Praxisbuch Entwicklungstrauma heilen - Laurence Heller - E-Book
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Praxisbuch Entwicklungstrauma heilen E-Book

Laurence Heller

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Beschreibung

NARM verstehen und erfolgreich anwenden

Dieses Praxisbuch zeigt, wie das Neuroaffektive Beziehungsmodell NARM™ therapeutisch angewandt werden kann, um komplexe posttraumatische Belastungsstörungen zu lösen, die Folgen belastender Kindheitserfahrungen zu behandeln und posttraumatisches Wachstum zu ermöglichen. Die Autoren erklären kurz und zugänglich die grundlegenden Prinzipien von NARM™ sowie die therapeutischen Prozesse für die Auflösung von Entwicklungstraumen. Anhand von Fallbeispielen vertiefen sie, wie Therapeut*innen ihre Klient*innen gut einschätzen und begleiten können. Dieses Handbuch bietet damit allen therapeutisch Tätigen für ihre Arbeit einen wissenschaftlich basierten, gut anwendbaren, leicht verständlichen und äußerst praxisnahen Zugang.

»Dieses von zwei praxiserfahrenen und einfühlsamen Experten verfasste Buch bietet klare Einblicke in ein profundes Therapiemodell, das weit über die Symptome hinaus zu den grundlegenden Ursachen von menschlichem Leiden vorstößt.« — Gabor Maté, international renommierter Arzt und Experte

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Seitenzahl: 626

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NARM verstehen und erfolgreich anwenden

Dieses Praxisbuch erleichtert den Zugang zum therapeutischen Konzept von NARM™ – des Neuroaffektiven Beziehungsmodells. Es zeigt, wie dieses angewandt werden kann, um komplexe posttraumatische Belastungsstörungen (K-PTBS) zu lösen, die Folgen belastender Kindheitserfahrungen zu behandeln und posttraumatisches Wachstum zu ermöglichen.

Laurence Heller und Brad J. Kammer geben wissenschaftlich basiert und zugänglich die grundlegenden Prinzipien von NARM™ wieder und erklären die therapeutischen Prozesse für die Auflösung von Entwicklungstraumen. Anhand von Fallbeispielen vertiefen sie, wie Therapeut*innen ihre Klient*innen gut einschätzen und entsprechend therapeutisch begleiten können. Dieses Handbuch bietet damit allen therapeutisch Tätigen für ihre Arbeit einen gut anwendbaren, leicht verständlichen und äußerst praxisnahen Zugang.

Laurence Heller, PhD in Psychologie, ist Psychotherapeut und Ausbilder mit über 40 Jahren Praxiserfahrung, er lehrt seit mehr als 20 Jahren in Deutschland seine eigene Methode und Somatic Experiencing®. Er ist Mitbegründer des NARM Training Institute sowie von NARM International. Als Begründer des Neuro Affective Relational Model™ (NARM™) hat er Tausende Fachkräfte ausgebildet und wird als Experte weltweit konsultiert. Sein in 15 Sprachen übersetztes Buch Entwicklungstrauma heilen gilt als Standardwerk.

Brad J. Kammer ist somatisch orientierter Psychotherapeut in eigener Praxis, Lehrstuhlinhaber, Traumaberater sowie international tätiger Dozent auf dem Gebiet traumainformierte Begleitung und Therapie. Er ist außerdem NARM-Ausbilder und Trainingsdirektor des NARM Training Institute in Ukiah, Kalifornien.

Laurence Heller · Brad J. Kammer

PRAXISBUCH

Entwicklungstrauma heilen

Wege zur Auflösung von Beziehungs-, Entwicklungs- und Bindungsstörungen

Aus dem Amerikanischen von Silvia Autenrieth

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Das von Laurence Heller entwickelte Neuroaffektive Beziehungsmodel NARM™ (NeuroAffective Relational Model) ist eine eingetragene Schutzmarke. Der besseren Lesbarkeit halber wurde im Text auf das Trademark-Zeichen verzichtet.

Alle Fallbeispiele im Buch wurden auf der Basis unterschiedlicher Fallgeschichten entwickelt. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist nicht beabsichtigt und rein zufällig.

Alle Methoden, Hinweise, Ratschläge und Vorschläge in diesem Buch sind von den Autoren sorgfältig geprüft worden. Sie ersetzen jedoch keine ärztliche Abklärung. Für eine korrekte Diagnose und entsprechende Behandlung muss stets ein Arzt aufgesucht werden. Eine Haftung vonseiten der Autoren oder des Verlags wird ausdrücklich ausgeschlossen.

Den Autoren und dem Verlag ist es ein Anliegen, möglichst inklusiv zu formulieren, weshalb im Plural, wo möglich, eine genderneutrale Formulierung gewählt wurde.

Wegen der Komplexität des Themas haben wir aus Gründen der besseren Lesbarkeit bei Begriffen wie »Therapeut« und »Klient« im Singular auf Basis der hergebrachten Lesegewohnheiten das generische Maskulinum gewählt, damit die Botschaft möglichst eingängig und ohne Irritation aufgenommen werden kann. Selbstverständlich sind jedoch immer alle Geschlechtsformen gleichermaßen gemeint.

Copyright der deutschen Ausgabe © 2023 Kösel-Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © 2022 by Laurence Heller und Brad J. Kammer. Alle Rechte vorbehalten

Titel der Originalausgabe: The Practical Guide for Healing Developmental Trauma. Using the NeuroAffective Relational Model to Address Adverse Childhood Experiences and Resolve Complex Trauma, erschienen bei North Atlantic Books, Huichin, unceded Ohlone land aka Berkeley, California

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München,

nach einem Design von Monika Neuser, München

Umschlagmotiv: Kundra/stock.adobe.com

Illustrationen: © NARM Training Institute LLC

Register: Ines Reinhardt, falkenfluegel Indexing & Lektorat

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-29876-0V001

www.koesel.de

Inhalt

Einleitung

Teil I:

Das Neuroaffektive Beziehungsmodell (NARM) im Überblick

1. Die traumainformierte Bewegung

2. Die Organisationsprinzipien von NARM

Teil II: Das Therapiemodell von NARM

3. Erste Säule: Klärung der therapeutischen Vereinbarung

4. Zweite Säule: Stellen von exploratorischen Fragen

5. Dritte Säule: Verstärken von Agency

6. Vierte Säule: Spiegeln psychobiologischer Veränderungen

7. NARM-Modell der emotionalen Vervollständigung

8. Das NARM-Beziehungsmodell

9. Das NARM-Modell zum Persönlichkeitsspektrum

Teil III: Klinische Anwendung von NARM

10. Protokoll einer NARM-Therapiesitzung (mit Brad)

11. Protokoll einer NARM-Therapiesitzung (mit Larry)

Schlussbemerkung

Anhang

Anhang A: NARM-Ablaufprotokoll

Anhang B: Arbeitsblatt zum NARM-Persönlichkeitsspektrum

Danksagungen

Anmerkungen

Stichwortverzeichnis

Zu den Autoren

Einleitung

Das vorliegende Buch zielt darauf ab, persönliche und kollektive Veränderungsprozesse zu unterstützen. Es ist spannend, Teil einer über die Natur von Traumen informierten Bewegung zu sein. Im Laufe der letzten zehn Jahre ist auch jenseits der Psychologie, in der allgemeinen Öffentlichkeit, ein Bewusstsein für die Existenz von Traumen entstanden. Mittlerweile wird Trauma in Blogs, Zeitschriftenartikeln, Podcasts, Songs, Dokus, Filmen und Fernsehprogrammen thematisiert und Prominente, Politiker*innen und soziale Bewegungen setzen sich für Traumatisierte ein. Ein umfassenderes Verständnis weit verbreiteter Traumafolgestörungen – vor allem in Verbindung mit komplexen Traumen – ist dabei, die psychosoziale Gesundheitsfürsorge und andere Bereiche des Gesundheits- und Sozialwesens zu revolutionieren und völlig auf den Kopf zu stellen.

So erschreckend und oft herzzerreißend es ist, sich der Auswirkungen von Traumen auf einzelne Menschen, Gesellschaftskreise und ganze Gesellschaften gewahr zu werden: Wir glauben, dass ein besseres Verständnis komplexer Traumen – sowie die Hilfsmöglichkeiten, um diese aufzulösen – unsere Welt ändern können.

Das Neuroaffektive Beziehungsmodell (NeuroAffective Relational Model, kurz NARM) wurde vor mehr als zehn Jahren in dem Buch Entwicklungstrauma heilen1 erstmals vorgestellt. Diese bahnbrechende Arbeit erfreut sich auch heute noch großer Beliebtheit. Er handelt sich um eines der ersten Bücher, die sich spezifisch auf das neu entstandene Gebiet der Aufarbeitung von Entwicklungstraumen beziehen. Dank der Adverse Childhood Experiences (ACE)-Studie (einer Untersuchung des Zusammenhangs zwischen belastenden Kindheitserfahrungen und deren lebenslangen Auswirkungen auf die Lebenszufriedenheit der Person) und der neuen Diagnose der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (K-PTBS) nimmt die Sensibilisierung für Traumen auf unterschiedlichen Gebieten rasant zu. Mit zunehmendem Gewahrwerden komplexer Traumen entsteht auch immer mehr Bedarf an Therapiemodellen, die den Auswirkungen belastender Kindheitserfahrungen und K-PTBS Rechnung tragen.

