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Wie können wir unsere eigene Lebensqualität bis ins hohe Alter steigern? Dr. Werner Krag führt uns in das Wissen und die Lebensgewohnheiten anderer Kulturen ein und erläutert, wie auch wir unsere Vitalität, unsere seelische Gesundheit, Ernährung und Bewegung im Alter positiv beeinflussen können.
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Seitenzahl: 357
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Bibliografische Information der Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.ISBN 978-3-636-07074-6 | Print-AusgabeISBN 978-3-86882-122-2 | E-Book-Ausgabe (PDF)
E-Book-Ausgabe (PDF):© 2009 bei mvgVerlag, FinanzBuch Verlag GmbH, München.www.mvg-verlag.de
Print-Ausgabe: © 2005 bei mvgVerlag, Redline GmbH, Heidelberg.Ein Unternehmen der Süddeutscher Verlag Hüthig Fachinformationen
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Umschlaggestaltung: Atelier Seidel, Neuötting Redaktion: Andrea Voß, Olching/Esting Satz: Redline GmbH, Jürgen EchterDruck und Bindearbeiten: Ebner & Spiegel, UlmPrinted in Germany 07074/090502
Herr Tanaka steht hoch oben auf der schwankenden Leiter. Der Papayabaum ist alt und knorrig, vielen Unwettern hat er getrotzt, vielen Stürmen standgehalten. Die Papayas, auf die es Herr Tanaka abgesehen hat, sind gelb, fleischig, voller Saft und duften verführerisch. Richtig zum Reinbeißen. Da kann auch er nicht widerstehen. So wie jedes Jahr im Juni, wenn die Saison hier beginnt. Es ist heiß und schwül in Okinawa. Wir sind rund tausend Kilometer vom japanischen Festland entfernt, mitten im Pazifik. Heute wird es wohl wieder ein Gewitter geben. Dann dampft die Luft und das Arbeiten wird noch mühsamer. Deswegen legt Herr Tanaka noch einen Zahn zu. Er will seine mitgebrachten vier Säcke ordentlich voll machen, denn er hat seinen Freunden Versprechungen gemacht: Heute bringe ich euch wunderbare, frische Papayas. Die Freunde warten schon ungeduldig. Die Ehefrauen wollen Papaya-Mus zubereiten, da braucht es Nachschub. Ein prüfender Blick zum Himmel: Da braut sich was zusammen, „aber die vier Säcke kriege ich noch locker voll“, sagt er zu mir. So ein Sack wiegt gut und gerne seine 15 Kilo. Den zweiten hat Herr Tanaka gerade gefüllt.
Flink steigt er jetzt von der Leiter, die zwei Säcke verstaut er sorgfältig auf einem mitgebrachten Handkarren. Er sucht sich eine neue Stelle, die Leiter wird versetzt, behände klettert er wieder nach oben. Der Baum schwankt etwas. Das nahende Gewitter bringt unberechenbare, böige Winde mit sich. Das stört Herrn Tanaka aber nicht. Die Unbill des Wetters nimmt er gelassen hin. Da hat er doch schon ganz andere Stürme im Laufe seines Lebens überstanden. Als Inselbewohner sind Stürme für ihn etwas ganz Alltägliches. Von weitem sieht Herr Tanaka aus wie 50 und von nahem auch nur wie 60. Man mag unwillkürlich denken: „Dieser ältere Herr ist aber noch fit, wie macht er das bloß?“
Herr Tanaka ist allerdings nicht 60, auch nicht 70, auch nicht 80. Er ist sage und schreibe 88. Seine wachen Augen und die Lachfalten des sonnengegerbten Gesichtes geben ihm etwas Jugendlich schalkhaftes und seine positive Ausstrahlung ist ansteckend. „Letztes Jahr habe ich an einem Tag noch drei Papayabäume abgeerntet“, sagt er. „Aber dieses Jahr bin ich ja schon etwas älter. Da lasse ich es etwas ruhiger angehen. Da genügen mir zwei Bäume pro Tag.“ Sagt’s und hat den nächsten Sack schon wieder gefüllt. „Halten Sie mal den Sack“, spannt er mich gleich ein und nur mühsam kann ich den Sack, nur auf halber Höhe der schwankenden Leiter stehend, erreichen. „Verdammt“, murmele ich in mich hinein, „der ist fast vier Jahrzehnte älter als du und macht dir noch locker etwas vor.“ Den Sack halte ich mit der linken Hand und klammere mich mit der rechten fest an die Leiter. Das Ganze schaukelt für mein Gefühl etwas zu stark, nach unten wage ich nicht zu sehen. Über mir steht Herr Tanaka und lacht. Er scheint sich köstlich zu amüsieren. Sein Hobby ist es offensichtlich, auf Bäume zu klettern.
Mir ist gar nicht nach Lachen zu Mute. Mehr schlecht als recht klettere ich mühsam mit leicht schlotternden Knien hinab. „15 Kilo sind ganz schön schwer“, denke ich und wuchte den Sack in den Handkarren. Ehe ich mich ausruhen kann, ist Herr Tanaka schon wieder unten und hat auch gleich einen Vorschlag für mich: „Wir beide schieben den Karren jetzt zurück zum Dorf“, meint er wie selbstverständlich. Die Säcke mit den Papayas liegen jetzt fein säuberlich verstaut in dem Handkarren. Jetzt sind etwa drei Kilometer über Stock und Stein zu bewältigen, auch kurze schlammige Stellen, die die Regenzeit hinterlassen hat. „Auf geht’s, bevor es dunkel wird“, sagt er. Gemeinsam drücken und schieben wir den Karren vorwärts. Ich schnaufe etwas, will mir aber nicht anmerken lassen, dass ich mich anstrengen muss, um mit ihm Schritt zu halten. Ich kann ja wohl jetzt nicht aufgeben, denn dann wäre die Blamage zu groß und alle Vorurteile gegenüber den schlappen Fremden, den „Gaijin“, wären wieder einmal bestätigt. Herr Tanaka sieht mich von Zeit zu Zeit aus den Augenwinkeln an. Er lächelt.
Ich habe auf Okinawa überraschend viele Männer und Frauen von der Art des Herrn Tanaka getroffen. Sie scheinen mit einer Art ansteckendem Optimismus und einer geradezu unverwüstlichen Gesundheit ausgestattet zu sein. Nichts scheint ihnen zu schwer, nichts zu mühsam. Viele sehen locker 30 Jahre jünger aus, als sie sind. Diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen, davon handelt dieses Buch. Wir reisen dabei gemeinsam nach Japan, um im fernen Okinawa ein wenig Licht in dieses Mysterium zu bringen. Auch in Europa gibt es Menschen, die ein hohes Alter erreicht haben, dabei körperlich gesund und geistig fit sind und von denen wir eine Menge lernen können. Wir holen uns dort Ideen für ein besseres Leben im Alter, kurz für ein „gutes Alter“. Die Zahl der Lebensjahre ist in diesem Zusammenhang von untergeordneter Bedeutung.
