handtuch über seine Hände. Es diente als Schalldämpfer, damit niemand vom Klacken der Tasten aufwachte. Seine Tastenanschläge klangen wie entferntes Maschinengewehrfeuer.

Vor dem Boom der Atari-2600-Heimkonsole, die den Vorteil mit sich brachte, Pac Man im eigenen Wohnzimmer spielen zu können, spielten die Kids in seiner Highschool bereits eine gekürzte Version, die er auf dem Computer der Schule programmiert hatte.

Zu dem Zeitpunkt erkannten die Lehrer sein Potenzial, erzählten seinen Eltern davon und unterstützten sein Talent, so weit sie konnten. Wenn jetzt Freunde zu ihm kamen und ihn um Dinge baten, die unter Freunden üblich waren, runzelte Matthews Mom die Stirn, weil sie von seinem Potenzial wusste.

Inzwischen runzelte Matthews Mom bei allem, was mit ihm zusammenhing, die Stirn. Während des letzten Jahres waren das Normale und das Durchschnittliche abhandengekommen. Seine beiden Schulfreunde, Dan Keaton und Nick Ormsby, baten ihn dauernd, etwas für sie zu machen.

»Du musst dir diesen Film First Blood ansehen! Er ist fantastisch! Kugeln und Blut spritzen nur so über den Bildschirm!«

»Heilige Scheiße! Die Eltern von Danny Anderson haben HBO, man kann den ganzen Tag zusehen, wie die Schädel von Leuten in zwei Hälften gespalten werden!«

»Oh, mein Gott! Wir haben ein Videoband unter dem Bett von Terrys Dad gefunden, die Frauen … Herr im Himmel … Titten größer als dein Kopf, Mann!«

Manchmal hing er mit ihnen ab und machte Sachen, die jeder andere Jugendliche in seinem Alter machte. Aber dann nagten Schuldgefühle in ihm. Das College war nur noch vier Jahre entfernt, drei Jahre, zwei Jahre … und die Schuldgefühle, der Druck von außen wegen dieser Computersache, wegen des Nerds, wegen des Potenzials, schienen ihn zu zerquetschen, als wäre er in einer Autopresse.

Außerhalb des Computerbildschirms gab es nur eine Sache, die den Druck eindämmte.

Er hörte auf, auf die Tasten einzuhämmern, und schloss das Dokument, das er für seine große Abschlussarbeit programmierte – ein vernetzter Computer-Wetterdienst.

Er warf die Floppy-Diskette aus, schob sie zurück in ihre Papierhülle, griff unter seinen Schreibtisch und holte eine seiner alten Ausgaben des Byte-Magazins hervor, ließ eine andere Diskette – die geheime Diskette – aus seinen Seiten hervorgleiten und schob sie in den Computer.

Er tat das mit dem zwielichtigen Aussehen eines Mannes in einem Regenmantel, der mit einer braunen Papiertüte einen Pornoladen verlässt.

Der laute Lademechanismus des Laufwerks ließ ihn zusammenzucken.

Eine einzelne Zeile weißen Textes erschien auf dem schwarzen Bildschirm:

LADE: KARA

Dann Dunkelheit, das Surren des kleinen Motors, Zahlen und Text. Die Programmierung, seine Sprache wurde verarbeitet und berechnet.

Kara.

Man konnte es bisher nur als eine Schwärmerei bezeichnen. In den letzten fünf Jahren war er selten näher als drei Meter an sie herangekommen.

Als Kinder waren sie befreundet gewesen, bevor es etwas bedeutete, dass sie ein Mädchen und er ein Junge war. Jetzt jedoch bedeutete es etwas für Matthew, dass Kara Campton ein Mädchen war, und er konnte nichts dagegen tun.

Sie war eins zweiundsechzig groß, hatte den durchtrainierten Körper einer Leichtathletin und dickes, zurückgekämmtes, brünettes Haar, das von so viel Haarspray gehalten wurde, dass man damit ganz Russland hätte vergasen können. Sie kannte die beliebten Arschlöcher, die normalen Arschlöcher und die drei Lieblingsarschlöcher des Leichtathletik-Teams.

Tatsächlich ging sie mit Rob Conroy, dem Star-Arschloch des Leichtathletik-Teams der Jungen.

Wenn soziale Ligen wie Zähltafeln in Videospielen beschrieben werden könnten, dann war Kara eine Top-Spielerin, immer ganz oben in der Rangliste.

Rob war im Mittelfeld, schaffte es nie in die Top Ten, lag immer unter der Bestenliste.

Aber irgendwie hatte er es geschafft, bei Kara zu punkten.

Ganz große Sache.

In Matthews Augen war Rob, das Arschloch, der Kerl, den der Sportlehrer buchstäblich in goldene Roben kleidete, weil er schnell rennen konnte, ein Eins-A-Loser.

A für Arschloch.

Und obwohl Kara mit den Arschlöchern abhing und über ihre Witze lachte – wenn Matthew einen Blick in ihre dunkelbraunen Augen erhaschen konnte, sagte ihm etwas auf tieferer Ebene, dass sie nicht eine von ihnen war.

Es war ein Instinkt, den er als Wahrheit nahm.

Der Bildschirm wurde weiß, und graue Pixel formten sich langsam zu einem digitalen Bild. Ein Gesicht schälte sich heraus, in Kontrast zu einem pinkfarbenen Hintergrund.

Es war ein Bild von Kara, eine Bearbeitung ihres Jahrbuch-Fotos. Er drückte die Leertaste, und das Bild bewegte sich, mühevoll von ihm selbst programmiert und animiert. Eine elektrische Brise wehte ihr verpixeltes Haar zurück, und sie blinzelte.

Würden das immer seine Erfahrungen mit Frauen sein? Durch einen Monitor, erschaffen von einem Binär-Code?

Wäre seine einzige Schnittstelle mit Kara immer die Programmierung auf einem Bildschirm?

Der Gedanke an eine tatsächliche Verbindung in der realen, dreidimensionalen, echten Welt war für ihn genauso Science-Fiction wie alles, was Steven Spielberg als Film herausbrachte. Ein enges Zusammentreffen der ersten Art war bisher genauso ein Traum wie der Albtraum, den er letzte Nacht gehabt hatte.

Er sah sich die Grafik noch eine Weile an.

Er konnte träumen.

Er konnte träumen.

Die Schlafzimmertür wurde aufgerissen. Seine Mutter, bekleidet mit einem pinkfarbenen Bademantel, stand da und sah ihn aus verträumtem Augen an. Er griff um den IBM herum und drückte auf den Netzschalter. Der Bildschirm wurde tödlich schwarz, und er hörte ein hartes, entmutigendes Knirschen aus dem Diskettenlaufwerk.

»Hast du wieder die ganze Nacht vor diesem Ding gesessen?«, fragte sie und neigte müde den Kopf.

»Nein, Mom, ich bin nur früh aufgestanden.«

»Oh, Schularbeiten?«

»Was sonst?«, sagte er, drehte sich auf seinem Bürostuhl und verbarg so den Monitor, als könnte sich ein Überbleibsel von Karas Bild darauf eingebrannt haben.

»Na ja, das ist gut. Komm in zehn Minuten runter, dann ist das Frühstück fertig.«

Sie sprach nie so schroff mit ihm wie mit seiner Schwester. Wenn seine Mom sich an ihn wandte, war die Gemeinheit zwar noch da, aber verborgen – gerade so.

