Praktische Selbst-Empathie - Gerlinde R. Fritsch - E-Book

Praktische Selbst-Empathie E-Book

Gerlinde R. Fritsch

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Beschreibung

Wie können Menschen Beziehungen miteinander aufnehmen, die alle Beteiligten tief gehend bereichern? Was befähigt sie, vertrauensvoll und vorwurfsfrei miteinander umzugehen? Der Schlüssel hierzu ist Selbst-Empathie, um für sich selbst genauso wie für andere Mitgefühl zu entwickeln. Die Autorin, aus langjähriger psychotherapeutischer Praxis kommend, unterstützt die Leser und Leserinnen darin, offen zu werden für alle Erfahrungen des gegenwärtigen Augenblicks. Sie bietet praktische Hilfen an, um die eigenen Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse bewusst zu erkennen und liebevoll zu versorgen, selbst wenn das innere Erleben noch so turbulent ist. Viele lebensnahe Beispiele regen dazu an, eigene Möglichkeiten zu entwickeln, um den Kontakt mit sich und anderen so zu gestalten, dass sich die Schönheit des Lebens im alltäglichen Tun zeigen kann. Dieses lebendig geschriebene Arbeitsbuch bietet einen roten Faden auf der Suche nach dem ersten Schritt zu einem wertschätzenden Miteinander.

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Seitenzahl: 175

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Gerlinde Ruth FritschPraktische Selbst-EmpathieHerausfinden, was man fühlt und brauchtGewaltfrei mit sich selbst umgehen

© Junfermannsche Verlagsbuchhandlung, Paderborn 2008

4. Auflage 2012

Coverfoto: © creamofcornish – stock adobe

Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsjahr dieser E-Book-Ausgabe: 2019

ISBN der Printausgabe: 978-3-87387-695-8

ISBN dieses E-Books: 978-3-87387-917-1 (EPUB), 978-3-95571-251-8 (PDF), 978-3-95571-250-1 (MOBI).

Vorwort

Nach jahrelanger Tätigkeit als Psychotherapeutin glaubte ich verstanden zu haben, wie sich Menschen entwickeln und warum sie immer wieder in die gleichen Fallen zu laufen scheinen. Dennoch bewegten mich Fragen, auf die ich keine befriedigende Antwort fand. Wie konnte eine wirklich tief gehende und nachhaltige Veränderung im Fühlen und Verhalten von Menschen eintreten? Und was konnte man mit intensiven negativen Gefühlen machen, außer sie fühlen und sie gegebenenfalls in einigermaßen sozial verträglicher Weise ausdrücken?

In dieser Zeit stieß ich auf das Buch „Gewaltfreie Kommunikation“, das Hauptbuch des Carl-Rogers-Schülers Marshall B. Rosenberg. In seinem Konzept fand ich die Antworten auf meine zentralen Fragen. Revolutionierend waren für mich als Psychologin Rosenbergs Unterscheidungen zwischen Gefühlen und Pseudo-„Gefühlen“ sowie zwischen Bedürfnissen einerseits und Strategien zur Erfüllung von Bedürfnissen andererseits. Für meine psychotherapeutische Arbeit ergab sich dadurch ein tief gehender neuer Arbeitsansatz für Probleme mit Süchten, gewalttätigem Verhalten und anderem Leiden an sich selbst.

Erschien die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) zunächst als faszinierende Kommunikationslehre für einen fairen Umgang von Mensch zu Mensch, so entdeckte ich in ihr zunehmend eine freundliche und ausgesprochen wirksame Methode, die Selbst- und Fremdwahrnehmung zu verbessern sowie die Selbststeuerung und Selbstwirksamkeit zu erhöhen. Damit fand ich den Schlüssel zu einer wirklich funktionierenden Kommunikation und einem respektvollen Umgang miteinander: Nur wenn Menschen sich ihrer selbst bewusst werden und im Sinne Rosenbergs auch gewaltfrei mit sich selbst umgehen, also nicht länger ihre Gefühle und Bedürfnisse ignorieren, sind sie in der Lage, sich den Gefühlen und Bedürfnissen anderer Menschen mitfühlend zuzuwenden. Obendrein entwickeln sie dann auch die Bereitschaft, nach Lösungen zu suchen, die den Bedürfnissen aller gerecht werden. Die GFK zeigt wunderbare und sehr praktische Wege auf, wie scheinbar nicht kompatible Bedürfnisse gleichzeitig erfüllt werden können.