Es kommt nicht darauf an, wie alt man wird, sondern wie man alt wird.
Mir geht es nicht um Quantität, sondern um Qualität. Ich kenne Dreißigjährige, die körperlich und geistig vergreist sind. Auf der anderen Seite gibt es Siebzig- oder Achtzigjährige, die noch einen jugendlichen Eindruck machen und vor Lebenslust und Energie strotzen. Die sind interessant, die wollen wir uns näher ansehen.
Vor ein paar Monaten war ich auf einem Klassentreffen. Da sagte einer der anwesenden „Ehemaligen“ zu mir: „Weißt du was, guck’ dir doch mal diese Gestalten hier an: die einen sehen alt aus wie ihre eigenen Eltern. Ein paar wenige aber auch jung wie ihre eigenen Kinder.“ „Tatsächlich“, dachte ich. Nachdenklich geworden, ließ ich meine Blicke schweifen. „Er hat Recht“, dachte ich. Ein Riesenunterschied in Aussehen, Verhalten und Körpersprache. Die einen alt, fett, krummrückig, steif und mit einem unverkennbaren Anflug von Senilität. Ein paar aber auch schlank, drahtig, jugendlich, geistig agil und schlagfertig. Der Unterschied war unübersehbar, obwohl wir alle doch etwa im gleichen Alter waren. Ich erkannte die Brisanz der eben wie zufällig gemachten Beobachtung meines ehemaligen Klassenkameraden und musste an meine Erlebnisse in Okinawa denken. Da war es wieder, dieses Gefühl, dass es etwas im Leben der fitten älteren Menschen geben muss, was es zu entdecken und zu systematisieren gilt. Diese Frage elektrisierte mich und ließ mich nicht mehr los. Von da ab war mir klar: Das gute Alter ist möglich. Sicher nicht für jeden, aber vielleicht für viel mehr Menschen, als bisher angenommen.
Die alles entscheidende Frage lautet: Wie macht man das? Gibt es irgendwo den viel beschworenen Jungbrunnen? Hat die Pharmaindustrie in ihren geheimen Labors eine Wunderpille zusammengebraut oder bergen vielleicht die Schätze der Natur noch ein Geheimnis, das darauf wartet, entdeckt zu werden? Welche psychischen Charakteristika haben geistig und körperlich gesunde, energiegeladene ältere Menschen? Wie leben und wie lieben sie? Welche Lebensmittel essen sie? Wie haben sie sich Optimismus, Gesundheit, eine positive Ausstrahlung und persönliches Glück bewahrt? In welchen Regionen dieser Erde sind diese „Super-Alten“ anzutreffen und was können wir von denen lernen? Was würden die Menschen heute essen, wenn sie noch einmal jung wären? Würden sie mehr Sport treiben?
Alles Fragen, die in diesem Buch behandelt werden. Aus den Antworten können Sie auch für Ihr persönliches Leben entsprechende Schlüsse ziehen und die so gewonnenen Erkenntnisse umsetzen. Je jünger Sie sind, desto stärker werden Sie von diesem Buch profitieren, denn Sie können dann noch rechtzeitig gute Lebensgewohnheiten einüben und schlechte ändern, neue Weichen stellen und sich umorientieren. Doch all das ist auch im fortgeschrittenen Alter möglich. So ist es nie zu früh, aber auch nie zu spät. Vielleicht beginnt für viele die beste Zeit des Lebens erst im Alter. Vielleicht ist das „gute Alter“ ganz anders und die Reise dorthin spannender und angenehmer, als wir glauben. Reisen wir als Erstes in ein fernes Land im Osten Asiens.
Japan ist weit weg. Nur wenige Deutsche sind hierher gekommen, noch weniger haben Land und Leute und deren Lebensgewohnheiten studiert. Zu hoch scheint die Sprachbarriere: Der Durchschnittseuropäer sieht gleich nach seiner Ankunft am Flughafen in Tokio die ersten japanischen Schriftzeichen und ist schier am Verzweifeln. Nichts, aber auch gar nichts kann man lesen. Die japanischen Durchsagen sind natürlich auch nicht zu verstehen. Am Flughafen findet man zum Glück noch freundlich lächelnde Hostessen, die schicke Uniformen tragen, leidlich Englisch sprechen und dem verwirrten Europäer gerne weiterhelfen. Ein bisschen leichter wird es, wenn man glücklich seinen Koffer gefunden, ohne Probleme durch den Zoll gekommen und endlich im Bus sitzend auf dem Weg ins Hotel ist. Wer es schafft, dort auch noch sein reserviertes Zimmer zu bekommen, hat schon viel erreicht.
Ist man nicht in einem der anonymen Glaspaläste einer großen Hotelkette abgestiegen, sondern in einem typisch japanischen Hotel – was ich nur empfehlen kann –, kann man sich jetzt auf eine besondere Wohltat vorbereiten: das japanische Bad. Auch das ist anfangs gewöhnungsbedürftig: Man wäscht sich – befremdlich für uns – außerhalb der Wanne und steigt erst dann in das recht heiße Wasser, um dort alle Strapazen der Reise und auch alle Sorgen und Nöte dieser Welt für eine Weile zu vergessen. Das funktioniert erstaunlich gut, wenn man sich auf die neue Umgebung einlassen und die europäischen Konventionen – wie man die Dinge „richtig“ macht – auch mal vergessen kann.
Nach dem Bad wird eine freundliche Stimme am Telefon dem schon deutlich weniger gestressten Europäer bedeuten, dass das Essen angerichtet ist. Das Englisch der Dame am Telefon klingt wahrscheinlich etwas seltsam, aber das eigene ist ja auch nicht fehlerfrei. Außerdem spricht sie wesentlich besser Englisch als der Gast Japanisch! Nach einer so langen Reise hat man doch auch Hunger. Im Restaurant wartet ein köstliches Essen. Die Vorfreude wird nur durch die Tatsache getrübt, dass da Stäbchen auf dem Tisch liegen. Damit soll man nun also klarkommen. Da macht es sich gut, wenn man es zu Hause schon mal probiert hat. Wenn nicht, erscheint wieder ein freundlich lächelnder guter Geist und bringt Messer und Gabel. Man seufzt erleichtert, trotzdem ist es auch etwas blamabel, dass hier kleine Kinder schon mit Stäbchen essen können und man selbst noch üben muss. Aber jetzt ist diese Hürde geschafft und das Essen soll ja nicht kalt werden.