Seine Mom nickte, sie sah ihn einen Moment misstrauisch an, bevor sie das Zimmer verließ.

Er schaltete schnell den Computer an und überprüfte, ob alles in Ordnung war – das war es. Dann warf er die Diskette aus und versteckte sie wieder zwischen den Seiten des Byte-Magazins.

Er zog an der Schnur, die an der Jalousie seines Schlafzimmerfensters befestigt war. Im Fensterrahmen sah er alle Orange- und Brauntöne von Halloween – gefallene Blätter, wie verrostet wirkende Bäume. Dekorationen häuften sich in den Nachbargärten der North Amherst Street: Plastiksärge und aufgesprühte Spinnennetze.

Die Kälte des Oktobers drückte sich gegen sein Schlafzimmerfenster, versuchte, hineinzugelangen und ihm in die Knochen zu beißen.

Ein schwarzer Lieferwagen hatte draußen geparkt, und irgendein Arschloch mit Bart und dunkler Brille warf ein paar leere Papp-Kaffeebecher aus dem Fenster. Das Grinsen auf dem Gesicht des Fremden ließ irgendwie die Oktoberkälte hinein, sodass sie an ihm nagen konnte.

Er hatte vergessen, dass morgen Halloween war. Seine Wahrnehmung der Realität veränderte sich mit den Stunden, die er auf den Computerbildschirm starrte.

Nach dem heutigen Abend würde Matthew dieses Halloween niemals mehr vergessen.

Kapitel 3

Freitag, 30. Oktober, 07.55 Uhr morgens

Kara Campton hatte schon mit ihrer Morgenroutine vor der Schule begonnen: Sie betete auf den Knien vor dem Altar von Revlon und Maybelline auf ihrem Toilettentisch.

Jeden Tag befolgte sie dasselbe Ritual: Ein Gesicht für die anderen Gesichter erfinden, die sie treffen würde. Auf eine Art erfand sie seit einer Weile eine tägliche Maske, ein Schild, hinter dem sie das verbarg, was wirklich darunter war.

Aber was war darunter?

Daran wollte sie nicht denken.

Es beschwor Worte herauf, die sie nicht in ihrem Hirn formulieren konnte, ganz zu schweigen davon, sie über die Lippen zu bringen. Die Situation mit ihrem Freund hatte sich wie ein Zahnrad gedreht, sich leicht verschoben, verändert, bis alles sich in etwas anderes verwandelt hatte, das sie nicht mehr erkannte.

Zuerst war es der Sport gewesen, der sie und Rob zusammengebracht hatte. Es war das Einzige gewesen, von dem er besessen war, worin er der Beste sein musste. Aber jetzt hatte er diese neue Sache.

Die neue Sache schwamm im Nebel ihres Geistes, tanzte in ihrem Bewusstsein, abgekoppelt von den Worten, die es bezeichneten.

Sie hatte gehört, wie Robs neue Sache in den Nachrichten erwähnt wurde, in Filmen, sie hatte davon in der Zeitung gelesen. Selbst der verdammte Ronald Reagan ließ sich darüber aus. Robs neue Besessenheit war etwas, das überhaupt keine guten Assoziationen auslöste.

Sie versuchte, sich abzulenken. Rotere Lippen, rotere Lippen.

Sie drückte die Lippen aufeinander, schürzte sie und summte das Lied mit, das im Radio lief – Blondies Heart of Glass. Sie trug wie manisch mehr Lippenstift auf. Sie liebte dieses Lied. Es half ihr dabei, zu ignorieren …

Das wahre Problem.

Die neue Sache.

»Halloween, Halloween, Halloween«, sagte sie, nickte mit dem Kopf und versuchte, sich weiter abzulenken.

Über Dinge nachzudenken, war inzwischen problematisch. Warum musste sie über Dinge nachdenken? Alles war so leicht, als sie noch Kara Campton war, das Wunderkind des Leichtathletik-Teams der Schule.

Sie lief, man stoppte ihre Zeit, die Menge jubelte.

Klapse auf den Rücken, Lächeln, Pokale. Sie hatte nie etwas anderes gewollt.

Doch plötzlich, während des letzten Jahres, war da mehr, ob sie es nun wollte oder nicht.

Sie sah zu ihrem Bücherregal, in dem Silbertrophäen für Langstreckenlauf standen. Das war das Wichtigste. Das Leben war wie das Laufen – es ging darum, vorwärtszukommen, den nächsten Schritt zu machen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen.

So war es gewesen, als sie anfing, mit Rob zu gehen, eine Weiterentwicklung ihres sozialen Standes in der Schule. Er war der beste Läufer der Jungenmannschaft, sie war die Nummer eins bei den Mädchen. Sie waren König und Königin der Leichtathleten. Jetzt war er bei seiner neuen Beschäftigung unter den Ersten. Die Frage war, wollte sie mit ihm dort sein?

Sie stand auf und überprüfte ihr Outfit, ein Strick-Sweater in warmem Braun und Schwarz mit einem Jeansrock und einer schwarzen Strumpfhose.

War es für die Strumpfhose zu kalt? Wenn es für die Strumpfhose zu kalt war, würde sie leiden. Vielleicht verdiente sie das, nachdem sie Teil … dieser Nacht gewesen war.

Sie zog ihre halb zugezogenen Vorhänge zurück, die das schwummrige Licht brachen, das ihr Schlafzimmer erfüllte. Der Tag war trüb: keine Sonne, der Himmel stahlgrau, der Boden voller gefallener Blätter.

Sie beobachtete ein kleines Mädchen, das wie eine Prinzessin gekleidet war, und ein paar Meter vor ihrer Mutter die Straße entlanghüpfte, und nahm die sichtbare Atemwolke vor ihrem Mund als Maß für die Kälte des Tages – das war kaum etwas. Sie nickte, gab ihr Einverständnis zu der Strumpfhose und biss sich ins Wangenfleisch. In letzter Zeit biss sie sich häufig ins Wangenfleisch. Das war zu einem nervösen Tick geworden.

Kara war jetzt achtzehn. Die kleine Prinzessin, die da draußen hüpfte, mochte acht Jahre alt sein.

Acht Jahre – das schien eine Ewigkeit her zu sein.

Die Dinge waren einfach, wenn man acht war. Zur Hölle, die Dinge waren auch mit siebzehn noch einfach gewesen, und das war erst vor drei Monaten.

Sie versuchte, sich wieder abzulenken. Haarspray, wo ist das Haarspray? Unter meinem Kissen, Dummkopf.

Sie schloss die Vorhänge, sodass es im Zimmer dämmerig war, während sie ihr Haar aufpolsterte, es an einigen Stellen besprühte und dabei die Luft anhielt, um das Spray nicht einzuatmen.

Ihr kam ein Gedanke: Was wäre, wenn ihr jüngeres Selbst – die achtjährige Kara – wüsste, in was die achtzehnjährige Kara jetzt verwickelt war? Was würde sie dazu sagen?

Ein Bild erschien vor ihrem inneren Auge: Ihr eigenes Gesicht, jünger, das Haar zu Zöpfen geflochten wie auf dem gerahmten Bild bei der Eingangstür, das sie hasste (und ihre Mom liebte). Ihr Gesicht schwamm in einem Meer von Dunkelheit, mit einem erstaunten Ausdruck.