NARM ist ein solches Modell. In den letzten Jahren haben wir – der Urheber von NARM Dr. Laurence Heller sowie der Fortbildungsleiter und leitende Lehrer Brad J. Kammer – den Aufbau einer beruflichen Weiterbildungseinrichtung, des NARM Training Institute, in den Mittelpunkt unseres Wirkens gerückt. Unsere Aufgabe sehen wir in der Entwicklung und Förderung einer traumainformierten Bildung sowie entsprechenden Weiterbildungen und der Behandlung zur Heilung komplexer Traumen. Hierzu gehört für uns auch, den langfristigen Auswirkungen von Beziehungstraumen Rechnung zu tragen, die sich in Form von Bindungs-, Entwicklungs-, kulturellen und intergenerationalen Traumen einstellen. Wir haben Tausende darin geschult, auf internationalem Terrain Fachkräfte zu unterstützen, und bieten Einzelnen und Organisationen aus aller Welt Weiterbildungen, Schulungen, Beratung und Unterstützung an.

Das Anliegen dieses Praxisleitfadens ist es nun, NARM als Therapieansatz weiteren Kreisen zugänglich zu machen. Wir haben uns nach Kräften bemüht, ein umfassendes klinisches Modell, dessen Vermittlung eine jahrelange fachliche Weiterbildung erfordert, so zu präsentieren, dass es seine Anwendung erleichtert. Auch wenn man sagen muss, dass es Fachkräften aus der psychischen Gesundheitsfürsorge vielleicht leichter fallen mag, dieses Modell anzuwenden, haben wir das Ganze so gehalten, dass es auch der Anwendung durch Angehörige von anderen Helferberufen entgegenkommt, die bei ihrer Arbeit mit den Auswirkungen komplexer Traumen konfrontiert sind. Wir haben das Buch für diejenigen unter Ihnen geschrieben, die als Ärztinnen und Ärzte, als Krankenschwestern und Pfleger oder in der alternativen Medizin tätig sind, in der Substanzmissbrauchs- und Suchtberatung, in der Körperarbeit, im Coaching, in der Seelsorge und sonstigen religiösen und spirituellen Beratungsstellen, als Pädagog*innen, Ersthelfer*innen, bei der Polizei, in der Sozialarbeit, der Bewährungshilfe und im Strafvollzug, als politische Entscheidungsträger*innen und für alle anderen Menschen, bei deren Arbeit komplexe Traumen ein Thema sind. Unser Herzensanliegen dabei ist, dass NARM Sie alle bei dem Beitrag zur Heilung unserer Welt unterstützen möge, den Sie durch Ihre Arbeit leisten.

Darüber hinaus verstehen wir das Buch als praktische Anleitung für diejenigen unter Ihnen, die in ihrem persönlichen Leben Heilung und Wachstum suchen. NARM stützt sich auf ein komplexes psychologisches Theoriefundament – und doch zeigt dieses Buch allen einen Weg auf, die sich für posttraumatische Heilungs- und Wachstumsprozesse interessieren. Die Transformation von Traumamustern kann Leidensdruck mindern, Hoffnung spenden, die Resilienz erhöhen und ein erfüllteres Leben schenken. Ob Sie einem Helferberuf angehören oder sich einfach ganz individuell für Heilung interessieren: Wir hoffen, dass Sie das in diesem Buch Dargestellte für Ihre berufliche und persönliche Weiterentwicklung nutzen können.

NARM ist nicht nur ein klinisches Modell für die Lösung komplexer Traumen – es ist eine Blaupause für die Unterstützung gesunder Beziehungen. Mit unserem tiefenpsychologisch orientierten, somatisch basierten Ansatz, Veränderungen im Hinblick auf die psychobiologischen Anpassungen an komplexe Traumen anzustoßen, wollen wir ein weitreichenderes Verständnis von dem vermitteln, was die treibende Kraft hinter menschlichem Schmerz und Leiden ist. Dieser beziehungsorientierte Rahmen basiert darauf, aus dem eigenen Herzen heraus zu agieren.

Davon, mehr Einzelpersonen und Organisationen mit NARM bekannt zu machen, erhoffen wir uns, einen Beitrag zu einem weniger pathologisierenden, humaneren Rahmen zu leisten, der In-Kontakt-Sein, Gesundheit und Lebendigkeit fördert. Zwar deckt sich das traditionelle psychologische und neurowissenschaftliche Verständnis mit dem des NARM-Ansatzes, aber es bleibt noch eine Menge zu tun, wenn es darum geht, mehr Mitgefühl in die Anwendung psychologischer und neurowissenschaftlicher Methoden einfließen zu lassen.

Die Wurzeln von NARM

NARM stützt sich auf Pioniere der Psychologie und Psychotherapie, die uns vorausgegangen sind, und greift auf eine ganze Palette von Ansätzen zurück, unter anderem auf Modelle aus der westlichen Psychologie sowie auf nicht-westliche Umgangsweisen mit dem menschlichen Erleben. Bleiben wir bei der westlichen Psychologie, so folgt NARM der Linie tiefenpsychologisch-beziehungsorientierter und somatisch geprägter Psychotherapiemodelle und hat Aspekte psychodynamischer und somatischer Verfahren integriert. Darüber hinaus würdigen und schätzen wir auch weniger bekannte Theorien von außerhalb der traditionellen Psychologie und Menschen, deren Beitrag bislang geringgeschätzt oder verkannt wurde. Beide konnten wir von verschiedenen kulturellen, religiösen und spirituellen Traditionen lernen und wissen, was für eine reiche Quelle überlieferte Weisheitslehren und Heilungspraktiken sind. Sie haben uns bei unserer Arbeit inspiriert und geprägt.

Unser Anliegen beim gesamten Werdegang von NARM war immer, eine Therapie anzubieten, die als respektvoll, verfeinert, wirksam und transformativ erlebt wird. Um ein solches Herangehen zu unterstützen, haben wir einen Fokus auf Beziehungen, die Persönlichkeit, die Emotionen und den Körper gelegt, der sich mit dem neu entstehenden neurobiologischen Verständnis verträgt. NARM harmoniert besonders mit dem zunehmend bedeutsam gewordenen Gebiet der interpersonellen Neurobiologie.

In den letzten Jahrzehnten standen diese Verfahren – zumindest in den Vereinigten Staaten – weitenteils im Schatten kognitiver und verhaltensbezogener Modelle. Auch wenn diesen Modellen in der psychologischen Behandlung auf jeden Fall eine wichtige Rolle zukommt, ist es nicht ohne Risiko, die tiefenorientierten Ansätze aus dem Blick zu verlieren.2 Sich von tiefenpsychologisch fundierten Modellen weg zu bewegen, bedeutet, sich weiter von einem gewissen Verständnis der Komplexität und Nuanciertheit des menschlichen Erlebens zu entfernen. Wir sehen einige aktuelle psychologische Modelle, die zwar gut gedacht sind, aber Leidende, die verzweifelt Hilfe suchen, weiter pathologisieren, objektifizieren und entmenschlichen.

Ungeachtet der Entwicklungen auf einigen Gebieten der Psychologie stecken wir noch immer zutiefst in längst ausgedienten alten Paradigmen fest. Die Medikalisierung und daraufhin erfolgende Pathologisierung menschlichen Leidens hat dafür gesorgt, dass wir weiterhin von Symptombehandlungen und Diagnosen in Beschlag genommen sind, statt die letztlichen Ursachen zu erkennen und den Menschen als Ganzes zu betrachten. NARM tritt dafür ein, hier umzudenken und sich von einem Modell zu verabschieden, das von der Idee der »Krankheit« geprägt ist, um ein relationales Verständnis von Gesundheit in den Mittelpunkt zu rücken.

In der folgenden Tabelle zeigen wir einige Unterschiede zwischen NARM und anderen Therapieansätzen auf:

Was der klinische Ansatz von NARMnicht ist

Was der klinische Ansatz von NARM ist

Primär auf die Geschichte ausgerichtet

Primär auf den gegenwärtigen Moment ausgerichtet

Ein Ansatz, der das Trauma-Narrativ in den Mittelpunkt stellt

(inhaltsgeleitet)

Ein Ansatz, der die Anpassungen an das Trauma in den Mittelpunkt stellt

(prozessgeleitet)

Regressiv

(im Fokus ist das kindliche Bewusstsein)

Im Hier und Jetzt geerdet

(im Fokus ist das Erwachsenenbewusstsein)

Kathartisch

Auf Containment ausgerichtet

An Pathologischem orientiert

Ressourcenorientiert

Zielorientiert

Am Nachforschen orientiert

Auf Strategien basierend

Auf Neugier basierend

Am Verhalten orientiert

Am inneren Zustand orientiert

Ein Ansatz, für den Symptomreduzierung im Fokus steht

Ein Ansatz, bei dem Veränderungen an grundlegenden Mustern im Fokus stehen, die hinter den Symptomen stecken

Ein Ansatz, bei dem der Therapeut führt und Klient folgt

Ein Ansatz, bei dem der Klient führt und der Therapeut neue Möglichkeiten anbietet, Punkte näher zu erkunden

Einen humanistischen Blickwinkel einzubringen, betont den Punkt, dass wir uns nicht einfach damit begnügen, maladaptive Symptome und Verhaltensweisen zu behandeln, sondern in Kontakt mit einem Menschen treten. Wir arbeiten nicht mit Objekten – wir arbeiten mit einem Subjekt. Dieses Subjekt ist das gesamte Selbst eines Individuums.