So oder ähnlich ist es mir beim ersten Mal in Japan ebenfalls ergangen. Ich möchte Ihnen aber auch deshalb aus Japan berichten, weil ich dort als Student drei wundervolle Jahre meines Lebens verbringen und die Sprache erlernen durfte. Land und Leute sind nur auf den ersten Blick „komisch“, wie alles im Leben, was man nicht kennt. Hat man aber erst einmal den richtigen Zugang gefunden – vor allem über die Sprache –, fällt es einem leicht, Kontakt zu finden und das Land schätzen und lieben zu lernen.
Doch was hat es auf sich mit diesem Land, das zu Unrecht hier so wenig Beachtung findet? Meist sind es nur Wirtschaftsnachrichten, die verbreitet werden. Die interessieren uns aber hier nicht. Uns geht es um andere Dinge, z. B. um Informationen wie die folgende:
Japan ist das Land mit der längsten Lebenserwartung dieser Erde.
Es muss also vieles geben, was die Japaner richtig machen, sonst würden sie nicht so lange leben. Das ist spannend, da sollte man näher hinschauen. Wir wollen sehen, was man von den Japanern lernen kann und wie sie es schaffen, so alt zu werden, und das bei insgesamt besserer körperlicher Gesundheit und weit weniger psychischem Leid als hierzulande. Interessanterweise gibt es innerhalb Japans nochmals eine beachtliche Steigerung der Lebenserwartung in manchen Regionen. Dabei ragt eine heraus: Okinawa.
Auf der subtropischen Insel mitten im Pazifik gehen die Uhren noch anders. Wenn man sich auf die Reise nach Okinawa begibt und von Kagoshima, an der südlichen Küste Japans, die Übernacht-Fähre nimmt, hat man Gelegenheit, sich schon langsam an die freundliche und eher geruhsame Art der Insulaner zu gewöhnen. Wer sich als Besucher dort mit offenen Augen bewegt, wird feststellen, dass die Menschen noch entgegenkommender sind als auf dem Festland, dass sie jederzeit für einen Schwatz zu haben sind und einem Ausländer bereitwillig Auskunft geben. Mir ist es mehr als einmal passiert, dass mich ein freundlicher Insulaner fast sprichwörtlich an die Hand genommen hat, um mich dahin zu bringen, wo ich hinwollte. Die Menschen nahmen dabei bis zu halbstündige Umwege in Kauf, klärten mich währenddessen über Sitten und Gebräuche auf und beantworteten geduldig meine Fragen.
Natürlich besuchte ich das sagenumwobene Dorf Ogimi-Son im Norden Okinawas. Das Dorf liegt idyllisch zwischen dem Meer und üppigen grünen Hügeln. Die Menschen hier waren traditionell sehr arm und mussten nicht nur den ständig drohenden Naturgewalten wie Taifunen und Tsunamis trotzen, sondern dabei auch irgendwie ihren Lebensunterhalt verdienen. Die meisten leben hier von der Landwirtschaft oder vom Fischfang. Jeder arbeitet bis ins hohe Alter. In Ogimi leben knapp 4000 Menschen, rund 8 % sind über 85 Jahre alt und die meisten erfreuen sich bester Gesundheit. Eine solch hohe Zahl an gesunden Alten gibt es nirgendwo sonst auf der Welt. Natürlich wollte ich wissen, warum das so ist und ob es vielleicht ein Geheimnis auf Okinawa gibt, das ich mit nach Hause nehmen und Ihnen verraten kann.
Da ist natürlich in erster Linie die Ernährung zu nennen. Die Menschen in Okinawa ernähren sich hauptsächlich von Fisch, mit seinen wertvollen Omega-3-Fetten, den sie selbst fangen. Dazu gibt es kaum Reis, den man sonst überall in Japan isst, sondern eher „Imo“, eine Art Süßkartoffel, die man hier traditionellerweise zu sich nimmt, da man wegen des hügeligen Geländes und der vielen Taifune keinen Reis kultivieren konnte. Diese Süßkartoffel enthält Insulin, ein Stoff, der den Blutzuckeranstieg nach dem Essen vermindert. Dies ist aus vielerlei Gründen gesundheitlich wichtig, wie Sie in einem späteren Kapitel noch sehen werden (S. 152), „Die Zucker-Connection“). Die Süßkartoffeln enthalten sehr viel Vitamin C, Carotinoide (Radikalenfänger), Vitamin A, Lycopen (gegen Krebs), Kalium, Kalzium und Ballaststoffe.
Allgegenwärtig ist die „Goya“, eine Kreuzung zwischen Kürbis und Gurke. Sie wächst auf Okinawa, schmeckt etwas bitter und wird als Gemüse, meist mit Tofu (auch dazu später mehr), serviert. „Goya“ enthält ebenfalls hohe Mengen Vitamin C und ist einzigartig in seiner Eigenschaft als natürliches Mittel gegen Diabetes bzw. zur Senkung eines erhöhten Blutzuckerspiegels. Der amerikanische Gerontologe Craig Willcox1 hält diese Eigenschaft für eines der wesentlichen „Geheimnisse“ der Ernährung auf Okinawa. In der Tat ist es offensichtlich so, dass viele „moderne“ Gesellschaften, zu der auch unsere gehört, enorm viel Zucker verbrauchen und die Menschen daher einen chronisch erhöhten Zuckerspiegel im Blut haben, was zu vielerlei gesundheitlichen Problemen führt (vgl. S. 162). Inzwischen hat die westliche Kräutermedizin die Bedeutung der Bitterstoffe erkannt. Leider haben sie in unserer Ernährung jedoch praktisch keinen Platz mehr, weil wir süße Lebensmittel bevorzugen und Bitteres eher ablehnen. Bitterstoffe regen die Magen- und Gallensäfte sowie die Verdauungsenzyme an, nicht umsonst trinkt man in Bayern z. B. nach dem Essen hin und wieder gern einen Enzian, der diese Bitterstoffe enthält.
Tofu, eine wertvolle Quelle pflanzlichen Proteins, wird auf Okinawa ebenfalls viel gegessen. Er enthält viele Phytohormone, die bei Frauen z. B. Wechseljahrsbeschwerden lindern und die Brustkrebsrate senken können. Bei den japanischen Männern bewirkt der Verzehr von Tofu bzw. Sojaprodukten, dass sie im Vergleich viel seltener an Prostatakrebs erkranken.
Da Okinawa ein subtropisches Paradies ist, gibt es natürlich eine Fülle von tropischen Früchten: Mangos, Papayas, Guavas, Orangen, Zitronen, Limetten und Ananas. Die gesundheitlichen Vorzüge dieser wohlschmeckenden Früchte sind bekannt: Sie liefern Vitamine, Mineralstoffe, Spurenelemente, sekundäre Pflanzenstoffe, also geballte Gesundheit. Hier bekommt man sie baumfrisch, ohne dass lange Transportzeiten ihren gesundheitlichen Wert gemindert hätten.