Aber was ist mit dem Leichtathletik-Team? Was ist mit Mom und Dad? Und was ist mit Coco, unserer Katze?, jammerte der schwebende Kopf.

Kara warf das Haarspray aufs Bett und seufzte tief. Fünf Worte schwammen in der dunklen, nebligen Materie ihres Geistes, schwebten um den achtjährigen Kopf herum.

Sie war zu einem Mädchen geworden, das von ungesagten Worten verfolgt wurde, die, wenn man sie zu einem Satz verband, ein Gefühl hervorriefen, bei dem ihr Magen ziepte, als wäre er mit den Fäden eines Puppenspielers verbunden.

Würde es alles verschwinden lassen? War es so einfach, nur die Worte laut auszusprechen?

Sie sah wieder zu ihren Trophäen hinüber. Der schwebende Kopf hatte recht. Was würden alle sagen, wenn sie wüssten, dass sie in diese Sache verwickelt war? Wenn sie wüssten, was aus Rob und ihr geworden war?

Sie sah zu dem Teddybären auf ihrem Bett, den Rob ihr zum Valentinstag geschenkt hatte. Sein Gesicht wurde von dem übergroßen Herz verborgen, das er in den Tatzen hielt. Der Schriftzug: Ich liebe dich, war in die rote Mitte des Herzens gestickt.

Sie nahm den Bären, drehte den Schlüssel an seinem Rücken und hörte eine klimpernde Wiedergabe von Teddy Bear’s Picnic von der Stelle, wo die ausgestopften Därme sein sollten.

Wenn du heute in den Wald gehst, wartet eine große Überraschung auf dich …

Sie erinnerte sich an das Lied und brachte es mit Rob in Verbindung.

Der gute, alte Rob, ihr Valentinstag-Teddybär!

Nicht ganz.

Dann, ohne nachzudenken, ließ sie die Worte in ihrem Kopf aus ihrem Mund entkommen.

»Ich liebe dich nicht, Rob.«

Ein Blitz schoss durch ihren Körper. Ihre Worte waren blasiert, aber wahr. Sie purzelten genauso natürlich heraus, wie die Sonne jeden Morgen am Horizont aufging.

Sie liebte ihn nicht mehr.

Wie konnte sie ihn nach … dieser Nacht noch lieben?

Er war nicht mehr der Rob, in den sie sich verliebt hatte. Hatte sie den Rob, in den sie sich verliebt hatte, überhaupt gekannt? Hatte es ihn am Anfang wirklich gegeben?

Vielleicht.

Vielleicht auch nicht.

Kara war die Art von Mensch, für den etwas Realität wurde, wenn es draußen, wenn es laut gesagt worden war. Die Worte waren hervorgebrochen, befreit wie die schuppigen Kreaturen aus dem Dungeons&Dragons-Spiel ihres Bruders, sie flogen über die Landschaft und spien Feuer auf alles, was unter ihnen lag. Sie zerstörten alles, was einmal war.

»Ich will eine Leichtathletik-Läuferin werden, Mom«, hatte sie mit acht Jahren gesagt. Mit neun war sie es.

»Ich will die Schnellste sein, Mom. Ich weiß, dass ich es schaffen kann«, sagte sie mit elf Jahren. Mit zwölf war sie es.

»Ich will die Goldmedaille bei den staatlichen Meisterschaften, Mom«, sagte sie, und von den Griffen ihres Silberpokals auf dem Bücherregal hing diese Goldmedaille.

Jetzt öffnete sie wieder den Mund und machte eine Vorhersage, noch eine zukünftige Wahrheit, gefasst in sechs Worte.

»Ich will mit Rob Schluss machen.«

Sie stand eine Weile schweigend da. Der schwebende achtjährige Kopf war wieder zu ihrem eigenen geworden. Sie war geschockt und fragte sich, was als Nächstes passieren würde.

»Ich muss mit Rob Schluss machen«, sagte sie mit selbstsicherer Stimme.

Der schwebende Kopf nickte zustimmend und flüsterte heimlich: »Wegen dieser Nacht.«

Ein Wirbel weiterer Fragen drehte sich schneller und schneller.

Wann? Wo? Wie?

Würde sie noch Teil davon sein?

Würde sie noch Teil dieser Nacht sein?

Dieser Welt?

Konnte sie einfach aussteigen? Würde er sie lassen?

Das Gefühl, dass jemand über ihr Grab ging, kroch ihr Rückgrat hinauf. Er war nicht mehr der Rob, den sie kennengelernt hatte. Die Bilder dieser Nacht bewiesen es. Sie stellte sich vor, das Opfer seiner Wut zu sein. Das machte ihr Angst. Sein früher charmantes Lächeln für sie hatte sich in das verzerrte, höhnische Grinsen verwandelt, das sie auf seinem Gesicht gesehen hatte.

Wer zur Hölle ist Rob Conroy?

Sie wusste nicht einmal mehr, wer ihr eigener Freund – Ex-Freund, korrigierten sie ihre Gedanken – war.

Die Worte waren jetzt Realität, etwas, das sie tun musste.

Vielleicht heute Abend … vielleicht.

»Kara! Rob ist da«, rief ihre Mom.

Die Füße, die über ihr Grab gegangen und ihr einen Schauer verursacht hatten, führten jetzt einen Stepptanz auf.

Ratta-tatta-tatta.

»Ich komme, Mom!«, rief sie, sah in den Spiegel und in ihre eigenen Augen.

Sie zog ihre braune Lederjacke an und schlang ihren grauschwarz gestreiften Schal um den Hals.

Heute Abend … heute Abend.

Als sie die Schlafzimmertür schloss, grinste der schwebende achtjährige Kopf. Schönes Halloween, Kara!, rief er spöttisch mit zuckersüßer Stimme.

Es war kein schönes Halloween. Alles änderte sich, nichts war nach diesem Halloween noch dasselbe.

Kapitel 4

Freitag, 30. Oktober, 08.01 Uhr morgens

»Was zur Hölle machst du da, Joanna?«, fragte Elizabeth und zog die Kopfhörer ihres Sanyo Walkmans von den Ohren. Tonfetzen von T.S.O.L. verbreiteten sich in der Küche.

»Sag nicht Hölle! Besonders nicht zu deiner Schwester!«, blaffte ihre Mom sie puritanisch an.

»Soll das ein Witz sein?« Elizabeth lachte. »Hast du mal gehört, was so aus ihrem Mund kommt?«

Joanna streckte ihre Zunge so weit wie möglich heraus und sah aus, als hätte jemand sie an ihren blonden Zöpfen gepackt und ein Knie in ihren Rücken gedrückt.

»Darum geht es nicht! Behandle deine Schwester respektvoll, Elizabeth.«

»Respektvoll! Sieh dir an, was sie mit dem Müsli macht! Es ist völlig verdorben!«

Joanna steckte bis zum Ellbogen in einer Packung Cap’n-Crunch-Getreideflocken, gesüßte Weizenkugeln, die in einer Fabrik mit genug Zucker versehen worden waren, um einen in den Orbit zu blasen. Jetzt grub sie die Zunge in ihre Unterlippe, kniff die Augen zusammen und zog eine Grimasse, die Mongoloider Spasti bedeuten sollte, wie ihre Freundin Jenny Davis ihr erklärt hatte.