Um den gewaltfreien Umgang mit sich selbst geht es in diesem Buch. Es ist insbesondere gedacht für Menschen, die bereits mit der GFK vertraut sind und die sich für das vertiefte Arbeiten mit Selbst-Empathie interessieren, also für den Teil des GFK-Prozesses, der die Voraussetzung schafft, dass man sich aufrichtig und gewaltfrei mitteilen oder empathisch auf sein Gegenüber reagieren kann. Das Buch eignet sich aber auch für Leser/innen, die sich noch nicht mit Gewaltfreier Kommunikation beschäftigt haben und einfach ein Instrument suchen, um sich verstehen und das eigene Erleben und Verhalten besser regulieren zu können. Und schließlich ist es auch für Interessierte geschrieben, die verstehen wollen, was die Besonderheit des Ansatzes von M.B. Rosenberg im Vergleich zu anderen Kommunikationstheorien und anderen psychologischen Ansätzen ausmacht.

Einführung

„Eine einfühlsame Haltung ist nicht einfach immer da, sondern entsteht immer wieder, wenn wir gut für uns sorgen und uns selber nähren.“ – M.B. Rosenberg

In meiner Familie drückt man Gefühle nicht aus. Letzte Woche bekamen wir beispielsweise einen Anruf, dass die Schwester meiner Mutter sehr krank ist, und da hab ich meine Mutter zum ersten Mal weinen sehen. Ich stellte die Fernbedienung des Fernsehers lauter, damit ich nicht hören musste, dass sie weinte. Ich bin kalt.“ Die junge Frau schaute mit unbewegter Miene aus dem Fenster. „Ich bin nicht sicher, ob ich Ihrer Diagnose zustimme“, antwortete ich. In früheren Gesprächen hatte ich sie glücklich lachen sehen, wenn sie über ihre Kindheit auf dem Land und ihre frühere Beziehung zu ihrer Mutter berichtete. „Ich habe eher den Eindruck, dass Sie sehr erschrocken waren, Ihre Mutter weinen zu sehen, und dass Ihnen das Angst gemacht hat.“ Sie sah mich erstaunt an. Ich fuhr fort: „Ich könnte mir vorstellen, dass Sie sehr unsicher waren, wie Sie reagieren sollten, weil Gefühle in Ihrer Familie eine so geringe Rolle spielen. Und vielleicht wollten Sie Ihre Mutter trösten, unterließen es aber, weil das etwas völlig Ungewohntes in Ihrer Familie ist. Und möglicherweise wussten Sie auch nicht, wie Sie Ihrer Mutter Trost geben können?“ Sie nickte unmerklich. „Und in Ihrer Hilflosigkeit haben Sie den Fernseher lauter gestellt, um irgendetwas zu tun? Ist das so?“ Sie warf ihre Hände vors Gesicht und fing bitterlich an zu weinen. Es war das Bedürfnis nach Kontakt zu ihrer Mutter, das schmerzlich unerfüllt war.

Durch Empathie wird es möglich, mit einer unvoreingenommenen offenen Haltung durch die Worte von Menschen hindurchzuhören und durch ihr Verhalten hindurchzuschauen. Sie befähigt dazu, das Vordergründige zu durchdringen, um zur lebenspulsierenden Essenz vorzustoßen: mitten ins Herz. Empathie erfasst, welche Sehnsucht einen Menschen dazu drängt, zu handeln, ungeachtet dessen, wie er seine Sehnsucht umzusetzen versucht. Empathie ist die Suche danach, was den anderen bewegt: Was sind seine Schmerzen, was seine Freuden? Und bei allen Fragen, bei aller Suche gibt es keinerlei Verurteilung oder Ablehnung, sondern tiefes Verständnis und Mitgefühl.