Eine Besonderheit in der Ernährung ist außerdem der häufige Genuss von Algenprodukten. Inzwischen gibt es auch bei uns in speziellen Asiengeschäften japanische Nahrungsmittel dieser Art: Sie heißen „Hijiki“, „Kombu“, „Nori“ und „Wakame“. Man kann sie auch im Bioladen finden, man muss nur danach fragen oder sich im Internet kundig machen. Dieses „Gemüse aus dem Meer“ kann man in Suppen oder als Gemüsebeilage essen. Leider wird es bei uns erst von einer kleinen Minderheit als Vitalstoffbombe genutzt. Gute Nachrichten verbreiten sich aber trotzdem und so wird das Angebot in unseren Supermärkten wahrscheinlich bald größer. Die Algenprodukte enthalten viele Mineralstoffe, wie Kalzium, sind eiweißreich und sorgen für die ausreichende Zufuhr von Jod, mit dem wir hier in Deutschland meist unterversorgt sind. Schilddrüsenerkrankungen gibt es auf Okinawa praktisch nicht.
Dass die Menschen auf Okinawa gelassen und lebenslustig sind, ist in Japan weithin bekannt. Hier wird gern und ausgiebig gefeiert, man singt und tanzt gemeinsam und trinkt gelegentlich auch mal ein Glas „Awamori“. Er wird aus fermentiertem Reis und Malz hergestellt und schmeckt sehr süffig. Oft jahrelang gelagert wird er immer wertvoller, so wie bei uns eine gute Flasche Wein. Ein Sprichwort auf Okinawa sagt: „Selbst wenn du dem Diener den Schlüssel für den Safe anvertraust, behalte doch den Schlüssel für den Schrank mit dem Awamori.“
Es wird natürlich trotzdem nicht viel Alkohol getrunken, das allgegenwärtige Standardgetränk ist der grüne Tee, der hier in einer besonderen Form, als so genannter „Ulong-Tee“, getrunken wird. Der Ulong-Tee kommt ursprünglich aus China, ist aber hier seit Jahrhunderten bekannt und wird auch auf Okinawa angebaut. Er hat einen sehr angenehmen Geschmack, ist allerdings für Europäer zunächst etwas gewöhnungsbedürftig. Grüner Tee ist sehr gesund, nicht zuletzt als potenter Krebsschutz.
Was mir noch in Okinawa aufgefallen ist, ist die Größe der Portionen. Oder sollte ich eher sagen ihre „Kleinheit“? Ich bin zwar immer satt geworden, aber wenn ich die Portionsgrößen mit der typisch deutschen in einem durchschnittlichen Restaurant vergleiche, dann ist der Unterschied auffallend. Auf Okinawa wird zwar sehr nährstoffreich gegessen, aber nicht zu viel. Die bei uns häufig anzutreffende Völlerei ist hier gänzlich unbekannt. Okinawa ist inzwischen für seine knappen Mahlzeiten berühmt und es gibt sogar ein lokales Sprichwort: „Hara hachi bu.“ Das heißt etwa „Essen bis 80 Prozent“ und soll bedeuten, dass man am besten aufhört zu essen, wenn man zu 80 Prozent satt ist. Eine wunderbare Ernährungsweisheit, die wir in einem späteren Kapitel noch aufgreifen werden (vgl. S. 239, „Es gibt sie: Die völlig unbekannte Wunderdroge“). Eine angenehme Begleiterscheinung dieses Prinzips ist das Fehlen von stark übergewichtigen Menschen. Wenn Sie durch eine deutsche Fußgängerzone schlendern, ist die auffällige Leibesfülle vieler Zeitgenossen unübersehbar. Das gibt es auf Okinawa zumindest bei den älteren Menschen nicht. Die Leute sind schlank. Ich habe auch in anderen Teilen dieser Erde noch keinen Super-Alten gesehen, der wirklich übergewichtig gewesen wäre.
Alles, was ich Ihnen bis hierher über Okinawa berichtet habe, lässt sich so zusammenfassen, dass die Menschen dort sehr alt werden und dabei vital und gesund bleiben. Auf Okinawa gibt es etwa 39 Hundertjährige auf 100.000 Einwohner. Bei uns sind es etwa 7. Trotzdem ist auch in Okinawa nicht alles Gold, was glänzt. Sehr wahrscheinlich sind wir Zeitzeugen einer Entwicklung, die sich so nicht fortsetzen wird. Warum? Die Jugend ist leider dem amerikanischen Lebensstil und seinen kulturellen Einflüssen erlegen. Ich sprach mit Tsutomu, einem jungen Bewohner der Insel. Gerade einmal 25, hatte er schon einen deutlich sichtbaren Bauch, über den sich sein T-Shirt spannt. Wir saßen zusammen in einem Restaurant, er hatte sich einen Riesen-Hamburger bestellt, dazu Pommes frites und ein Glas Bier. „Mir gefällt das amerikanische Essen“, erklärte er. „Hamburger schmecken so richtig saftig und man kann in eine große Portion Fleisch beißen. ‚Goya’ (das traditionelle Gemüse auf Okinawa) schmecken bitter, die mag ich gar nicht. Tofu esse ich auch manchmal, aber eigentlich nur, wenn ich nichts anderes finden kann oder eingeladen bin. Pommes frites schmecken mir auch besser als ‚Imo’ (die traditionelle Süßkartoffel).“
Ich hörte mir an, was er zu sagen hatte, verwies dann aber frotzelnd auf seinen Bauch, doch auch da hatte er eine Ausrede parat: „Ich habe keine Zeit, um Sport zu treiben. Ich arbeite in einem Reisebüro. Da müssen wir auch Überstunden machen und danach gehe ich oft mit Freunden weg, um nach der Arbeit zu entspannen und ein Bier zu trinken.“ „So eine Antwort könnte man auch in Deutschland bekommen“, dachte ich. Angesichts dessen wurde mir die Wichtigkeit des schwindenden Wissens auf Okinawa hinsichtlich Ernährung und Lebensstil bewusst. Diesen Schatz auch für Sie als Leser dieses Buches zu heben habe ich mir vorgenommen.
Gibt es noch andere Regionen dieser Erde, wo die Menschen sehr alt werden und trotzdem agil und vital bleiben? Wo man etwas über Langlebigkeit, Vitalität und ein freudvolles und gesundes Altern lernen kann? Immer wieder werden aus bestimmten Gegenden dieser Erde wahre „Wunderdinge“ von alten und dabei trotzdem gesunden und lebenslustigen Hundertjährigen berichtet. Die folgenden Gegenden tauchen immer wieder in abenteuerlichen Geschichten in der Presse auf. Aber Vorsicht! Hier ist Skepsis angebracht.