Elizabeth hatte Matthew in der Dusche gehört, er machte sich bereit, die Kriegszone zu betreten. Die ganze Küche pulsierte normalerweise wie eine Landmine kurz vor der Explosion, wenn er die Treppe herunterkam.

Ihr Vater huschte in der Küche herum, die rote Krawatte von Radio Shack baumelte um seinen Hals, in der einen Hand hatte er eine Kaffeetasse, in der anderen die New York Post. Er hatte immer noch dunkles Haar und eine Taille, im Gegensatz zu den meisten anderen Männern in seinem Alter.

Er hielt inne, um die verrückte Grimasse seiner jüngsten Tochter anzusehen, sah zu, wie die Miene wieder verschwand und sie mit ausdruckslosen Augen weiter auf dem Boden der Müslipackung suchte, wie Kermit, der Frosch aus der Muppets Show. Ihr Mund war schlaff, als hätte sie die beste Lobotomie gehabt, die für Geld zu bekommen war.

»Was macht sie?«, fragte er und zeigte mit der Zeitung in ihre Richtung.

»Ich suche nach der Beigabe!«, blaffte Joanna, als ihr bewusst wurde, dass alle Blicke auf sie gerichtet waren.

»Du hast deine Hand seit zehn Minuten da drin!«, rief Elizabeth.

Joanna verdrehte entrüstet die Augen. »Margret Carothers hat gesagt, dass sie eine Packung Cap’n Crunch aufgemacht hat und da drin war eins dieser Donkey-Kong-Dinger, Game & Watch. Wenn du es unbedingt wissen willst.«

»Oh?«, sagte ihr Vater nachdenklich. »Oh! Die bekommen wir in den Laden. Sie sind cool!« Ein jungenhaftes, schelmisches Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und verschwand wieder, als die Logik-Anschlüsse übernahmen. »Aber ich habe den Einzelhandelskatalog von Radio Shack für nächstes Jahr gesehen. Donkey Kong Game & Watch kommt erst dann heraus. Außerdem kosten sie zwanzig Dollar, und ich glaube nicht, dass sie sie in eine Müslipackung für einen Dollar tun würden.«

»Aber«, erwiderte Joanna in einem allwissenden Ton. »Margret Carothers hat mir gesagt, dass Cap’n Crunch nächstes Jahr Donkey Kong – Das Müsli heißen wird. Ihr Dad hat einen Einzelhandelskatalog von seinem Gemüseladen, und da drin ist es. Und er hat Margret gesagt, dass sie es verpatzt haben und angefangen haben, diese Donkey Kong Game & Watch Dinger zu früh in das falsche Müsli zu tun. Sie sind die Beilage. Alle in meiner Klasse wissen das, Daddy.« Joanna verdrehte die Augen.

»Vielleicht hat dein Vater recht, Liebes? Vielleicht solltest du deine Hand da rausnehmen«, sagte ihre Mutter mit einem mitfühlenden Lächeln und übertrieben nach unten gezogenen Mundwinkeln.

Als Joanna die Hand aus der Packung riss, fielen die winzigen Rechtecke, die an ihrem Arm klebten, auf den schwarzweiß gefliesten Küchenboden, wobei sie ein leises klickendes Geräusch machten, wie rollende Murmeln.

Joanna grunzte und steckte ihre Hand wieder hinein, um es noch mal zu versuchen. »Margret Carothers hat aber gesagt …«

»Margret Carothers sagt viele Dinge. Das heißt nicht, dass du ihr glauben musst«, blaffte Elizabeth und strich vor Wut viel zu fest Butter auf ihren Toast.

»Du solltest nicht so viel Butter nehmen, Liebes«, sagte ihre Mutter. »Die Jungs werden dich nicht mögen, wenn du aufgehst wie ein …« Sie hielt die Arme an beiden Seiten ausgestreckt, zwei übergewichtige Bögen, zog ein Gesicht wie ein grunzendes Schwein und machte fröhlich ihre Tochter herunter. Bei dieser Show hatte Elizabeth das Gefühl, sich übergeben zu müssen.

»Hör auf, Mom«, erwiderte sie, verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf.

»Du musst an diese Dinge denken, Süße. Diese zerrissenen Jeans, die Lederjacke und die«, sie räusperte sich, »Musik.«

»Lass es, Mom«, knurrte Elizabeth.

Joanna steckte ihre Hand noch tiefer in die Cap’n-Crunch-Packung, und der Bellevue-Sanatorium-Blick kehrte in ihre Augen zurück.

Bevor ihre Mutter noch subtilere Arten finden konnte, ihr zu sagen, dass es ihr nicht gefiel, dass ihre Tochter ein Punk war, und dass sie ihre Kleidung und ihre Musik hasste, warf sich Elizabeth über den Tisch, riss die Müsli-Packung vom Arm ihrer Schwester und musterte die Seite.

Joanna verzog das Gesicht, weil sie wusste, dass sie das Opfer ihrer älteren Schwester spielen konnte.

»Bringen sie euch in der Schule keinen gesunden Menschenverstand bei?«, höhnte Elizabeth. »Da drin ist kein verdammtes Game & Watch, du Idiotin!«

Sofort bildeten sich glänzende Tränen, wie Christbaumschmuck, in Joannas Augen. Ihr Dad griff nach der Müslipackung und nickte traurig. »Sie hat recht, Süße.«

Joanna sah zu ihm auf, verletzt von seinem Verrat.

»Auf keinen Fall, auf gar keinen Fall, würden sie Game & Watches in einer Müslipackung weggeben, nicht einmal aus Versehen. Das ist einfach«, er suchte nach dem richtigen Wort, »lächerlich.«

»Siehst du?« Elizabeth lächelte. »Selbst Dad ist meiner Meinung.«

Eine Träne lief über die Wange des kleinen Mädchens.

»Und er weiß auch, dass du eine Idiotin bist!«

»Das habe ich nicht gesagt!«, protestierte ihr Dad.

»John!«, rief ihre Mutter.

»Terri, das habe ich nicht gesagt!«

»Ich hasse euch alle!«, heulte Joanna, rannte zur Küchentür, drehte sich um und warf ihnen einen schrägen Blick zu. »Ihr … Scheißer!«

»Joanna!«, schrie ihre Mutter. »John, geh ihr nach! Das ist alles deine Schuld!«

»Was!«, schrie er zurück. Ein Tropfen schwarzer Kaffee spritzte über den Rand seiner Tasse und landete perfekt auf einer weißen Fliese des Bodens.

»Ich habe dir gesagt, dass Schlimmeres aus ihrem Mund kommt.« Elizabeth zuckte gleichmütig mit den Schultern, setzte die Kopfhörer wieder auf und verband Jack Grishams Stimme mit ihren Ohren.

Matthew kam in die Küche und sah gerade noch rechtzeitig über die Schulter, um seinen Vater hinter seiner jüngsten Tochter die Treppe hochrennen zu sehen.

»Frag nicht«, sagte Elizabeth.

Er setzte sich an den Tisch und seine Mutter schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, als er nach der Packung Cap’n Crunch griff.

Elizabeth nahm die Kopfhörer herunter. »An deiner Stelle würde ich das nicht tun. Die Mikro-Göre hat es mit ihren widerlichen Händen verdorben.«

Matthew stellte das Müsli so behutsam zur Seite, als ob man die Packung nur mit einem kompletten Strahlenanzug berühren könnte. Er nahm sich ein Dreieck Toast und danach die Butter.