Wie wird eine solche liebevoll-zugewandte Haltung möglich? Sie wird möglich, wenn man sich auf das Paradigma einlässt, dass allem, was Menschen denken, sagen oder tun, eine sinnvolle und zutiefst positive Absicht zugrunde liegt: sich Bedürfnisse zu erfüllen – auch wenn durch die Art, wie sie es bislang getan haben, großer Schaden und Schmerz entstanden ist.

Auch für einen selbst ist solche Zugewandtheit möglich. Selbst-Empathie – dieses Mitgefühl für sich – ist insbesondere dann hilfreich, wenn es einem nicht gut geht, wenn man sich ärgert, traurig oder frustriert ist, an Schuld- oder Schamgefühlen leidet oder wenn man einfach kein Verständnis für andere Menschen aufbringen kann. Wie Selbst-Empathie praktiziert werden kann, versucht dieses Buch zu zeigen, indem die einzelnen Komponenten (Beobachtung, Urteile, Gefühle, Bedürfnisse, Bitte) dargestellt werden. Ein Schwerpunkt des Buches liegt auf der Frage, wie Sie Ihre Gefühle erkennen können. Außerdem erhalten Sie Hinweise, wie sich Gefühle intensivieren oder entschärfen lassen. Ein weiterer Schwerpunkt beschäftigt sich mit dem Wahrnehmen Ihrer Bedürfnisse und wie Sie diese mithilfe ganz praktischer Strategien versorgen können. Und schließlich erhalten Sie Anleitungen für den gesamten Prozess der Selbst-Empathie.

Sollte Sie die Frage beschäftigen, ob eine intensive Beschäftigung mit den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen nicht egoistisch ist, so stimme ich Ihnen durchaus zu: Selbst-Empathie ist altruistisch motivierter Egoismus! Sie dient dazu, sich sich selbst zuzuwenden, und danach anderen Menschen – voll und ganz, geklärt und genährt. Ich kenne kein besseres Rezept für von Herzen kommendes Mitgefühl und für gute Beziehungen.

1. Beobachtung – den Weg zu Gefühlen und Bedürfnissen bahnen

„90 % unseres Leides entsteht durch unsere Interpretationen.“– M. B. Rosenberg

Kennen Sie das: Sie fühlen sich nicht gut, irgendetwas rumort in Ihnen, es geht Ihnen seelisch immer schlechter und Sie wissen nicht warum? Oder ein konkretes Ereignis ist gegenwärtig und wühlt in Ihnen. Sie grübeln, spielen Details des Geschehens immer wieder durch, stellen Analysen über die Beteiligten an. Die Gedanken wirbeln durcheinander oder treten auf der Stelle, die Gefühle fahren Achterbahn. Und alles in Ihnen sehnt sich danach, wieder durchatmen, wieder klar sehen zu können. Wie aber kommt man dahin?

Ohne ein Werkzeug ist das nicht leicht. Ich lade Sie ein, als ersten Schritt in Richtung Klarheit zunächst herauszufinden, was Ihre Gefühle und Gedanken ausgelöst hat. Womit genau fing es an? Was konkret ist Ihnen unter die Haut gegangen? „Die Depression begann einfach so; plötzlich war sie da“, höre ich immer wieder in meiner Psychotherapiepraxis. Kein Gefühl fällt jedoch vom Himmel, es wird immer von etwas ausgelöst. Das kann ein äußeres Ereignis sein. Doch oftmals genügt allein ein Gedanke, sodass ein Gefühl entsteht. Den Auslöser herauszufinden grenzt das Suchfeld für das, was in Ihnen los ist, überschaubar ein.

Auslöser für Gefühle

äußere Auslöser (objektive Tatsachen, sinnlich wahrnehmbare Ereignisse, gegenständliche Welt, verbale/nonverbale Äußerungen, sichtbares Verhalten)innere Auslöser (Gedanken, Erinnerungen, Vorstellungen, Fantasien, Einbildungen, Befürchtungen, Interpretationen, Bewertungen, Unterstellungen)

Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat einen. Also beschließt unser Mann, hinüberzugehen und ihn auszuborgen. Doch da kommen ihm Zweifel: Was, wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er mich nur so flüchtig. Vielleicht war er in Eile. Aber vielleicht war die Eile nur vorgeschützt, und er hat etwas gegen mich. Und was? Ich habe ihm nichts angetan; der bildet sich da etwas ein. Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm sofort. Und warum er nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen abschlagen? Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben. Und dann bildet er sich noch ein, ich sei auf ihn angewiesen. Bloß weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht’s mir wirklich. – Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch noch bevor er „Guten Tag“ sagen kann, schreit ihn unser Mann an: „Behalten Sie Ihren Hammer, Sie Rüpel!“ (Paul Watzlawick, Anleitung zum Unglücklichsein, S. 37f.)