Von Kreisen, die Erfahrung mit nicht-westlichen Heilungsansätzen haben, wurden wir auf die Ähnlichkeit von NARM mit der schamanistischen Vorstellung des »Seelenverlusts« hingewiesen. Ihm zufolge zersplittert die Seele in Reaktion auf eine traumatische Erfahrung, was Schmerz und Leid nach sich zieht. Die Arbeit der »Seelenrückholung« zielt darauf ab, diese Seelenbruchstücke wieder zusammenzubringen. Durch eine Wiederherstellung des Kontakts mit fragmentierten inneren Zuständen – körperlichen Empfindungen, Emotionen, Impulsen, Verhaltensweisen und Gedanken – verstärkt NARM ein tieferes Erleben der eigenen Subjektivität. Werden diese Aspekte des Selbst wieder in die bewusste Wahrnehmungswelt eingeladen, entsteht etwas, das größer ist als die Summe der Teile. So betrachtet geht es bei NARM nicht nur um posttraumatisches Wachstum, sondern um eine Transformation des gesamten Selbst.

Damit bewegen wir uns auf einem Terrain, wo Psychologie und Spiritualität miteinander verschmelzen. Tatsache ist, dass die aus dem Griechischen stammende Wurzel des Begriffs Psychologie, »Psyche«, ursprünglich die Seele bezeichnete. Wenn wir auf den tieferen Ebenen des menschlichen Erlebens zu arbeiten beginnen, benötigen wir ein neues Verständnis der tieferen Aspekte des Selbst – und die entsprechenden Werkzeuge, um mit diesen zu arbeiten. Indem wir den Begriff »das Selbst« benutzen, folgen wir einer langen Tradition innerhalb der Psychologie wie auch diverser religiöser und heiliger Weltanschauungen, in denen die spirituelle Natur unseres Seins gewürdigt wird. Es führt uns über unsere Identität – über die Person, für die wir uns halten – hinaus und zu einem umfassenderen Gefühl des Ganzseins. Auf dieser transformativen Entdeckungsreise bieten sich Gelegenheiten, mit den tieferen Quellen unserer Lebendigkeit in Kontakt zu kommen. Es ist eine Chance, in vollerem Umfang Mensch zu werden.

Die spirituelle Reise, die mit dem posttraumatischen Wachstum verbunden ist, wird durch das phänomenologisch ausgerichtete Herangehen von NARM gestützt: durch die Betonung des subjektiven Erlebens und die Arbeit im Jetzt. Andere Elemente aus tiefenpsychologisch und somatisch orientierten Ansätzen ermöglichen uns einen Zugang zu Aspekten des Selbst, die tiefer gehen als bis zu Geist und Körper. Eine fachkundige Therapie birgt in sich das Potenzial eines verkörperten, spirituellen, radikalen Heilungs- und Transformationsprozesses.

Obwohl wir im Folgenden durchaus transformative Zustände beschreiben werden, die in Verbindung mit der Lösung komplexer Traumatisierungen eintreten können (etwa dann, wenn sich die Auswirkungen schon lange bestehender Persönlichkeitsmuster allmählich legen und eine tiefere Quelle der Ruhe und Stabilität zum Vorschein kommt), würde es den Rahmen dieses praktischen Leitfadens sprengen, auf die transpersonalen und spirituellen Grundlagen von NARM einzugehen. Wir freuen uns sehr darauf, dies in einem künftigen NARM-Buch aufzugreifen.

Der kulturelle Kontext von NARM und seine Anwendung

Wir sind uns darüber im Klaren, dass wir komplexe Traumen in diesem Buch aus einer ganz bestimmten Warte verstehen und angehen. Sie basiert auf der Kultur, aus der heraus wir beide ausgebildet wurden, und damit auf einem westlich orientierten psychologischen Denken. Die von uns verwendeten Grundideen und Begriffe leiten sich größtenteils von diesem Betrachtungsrahmen her. Wir haben unser Bestes gegeben, diese Perspektive zu würdigen und dabei gleichzeitig kultursensibel und mit einer gewissen Demut vorzugehen und unseren Beitrag dazu zu leisten, den modernen Diskurs zum Thema »Trauma« weiterzuentwickeln. Wir erkennen an, dass es Trauma und Traumaheilung schon lange vor den Anfängen der westlichen Wissenschaft gegeben hat. In das Neuroaffektive Beziehungsmodell wurden nicht-westlich ausgerichtete Elemente mit aufgenommen, die von uns hierfür benutzte Sprache jedoch geht in weiten Teilen auf die westliche Psychologie zurück.

Zudem müssen wir anerkennen, dass wir bestimmte Voreingenommenheiten in uns tragen, wenn es darum geht, ein Buch über ein klinisches Modell zu schreiben, das tief in der westlichen Psychologie verwurzelt ist. Wir schreiben dieses Buch basierend auf dem Kontext, in dem wir arbeiten. Obwohl wir beide außerhalb der Vereinigten Staaten gereist sind und gelebt haben und viele für uns bedeutsame Interaktionen mit Lehrern und Heilerinnen jenseits des Abendlandes erleben konnten, haben wir beide unsere klinische Ausbildung in den Vereinigten Staaten absolviert. Wir sind uns darüber im Klaren, dass dieser Umstand unsere Sichtweise prägt. Gleichzeitig sind wir bestrebt, mehr über Voreingenommenheiten zu reflektieren und zu lernen, die unbewusst unsere Arbeit bestimmen. In diesem Buch haben wir versucht, achtsam zu sein, um möglichst keine kulturellen Vorurteile weiterzutragen, die zu unausgesetzt fortbestehenden kulturbedingten und systemischen Traumen beitragen. Realistischerweise wird es dennoch Gebiete geben, auf denen Menschen, die dieses Buch lesen, das Gefühl haben werden, dass uns das nicht geglückt ist. Sie alle möchten wir wissen lassen, dass es uns ein Anliegen ist, weiter dazuzulernen und das neu Gelernte in die stetige Weiterentwicklung von NARM einzubeziehen.

Wir sind uns also über die Grenzen der westlichen Psychologie im Klaren und finden es wertvoll, mit Menschen arbeiten zu können, deren Hintergrund, deren Glaubenssätze und kulturelle Zugehörigkeit höchst unterschiedlich ausfallen. Gleichzeitig erkennen wir auch an, dass es bestimmte psychobiologische Prozesse gibt, die universeller Natur scheinen. Ein Grundverständnis, das Ihnen innerhalb von NARM – und in diesem Buch – immer wieder begegnen wird, besagt, dass der Mensch psychobiologische Bedürfnisse sowohl nach In-Kontakt-Sein (Verbundenheit) als auch nach Individuation aufweist. Diese menschlichen Bedürfnisse werden oft als Gegenpole betrachtet und im Konfliktfall sogar gegeneinander ausgespielt. So geht man zum Beispiel davon aus, dass in einigen Kulturen die Gemeinschaft Vorrang hat, während es bei anderen das Individuum ist. Diese gegensätzlichen kulturellen Strukturen werden oft als »kollektivistisch« beziehungsweise »individualistisch« tituliert, wir jedoch betrachten sie als etwas, das auf einem Kontinuum menschlichen Erlebens angesiedelt ist. Diesem Spannungsfeld zwischen Gemeinschaftssinn und Individualität liegen komplexe psychobiologische Prozesse zugrunde, die über Kultur hinausgehen. NARM unterstützt das menschliche Bedürfnis nach Verbundenheit und Kontakt wie auch nach Individuation, indem es die reziproke Natur dieser beiden Aspekte des Menschseins anerkennt.

Auch wenn Traumen als menschliche Erfahrung gewisse universelle Aspekte aufweisen, so gibt es doch die unterschiedlichsten Weisen, wie Individuen, Familien, Kulturen und ganze Nationen diese erleben, verstehen und mit ihnen umgehen. Einige der Organisationsprinzipien und klinischen Vorgehensweisen von NARM verlangen in dem Kontext, in dem Sie arbeiten, vielleicht nach gewissen Adaptionen. Bei der Anwendung jedes Modells, das aus der westlichen Psychologie hervorgegangen ist, auch bei NARM, gilt es familiäre, religiöse und kulturelle Unterschiede zu berücksichtigen. Wir laden Sie also ein, das hier skizzierte Grundgerüst an Ihre spezifische Klientel und Ihr Arbeitsumfeld anzupassen.

Wir betrachten uns als Teil einer weltweit entstehenden traumainformierten Bewegung. Für uns ist das Ganze eine Gelegenheit, voneinander zu lernen – es gehört mit zu den Geschenken, die ein stärker vernetzter Planet bereithält. Als Köpfe der internationalen NARM-Community setzen wir uns aktiv für fortlaufende Explorationen, Reflexionen und Diskussionen rund um die Unterstützung dieses neuen psychosozialen Rahmens ein, der Traumen als Wurzel individueller und kollektiver Leidenserfahrungen versteht.

Der umfassendere Kontext komplexer Traumatisierungen

Wie in Kapitel 1 eingehender beschrieben wird, ist »Trauma« ein Gebiet, das noch in den Kinderschuhen steckt, wenn es um eine klare Abgrenzung zwischen Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) und komplexer posttraumatischer Belastungsstörung (K-PTBS) geht. Ein Unterscheidungsfaktor, der für eine K-PTBS spricht, ist der Fokus auf Selbstorganisation, womit ein psychobiologischer Prozess und ein Prozess auf der Ebene der neurologischen Entwicklung gemeint ist, der die Persönlichkeit und die Weise prägt, auf die wir das Leben erfahren. Im Mittelpunkt von K-PTBS stehen drei Gebiete, in denen die Selbstorganisation gestört sein kann: emotionale Regulation, Selbstverständnis und Beziehungen.