So sollen in Abchasien im wilden Kaukasus angeblich Frauen und Männer wohnen, die ein biblisches Alter erreichen. Dort wird Schafskäse und Joghurt gegessen und Bewegung ist Teil des täglichen Lebens. In den südamerikanischen Anden sollen ebenfalls Hundertjährige leben, die fit und gesund sind und obendrein noch lebenslustig wie Fünfzigjährige. Im Süden Ecuadors gibt es angeblich sogar ein „Tal der Hundertjährigen“, die sich dort bester Gesundheit erfreuen2. In dem kleinen Andendörfchen Vilcabamba, heißt es, sind von 2500 Einwohnern 60 um die hundert Jahre oder älter. Das wäre ein unerhört hoher Prozentsatz, den es nirgendwo sonst gibt. Selbst auf Okinawa nicht. Nach Gründen befragt, sagen die Menschen: „Das Leben ist hart, die Arbeit geht nie aus. Es gibt viel Gemüse und wenig Fleisch.“ Einen Arzt hätten die meisten Hundertjährigen für sich selbst noch nie in Anspruch genommen. Bei Krankheiten würden sie auf Heilkräuter schwören. Dann gebe es noch lokale Heiler, so genannte „Curanderos“. Die wüssten um die Kraft der Natur für das Kurieren von Krankheiten und so brauche man nie einen Arzt.
Noch Exotischeres wird aus Hunza berichtet3. Dort, in den unzugänglichen Bergen des Himalaya, an der Grenze zwischen China und Pakistan, leben angeblich Menschen, die sich ebenfalls durch eine unverwüstliche Gesundheit bei hohem Alter auszeichnen. Ihr Speiseplan besteht, so heißt es, hauptsächlich aus getrockneten Aprikosen, Weizenbrei, Bohnen und etwas Milch, Fleisch gibt es kaum.
Ich habe versucht, all diese Angaben nachzuprüfen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass man gerade die Altersangaben skeptisch betrachten muss. Denn in diesen Gegenden gibt es weder verlässliche Geburtsurkunden noch andere Dokumente (z. B. Heirats- oder Sterbeurkunden), die Informationen nachprüfbar machen würden. Manchmal scheint auch ein Wunder zu passieren, denn dieselben Menschen, die letztes Jahr noch 95 waren, scheinen im Laufe eines Jahres urplötzlich zu altern und daher dieses Jahr bereits 105 zu sein. Das hängt damit zusammen, dass es aus Sicht dieser Menschen „einträglich“ ist, ihr Alter möglichst hoch einzustufen, denn dann ist das Interesse der Umgebung bzw. der ausländischen Reporter oder Wissenschaftler wesentlich größer. Ein rüstiger 95-Jähriger mag ja ungewöhnlich sein, aber ein 105-Jähriger ist wesentlich interessanter. Vielleicht lassen sich sogar ein paar Dollar oder Euro für ein Interview herausschlagen und so ist die Versuchung groß, beim Lebensalter etwas zu schummeln.
Für mich war klar, dass ich nur solche Beispiele heranziehen will, die sich wirklich nachprüfen lassen. Fragwürdige oder zweifelhafte Berichte werden daher nicht näher behandelt. Zum Glück gibt es genügend Gegenden, über die viele zuverlässige Informationen zu bekommen sind. Das gilt für Japan in vorbildlicher Weise, denn da gibt es schon seit ungefähr 150 Jahren das „Familienregister“, das präzise persönliche Daten zu Geburt, Heirat, Verwandtschaftsbeziehungen und Tod etc. auflistet. Ähnliches gilt für die Mittelmeer-Länder.
Auf der Insel Sardinien leben z. B. ungewöhnlich viele rüstige und erstaunlich agile Hundertjährige. So gibt es mehr als genug Anschauungsmaterial, wenn man wissen will, warum die ungewöhnlich fitten und gesunden älteren Menschen so sind, wie sie sind.
Hundertjährige interessieren zwar nicht in erster Linie, denn es kommt nicht auf die Jahre, sondern auf die Qualität des Lebens an. Trotzdem sind sie ein gewisser Indikator, der die Neugier weckt. Denn sie müssen irgendetwas richtig gemacht haben. Hundertjährige gibt es jedoch nicht nur in Japan oder auf Sardinien, sondern auch bei uns.
Der Bundespräsident hat eine ehrenhafte Aufgabe. Er gratuliert jedem Hundertjährigen in Deutschland persönlich, überreicht eine Ehrenurkunde und spricht aufmunternde Worte. Genauer gesagt, tat er dies bis vor wenigen Jahren. Der Terminkalender des Bundespräsidenten erlaubt das heute nicht mehr, denn es sind einfach zu viele geworden. Man höre und staune: Die am schnellsten wachsende Gruppe der Bevölkerung sind die über Hundertjährigen. Laut Auskunft des Statistischen Bundesamtes sind es schon über 5000 und die Zahl verdoppelt sich alle zehn Jahre. Es ist auch kein Grund erkennbar, warum diese Entwicklung nicht anhalten sollte. Wir sind die erste Generation, die sich über die rasante Verlängerung der Lebenszeit so richtig freuen kann. Noch vor 50 Jahren war ein siebzigjähriger Mensch die Ausnahme. So jemand galt schon fast als Methusalem und wurde von den meisten mitleidig belächelt. Der richtige Platz für ihn oder sie war hinter dem Ofen, wo es im Winter warm und im Sommer kühl war. Da störte man auch niemanden und war aus dem Weg. Ansonsten wurde man gerade noch geduldet. Von Vitalität war nicht mehr die Rede, auch wenn gesundheitlich noch alles in Ordnung war. Zukunftspläne durfte ein solcher Mensch erst recht nicht mehr haben.
Ist es nicht ein ungeheures Glück, dass wir heute leben und nicht vor 50 Jahren? Welch ein Unterschied! Gehen Sie einmal mit wachen Augen durch unsere Universitäten. Da gibt es nicht nur vereinzelt ältere Menschen, die mit 60 ein Studium begonnen haben. Die in diesem Alter demnächst einen Abschluss in Jura oder Medizin machen werden oder die Schönheiten der klassischen Antike in einem Studium der Kunstgeschichte genießen und verstehen wollen. Die Super-Alten sind nämlich mitten unter uns. Manche sind berühmt und jeder kennt sie. Manche sind aber auch „nur“ Menschen wie Sie und ich, sie könnten auch bei Ihnen um die Ecke wohnen. Die Super-Alten müssen übrigens nicht unbedingt alt sein. Die Altersgrenze ist flexibel. Es gibt Fünfzigjährige, die sehen wie dreißig aus oder haben das Energie- und Aktivitätsniveau von Dreißigjährigen. Das sind auch Super-Alte.