Um den Auslöser für den Schmerz zu erkennen, ist es hilfreich, Tatsachen und Interpretationen voneinander zu unterscheiden. Dies geschieht mittels der Beobachtung. Beim Beobachten gilt es, sehr schlicht, sehr einfach und sehr nüchtern in der Wahrnehmung zu werden und sachlich-objektiv zu beschreiben[1]: Was genau tut oder sagt jemand? Was genau ist passiert?

Bei der Beobachtung werden Tatsachen beschrieben, ohne in die Wahrnehmung hineinzumischen:

InterpretationenBewertungenBeurteilungenDeutungenFantasienAnalysen über Eigenschaften, den Charakter oder das Wesen von MenschenDiagnosenRückschlüsse über Absichten, Motive oder Gedanken des Handelnden

Hilfreich können diese Fragen sein:

Was genau sehe, rieche, höre ich?Wer tut oder sagt konkret was, zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt, in einer spezifischen Situation?

Wertungsfreie Beobachtungen (im Vergleich zu Interpretationen, Bewertungen, Urteilen) sind z.B. folgende Aussagen:

„Ich habe ihn um Rückruf gebeten und keinen Anruf erhalten“ statt: „Er hat nicht zu

rückgerufen“ (Er hat vielleicht zurückgerufen, aber keine Nachricht hinterlassen, oder die Technik hat versagt und den Anruf nicht aufgezeichnet).

„Ich finde die Datei nicht mehr“ statt: „Die Datei ist verschwunden“.

„Sie hat gesagt, ich tauge zu nichts“ statt: „Sie hat mich beschimpft“.

„Er hat nach 22 Uhr an der Tür geklingelt, obwohl ich ihn gebeten hatte, den Schlüssel zu benutzen“ statt: „Meine Bitten sind ihm völlig gleichgültig“.

„Sie trat nach dem Hund“ statt: „Sie misshandelte den Hund“.

„Ich habe gestern Abend dreimal versucht, ihn zu erreichen“ statt: „Ich habe den ganzen Abend versucht, ihn zu erreichen“.

„Ich habe meine Ausführungen nicht in einem Durchgang machen können, weil sie 

mehrmals begonnen hat zu sprechen, bevor ich fertig war“ statt: „Sie ist mir ständig ins 

Wort gefallen“.

„Er hat weder einen meiner Lösungsvorschläge angenommen noch selber einen gemacht“ statt: „Er will nicht wirklich eine Lösung“.

„Sie hat mit der Abteilungsleiterin über mich gesprochen und ihr mitgeteilt, dass ich 

zum vierten Mal eine halbe Stunde nach Dienstbeginn in die Firma gekommen bin“ 

statt: „Sie ist intrigant“.

„Er hat mir mehrmals gesagt, dass er mich nicht für geeignet hält“ statt: „Er hat die Absicht, mich fertigzumachen“.

„Ihre Frisur und die Farbzusammenstellung ihrer Kleidung gefallen mir nicht“ statt: 

„Sie ist hässlich“.

„Als ich in den Klassenraum kam, sah ich, wie ein Schüler ein Buch aus der Tasche eines 

Mitschülers zog“ statt: „Ich erwischte ihn beim Klauen“.