Selbst in den Kreisen, die bereits zu diesem Verständnis komplexer Traumatisierungen gelangt sind, feilt man derzeit noch an der Definition einiger Begriffe, was unter anderem für die Unterschiede zwischen Entwicklungstrauma und komplexer Traumatisierung gilt. Wir benutzen den Begriff Entwicklungstrauma als Unterkategorie innerhalb einer umfassenderen Dynamik komplexer Traumatisierungen. Während ein Entwicklungstrauma auf Beziehungsbrüche in der Kindheit zurückgeht, die sich auf die Entwicklung des kindlichen Selbstverständnisses auswirken, ist komplexes Trauma ein Oberbegriff, der auch spätere Brüche im Hinblick auf die Ausbildung des Selbstverständnisses einbezieht. Hierzu können Erfahrungen im Erwachsenenalter wie häusliche Gewalt, Menschenhandel, Gefangenschaft und Folter gehören, oder auch toxische, von Missbrauch oder Gewalt geprägte Situationen, aus denen es kein Entrinnen gab.

Einer der größten Fehler der westlichen Gesellschaft und Wissenschaft in den letzten Jahrhunderten war der, das Individuum von seinem Eingebettetsein in Beziehungen zu trennen. Beziehungen prägen uns, im Guten wie im Schlechten. Das Fachgebiet komplexer Traumatisierungen steht auf den Schultern der Bindungstheorie, die in den letzten Jahrzehnten in Psychologenkreisen dazu beigetragen hat, besser zu verstehen, wie sich Bindungsbeziehungen auf die kindliche Entwicklung auswirken. In neuerer Zeit jedoch sah sich die Psychologie genötigt, noch weitere Dimensionen einzubeziehen, statt sich lediglich auf die Eltern-Kind-Beziehung zu konzentrieren, und das erweiterte Beziehungsnetz zu würdigen, das die kindliche Entwicklung beeinflusst.

»Komplexe Traumen« meint die Art und Weise, wie sich Beziehungen zwischen Individuen in dominanten Positionen auf Unterlegene auswirken. Traumatische Beziehungsdynamiken können auftreten, wenn vulnerablere Individuen im Hinblick auf ihr Überleben und Wohlergehen auf diejenigen angewiesen sind, die die Macht haben. In der Bindungstheorie ruht der Fokus darauf, wie diese Dynamik zwischen Eltern und Kindern zum Tragen kommt. Wichtig ist allerdings, sich klarzumachen, dass sie sich auch im größeren Rahmen, über Bindungsstörungen in Familiensystemen hinausgehend zeigen.

Beziehungstraumen entstehen auch durch Unterdrückung von Gesellschaftsteilen, Kulturen und Nationen. Diese von Unterjochung und Unterwerfung geprägten Beziehungssysteme erzeugen komplexe Traumen und sorgen für deren Fortbestand. Wir können den Entwicklungsprozess einer Person nicht losgelöst von der Gesellschaft betrachten, in der sie aufwächst. Es gibt im Bereich der seelischen Gesundheit eine wachsende Bewegung, die diese umfassenderen Belange anspricht und die Einbeziehung kultursensiblerer Perspektiven und Modelle voranzutreiben sucht. In der Traumaarbeit ist es wichtig, das historische Vermächtnis von Brutalität, Unterdrückung und generationenlanger komplexer Traumen zu berücksichtigen, das in vulnerablen Individuen und Kulturen verheerende Spuren hinterlassen hat und noch immer hinterlässt.

Wir haben die Hoffnung, dass eine von NARM beeinflusste Sichtweise jene unterstützen kann, die bei ihrer Arbeit mit komplexen Traumatisierungen im Inneren von Familiensystemen, Gemeinschaften, Kulturen und Nationen zu tun haben. Auch wenn es den Rahmen dieses Buches sprengen würde, hierauf näher einzugehen, so glauben wir doch, dass NARM-Prinzipien zu einer umfassenderen systemischen Veränderung beitragen können. Was, wenn die Heilung komplexer Traumatisierungen etwas an bestehenden gesellschaftlichen Konflikten, an Gewalt, Krieg, Armut und anderen Formen systemischer Unterdrückung und Traumen ändern kann? Wir hoffen wirklich, dass einige, die dieses Buch lesen und sich für soziale, politische und humanitäre Zwecke einsetzen, vielleicht in der Lage sein werden, diese Prinzipien anzuwenden, um etwas an den Systemen zu verändern, die systemische Unterdrückung, Ungleichheit und jahrelanges Unrecht aufrechterhalten. Im Zentrum dieses Buches steht zwar die Frage, wie sich Veränderungen auf der Ebene des einzelnen Menschen unterstützen lassen, aber wir glauben, dass NARM auch ein maßgebliches Instrument sein kann, um soziale, systemische Veränderungen anzustoßen.

Agency. Ein fehlendes Element in der klinischen Praxis

Unter Agency versteht man das Erkennen der eigenen Handlungsmacht. In diesem Sinne wird das Wort im Folgenden verwendet. Von denen, die an unseren Fortbildungen teilgenommen haben, erhalten wir immer wieder zwei Rückmeldungen. Die erste ist eine Würdigung unserer Ausrichtung darauf, die Teilnehmenden aus diversen Helferberufen als Menschen anzusprechen. Viele haben uns berichtet, sie würden jetzt mehr Neugier, Offenheit, Präsenz und Herzensqualität erleben. Oft können sie feststellen, dass ihnen die Arbeit müheloser von der Hand geht und dass sie mit sich selbst nicht mehr so hart ins Gericht gehen, was sich positiv darauf auswirkt, wie sie für Klient*innen da sein und sich zeigen können. NARM-Therapeut*innen erzählen uns oft, wie viel effektiver sie in der klinischen Praxis geworden sind, während sie mehr über ihre eigenen emotionalen und Beziehungsdynamiken in Erfahrung gebracht haben. Auf diese Themen werden wir im gesamten Buch immer wieder eingehen.

Die andere wesentliche Rückmeldung, die bei uns ankommt, hängt mit der NARM-Vorstellung von Agency zusammen. Von denen, die NARM anwenden, hören wir immer wieder, Agency brächte eine »echte Wende«, sie sei ein »Game Changer«. Dasselbe berichten zahllose Klient*innen. Die Idee von Agency unterstützt eine Verlagerung des Fokus: weg von den jeweiligen Traumen und hin zur Betrachtung der Frage, wie wir gelernt haben, uns auf frühe traumatische Erfahrungen einzustellen und was wir unternommen haben, um diese Anpassungen dann auch aktiv in unser Erwachsenenleben hineinzutragen. Während die Identifikation mit Kindheitstraumen die Betroffenen oft hilf- und hoffnungslos zurücklässt und ihnen das Gefühl vermittelt, in ihnen festzustecken, unterstützt die verkörperte Erfahrung von Agency zunehmende Möglichkeiten der Heilung, des Wachstums und der Veränderung.

Agency hängt mit der psychobiologischen Kapazität der Klient*innen ab – ein Begriff, der die Fähigkeit einer Person beschreibt, komplexe Muster in Sachen Kognition, Verhalten, Emotion, Physiologie und menschliches Miteinander zu erfahren und zu nutzen. Die Einschätzung des vorliegenden Maßes an Agency bietet einen Weg, zu verstehen, wo Klient*innen im Hinblick auf ihre Fähigkeiten gerade stehen, und sie dort abzuholen. Zu verstehen, welche Beziehung Klient*innen zu dem haben, was sie in ihrem Leben erfahren, und wie sie diese Erfahrungen einsortieren, ist die Essenz bei der Unterstützung von Agency in NARM.

Wie in Kapitel 5 später noch näher ausgeführt wird, ist der Therapieprozess bei NARM von Anfang an darauf angelegt, ein wachsendes Gefühl von Agency zu entwickeln. Die Priorisierung dieser Agency hilft, aus der Beziehung zwischen Therapeut*innen und Klient*innen heraus ein Einverständnis zu erzielen. So wird sichergestellt, dass Klient*innen bei der Therapie selbst das Steuer übernehmen. Indem wir sie darin bestärken, ihr eigenes aktives Tun bei etwas zu erkennen (die besagte Agency), zeigen wir unseren Klient*innen letztendlich einen Weg auf, die eigenen psychobiologischen Kapazitäten auszubauen und so ein erfüllteres Leben zu führen.

Ein Überblick über dieses Buch

Es ist nicht leicht, einen praktischen Leitfaden zur Auflösung komplexer Traumen zu verfassen. Auf diesem Gebiet gibt es keine simplen Antworten und keine Schnellschüsse. Ebenso wie es keine einfache Schritt-für-Schritt-Anleitung gibt, wie wir eine erfüllende Beziehung herstellen oder wie wirksame Erziehungsmethoden aussehen, lässt sich auch die Arbeit an komplexen Traumen nicht so ohne Weiteres auf simple Schritte reduzieren. Und doch können die in diesem Buch immer wieder vorgestellten Organisationsprinzipien und Vorgehensweisen hier als Wegweiser dienen.