Unter den Super-Alten gibt es prominente Namen. Da ist zum Beispiel der Extrem-Bergsteiger, Umweltaktivist und ehemalige Europaabgeordnete Reinhold Messner. Er ist jetzt 61, aber drahtig, fit und geistig alert wie ein Vierzigjähriger. Reinhold Messner ist der einzige Mensch, der alle Achttausender dieser Erde bezwungen hat. Die Eiger-Nordwand hat er an einem knappen Tag erklommen und sein letzter Trip führte ihn in die Wüste Gobi. Da stand eine Wüstendurchquerung der härteren Art auf dem Programm – und das mit 60 Jahren. Bei einer normalen Klettertour in den Bergen wird er auch heute noch jeden durchschnittlichen Dreißigjährigen mühelos hinter sich lassen.
Es geht aber nicht um sportliche Höchstleistungen, sondern darum, dass er ein Beispiel dafür ist, wie man auch als älterer Mensch ein ganzes Bündel von positiven Persönlichkeitsmerkmalen behalten und sogar ausbauen kann. Die sportliche Seite ist dabei nur eine Facette. Wer einmal einen der Vorträge Messners miterlebt hat, weiß, was gemeint ist: Der Saal verdunkelt sich und die Leinwand zeigt die ersten Bilder. Man taucht ein in die schroffe und lebensfeindliche Welt des Himalaja. Hört von tödlich steilen, riesigen Felswänden, von eisigen Stürmen und dünner Luft, die das Atmen zur Qual werden lassen. Hunger und Durst sind ständige Begleiter. Dabei hat Messner unzählige Gefahren überwunden und Strapazen bewältigt. Ein falscher Tritt, ein falscher Griff oder eine Steinlawine hätten möglicherweise den Tod bedeutet. Messners Begeisterungsfähigkeit ist ansteckend und sein burschikoses, jugendliches Auftreten schlägt alle in seinen Bann. Er sprüht vor Optimismus und die radikale Individualität, mit der er seine Träume auslebt und sich keinen Deut um die Meinung anderer schert, ist beeindruckend. Nach wenigen Minuten ist es so still im Saal, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte. Die Anwesenden vergessen Zeit und Raum. Ein solcher Mensch beeindruckt. Und das eben nicht nur wegen körperlicher Höchstleistungen. Er ist nämlich noch „nebenbei“ Biobauer, Museumsdirektor, politischer Aktivist und Seminarleiter. Diese Aufzählung ist bestimmt nicht komplett. Wäre es nicht erstrebenswert, wenigstens ein kleines Stückchen „Reinhold Messner“ in sich zu haben?
Ortswechsel. Jetzt geht es nicht so sehr um die körperliche, sportliche Seite, sondern mehr um die geistig-intellektuelle. Es gibt viele Prominente, die im fortgeschrittenen Alter immer noch auf erstaunlich hohem intellektuellem Niveau diskutieren und debattieren können. Es fällt mir sogar schwer, unter den vielen Kandidaten auszuwählen. Prominente Beispiele wähle ich deshalb, weil Sie als Leser dann sofort wissen, wer gemeint ist. Viele sind gern gesehene Gäste in Talkshows. Dabei zeigen sie, trotz hohen Alters, keine Spur von nachlassender Schlagfertigkeit und verfügen anscheinend nach wie vor über ein unerschöpfliches Faktenwissen. Wie wäre es mit Kurt Biedenkopf? Er ist jetzt 75 und kann die meist jüngeren Teilnehmer einer aktuellen Debatte immer noch in Grund und Boden reden. Zugegeben, er war lange Jahre Professor und in der Politik tätig, unter anderem als Ministerpräsident von Sachsen. Er besticht auch heute noch durch seine intellektuelle Brillanz und die Fähigkeit, in größeren Zusammenhängen zu denken, zu analysieren und zu diskutieren. Er schreibt noch Bücher und ist in vielen ehrenamtlichen Gremien tätig, erarbeitet Gutachten für die Bundesregierung. Er trifft viele Menschen, hat Kinder und Enkelkinder. Er hat begriffen: Wer rastet, der rostet. Außerdem macht in dieser Weise aktiv zu sein auch Spaß und hält jung.
Man könnte hier noch viele Prominente aufführen, die in die Kategorie der „Super-Alten“ fallen. Mir geht es aber vor allem um Sie als Leser dieses Buches. Wahrscheinlich sind Sie nicht prominent. Das macht aber auch nichts, ganz im Gegenteil. Berühmt zu sein kann auch äußerst unangenehm sein. Stellen Sie sich nur vor, ständig von irgendwelchen Fans belagert oder belästigt zu werden. Das spart man sich doch gerne und ist lieber nicht prominent.
„Was hat das mit mir zu tun?“, werden Sie jetzt fragen. „Ich bin nun mal kein Kurt Biedenkopf, von Reinhold Messner ganz zu schweigen.“ Die aufgeführten Beispiele kennt man nur, weil Prominente beschrieben sind. Es gibt aber viele Menschen, sicherlich auch in Ihrer Nähe und in Ihrer Stadt, die sich praktisch von den geschilderten kaum unterscheiden. Sicherlich, Ort, Zeit und Einzelheiten sind verschieden. Die Qualitäten, auf die es ankommt, sind aber immer gleich: Begeisterungsfähigkeit, die Lust, Neues anzufangen, regelmäßige körperliche Aktivität, die Bereitschaft, neue Leute kennen zu lernen und auf diese zuzugehen, eine positive Ausstrahlung, Optimismus und eine gewisse emotionale Intelligenz, die den Umgang mit diesen Menschen angenehm macht.
Ich habe bei meinen Reisen und Recherchen keinen einzigen Super-Alten getroffen, der griesgrämig, abweisend, emotional verarmt oder feindselig gewesen wäre. Die meisten sind sehr angenehme, freudvolle Menschen.
Darüber hinaus sind sie immer noch sehr aktiv, arbeiten oft und gern, wissen aber auch, wie man sich entspannt und das Leben genießt. Dies ist die Richtung, in die es gehen muss. Aus diesem Holz sind die Super-Alten geschnitzt. Und so einer oder so eine können auch Sie werden, wenn Sie das wollen.
Auch Gisela Friedrichs gehört zu diesem Kreis. Die ehemalige Krankenschwester hat mit sechzig eine neue Aufgabe gefunden und organisiert jetzt in einer großen Stadt „Die Tafel“: Dabei handelt es sich um einen Zusammenschluss von freiwilligen Helfern, die den Ärmsten unserer Gesellschaft dazu verhelfen, täglich wenigstens eine warme Mahlzeit zu bekommen. Dazu werden Lebensmittel von den örtlichen Supermärkten, Restaurants oder Großküchen abgeholt, deren Verfallsdatum gerade abgelaufen oder deren Verpackung beschädigt ist etc., die ansonsten aber völlig in Ordnung sind und weggeworfen würden. Ein solcher Job ist nicht einfach. Da muss mit den Supermärkten verhandelt werden, Einsatzfahrzeuge müssen koordiniert und Helfer organisiert werden.