Wahrnehmbare Tatsachen sind:

das Verhalten anderer Wesendie Worte anderer Menschender körperliche Ausdruck anderer WesenIhr eigenes VerhaltenIhre eigenen WorteIhre eigenen Körperreaktionen

Keine wahrnehmbaren Tatsachen sind:

die Gedanken anderer Menschendie Motive oder Absichten anderer Menschendie Gefühle anderer Menschendie Bedürfnisse und Wünsche anderer Menschender Charakter anderer Menschen

Die Beobachtung erfordert den Verzicht auf jegliche „Deutungshoheit“, indem man anerkennt, dass Ereignisse (oder Verhaltensweisen) vieldeutig sind. Man selbst maßt sich nicht an, das Geschehen zu beurteilen.

Zu Beginn der neunziger Jahre sah ich auf der Straße eine Frau, die mir den Rücken zukehrte, laut sprach und lachte, ohne dass ich jemanden in ihrer Nähe sah. Ich war ausgesprochen irritiert. Führte sie Selbstgespräche? Halluzinierte sie? War sie gar psychotisch? Nach einer Weile sah ich, dass sie in ihre Hand sprach. Es war das erste Mal, dass ich jemanden sah, der ein Mobiltelefon benutzte ...

Der Verzicht auf Deutungen bzw. Interpretationen hat große Vorteile, vermag doch eine Fokussierung allein auf die Fakten schon manch inneres Leid zu reduzieren, indem quälende Fantasietätigkeit in ihre Schranken gewiesen wird.

Ein Designer, der an einem meiner Seminare teilgenommen hatte, berichtete, dass sein Chef seine Arbeit mit den Worten kommentiert habe: „Das hätte auch ein technischer Zeichner zeichnen können.“ Der Angestellte bemerkte, dass ihm sofort Gedanken kamen, die bei ihm typischerweise in eine depressive Episode mündeten. Er identifizierte diese Gedanken als Bewertungen. Aus dem einfachen Satz des Chefs hatte er gemacht: „Sie sind komplett unfähig! Sie sollten den Beruf wechseln!“ Mit letzter Kraft zwang er sich, auf die Fakten zu schauen („Was ist die Beobachtung? Was hat mein Chef gesagt?“). Ihm wurde klar, dass der Chef lediglich seine Arbeit und nicht ihn selbst kommentiert hatte und dass er mit dem Arbeitsergebnis nicht zufrieden war. Danach stellte er fest, dass er seinem Chef zustimmte – ihm selbst gefiel sein Produkt auch nicht. Er konnte seine wiedergewonnene Energie nutzen, um seine Arbeit zu verbessern.

Falls Sie nun glauben, dass Sie in Zukunft auf Interpretationen verzichten sollten: Es geht nicht erstrangig darum, nicht mehr zu interpretieren, zu bewerten oder zu urteilen – das werden Sie kaum verhindern können –, sondern vielmehr darum, sich bewusst zu werden, dass man interpretiert, urteilt, bewertet, unterstellt ... Das Ziel ist, Beobachtung und Interpretation/Bewertung zu trennen. Was man mit den herausgefilterten Bewertungen anfangen kann, lesen Sie im nächsten Kapitel.

Als Marshall Rosenberg beim Volksstamm Orang Asli in Malaysia eingeladen war, teilte ihm sein Übersetzer mit, dass seine Sprache das Verb ,sein´ nicht enthalte; darum gebe es keine Formulierungen wie „Du ,bist‘ gut, schlecht, richtig, falsch“. Rosenberg fragte den Übersetzer: „Wie übersetzt du dann ,Du bist egoistisch‘?“ „Das ist schwer. Ich würde es in meine Sprache übersetzen mit ,Marshall sagt, dass du für deine Bedürfnisse sorgst, aber nicht für die Bedürfnisse anderer‘. – In meiner Sprache sagt man Leuten, was sie tun und was man möchte, dass sie anders tun sollen, aber es würde uns nicht möglich sein, Menschen zu sagen, was oder wie sie sind.“[2]

2. Bewertungen und Urteile – verborgene Geschenke

(zurück zu Abschnitt 4.1: Vom Denken zum Bedürfnis: Urteile und Pseudo-„Gefühle“ nutzen)

„Ich bekomme mit jeder Abwertung, die mir durch den Kopf geht, eine Chance zu üben. Nur wenn ich Hunderte Male verurteile und dann übe, fängt es an, für mich zur Gewohnheit zu werden, über das nachzudenken, was ich fühle und brauche.“ – M. B. Rosenberg