Die Aufarbeitung komplexer Traumen ist oft sehr fordernd. Therapeutisch Tätige können sich dabei in dem komplexen Netz von Symptomen verlieren, mit dem ihre Klient*innen zu ihnen kommen, und dann Schwierigkeiten haben, während der Sitzungen entsprechend organisiert zu bleiben. Klient*innen mit unbewältigten komplexen Traumen kommen oft mit dem einen oder anderen Ausmaß an innerlicher Desorganisation in unsere Praxis. Sie fühlen sich vielleicht überfordert und haben das Gefühl, keinerlei Kontrolle zu haben. Es kann uns dann leicht passieren, dass wir uns in diese Desorganisation mit hineinziehen lassen. Sobald wir das jedoch tun, lassen wir uns von den alten Strategien des Klienten oder der Klientin einspannen, was im Allgemeinen darin mündet, dass beide Seiten das Gefühl haben, in einer Sackgasse zu stecken. Hoffnungslosigkeit gedeiht in einem therapeutischen Umfeld, in dem Klient*innen und Therapeut*innen nicht mehr weiterwissen, sich überwältigt fühlen und Schwierigkeiten haben, auf Veränderungs-, Heilungs- und Wachstumsmöglichkeiten zu vertrauen.

Therapeutisch Tätige stehen bei ihrer Arbeit Woche für Woche vor diesem Dilemma. Mit Hoffnungslosigkeit, Ausweglosigkeit und begrenzten Möglichkeiten konfrontiert, gehen sie oft dazu über, sich mehr anzustrengen. Manche bauen dabei auf die Strategien, sich abzumühen und selbst unter Druck zu setzen, damit sich bei ihren Klient*innen etwas ändert. Diese Absicht, Veränderungen herbeizuführen, kommt von einem Ort in uns, der es gut meint, bleibt aber für beide Seiten nicht ohne Folgen.

Das Neuroaffektive Beziehungsmodell bietet einen Ausweg aus dieser Falle. Wir werden für das Vorgehen einen Rahmen vorstellen, der eine größere Effektivität in therapeutischer Hinsicht und auf der Beziehungsebene mit sich bringt. Wir werden detailliert den Prozess darlegen, der damit in Verbindung steht, die Auswirkungen unbewältigter Entwicklungstraumen zu verstehen und anzugehen. Frühe Traumen sind ein sehr komplexes Gebiet, wir werden dieses Terrain beschreiben und dabei eine Möglichkeit anbieten, die Orientierung zu bewahren.

Unser Therapiemodell verlangt nach einem Geist der Offenheit, Neugier und Präsenz, mit dem sich viele von uns allerdings sehr schwertun. Wir bieten daher Übungen zur Selbstreflexion an und therapeutische Kniffe, um die Integration und Anwendung des NARM-Ansatzes zu unterstützen. Aber wir möchten noch einmal betonen, dass NARM zu erlernen nicht einfach ist. Wie eine unserer Fortbildungsteilnehmer*innen zu uns sagte: »NARM ist einfach, aber nicht leicht.« Es ist, als wollte man jemandem anhand eines Buches Tanzen oder Posaunespielen beibringen. Wir glauben, um dieses Modell wirklich zu erlernen, muss man es unmittelbar erleben, und dann will es so lange konsequent praktiziert werden, bis daraus ein verkörperter Prozess geworden ist. Nur dann lässt es sich kompetent einsetzen.

Rundum versiert zu sein in einem Modell, das mit komplexen psychobiologischen Mustern, innerer Tiefe und bestimmten Feinheiten zu tun hat, setzt erhebliche Schulung, Anleitung und Übung voraus. Wir bemühen uns zwar nach Kräften, diese Arbeit für Sie hier möglichst gut zugänglich zu machen, müssen aber auch würdigen, dass dies Grenzen hat. Wenn Sie sich dafür interessieren, mehr Geschick im Umgang mit NARM als Therapieansatz zu entwickeln, kann dieser Leitfaden als Sprungbrett für weiteres Lernen dienen.

Abgesehen davon ist NARM zu erlernen auch noch aus einem anderen, persönlicheren Grund schwierig. NARM lädt uns ein, mit Seiten von uns selbst in Kontakt zu kommen, die beängstigend sein können und von denen wir uns in Anpassung an Herausforderungen in unserem frühen Leben distanziert haben. Im Fokus dieses therapeutischen Verfahrens stehen nicht nur unsere Klient*innen. Es fordert uns als professionelle Helfer*innen heraus, offen für unsere eigenen unbewältigten Traumamuster zu bleiben, während wir mit anderen interagieren. Das R in NARM steht für Relationship, die therapeutische Beziehung, die Klient*innen und Therapeut*innen umfasst. NARM ist ein auf Intersubjektivität basierender Ansatz. Dieser Prozess eröffnet die Möglichkeit eines tieferen Kontakts zu sich selbst und anderen. Wie wir in NARM lernen – und in diesem Buch immer wieder darlegen – ist dieses In-Kontakt-Sein gleichzeitig unsere tiefste Sehnsucht und unsere größte Angst. Zwar liegt eine Menge Hoffnung darin, ein Modell zu finden, das unbewältigte Traumamuster so wirksam transformieren kann, aber wir wollen auch nicht die innerlichen Hindernisse vergessen, auf die wir stoßen können, wenn wir diese Heilungsreise antreten.

Aufbau dieses Buches

Der Aufbau dieses Buches spiegelt die Art und Weise, wie wir das Neuroaffektive Beziehungsmodell in unseren Weiterbildungsangeboten vermitteln. NARM erschöpft sich nicht in einigen isolierten therapeutischen Kniffen. Die Interventionen, die wir einsetzen, um etwas an den psychobiologischen Mustern unbewältigter komplexer Traumatisierungen zu ändern, gehen auf unser Verständnis der tieferen Ursache komplexer Traumen zurück. Die Helfenden müssen zunächst einmal verstehen, wie Menschen gelernt haben, sich an ein Beziehungstrauma anzupassen, welche psychobiologischen Auswirkungen diese Anpassungen haben und wie die Symptome eines leidenden Individuums dessen tiefstes Verlangen nach In-Kontakt-Sein spiegeln.

Die spontane Bewegung in uns allen führt in Richtung Verbundenheit, Gesundheit und Lebendigkeit. So zurückgezogen und isoliert wir auch geworden sind oder wie gravierend das Trauma ist, das wir durchlebt haben – auf der tiefsten Ebene gibt es in jedem und jeder von uns einen Impuls, sich auf Kontakt und Heilung zuzubewegen, vergleichbar mit einer Pflanze, die sich spontan auf das Sonnenlicht zubewegt. Dieser organismische Impuls ist das, was NARM als Verfahren antreibt.

Im ersten Teil dieses Buches, »Das Neuroaffektive Beziehungsmodell im Überblick«, skizzieren wir den theoretischen Rahmen, der unseren therapeutischen Therapieprozess unterstützt. Im weiteren Verlauf des Buches wird auf diesem Rahmen aufgebaut. Es wäre schwierig, wirksame Therapie zu betreiben, ohne zunächst zu verstehen, was in die Interventionen einfließt und sie lenkt. Obwohl dieses Material kompakt und psychologisch facettenreich sein kann, haben wir unser Bestes getan, es zugänglich und praxisnah aufzubereiten. Wir haben versucht, gerade eben genug an theoretischem Hintergrund zu präsentieren, um die Wirksamkeit der therapeutischen Anwendung von NARM zu belegen.

In Kapitel 1 skizzieren wir die aktuellen Trends auf dem Gebiet der Traumaarbeit. Wir positionieren NARM innerhalb der derzeitigen traumainformierten Bewegung, bieten einen grundlegenden Überblick über den Stand der gegenwärtigen Forschung, die die Existenz komplexer Traumatisierungen belegt, differenzieren zwischen Schocktraumen und komplexen Traumatisierungen, zeigen auf, warum ein solch dringender Bedarf an Modellen für den Umgang mit Entwicklungs- und komplexen Traumen besteht, und machen damit bekannt, wie das Neuroaffektive Beziehungsmodell bei der Heilung komplexer Traumen und beim posttraumatischen Wachstum helfen kann.

In Kapitel 2 stellen wir die Organisationsprinzipien von NARM vor. Wir arbeiten die grundlegenden Elemente heraus, die den Rahmen und das Grundgerüst des NARM-Ansatzes vorgeben, Punkte wie: Kontakt und fehlender Kontakt; Bindung und Ablösung / Individuation; Angst vor Bindungs- und Beziehungsverlust; das Kerndilemma; adaptive Überlebensstile; Scham, Selbstablehnung und Selbsthass; emotionale Vervollständigung, Desidentifikation.

Die Organisationsprinzipien von NARM helfen dabei, die innerlichen Konflikte zu beleuchten, von denen die kindliche Entwicklung angesichts von Trauma geprägt ist. Die andauernden inneren Kämpfe – zwischen dem Verbundensein mit dem Selbst und dem mit anderen; zwischen Authentizität und adaptiven Überlebensstilen; zwischen Körper, Emotionen, Gedanken und Verhaltensweisen – münden in komplexe psychobiologische Symptome. Diese innerlichen Konflikte und adaptiven Überlebensstrategien zu verstehen, unterstützt uns dabei, die komplexen psychobiologischen Muster anzugehen, die dem Kontakt, der Heilung und dem Wachstum – allem, wonach unsere Klient*innen suchen – in den Weg geraten. Diese Organisationsprinzipien stellen die Weichen dafür, dass wir verstehen, wie sich die bei NARM betonten Fähigkeiten und hieraus resultierenden Interventionen am besten einsetzen lassen.