»Hey, erinnerst du dich an diesen Film?«, fragte Matthew. »The Children, wir haben ihn letztes Jahr im Rialto gesehen. Die ganzen Kinder, denen dieses eklige Zeug aus den Handflächen lief, nachdem ihr Schulbus durch eine Giftwolke gefahren war?« Bei der Erinnerung kam ein Funke Leben in sein Gesicht, ein begeistertes Glühen, dass einem wegen seiner dicken Brillengläser leicht entgehen konnte.

»Oh, mein Gott!« Elizabeth lachte. »Bei dem Film hätte ich mich fast übergeben.«

»Müssen wir am Küchentisch wirklich über Horrorfilme reden?«, fragte ihre Mutter und seufzte.

»Ja, warum sollten wir so etwas machen? Es ist ja nicht so, dass morgen Halloween wäre oder so …«

»Du bist manchmal ganz schön vorlaut, Elizabeth.« Mom runzelte die Stirn, und die V-förmige Zornesfalte tauchte wieder auf.

Sie lehnte sich auf einen Bademantelellbogen und starrte ihre Tochter böse an.

»Wenn ich vorlaut bin, weiß ich, dass ich das nicht aus diesem Genpool geerbt habe.«

Sie zog entrüstet die Kopfhörer von den Ohren, die Miene trotzig, weil sie beim Musikhören gestört wurde, ihre Worte wühlten Mom wie Suppe auf.

»Außer dir, Dad und dem Gör scheinen Trottel das Einzige zu sein, was in dieser Familie liegt.«

Ihre Mom wollte aufbrausen, biss sich aber auf die Zunge und schüttelte den Kopf.

Wann war bei Elizabeth bloß alles schiefgelaufen? Terri konnte es nicht verstehen. Wie war das Leben ihrer Tochter so dramatisch aus der Bahn geraten? Sie wiederholte das letzte Highschool-Jahr, nachdem sie sich im letzten Frühling mit Punk Musik, Fusel und Drogen ausgetobt hatte und mit Eddie Stamp zusammengezogen war, einem anderen örtlichen Punk Rocker mit Elektroschock-Haarschnitt, der große Träume von Hollywood hatte.

Das alles endete erst letzten Dezember, als Elizabeth ohne einen Penny in Los Angeles aufgegriffen wurde, als sie eine Tüte Donuts aus einem 7-Eleven stehlen wollte. Dann wurde sie wieder nach Hause geschleift, um ihr letztes Jahr an der Highschool zu wiederholen – das Jahr ihres Bruders, mit den Freunden ihres Bruders.

Elizabeths Leck-mich-am-Arsch-Lebensstil mochte vorbei sein, aber das Leck-mich-am-Arsch-Benehmen war immer noch da. Es trampelte wie ein Zombie durch ihr Haus. Es lag herum und sah sich Videos auf MTV an. Es aß alle Pop-Tarts auf und stellte die leere Packung zurück in den Schrank. Es kritzelte seine Hausaufgaben hin und zerknitterte den Plastiküberzug der Couch mit dem Verhalten eines fauchenden Elektronenblitzes, wie ein Monster Frankensteins im Teenageralter, frisch von der Straße und bereit für Partys.

Terri drehte den Kopf zu einer Seite, streckte den Hals und versuchte, den ständigen Ärger zu ignorieren, den Elizabeths Dramen ihr machten. Sie trank ihren Kaffee, aß ihren Toast und kochte innerlich wie eine brennende Plastikfabrik, rotglühend vor Hitze und voller toxischer Dämpfe, während sie den vorlauten Bemerkungen ihrer eigensinnigen Tochter zuhörte.

Elizabeth zog die Kopfhörer herunter und grinste ihren Bruder an. »Kommst du heute Abend zu Jerry’s Arcade? Die alten Furze haben MTV in die Bildschirmwände übertragen, die sie auf beiden Seiten haben.« Sie nahm einen Bissen Toast. »Das ist total cool.«

Elizabeth fühlte sich mit Matthew verbunden. Das Flüstern von Nerd, das ihn überallhin verfolgte, fand sein Gegengewicht im Flüstern von: Das ist sie!, jedes Mal, wenn Elizabeth in die schnöselige Pom-Pom im Flur oder im Umkleideraum der Mädchen in der Sporthalle lief.

»Ich denke, Matthew bleibt heute Abend zu Hause«, sagte ihre Mom mit einem unaufrichtigen Lächeln. »Ich meine, wir haben dir die Maschine da oben nicht gekauft, damit sie nur herumsteht.«

»Es ist Halloween, Mom. Bestimmt hat auch deine Einkerkerung Grenzen«, sagte Elizabeth.

»Ich dachte, Halloween wäre morgen. Dein vorlautes Mundwerk scheint heute Morgen noch nicht zu funktionieren, Miss.«

Und so fing die alte Routine an. Mom wollte, dass Matthew lernte und hoffte, dass er nicht denselben Weg wie seine ältere Schwester einschlagen würde. Elizabeth wollte, dass ihr Bruder außerhalb der Schule und seines Zuhauses eine Art von Leben hatte.

Elizabeth konnte die Einstellung spüren, die ihre Mutter ausstrahlte, das Ungesagte: Dieses Kind lasse ich nicht so enden wie das andere.

Sie würde nicht nachgeben.

Mom ebenso wenig.

Und so ging ihr bitteres Spiel weiter, der Streit hörte niemals auf.

Kapitel 5

Freitag, 30. Oktober, 08.24 Uhr morgens

Der frühmorgendliche Nebel löste sich vor Jerry’s Arcade langsam auf. Die Reihen hoher Kiefern um das Gebäude herum wurden langsam wieder sichtbar wie sich abzeichnende Silhouetten von Riesen. Es hing immer noch eine drückende Feuchte in der Luft, die die riesigen Glasscheiben der Fenster der Spielhalle wie ein schleimiger Film bedeckte.

Ein verrosteter grauer Buick Centurion kam auf dem Parkplatz zum Stehen. Der Fahrer paffte eine Camel-Zigarette – seine fünfte an diesem Morgen – und drückte sie mit verschwitzten Händen auf dem gesprungenen Armaturenbrett aus. Der verbogene Stummel stand hervor wie ein Mann mit schlechter Körperhaltung.

Jerry Blackwell, fünfundfünfzig Jahre alt, war auf das Gold gestoßen, nach dem er sich immer gesehnt hatte, als er den Markt für Videospiele erfand. Er war sein Leben lang ein Winkeladvokat gewesen, hatte Schulden gemacht, um andere Schulden zu begleichen, und er hatte nicht einen Tag mit ehrlicher Arbeit verbracht. Es war in Manhattan, er saß in seinem verbeulten Ford Truck und beobachtete zombieartige Video-Junkies, die Automaten mit Vierteldollar fütterten – da wusste er, dass er ein Stück von diesem Kuchen wollte.

Das Spielhallengeschäft war für ihn leicht verdientes Geld, eine legale Sucht, mit der man Blödmännern das Geld aus der Tasche ziehen konnte.