„Jede Situation, jede Beziehung und jede Gruppe, der wir uns anschließen, ist eine Gelegenheit, das kulturelle Klima zu schaffen, das wir mögen. Wir können ein Klima des Mitgefühls oder eines der Angst schaffen, je nachdem, was wir mit unseren Fehlern und unseren Urteilen über uns selbst und andere machen.“ – Kelly Bryson

Wenn Menschen sich ihrer Bewertungen bewusst werden, sind sie häufig erschrocken, wie viele und welche Urteile[3] sie fällen. Diese Erkenntnis passt häufig nicht zum (idealen) Bild, das sie von sich selbst haben. Also liegt es nahe, nicht so genau hinzuhören oder lieber schnell wegzuhören, wenn sich Urteile melden. Urteile zu ignorieren oder zu verdrängen birgt jedoch die Gefahr, dass sie sich heimlich in unser Erleben schleichen.

Urteile (seien es solche über sich selbst oder andere Personen) haben einen entscheidenden Nachteil: Sowohl Sie selbst als auch andere (wenn Sie in deren Gegenwart Urteile äußern) bleiben im Unklaren darüber, was Sie im Innersten bewegt. Urteile sind Masken, hinter denen sich Ihre Gefühle und Bedürfnisse verbergen und die bewirken, dass Sie sich dieser Gefühle und Bedürfnisse nicht gewahr werden und sich selbst von ihnen abschneiden. Urteile unterbrechen auch Ihre mitfühlende Verbindung zu anderen, selbst dann, wenn Sie sie nicht explizit äußern. Häufig genügt es, die Urteile nur als Gedanken zu hegen. Selbst wenn Sie dann eine urteilsfreie Sprache wählen, wird die Energie verurteilenden Denkens in Ihren Worten mitschwingen oder sich in Ihrer Gestik oder Mimik zeigen.

Und dennoch sind Urteile verborgene Geschenke, sind sie doch ein Alarmsignal dafür, dass Sie nicht mit sich und Ihrem Herzen verbunden sind. Sie können den Alarm als Weckruf nutzen, dass Sie sich selbst zuwenden und herausfinden, was Sie bewegt. Urteile sind also nicht schlecht, sondern einfach nur ein verfremdeter, verzerrter und erstarrter Ausdruck Ihres inneren Lebens. Je negativer und heftiger Ihre Urteile sind, desto wichtiger ist es, sie zuzulassen und die Botschaft dahinter zu entdecken, denn je härter Ihr Urteil ist, desto stärker ist der in ihm eingekapselte Schmerz, der nicht gefühlt wird. Es lohnt sich, sich diesem Schmerz zuzuwenden, ihn mit Annahme und Wärme zu umgeben. Es lohnt sich, die verzweifelte Botschaft im Urteil zu verstehen, denn es meldet sich ein Bedürfnis, das gewürdigt und versorgt werden möchte. Rosenberg sagte einmal: „Je schlimmer das Urteil, desto schöner ist das Bedürfnis dahinter.“

Das Urteil „Sie ist wieder mal das Opfer“ bedeutet vielleicht: „Ich halte nicht aus, wie viel Schmerz in ihrem Leben ist. Ich will, dass ihr Leid endlich weniger wird, und kann nicht sehen, dass sie wirksame Beiträge dazu leistet. Dann springe ich ein und übernehme Verantwortung für ihren Schmerz. Das ist mir zu viel. Ich brauche Ruhe und Entlastung“.

„Der ist viel zu sensibel“ bedeutet möglicherweise: „Wenn ich mich äußere, reagiert er 

häufig mit Schmerz und Verletzt-Sein. Und wenn ich seine Gefühle wahrnehme, überwältigen mich Schuldgefühle und Unsicherheit, weil ich denke, ich habe etwas falsch g

emacht. Ich will mich ehrlich mitteilen, und wenn ich dann seine Reaktion sehe, drohe ich mich zurückzunehmen, weil ich seinen Schmerz nicht aushalte“.