Aber fragen wir Frau Friedrichs doch, was für sie das Wichtigste ist bzw. woher sie ihre Befriedigung zieht. Sie könnte sich doch mit ihrer Rente auch einen schönen Lenz machen. „Oh, das ist ganz einfach“, sagt sie etwas schüchtern. „Wissen Sie, ich bin nicht reich, aber ich kann trotzdem etwas geben. Ich sehe hier, wie ich mit meiner Hände Arbeit die Welt ein bisschen besser machen kann und die leuchtenden Augen meiner ‚Kunden’ sind mir Belohnung genug. Fast täglich kommt einer und will mir etwas schenken. Diese Menschen haben selbst nichts. Aber sie bringen mir trotzdem selbst gebackenen Kuchen, selbst gepflückte Blumen oder wollen bei mir zu Hause als Gegenleistung die Wohnung putzen. Wenn ich das höre, läuft mein Herz über und ich bin voller Dankbarkeit, dass ich diese Aufgabe übernehmen darf. Das ist mir Belohnung genug.“ Halten Sie jetzt ruhig einmal inne. Spüren Sie die Begeisterung, Erfüllung und Befriedigung, die aus diesem Lebensstil erwächst? Wünschen Sie sich das auch?
„Moment mal, so einfach ist es doch wohl nicht“, sagen Sie. Richtig. Einfach ist es nicht. Es hat aber auch nie jemand behauptet, dass das Leben einfach ist oder sein sollte. Ganz im Gegenteil: Wer nur nach freier Zeit, Frühpensionierung, Vergnügen, Urlaub oder ruhigen Abenden vor dem Fernseher schielt, dem wird ein erfülltes Alter nie vergönnt sein.
Müßiggang und Erfüllung vertragen sich nicht.
Müßiggang und Gesundheit auch nicht. Viele der Super-Alten haben im Lauf ihres Lebens ein Stück Abenteurertum kultiviert, das sie auch als ältere Menschen nicht aufgeben. Erfolgreich altern braucht Mut und Initiative. Das gute Alter ist daher nichts für Faule oder Feiglinge. Wer das nicht ist und sich auch um seinen Körper und seine Psyche kümmert, der kann – mit ein bisschen Glück – ein wunderbares Alter erleben.
Bei all diesen Überlegungen mag mancher denken: „Ist das nicht alles graue Theorie? Gibt es da nicht den ganz großen Konflikt zwischen Jung und Alt? Fliegen da nicht bald die Fetzen? Alle die Horrorgeschichten von der fehlenden Rente und so“… Auf diese Sorgen will ich näher eingehen.
In diesen Tagen wird viel geredet über den angeblichen Konflikt zwischen Jungen und Alten und dessen fürchterliche Konsequenzen, die da drohend am Horizont auftauchen werden. Zweifelsohne birgt die sich neu entwickelnde Alterspyramide, die ja jahrhundertelang eine echte Pyramide war (viele Junge unten, wenig Alte oben) Probleme. Denn jetzt wird die Pyramide langsam, aber sicher zum „Pilz“: Es gibt plötzlich oben viele Alte und unten wenig Junge. Manche Autoren sprechen vom „Krieg der Generationen“ und entwerfen Szenarien eines drohenden Weltuntergangs. Solche Äußerungen sind zwar populär, sie lassen sich in der Öffentlichkeit auch gut verkaufen, da sie marktschreierisch daherkommen. Es ist aber meiner Meinung nach eine völlig übertriebene und verzerrte Sichtweise. Prognosen sind bekanntlich immer schwierig, insbesondere wenn es um die Zukunft geht. Die meisten Katastrophen treten nun einmal nicht ein, obwohl ganze Heere von Wissenschaftlern sie vorhersagen. Denn wenn alle die Katastrophe kommen sehen, werden Gegenmaßnahmen ergriffen, die sie verhindern. Denken Sie an das Waldsterben, die Ausbreitung von AIDS (zumindest bei uns) oder die BSE-Krise. Von daher hat das allgemeine Katastrophengeschrei auch sein Gutes.
Im Mittelalter soll jemand gewarnt haben, dass die ganze Menschheit bald im Pferdemist ersticken werde, da sich ja die Pferdekutschen nebst den dazugehörigen Rössern so stark vermehrten. Wie man sieht, sind wir von diesem drohenden Weltuntergang verschont geblieben. Die gegenwärtige Diskussion erinnert ein bisschen an die von den Pferdekutschen im Mittelalter.
Bisher hat es die Menschheit noch immer geschafft, letzten Endes den Weg der Vernunft oder wenigstens den Weg eines besseren Lebens für viele zu beschreiten. Gute Nachrichten sind heutzutage allerdings schlechte Nachrichten. Sie verkaufen sich schlecht und sind für Nachrichtensendungen und Zeitungsreporter anscheinend uninteressant. Katastrophen und Skandale, nebst niveaulosem Klatsch und Tratsch über Prominente und deren Privatleben sind der Stoff, mit der der rasende Reporter unserer Zeit am besten reüssiert. Das interessiert die Redaktionen, das treibt die Einschaltquoten hoch. Ist das aber wirklich wichtig im Leben?
Die Aufmerksamkeit vieler Menschen ist leider fehlgeleitet, da sie sich allzu leicht von diesem oberflächlichen Katastrophen- und Skandalgerede anstecken und verunsichern lassen und damit ihre Zeit verplempern, statt auch die „guten Nachrichten“ in sich aufzunehmen. Das muss allerdings nicht so sein. Denn die „guten Nachrichten“ existieren sehr wohl und sind genauso Wirklichkeit wie die schlechten. Es gibt viele faszinierende ältere Menschen und es gibt tolle junge Leute, die sicher keine Bedrohung darstellen, ganz im Gegenteil. Viele junge Menschen geben Anlass zu großer Hoffnung, wenngleich das viele Ältere heute anders sehen („Früher war alles besser“). Es gilt doch, die Gegenwart als Sprungbrett für eine bessere Zukunft zu begreifen.
Der Altersforscher Prof. Paul Baltes hat in einem Artikel4 eine treffende Einschätzung gegeben, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte:
„Im Gegensatz zu anderen Konflikten, wie etwa dem zwischen Schwarz und Weiß oder Reich und Arm, sind wir alle gleichzeitig jung und alt. Die Jugend denkt im Vorausgriff an ihr eigenes Alter und an ihre Eltern … Dieses gleichzeitige Jung und Alt harmonisiert und verbindet. Zum anderen denken viele ältere Menschen intensiv an die nachfolgenden Generationen, und sie sind bereit, durch Bescheidung zu deren Wohlfahrt beizutragen. ,Alt für Jung‘ ist bei vielen Älteren ein leicht zu aktivierendes Motto. Bei guter Aufklärung, bei guter politisch-gesellschaftlicher Führung werden sich die Alten im Interesse der Jugend bescheiden.“
Auch von den Jungen wird durchaus Positives berichtet. So meinen zwei Drittel aller Befragten unter dreißig, dass ihre Interessen im Hinblick auf die älteren Menschen von der Politik angemessen vertreten werden. Auch im persönlichen Bereich vieler junger Menschen hört man versöhnliche Töne: So wollen mehr als die Hälfte ihre Eltern im Alter pflegen, wenn dies notwendig sein sollte. Im Osten Deutschlands sind es sogar zwei Drittel.5
Dies scheint doch eine gute Basis zu sein, auf der man die Zusammenarbeit zwischen Jung und Alt organisieren kann. Es wird ein Miteinander geben und dieses Miteinander wird wahrscheinlich weit weniger konfliktträchtig und weit kooperativer ablaufen, als das heute viele denken.