Im zweiten Teil dieses Buches, »Das Therapiemodell von NARM«, präsentieren wir die Interventionen, die wir für die Durcharbeitung der Muster in Verbindung mit komplexer Traumatisierung einsetzen. In den Kapiteln 3 bis 6 stellen wir die vier Säulen von NARM vor, therapeutische Fertigkeiten, die Heilung und posttraumatisches Wachstum fördern. Der NARM-Ansatz richtet sich nicht nach einem strengen Protokoll. Es handelt sich nicht um eine manualisierte Therapie. Vielmehr bieten die vier Säulen einen gewissen Rahmen, um zu erkunden, wie Klient*innen im Hier und Jetzt Erlebtes für sich einordnen. Dieser Rahmen unterstützt sie außerdem dabei, eine neue Beziehung zu sich selbst aufzubauen. Die Fertigkeiten, die mit den vier Säulen in den Vordergrund gerückt werden, fördern eine zunehmende Intersubjektivität im therapeutischen Prozess, die damit zu tun hat, Klient*innen in der Fähigkeit zu stärken, in Kontakt mit ihrer eigenen Innenwelt und mit anderen Menschen zu gelangen.

In Kapitel 3 machen wir mit der ersten Säule bekannt: Klärung der therapeutischen Vereinbarung. Diese Intervention unterstützt den Klienten oder die Klientin dabei, das eigene Anliegen für den Heilungsprozess zu formulieren. Indem wir die Menschen einladen, in Kontakt mit dem zu kommen, was ihr größter Wunsch bezogen auf das Ergebnis ihrer Arbeit mit uns wäre, können wir die ersten Schritte dazu tun, einen explorationsorientierten, auf der Wahrnehmung von Agency basierenden Prozess zu unterstützen, was ein Gemeinschaftswerk ermöglicht, das auf dem Anliegen des Klienten oder der Klientin und einem der Beziehung entspringenden Einverständnis aufbaut.

In Kapitel 4 beschreiben wir die zweite Säule: das Stellen von exploratorischen Fragen. Diese Intervention steuert, wie wir mit den Klient*innen interagieren. Dieser vom Nachforschen bestimmte Prozess unterstützt uns dabei, über den in ihnen ablaufenden Prozess zu reflektieren und Informationen hierzu zusammenzutragen, und lädt sie ein, es uns nachzutun. Insbesondere befassen wir uns neugierig mit der Frage, welche inneren Hindernisse den Klient*innen im Weg stehen, wenn es darum geht, das zu bekommen, was sie für sich am meisten wollen.

In Kapitel 5 erörtern wir die dritte Säule: das Verstärken von Agency. Diese Intervention unterstützt Klient*innen in ihrer sich neu entwickelnden Fähigkeit, ihre aktive Rolle beim Aufbau von Beziehungen zwischen sich selbst und ihren eigenen inneren und äußeren Schwierigkeiten wahrzunehmen. Sie können zunehmend vor allem entdecken, wie sie ihr inneres Erleben so einordnen, dass alte Traumamuster dadurch verfestigt werden. Dieser an Agency orientierte Prozess unterstützt die Möglichkeit, dass die Menschen neue, lebensbejahendere Wege erlernen können, mit sich selbst in Beziehung zu treten.

In Kapitel 6 stellen wir die vierte Säule vor: das Spiegeln psychobiologischer Veränderungen. Diese Intervention bietet Klient*innen Gelegenheit, Veränderungen auf allen Ebenen ihres Erlebens wahrzunehmen – auf der physischen, emotionalen, kognitiven, beziehungsmäßigen und spirituellen. Wir unterstützen sie dabei, mit Veränderungen in Kontakt zu kommen und sie zu verkörpern, die in ihrem inneren Erleben einsetzen, wenn sie eine neue Beziehung zu sich selbst entwickeln. Das wiederum verstärkt in ihnen einen Prozess der Integration, Organisation und Transformation.

In Kapitel 7 stellen wir das Modell der emotionalen Vervollständigung bei NARM vor. Wir bieten eine neue Perspektive im Hinblick auf Emotionen und die Rolle, die unbewältigte Emotionen bei komplexen Traumen spielen, und daneben eine einmalige Herangehensweise an die Arbeit auf der Affektebene, die es den Menschen erlaubt, etwas an komplexen Traumamustern in Bewegung zu bringen. Wir stellen eine wichtige Unterscheidung zwischen primären und Standardemotionen vor und wie unsere Arbeit mit ihnen aussieht. Wir arbeiten den Fokus auf das Containment emotionaler Reaktionen heraus, im Gegensatz dazu, sie auszudrücken oder zu entladen. Das Modell der emotionalen Vervollständigung unterstützt den Kontakt mit primären Emotionen und die Verkörperung tiefgehender und nährender emotionaler Zustände.

In Kapitel 8 erklären wir das NARM-Beziehungsmodell. Wir skizzieren einen interpersonalen Ansatz, der eine erhöhte Effektivität auf der Beziehungsebene unterstützt. Im Zentrum steht das innere Erleben der Therapeut*innen, indem innerliche Zustände wie Neugier, Präsenz und aktive Selbsterforschung und die aus diesen Zuständen hervorgehenden therapeutischen Fertigkeiten kultiviert werden. Außerdem präsentieren wir ein neues Modell, das es ermöglicht, therapeutische Gegenübertragung zu verstehen und zu nutzen, um eine Heilung auf der Beziehungsebene zu unterstützen. Dieses achtsame interpersonelle Herangehen hat tiefgreifende Implikationen für den therapeutischen Umgang und das Verständnis zwischen Therapeut*innen und Klient*innen.

In Kapitel 9 skizzieren wir das NARM-Persönlichkeitsspektrum, ein Grundgerüst, das therapeutisch Tätigen erkennen hilft, wo sich ihre Klient*innen auf einem Spektrum psychobiologischer Kapazität befinden. Wir stellen ein Beurteilungstool zur Verfügung, um zehn psychobiologische Wesenszüge zu identifizieren und einzuschätzen, die von komplexen Traumatisierungen betroffen sind und die Organisation des Selbst bestimmen. Diese therapeutische Landkarte zur Beurteilung der Selbstorganisation hat starke Implikationen, an denen sich der Therapieprozess, die Interventionen und die Prognose orientieren. Das verhilft Therapeut*innen außerdem dazu, ein besseres Verständnis des therapeutischen Bündnisses und der Gegenübertragungsproblematiken zu erlangen.

Im dritten Teil dieses Buches, »Klinische Anwendung von NARM«, demonstrieren wir anhand von zwei Sitzungstranskripten NARM in Aktion mit realen Klient*innen. Diese Mitschriften sind mit ausführlichen klinischen Anmerkungen versehen, die helfen, die NARM-Organisationsprinzipien und -Fertigkeiten zu identifizieren.

In Kapitel 10 demonstriert Brad, wie er bei der Arbeit mit Aiyana vorging, um sie in ihrem dringenden Wunsch nach mehr Selbstwertgefühl zu unterstützen. Aiyana, die einen Hintergrund von zahlreichen familiären, kulturellen and intergenerationalen Traumen mitbrachte, hatte es geschafft, sich ein erfolgreiches Erwachsenenleben aufzubauen, bevor sie eine vielfältige Palette psychologischer und physischer Symptome zu erleben begann. In der besagten Sitzung zeigt Brad, wie NARM eingesetzt werden kann, um Veränderungen an lebenslang bestehenden Mustern der Selbstbeschämung und Selbstablehnung in Richtung von mehr Selbstannahme und Selbstmitgefühl zu unterstützen.

In Kapitel 11 demonstriert Larry, wie er mit Rich arbeitete, um ihn in seinem Wunsch nach einer gesünderen intimen Beziehung zu unterstützen. Rich steckte gerade in einer Scheidung und war dabei, die schmerzhaften Auswirkungen seiner lebenslangen Beziehungsmuster zu erkennen. In dieser Sitzung half Larry Rich dabei, die tieferliegenden Traumamuster anzugehen, die bislang in seinen zwischenmenschlichen Interaktionen immer dazwischengefunkt hatten.

Diese beiden Sitzungen sowie kürzere klinische Beispiele, die das gesamte Buch durchziehen, zeigen den NARM-Ansatz im Umgang mit realen Klient*innen. Wir haben deren Namen und nähere Einzelheiten zu ihnen geändert, um die Vertraulichkeit zu wahren, doch sind alle Beispiele Auszüge aus echten Sitzungen, und wir sind den Genannten dankbar dafür, dass sie uns erlaubt haben, ihre Erfahrungen zu teilen. Auf klinische Transkripte dieser Art wird von NARM-Studierenden zurückgegriffen und wir hoffen, dass sie auch für Sie beim Erlernen, der Integration und der Anwendung des Neuroaffektiven Beziehungsmodells hilfreich sind.

Zur Erinnerung beim Lesen dieses Buches

Da dieses Buch von Menschen aus unterschiedlichsten Helferberufen gelesen und benutzt werden wird, haben wir diverse Begriffe vereinfacht und bezeichnen die Personen, mit denen wir arbeiten, als Klient*innen, und diejenigen unter uns, die ihnen professionelle Hilfe bieten, als Therapeut*innen. Uns ist klar, dass einige Aspekte des NARM-Ansatzes auf Ihr konkretes Arbeitsgebiet nicht zutreffen werden. Wir stellen in diesem Buch sozusagen »NARM in Reinkultur« vor und wir möchten Sie anregen, das Gelernte bei Bedarf so zu modifizieren, dass es Sie bei Ihrer Arbeit unterstützt. Es gibt nicht die richtige Anwendung von NARM. Wenn Sie nicht in einem Helferberuf tätig sind, so hoffen wir, dass Sie die Prinzipien und Fertigkeiten für sich so anpassen können, dass es Ihren eigenen Heilungsprozess fördert. Unsere Absicht ist, NARM für alle zugänglich zu machen, von daher ermutigen wir Sie, jeweils das davon anzuwenden, was für sie machbar ist.