Um sein neues Projekt zu starten, musste er ein fragwürdiges Klempnerunternehmen verkaufen, eine fragwürdige Kurierfirma und Aktien eines fragwürdigen Unternehmens, das mit gebrauchten Reifen handelte. Und dann musste er ein paar Euro-Idioten finden, die in ein amerikanisches Unternehmen investieren und mit ihm ins Spielhallengeschäft einsteigen wollten. Auf ihre Empfehlung hin verlegte er seinen Firmensitz nach Oregon, zu diesem entlegenen Außenposten hinter der Willamette Bridge. Seine Partner meinten, es würde fantastisch werden, ein Ort, zu dem die Jugendlichen strömen, denn die Universität war genau auf der anderen Seite des Flusses.

Seine Partner hatten recht.

Er nutzte einen Kontakt in einer unbedeutenden Gang, die mit gestohlenen Spielautomaten handelten, um sein Inventar aufzubauen (natürlich berechnete er den Euro-Idioten den vollen Preis für die ‚neuen’ Spiele). Er baute sein neues Imperium Schritt für Schritt auf, verwandelte die alte, ländliche Wäscherei in die kreativ benannte Spielhalle Jerry’s Arcade. Er füllte zwei Etagen mit einem Labyrinth aus plärrenden elektronischen Geldmachern.

Jerry war ein kleiner, dicker Mann mit Schnurrbart, einer schlechten Haltung und dem Kleidungsstil von Stevie Wonder in einem Goodwill um Mitternacht. Eines Tages sagte ein Kind in der Spielhalle laut, dass Jerry Jumpman ähneln würde, dem schnauzbärtigen Charakter aus dem Donkey-Kong-Videospiel, was ihm ein paar Lacher von seinen Freunden einbrachte.

Jerry hörte das Lachen und brauchte nur zwanzig Sekunden, um in Aktion zu treten. Er warf den Jungen gewaltsam aus der Tür, hielt ihn obendrein mit einem Stiefel auf dem Bauch auf dem Bürgersteig fest und fürchtete keine Folgen durch Polizei oder Eltern.

»Der Drecksack hat gekriegt, was er verdient«, murmelte er, als er an den glotzenden Freunden des Jungen vorbeiging. Er zeigte auf ihre Gesichter und schrie: »Gebt weiter Vierteldollar aus, oder ihr seid die Nächsten, ihr Scheißer!«

Er mochte vielleicht gerade außerhalb der Vorstadt sein, aber seine rauen Ecken und Kanten von der Straße mussten noch heruntergefeilt werden, um zu Oregons Niedrigprofil-Gussform zu passen. Die Video-Zombies taten genau das, was er von ihnen wollte. Die Jüngeren fuhren weiter mit ihren BMX-Rädern draußen herum. Die älteren fuhren weiterhin mit ihren Muscle Cars herum. Und was noch wichtiger war, sie gaben alle ihre Vierteldollar bei ihm aus.

Vierteldollar waren zu seiner einzigen Sorge in seinem Alltagsleben geworden – bis heute.

»Du schaffst das, Scheißgesicht«, sagte er zu sich selbst im Rückspiegel.

Seine Unterlippe zuckte nervös, als ob das Innere von Maden befallen wäre. Er wusste nicht, was heute Abend passieren sollte. Er hatte einfach Ja gesagt und ließ es auf sich zukommen. Der Euro-Freak mit dem langen Haar und dem blöden Bart – Steven Röach – hatte erklärt, dass er ein Unternehmen vertrat, in dessen Namen irgendetwas mit Sinn vorkam. Jerry konnte einfach nicht behalten, wie dieses Unternehmen hieß. Und dieses Unternehmen war bereit, gut dafür zu zahlen, wenn es ein Experiment über menschliches Verhalten durchführen durfte. Was immer das heißen sollte.

Unwissen war ein Segen, und auch profitabel.

Der deutsche Blödmann hatte ihm viele Vierteldollar versprochen, wenn er nur Ja sagen würde.

Es wäre nur ein kleiner Test, um herauszufinden, wie Jugendliche auf eine in Videospielen eingebettete Nachricht reagieren würden.

Bei Röach klang das wie ein Marketing-Plan.

Wen interessierte es schon.

Jerry biss sich auf die Lippe und versuchte, die Maden vom Krabbeln abzuhalten.

Es war keine genaue Erklärung, aber Jerry hatte auch nicht mehr zugehört, nachdem der Euro-Blödmann die Kohle übergeben hatte, um die Spielhalle nutzen zu dürfen, und dann noch mehr draufgelegt hatte, damit man sich um Verbesserungen an dem Gebäude kümmern konnte.

»Sicherheit geht vor«, hatte Röach gesagt und gelächelt.

»Ein verdammtes Schwuchtel-Lächeln«, sagte Jerry zu sich selbst, wischte sich über die Stirn und betrachtete den Schweißfilm auf seiner offenen Handfläche.

All das, plus ein Bonus, der Jerry morgen ausgezahlt würde, wenn er bestimmten … Anweisungen zustimmte.

Sie hatten bisher alles durchgezogen, und Geld war Geld, oder?

Aber aus irgendeinem Grund wollte seine Nervosität nicht verschwinden. Elektrische Natternfänge pumpten Gift durch seine Adern und ließen alles vor Sorge kribbeln.

»Verfluchte Euro-Schwuchtel«, platzte er heraus und sah sein schwitzendes Bild im Rückspiegel.

Ein Instinkt sagte ihm, er solle die Sache abblasen und diesem Hurensohn nicht vertrauen.

Der Gedanke an noch mehr Geld ließ ihn das vergessen.

»Warum machst du dir Sorgen, du Weichei?«, knurrte er sein bleiches Spiegelbild an. »Es ist nur für einen Abend.«

Nur einen Abend …

Er stellte den Automotor ab, wischte sich über die erschöpften Augen und beobachtete, wie ein stotternder orangefarbener Toyota Starlet mit Fließheck sich seinen Weg zu einem Parkplatz drei von seinem entfernt qualmte.

Zu jedem anderen Zeitpunkt seines Lebens wäre er geneigt gewesen zu schreien: »Runter von der Straße mit dieser Stinkbombe!«, oder »Das Stück Scheiße muss verschrottet werden!«, oder »Such dir ein Job und kauf dir eine Busfahrkarte. Selbst Gehen wäre besser als diese Peinlichkeit!«

Aber die Fahrerin hatte einen Job. Sie war die einzige Vollzeit-Angestellte in Jerry’s Arcade, und bei dem, was er zahlte, hatte sie Glück, wenn ihre Schuhe Sohlen hatten, ganz zu schweigen davon, dass ihre Autoreifen Profil hatten.

Sie war von Minnesota nach Portland gekommen, ohne Job und vom Pech verfolgt. Jerry hatte Potenzial in ihr gesehen, als sie in einem Nachtclub in der Innenstadt Drinks servierte – die Art von Nachtclub, in der ein Griff zwischen die Beine als Trinkgeld angesehen wurde – und hatte ihr eine Chance gegeben.

Sophie Watkins war Jerrys Wechselgeld-Mädchen, Jerrys Popcorn-Macherin und Jerrys Mystery-Meat-Hotdog-Mädchen. Blond, langbeinig, und immer mit zu viel Make-up war sie eine lebende Attraktion für die älteren Kids, die die Muscle Cars fuhren, genau wie die Videospiele die jüngeren anzogen.

Er war sich Sophies Reizen sehr bewusst. Darum hatte er sie eingestellt und darum bestand ihre Arbeitskleidung bei Jerry’s Arcade aus Netzstrümpfen, einem purpurnen, metallisch glänzenden Minirock, einem dazu passenden purpurfarbenen Blazer und einem schwarzen, eng anliegenden, tief ausgeschnittenen Top. Ein Outfit, das er Glitz und Tits genannt hatte.