Hinter „Ich bin ein hoffnungsloser Fall“ steckt vermutlich so etwas wie: „Ich bin so 

traurig und verzweifelt! Ich habe viel Energie, Kraft und Zeit investiert, um mich zu verändern und wieder einmal hab ich mich so verhalten, wie ich es nicht möchte. Ich bin es satt! Ich sehne mich so sehr nach einer tief gehenden und dauerhaften Veränderung in mir!“

„Sie ist so bedürftig!“ kann bedeuten: „Ich habe Angst, ihr zu sagen, dass ich gerade an

dere Bedürfnisse als sie habe – einmal wegen meiner Scham, überhaupt selbst Bedürfnisse zu haben. Aber auch weil ich Angst habe, dass ich verlassen werde, wenn ich auf ihre Bedürfnisse nicht eingehe“.

„Er ist eiskalt“ mag die entfremdete Form sein für: „Er erzählt von erlittener Gewalt in 

seiner Kindheit, ohne dass ich irgendeine Regung in seinem Gesicht entdecke oder sonst ein Gefühl bei ihm wahrnehmen kann. Ich bin fassungslos und hätte gerne inneren Kontakt mit ihm“.

Verurteilen Sie sich nicht, wenn Sie unschöne Urteile in sich entdecken! Zensieren Sie sich nicht! Ich möchte Ihnen Mut machen, Ihre sämtlichen Urteile vollständig zuzulassen – innerlich –, um sie dann in Gefühle und Bedürfnisse[4] zu übersetzen. Dabei geht es keineswegs um Sprachkosmetik, sondern darum, mit dem in Kontakt zu kommen, das Sie tief bewegt. Wie das konkret möglich ist, wird in Kapitel 4.1 beschrieben.

Warum sind moralische Urteile nicht sehr hilfreich?

Sie lassen uns selbst und andere im Unklaren darüber, was uns im Innersten bewegt (was wir fühlen und welche Bedürfnisse wir haben).Sie beziehen sich auf nur einen Aspekt der Realität und zementieren Verhalten zu Eigenschaften.Sie unterbrechen den Kontakt zu uns selbst und zu anderen.Sie machen es uns schwer, Mitgefühl zu entwickeln.Sie erschweren es anderen, sich uns mitfühlend zuzuwenden. (Andere hören uns nicht mehr zu, sondern bereiten ihre Verteidigung oder ihren Gegenangriff auf die vernommene Kritik vor.)Sie erzeugen Konflikte und fördern die Anwendung von Gewalt.

3. Gefühle – Zeichen der Lebendigkeit

„Was auch immer das Gefühl ist – ob Schmerz oder Freude –, es ist ein Geschenk, und seine Schönheit liegt darin, dass es dir zeigt, dass du lebendig bist. Das Ziel im Leben ist nicht, immer glücklich zu sein, sondern all unser Lachen zu lachen und all unsere Tränen zu weinen. Was auch immer sich in uns offenbart, es ist das Leben, das sich darin zeigt.“ – M. B. Rosenberg

„Ich komme zu Ihnen, weil ich möchte, dass Sie mir helfen, nie wieder Schmerz zu fühlen“, erklärte mir eine Frau im Erstgespräch. „Diesen Auftrag kann ich nicht annehmen“, antwortete ich. „Es würde bedeuten, dass Sie nie wieder lieben dürfen, und darin möchte ich Sie nicht unterstützen.“

Gefühle sind differenzierte Möglichkeiten, die Welt und sich selbst in immer neuen Farben wahrzunehmen. Sie gleichen Filtern, die vor die Linse einer Kamera gesteckt werden und die beim Bildmotiv ganz unterschiedliche Aspekte hervortreten lassen, die den Betrachter jeweils anders berühren und bewegen. Durch Gefühle erschließt sich die Welt immer wieder neu. Gefühle nicht fühlen zu können oder nicht fühlen zu wollen lässt die Welt farblos werden, reduziert die eigene Lebendigkeit und beschneidet die Beziehungsgestaltung zu anderen Menschen. Je deutlicher und je nuancierter Sie Ihre Gefühle wahrnehmen können, desto lebendiger fühlen Sie sich.

3.1 Pseudo-„Gefühle“ und Gefühle unterscheiden