Im Zentrum dieses Buches steht die praktische Anwendung. Der therapeutische Prozess, den wir hier vorstellen, stützt sich auf fundierte wissenschaftliche und klinische Erkenntnisse zu traumasensiblen Behandlungsmodi, die in unterschiedlichsten Fachrichtungen gewonnen wurden. Wer auf der Suche nach Studien zu Entwicklungstraumen und komplexer Traumatisierung ist, findet ein solides und stetig wachsendes Feld, in dem man sich mit Traumaforschung beschäftigt, und wir möchten Sie anregen, sich damit näher zu befassen. Unser Anliegen bei diesem Buch ist zunächst einmal, eine Quintessenz dieser Erkenntnisse in leicht zugänglicher Form für die Aufarbeitung komplexer Traumatisierungen herauszukristallisieren.

Dabei werden wir in diesem Buch immer wieder zwei sich überschneidende Begriffe verwenden: Entwicklungstrauma und komplexes Trauma. Beide sollen Erfahrungen beschreiben, die sich störend auf eine gesunde Entwicklung auswirken und Folgen für die Wahrnehmung des Selbst in der Welt haben. Ein zentrales Unterscheidungsmerkmal ist jedoch, dass Entwicklungstraumen in der Kindheit auftreten, während komplexe Traumen über das ganze Leben verteilt zustande kommen können. Beim weiteren Recherchieren werden Sie noch auf weitere Begriffe in Verbindung mit Traumen stoßen. Es bestehen erhebliche Unterschiede zwischen verschiedenen Formen von Trauma und es ist wichtig, zwischen ihnen zu differenzieren. Im Sinne der leichteren Anwendbarkeit werden wir die Begriffe Entwicklungstrauma und Komplextrauma hier jedoch als austauschbar verwenden, worauf in Kapitel 1 noch näher eingegangen wird.

Vor dem Hintergrund unserer jahrelangen Arbeit mit Familien und der Tatsache, dass wir beide selbst Kinder haben, sind wir dafür sensibilisiert, wie Eltern häufig die Schuld an psychischen Problemen ihrer Kinder in die Schuhe geschoben wird. In Wirklichkeit verhält es sich so, dass komplexe Traumen genau das sind, was der Begriff aussagt: komplex. Psychische Erkrankungen auf ein Versagen der Eltern zu reduzieren, ist zu simplizistisch und im Allgemeinen nicht hilfreich. Gleichzeitig müssen wir die zentrale Rolle anerkennen, die Eltern tatsächlich spielen, wenn es darum geht, ihre Kinder in ihrer Entwicklung zu fördern oder eben zu hemmen. In dem Bestreben, Schuldzuweisungen an die Eltern und deren Beschämung zu mindern, weichen wir auf allgemeinere Begriffe wie Bezugspersonen und Umweltversagen aus, wenn wir uns auf die Dynamiken von Kindheitstraumen beziehen. Der Begriff Bezugspersonen eröffnet zusätzliche Dimensionen, um die Auswirkungen zu verstehen, die wichtige Erwachsene auf das frühe Leben eines Kindes haben. Von einem Umweltversagen zu sprechen (was in den beiden ersten Kapiteln noch gründlicher erklärt wird), eröffnet ein breiter gefasstes Verständnis für die Auswirkungen verschiedener Formen von Trauma, die über das reine Versagen innerhalb des familiären Beziehungsgeflechts hinausgehen.

Vieles von dem, was wir hier beschreiben werden, steht mit Kindheitstraumen in Verbindung, das Buch als solches zielt jedoch darauf ab, Erwachsenen zu helfen. Zwar lässt sich NARM auch auf die Arbeit mit Kindern anwenden, doch müsste das Verfahren, mit dem Sie hier bekannt gemacht werden, für eine wirksame Behandlung von Kindern entsprechend modifiziert werden. Ähnliches gilt für die Arbeit mit Paaren, Gruppen oder in sehr spezifischen Umfeldern – etwa in einem Umfeld, in dem Klient*innen aufgrund richterlicher Anordnung die Auflage zu erfüllen haben, an Therapiesitzungen teilzunehmen. Dieses Buch legt das generelle therapeutische Modell für Einzeltherapie mit Erwachsenen dar. Wir möchten Sie ermutigen, es Ihrer Klientel und Ihrem professionellen Umfeld entsprechend anzupassen.

Um Sie dabei zu unterstützen, dieses Material zu verinnerlichen, beinhaltet jedes Kapitel einige Übungen zur Selbstreflexion, vergleichbar mit denen, die wir in unseren Fortbildungen verwenden. Die Übungen bieten eine Möglichkeit, NARM unmittelbar an sich selbst zu erfahren und den NARM-Prozess direkt und buchstäblich am eigenen Leib zu erleben. Viele dieser Übungen lassen sich auch an Klient*innen weitergeben, um sie in ihrem Lern- und Wachstumsprozess zu unterstützen.

Zum Abschluss dieser einleitenden Worte möchten wir noch unsere Dankbarkeit gegenüber den vielen Tausend Klient*innen und Kursteilnehmer*innen zum Ausdruck bringen, mit denen wir gearbeitet und von denen wir so viel gelernt haben. Wir wissen, dass der Weg zur Heilung bei komplexen Traumen nicht einfach ist. Er verlangt Mut. Es hat uns immer wieder berührt, welche Wandlungen wir miterleben durften. Wir fühlen uns geehrt, demütig und inspiriert davon, dass wir bei ihrer Heilung und der Rückeroberung ihres Lebens eine Rolle spielen konnten. Wir hoffen und wünschen Ihnen, dass das Neuroaffektive Beziehungsmodell Sie und Ihre Klient*innen auf ähnliche Weise unterstützen kann.

Reflexionsübung

Wir möchten dieses Buch mit der Einladung an Sie beginnen, zu reflektieren, mit welcher Intention Sie dieses Buch zur Hand nehmen:

Was hoffen Sie zu lernen, das Sie bei Ihrer Arbeit unterstützen könnte? Wenn Sie das lernen würden, wie könnte es sich auf Ihre berufliche Arbeit auswirken? Was würden Sie als Ergebnis am liebsten sehen?Was hoffen Sie zu lernen, das Sie bei Ihrem persönlichen Wachstum unterstützen könnte? Wenn Sie das lernen würden, wie könnte es sich auf Ihre Entwicklung auswirken? Was würden Sie als Ergebnis am liebsten sehen?

Teil I

Das Neuroaffektive Beziehungsmodell (NARM) im Überblick

1. Die traumainformierte Bewegung

»Solange das Trauma nicht behoben ist … das Loch in der Seele … wo die Wunden begannen, arbeitet man sich am Falschen ab … Ich denke, das könnte alles verändern.«3

Oprah Winfrey

Das Gebiet »Trauma« wandelt sich. Und es wandelt sich schnell. Dank bahnbrechender Untersuchungen wie der Adverse Childhood Experiences, der (ACE)-Studie, dank erzielter Fortschritte in der Neurowissenschaft, dank einiger Pioniere auf dem Gebiet der Traumen wie Dr. Judith Herman, Dr. Bessel van der Kolk, Dr. Allan Schore, Dr. Daniel Siegel, Dr. Bruce Perry, Dr. Rachel Yehuda und anderen und auch dank eines vermehrten Erkennens und einer größeren Akzeptanz der Existenz von Traumen in unserer Gesellschaft vollzieht sich derzeit ein großes Umdenken. Gerade das neu aufgekommene Verständnis einer neuen Traumakategorie, der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung, birgt das Potenzial, die psychologische Theorie und Behandlung zu revolutionieren und dabei gleichzeitig große Auswirkungen auf andere Bereiche unserer Gesellschaft zu haben.

Seit 1980, als die Diagnose »Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)«, in Englisch Post Traumatic Stress Disorder (PTSD), erstmals in das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-III) der American Psychiatric Association aufgenommen wurde, ruht der Fokus in Sachen Trauma auf PTBS – dem, was wir hier Schocktrauma nennen werden. Die Diagnose PTBS beschreibt ein Individuum, das ein potenziell lebensbedrohliches Ereignis durchlebte oder einem solchen ausgesetzt war, das zu drei Kategorien von Symptomen führte: 1) ein erneutes Durchleben, unter anderem in Form von Flashbacks und Albträumen; 2) Vermeidungsverhalten, darunter ein Sich-Absondern von anderen und Selbstmedikamentierung; und 3) Übererregungszustände, unter anderem mit Hypervigilanz, Panik und heftiger Wut. In der neuesten Fassung der DSM-Kriterien wurde diese Diagnose dahingehend aktualisiert, eine zusätzliche Kategorie mit aufzunehmen: 4) negative kognitive und Stimmungsveränderungen, darunter übersteigert negative Glaubenssätze bezogen auf sich selbst und andere sowie Schwierigkeiten, positive Emotionen zu erleben.4

So revolutionär dieses Verständnis von PTBS innerhalb der Psychologie gewesen ist und so sehr es die Anerkennung von Traumen in der Mainstream-Kultur eingebracht hat – nun taucht rasant eine neue Auffassung von Traumen auf.