Wenn Jerry sich in die Privatsphäre seiner Absteige von Wohnung zurückzog, die er in der Stadt gemietet hatte – die billigste, mieseste Wohnung, die er hatte finden können – stellte er sich oft vor, was er mit Sophie in einer dunklen Ecke der Spielhalle anstellen würde. Zuerst würde sie sich wehren und ihm sagen, dass er aufhören solle, aber nach etwas Überzeugungsarbeit war sie mehr als willig, es ihm zu erlauben.

Oh, Jeeeerryyy …

Er sah sich oft eins seiner Lieblingsvideos an, Debbie tut es in Dallas, in dem Mr. Greenfield Bambi Woods ein Halsband anlegt und sie mit dem Versprechen zum Sex drängt, dass er ihrem Cheerleading-Team ein paar Dollar gibt. Er stellte sich vor, er wäre Mr. Greenfield, und Bambi wäre Debbie, während er in eine ungewaschene Socke wichste.

Jetzt klopfte Sophie an sein Autofenster. Sie kaute mit offenem Mund Kaugummi und hüpfte auf der Stelle, um sich warmzuhalten. »Morgen, Jerry. Lass uns reingehen. Es ist eiskalt.«

Er setzte sein bestes falsches Lächeln auf und ließ das Fenster herunter. »Okay, okay. Ich kann ja nicht zulassen, dass sich mein Nummer-Eins-Mädchen den Hintern abfriert.«

Als er aus dem Auto stieg und vorgab, ritterlich zu sein, warf er so viele Blicke wie möglich auf Sophies wackelnde Brüste, die immer noch auf und ab sprang.

Solange sie Geld für ihn verdiente und mit den Zombies flirtete, die ihre Vierteldollar ausgaben, hatte sie in der Spielhalle eine Existenzberechtigung, und all das hielt Jerrys Fantasie als genau das aufrecht, was sie war – eine Fantasie.

Sie würde weiterhin tun, was sie tat – vorläufig … vorläufig.

Er folgte ihr zur Tür der Spielhalle, öffnete das Schloss und ließ sie beide hinein. »Du kümmerst dich besser um den Kaffee, Soph, wir haben einen langen Tag vor uns.«

»Ja, klar.« Sie lächelte.

Jerry schloss die Tür hinter ihnen, und das Lächeln verschwand von Sophies Gesicht. Ihre Sinne schlugen Alarm, etwas war anders … etwas stimmte nicht in der Spielhalle. Heute herrschte im Gebäude eine bedrückende Atmosphäre. Die dunklen Reihen der Automaten lagen in einer tieferen Düsternis als üblich.

Als Jerry die Deckenlampen und Neonlichter einschaltete, fühlten sich die Aluminiumgänge unter ihren Füßen kälter an, die verchromten Geländer waren wie Säbel aus Eis, der schwarze Teppich mit seinem abstrakten Neonmuster war klebriger als sonst, und es lag nicht nur an verschütteter Limo.

Etwas fühlte sich falsch an, etwas … auf das sie nicht den Finger legen konnte.

Halloween, es ist nur eine Gänsehaut wegen Halloween, sagte sie sich und bemerkte kleine Dinge, von denen sie hätte schwören können, dass sie am Abend zuvor, als sie schlossen, noch nicht dagewesen waren.

Ein Lieferschein auf dem Schreibtisch des Hauptbüros war von einer Seite des Tisches auf die andere bewegt worden. Der Abfalleimer stand ein Stück von seiner üblichen Stelle entfernt. Ein paar verirrte M&M’s lagen auf dem Boden neben dem Joust-Automaten.

Kleine Dinge, eigentlich nicht von Bedeutung, aber es blieb das seltsame Gefühl … dass jemand gestern Abend hier gewesen war. Dieses merkwürdige Gefühl, wenn man in einem dunklen Zimmer eine Anwesenheit spürt. Man kann niemanden sehen, aber man weiß, dass sie da sind und warten.

Oder, in diesem Fall, da gewesen waren.

Während sie um die Automaten am vorderen Ende der Spielhalle herumging und nach von den Zombies vergessenen Vierteldollar Ausschau hielt, bemerkte sie zwei Reifenspuren, die ein Hebewagen im Teppich hinterlassen hatte.

Woher zur Hölle kommen die?

Sie folgte den Abdrücken von der Eingangstür aus. Die Spuren führten den ganzen Weg zu der Lücke, wo früher der ausgebrannte Asteroids-Automat gestanden hatte, bevor er vor ein paar Tagen abgeholt wurde. Jetzt war dort keine Lücke mehr, sondern eine tiefschwarze Maschine ohne Namen, die still dort stand, so als würde sie grübeln.

Sie stand da und sah die Maschine an.

Wo bist du denn hergekommen?

Aus einem unerklärlichen Grund standen die Härchen auf ihren Armen so hoch wie Stacheln eines Stachelschweins. Diese ganzen merkwürdigen Gefühle, die Gänsehaut, diese ganzen dunklen, bedrückenden Gedanken richteten sich plötzlich auf diesen Punkt.

Sie erinnerte sich, wie ein Mann sie in der New Yorker U-Bahn betatscht hatte, wie die perverse Umklammerung ihrer Brust einen kranken, kalten Schauer durch ihren ganzen Körper laufen ließ.

Einen Moment lang fühlte sie hier dasselbe.

Es war, als ob der feuchte Nebel draußen von dieser Stelle ausströmte, als ob die Flut schleimiger Kälte, die sich um das Gebäude gelegt hatte, hier ihren Ursprung nahm. Als ob die Dunkelheit, die sich in den Gängen der Spielhalle ausbreitete, aus dem Inneren dieses Automaten kam.

Sie machte Anstalten, die Maschine zu berühren.

»Der Kaffee macht sich nicht von allein.«

Sie drehte sich um. Jerry sah von dem oberen Gang zu ihrer Rechten zu ihr hinunter. In seiner Stimme lag fast ein nervöses Zittern, seine Worte schienen zu beben.

»Wo ist das Ding hergekommen?«, fragte sie und kaute laut auf ihrem Kaugummi.

»Ein neues Spiel. Ich habe dir davon erzählt. Ich musste die halbe Nacht auf die Lieferung warten, diese Bastarde.«

»Ich erinnere mich nicht, dass du etwas über ein neues Spiel …«

Er unterbrach sie. »Dann solltest du besser aufpassen. Jetzt beeil dich mit dem Kaffee. Ich habe da hinten ein paar Plunderstücke. Bring mir eins und«, fügte er zögernd hinzu, »nimm dir auch eins. Du wirst den Zucker brauchen. Es wird ein langer Tag, ein langer Tag.«

Er klatschte in die Hände und wandte sich zum Gehen, wobei er zurückblickte, um sich zu überzeugen, dass sie sich von der Stelle bewegte.

Das tat sie, beäugte die Maschine noch einmal und ging in den hinteren Bereich, wie er es ihr aufgetragen hatte. Aus dem Augenwinkel sah sie etwas auf dem Bildschirm aufflackern, hörte ein elektrisches Summen von der Rückseite des Automaten, ein grelles Quietschen aus den Lautsprechern.

Sie wirbelte herum, war sich nicht sicher, was sie gesehen und gehört hatte.