Das Alter wird viel zu wenig als Chance und viel zu viel als Bedrohung gesehen.
Die negative Sichtweise ist typisch deutsch und sehr zu bedauern. Es geht nämlich auch ganz anders. In diesem Buch erfahren Sie viele gute Nachrichten über das Alter. Sie erfahren auch, wie Sie es selbst schaffen, ein glückliches Alter zu leben, wie Sie manchmal durch einfache Änderungen Ihres Lebensstils Ihre körperliche Gesundheit verbessern, Ihr seelisches Gleichgewicht in Balance bringen und mehr Freude und Erfüllung genießen können. Freude und Erfüllung sind untrennbar mit der Liebe und mit guten Beziehungen zu den Mitmenschen verbunden.
Wenn man die Menschen fragt, was sie sich unter einem erfüllten und glücklichen Alter vorstellen, so kommen in ihren Antworten fast immer zwei zentrale Themen zum Ausdruck: Gute Beziehungen zu den Mitmenschen und eine gute Gesundheit.
Jeder von uns spürt instinktiv, dass gute Beziehungen außerordentlich wichtig für das Wohlergehen sind. Dass wir deshalb alle gute Beziehungen zu unseren Mitmenschen haben wollen, versteht sich von selbst. Allerdings sind es nicht allzu viele, die wirklich in einem Netz von befriedigenden Beziehungen und der damit einhergehenden emotionalen Geborgenheit leben. Manch einer hat auch die trügerische Hoffnung, dass sich gute Beziehungen irgendwie „von selbst“ einstellen werden. Das tun sie aber meistens nicht. Es ist wie mit vielen anderen Dingen des Lebens: Wer Früchte ernten will, muss erst einmal säen und vielleicht vorher auch Unkraut jäten und Steine entfernen. Einige sind vom Elternhaus begünstigt und sind bei psychisch gesunden und liebevollen Eltern aufgewachsen. Sie haben es leichter im Leben. Sie sind in der Lage, unverkrampft befriedigende emotionale Bindungen aufzubauen, und verhalten sich ihren Mitmenschen gegenüber meist spontan herzlich und finden leicht Kontakt. So gewinnen sie schnell Freunde oder zumindest Gleichgesinnte, mit denen sich über die Zeit eine tief empfundene Verbindung ergibt, wodurch ein großes Stück Lebensqualität geschaffen wird.
Andere haben spontane Herzlichkeit nie gelernt, vielleicht haben sie sich auch im beruflichen oder sonstigen Umfeld so verbiegen lassen, dass sie schlechte Erfahrungen mit den Mitmenschen gemacht haben. Vielleicht haben sie zu sehr auf die Karriereleiter geschaut und zu viel Kraft für den Kampf um mehr Geld oder einen höheren Posten vergeudet. Da ist die Liebe und die Mitmenschlichkeit auf der Strecke geblieben. Die Liebe ist allerdings fundamental wichtig.
Wer glücklich ist, der bedarf nicht der Bosheit. (MAX HORKHEIMER)
Ein älterer Herr kommt in meine Praxis, nennen wir ihn Schmidt. Herr Schmidt klagt über allerlei Beschwerden, das Herz will nicht mehr so richtig, der Blutdruck ist zu hoch und zu allem Übel hat der Hausarzt jetzt noch Diabetes festgestellt. Ich schaue mir die Befunde an und fange an, mich mit Herrn Schmidt zu unterhalten. Mir fällt auf, dass in der Gesprächsatmosphäre etwas nicht stimmt. Er spricht seltsam gespreizt und gestelzt. So, als würde er von einer anderen Person sprechen, nicht von sich selbst. „Die Befunde sind alle vom Kardiologen und vom Hausarzt verifiziert“, meint er. „Soso“, denke ich, „verifiziert.“ Herr Schmidt sagt: „Es wäre eine sehr positive Entwicklung, wenn wir uns auf eine neue Behandlung einigen könnten.“ „Positive Entwicklung“, denke ich, „aha.“ Auch nach weiteren 20 Minuten ist der Stil nicht anders: „Erzählen Sie mir etwas über Ihre Gefühle“, sage ich schließlich. „Was freut Sie besonders im Leben, zu wem haben Sie ein herzliches Verhältnis?“ Herr Schmidt zieht die Mundwinkel etwas herunter, er wirkt ungehalten: „Ist alles in Ordnung“, meint er kurz. „Da habe ich keine Probleme.“ „Hm“, murmele ich in mich hinein. „So ist das also.“ Was halten Sie von dieser – verkürzten – Unterhaltung? Fällt Ihnen etwas auf?
Wir sind hier an jemanden geraten, der wie ein emotionaler Analphabet wirkt. Davon gibt es leider viele in unserer Gesellschaft. Emotionen sind ihnen ein Graus. Für sie gibt es nur Fakten. Menschliche Beziehungen mit ihren unkalkulierbaren Überraschungen und Unwägbarkeiten stören da nur. Allenfalls können sie eine Rolle spielen, wenn sie der eigenen Karriere nützen oder sich sonst ein persönlicher Vorteil ergibt. Es sind oft Menschen mit abweisenden Gesichtern. Die leicht in Zynismus und Depressionen verfallen, die schnippisch, bissig und offen oder versteckt aggressiv sind. Die nicht lächeln können, wenn man sie anlächelt, und die ein weinendes Kind nicht in den Arm nehmen können, weil ihnen das zu „fremd“ ist. Die überhaupt niemanden umarmen können, weil in ihrem Herzen vor langer Zeit etwas zerbrochen ist, was sehr wehgetan hat. Mit Umarmungen oder Herzlichkeit verbinden sie das eigene psychische Leid und das wollen sie vermeiden. Diese Menschen werden kein frohes und erfülltes Alter haben und wahrscheinlich auch nicht lange leben. Denn emotionale Gesundheit und körperliche Gesundheit sind eng verbunden. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben.
Es geht hier nicht um Schuld. Der Begriff ist vollkommen ungeeignet. Diese Menschen handeln in aller Regel nicht