Ein innerer Drang veranlasste sie, sich schnell von der neuen schwarzen Maschine zu entfernen. In ihrer Nähe zu sein, erinnerte sie an die kalten Stellen, die es angeblich in Spukhäusern gab.

Reiß dich zusammen.

Halloween, ich habe nur eine Gänsehaut wegen Halloween, log sie sich selbst an.

Kapitel 6

Freitag, 30. Oktober, 8.37 Uhr morgens

Matthews Blick wanderte von links nach rechts, es war, als würde er den Ball zwischen zwei Pong-Schlägern verfolgen, die seine Mom und seine Schwester waren.

»Ich weiß nicht, warum ich hierher zurückgekommen bin. Ich weiß wirklich nicht …«

Blip.

»Weil dich niemand anders von der Straße kratzen wollte, junge Dame.«

Blip.

»Scheiße. Ich weiß nicht, was schlimmer war …«

Blip.

»Benutze mir gegenüber keine Obszönitäten, junge Dame.«

Blip.

Und so ging es immer weiter.

Vielleicht war es bei allen Familien so?

Matthew sah die verklemmte Routine seiner Mutter, beobachtete, wie sie versuchte, bei Elizabeth ruhig zu bleiben.

Er beobachtete Elizabeth, die rasend vor Wut war, so als wäre sie an eine elektrische Leitung angeschlossen.

Max, ihr Dobermann, kam herein und sah zu Matthew hoch, als spürte er den Streit zwischen Mom und Elizabeth. Ohne die Geschwindigkeit ihrer hitzigen Worte zu verlangsamen, nahm Elizabeth einen gebutterten Toast und warf ihn in die Luft. Max fing ihn auf, kaute zweimal, und er war verschwunden.

»Und wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du Max nicht so füttern sollst!«, brüllte Mom.

»Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du Max nicht so füttern sollst?«, ahmte Elizabeth sie mit der mongoloiden Spasti-Stimme des Mikro-Görs nach. »Gibt es irgendetwas, über das du im Moment nicht motzt, Mom?«

Elizabeth starrte ihre Mutter wütend an, wusste, dass … sie es wusste.

Sie wusste, was wirklich in Los Angeles passiert war. Sie hatte sie gesehen …

Sollte sie zuerst damit herausplatzen, das erzwungene Schweigen brechen, das sich schon an den Rändern auflöste? Es einfach aussprechen, bevor ihre Mom es konnte, es einfach über den Frühstückstisch schreien, sodass jeder es hören konnte?

Die Bilder aus dieser Zeit ihres Lebens, dieses Gefühl … diese Berührung … sie wollte es nie laut aussprechen.

Sie wünschte, dass nichts davon je passiert wäre.

Während die beiden sich stritten, fuhr sich Matthew mit den Fingern durch sein frisch gegeltes Haar und seufzte leise. Er hatte es satt zu frühstücken und dabei ständig Gezänk zu hören. Aber er hatte es auch satt, in seinem Schlafzimmer zu sein, hatte die vorhersehbare Umgebung satt. Das American-Werewolf-in-London-Poster an der Wand, der kleine Riss in der unteren linken Ecke, wo es immer wieder herunterfiel. Der Panasonic-Fernseher mit dem Gehäuse aus Teakholz und dem Lautstärkeknopf, den er hineindrücken musste, damit er eine Verbindung zur Schaltplatte bekam und man die Lautstärke verstellen konnte. Er hatte das weiße Furnier seines Schreibtischs satt, das sich an der linken Schublade immer hochbog, ganz egal, wie oft er es festklebte. Er kannte sein Schlafzimmer in- und auswendig, hatte zu viele Tage und Nächte darin eingesperrt verbracht.

Er erschauerte bei dem Gedanken an den Traum, der letzte Nacht wiedergekehrt war: gefesselt, eingeengt, gefangen. Der Albtraum hatte plötzlich eine Verbindung zu seiner Alltagsroutine. Nacht für Nacht starrte er auf den Computerbildschirm, den schwarzen Abgrund des Monitors und den pulsierenden weißen Fleck des Cursors in der Mitte davon, und versuchte, mit jedem Pulsieren des Lichts relevant zu bleiben.

Er wollte raus, wollte flüchten. Worte stiegen in seiner Kehle auf, Worte, die er fast wieder verschluckt hätte, die beinahe von dem imaginären Knebel, der in seinen Träumen in seinem Mund steckte, erstickt worden wären.

»Mom, Mom …«, sagte er.

Seine Mutter und Schwester hörten zu streiten auf und sahen ihn an.

»Ich will heute Abend hingehen. Alle gehen hin. Ich verstehe nicht, was das Problem ist?«

»Das Problem ist …« Terri hielt inne, überrascht, dass er sich eingemischt hatte, dass er eine Meinung dazu hatte. Er gab niemals Widerworte. Er tat immer das, was sie und sein Vater ihm sagten. Furcht begann an ihr zu nagen, ihr kam der Gedanke, dass er langsam die Art seiner Schwester übernahm, was ihm die Chance raubte, jemals einen herausragenden Abschluss zu machen. Ein verstecktes rotes Licht in ihrem Gehirn schaltete auf Code Red, wie etwas in einem alten Katastrophenfilm.

Gefahr! Gefahr! Er wird wie seine Schwester!

»Das Problem ist, dass du dein Projekt fertigbekommen musst. Programmiere dieses Wetterdienst-Ding, wenn du das Stipendium für deinen Abschluss in Computerwissenschaften an der Stanford Universität haben willst. Dafür hast du nur eine Chance, und ich will nicht, dass du es verkorkst, so wie …«

»So wie es jemand anders getan hat«, knurrte Elizabeth.

Mom schwieg die perfekte Zeitspanne. Beide Geschwister füllten die Lücke und bildeten das Wort, das sie von ihrer Mutter hören wollten, wie beim Galgenraten.

JA.

»Nein«, blaffte ihre Mutter.

Sie nippte an ihrem Saft, fand schnell die Fassung wieder und versuchte, einen diplomatischen Weg zu finden, ihre Ansicht zu untermauern.

»Ich will doch nur, dass es für dich funktioniert. Du hast etwas gemacht, was die meisten Menschen nie schaffen, Junge. Du hast etwas gefunden, worin du gut bist. Irgendwie bist du unter einem Glücksstern geboren, denn dein Vater hat einen Job, durch den er diese Maschine günstig für dich kaufen konnte. Das hätten wir uns niemals leisten können, wenn …«

»Das ist ein Computer, Mom, keine Maschine«, sagte Matthew und seufzte.

»Was immer es auch ist, du kannst damit Dinge tun, die deine Lehrer so erstaunlich finden, dass sie dir helfen, einen Weg für eine Zukunft zu ebnen, die dein Vater und ich nie gehabt haben. Wir hatten nie die Chance, auf ein gutes College zu kommen. Du schon, und das hast du ganz allein geschafft.«

»Nein, du und Dad hatten ein normales Leben mit Freunden. Ihr seid ausgegangen, ihr habt Sachen gemacht«, sagte Matthew. »Kann ich das nicht auch haben? Ich bin Abend für Abend hier und arbeite ständig. Ich will nur ein bisschen Freiheit. Ich will nur etwas machen. Verstehst du das nicht?«

In seinem Blick stand aufrichtige Verzweiflung.

Sie begriff es.