Es ist eine sich unentwegt fortsetzende Anomalie, dass sich die aktuellen Leitlinien für die Behandlung von Traumen auf die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) beziehen und unzureichend sind, um den vielen Dimensionen komplexer Traumen gerecht zu werden. Die Unterschiede zwischen komplexem (kumulativem, interpersonell generiertem) Trauma und einem »einmaligen, auf einen Einzelvorfall zurückgehenden« Trauma (PTBS) sind gravierend. Untersuchungen haben zudem nicht nur gezeigt, dass »die Mehrheit derer, die sich wegen traumabezogener Probleme in Behandlung begeben, in ihrer Vorgeschichte mehrfache Traumen aufweisen«, sondern dass diejenigen, die eine komplexe Traumatisierung erfahren haben, »negativ auf derzeitige standardmäßige PTBS-Behandlungen reagieren können«. Insofern besteht eindeutig ein dringender Bedarf an klinischen Leitlinien, die auf die Behandlung des vielschichtigen Syndroms abzielen, mit dem wir es bei einem komplexen Trauma zu tun haben.5

Das Neuroaffektive Beziehungsmodell (NARM) ist eines der ersten Therapiemodelle, das ein eigens auf die Behandlung komplexer Traumen – oder, wie sie jetzt offiziell genannt werden, die komplexe posttraumatische Belastungsstörung (K-PTBS) – abgestimmtes Grundgerüst und entsprechende klinische Orientierungspunkte bietet.6 Während andere Therapiemodelle dabei sind, ihre Behandlungsprotokolle so anzupassen, dass sie geeignet sind, um belastende Kindheitserfahrungen (ACEs) und komplexe Traumen anzugehen, wurde NARM von vornherein dafür konzipiert, den langfristigen Auswirkungen von ACEs und K-PTBS zu begegnen.

Um herauszustellen, wie nützlich NARM bei Ihrer Arbeit an komplexen Traumen sein könnte, präsentiert dieses Kapitel einen Überblick über die aktuelle Landschaft der Traumatherapie, einige der wichtigen Unterschiede zwischen PTBS und K-PTBS und den Bedarf an neuen Therapiemodellen, die speziell darauf angelegt sind, die Komplexitäten einer K-PTBS anzugehen, darunter Bindungs-, Beziehungs-, Entwicklungs-, kulturelle und intergenerationale Traumen sowie posttraumatisches Wachstum.

Was macht die traumainformierte Bewegung aus?

Die von uns angesprochene Revolution innerhalb der Psychologie läuft oft unter dem Namen »traumainformierte Pflege, Begleitung und Therapie«. Manche gebrauchen lieber den Begriff »traumasensibel« oder »traumasensitiv«. Im Laufe der letzten gut vierzig Jahre hat die wachsende Anerkennung von Traumen unser Verständnis von psychischer Gesundheit sowie unsere Behandlungsansätze signifikant verändert. Zudem wird mittlerweile auch jenseits der Psychologie ein traumainformierter Ansatz verfolgt: im Gesundheits- und Sozialwesen, in der Pflegeunterbringung, im Bildungswesen, bezogen auf Organe der öffentlichen Ordnung, in der Suchttherapie, in der Strafjustiz, im Strafvollzug, in der Versorgung von Veteranen und Angehörigen der Streitkräfte, bei den Rettungsdiensten, bei humanitären Hilfseinsätzen, in Verbindung mit Coaching, Fitness, Yoga, Meditation sowie in religiösen und spirituellen Zentren. Traumainformierte Programme lassen sich aufgrund des hier praktizierten ganzheitlichen Herangehens an Gesundheit und Wohlbefinden, das die mentale, emotionale, physische, beziehungsmäßige, soziale und sogar spirituelle Ebene des menschlichen Daseins umfasst, in den unterschiedlichsten Zusammenhängen einsetzen.

Bei der traumainformierten Begleitung handelt es sich um eine breite Palette von Prinzipien, die darüber entscheiden, wie Hilfsangebote erbracht und Einzelpersonen und bestimmte Gesellschaftskreise unterstützt werden. Hier ein paar Beispiele: Viele Suchthilfezentren haben erkannt, dass die von ihnen angebotene Behandlung nur begrenzt wirksam ist und dass die Rückfallquote hoch bleibt, solange sich Patient*innen nicht mit dem unbewältigten Trauma hinter ihrem Suchtverhalten auseinandersetzen. In den Vereinigten Staaten gibt es ausgeprägte Bemühungen, ein stärker traumainformiertes Verständnis in den Strafvollzug und das Strafrecht einzubringen, wo ein überproportional hoher Anteil von straffällig Gewordenen aus niedrigen Einkommensschichten stammt, einer Minderheit angehört oder beides, oft zudem mit einer umfassenden Vorgeschichte komplexer Traumen. In vielen Arbeitsumfeldern, vor allem solchen, wo sich eine große Population von Angehörigen aus Helferberufen findet – etwa in der Sozialarbeit, dem Bildungswesen, der Pflege und in anderen Bereichen des Gesundheitswesens – haben die Gesundheit und das Wohl der Belegschaft bislang keine sonderliche Priorität. Es besteht in diesen Kreisen ein hohes Risiko für Sekundärtraumatisierungen, Burn-out und Substanzmissbrauch, oft gefolgt von belastenden Rechtsstreitigkeiten um Leistungen, die den Arbeitsausfall auffangen und einer Stigmatisierung und Entfremdung durch Arbeitgeber und Kollegenkreis. Einrichtungen wie ein »Tag der psychischen Gesundheit« und gelegentliche Erinnerungen daran, auch gut für sich selbst zu sorgen, sind zwar immerhin ein Anfang, greifen aber zu kurz, wenn es darum geht, wie Trauma und berufliches Tun zusammenspielen.

Vielleicht eines der bekanntesten Beispiele für traumainformierte Begleitung findet sich in dem außergewöhnlichen Dokumentarfilm The Paper Tigers. Jim Sporleder, Direktor der Lincoln Alternative High School in Walla Walla, Washington, wohin man gern die besonderen »Problemkinder« schickte, stand vor einem alarmierenden Ausmaß an Schulschwänzen, Substanzmissbrauch, Teenager-Schwangerschaften, Schlägereien, Gang-Aktivitäten und kriminellem Verhalten. Diese Zustände waren für Sporleder und sein Kollegium erdrückend und sie waren unsicher, welche Verbesserungsmöglichkeiten sie noch ausschöpfen könnten. Eines Tages erfuhr der Direktor von brandneuen Studien zu belastenden Kindheitserfahrungen und komplexen Traumen, was ihn veranlasste, für seine Schule statt der Ergebnisse von Klassenarbeiten etc. einen traumainformierten Ansatz in den Mittelpunkt zu stellen. Als den Lehrkräften bewusst wurde, dass Kinder mit unbewältigten Traumen Konzentrations- und Lernschwierigkeiten haben, und dass dies sowie störende Verhaltensweisen Symptome von Traumatisierung waren, wurde schnell klar, dass sie etwas an ihrem Unterricht und ihren Interaktionen mit ihren Schülern ändern mussten. Statt auf strikte Disziplin und Bestrafung zu setzen, um abweichendes Verhalten in den Griff zu bekommen, wurde den Kindern mit Neugier, Interesse, Mitgefühl und Akzeptanz begegnet. Indem Festnahmen und vorübergehende Schulverweise durch einfühlsames Nachhören und Beratungsgespräche ersetzt wurden, gelang es, die mit der Traumatisierung verbundenen tiefer liegenden Verletzungen hinter den problematischen Verhaltensweisen der Jugendlichen zu würdigen und anzugehen. »Ich weiß, warum du Gras rauchst. Ich weiß, warum du dich prügelst: Du willst nichts fühlen. Das ist jetzt die große Herausforderung, denn ich bitte dich: Versuche einmal, für kurze Zeit etwas zu fühlen. Wenn du fühlst, lenkt es dich manchmal nämlich in die Richtung, in die es für dich weitergehen sollte, statt dass du bleibst, wo du bist.«7

Dieser mitfühlende, herzzentrierte Ansatz wirft viele herkömmliche Erziehungsmodelle über den Haufen, indem er die Gesundheit, das Wohl und die Resilienz der Schüler in den Mittelpunkt rückt. Aus unserer Sicht bergen die Suchttherapie, Strafverfolgung / Strafrecht, die Arbeitswelt und das Bildungswesen ein unglaubliches Potenzial in sich, das Leben von Menschen zu verändern – und damit den Gesundheitszustand unserer Gesellschaft. Die traumainformierte Bewegung ist bestrebt, diese oft entmenschlichenden Systeme dahingehend zu transformieren, dass sie humaner, unterstützender und lebensbejahender werden. Traumen anzugehen und aufzulösen, ist eine Frage der Menschenrechte.

Wir, die Autoren, sind beide seit vielen Jahren als Dozenten und Berater auf dem Gebiet tätig, Angehörige von Helferberufen und diverse Organisationen anzuleiten, wie sie traumainformierte Praktiken in ihr Tun integrieren können. Es war immer wieder spannend, mitzuerleben, wenn ein traumainformiertes Verständnis in Sozialsysteme Einzug zu halten begann. Gleichzeitig bestehen, obwohl sich etliche bestehende Therapieansätze und Organisationen jetzt mit dem Zusatz »traumainformiert« oder »traumasensibel« schmücken, in Sachen Behandlung noch immer eklatante Lücken. De facto hat dieser Umstand uns dazu inspiriert, das vorliegende Buch zu schreiben, weil wir davon überzeugt sind, dass NARM eine zentrale Rolle dabei spielen kann, die erforderlichen komplextraumainformierten Behandlungsansätze voranzubringen.

Die folgende Tabelle zeigt die wichtigen Unterschiede zwischen NARM-basierter, traumainformierter Begleitung einerseits und früheren Formen der Klientenbegleitung auf:

Herkömmliche Perspektive

NARM-basierte, traumainformierte Perspektive

»Was stimmt mit Ihnen nicht?«

»Was ist Ihnen passiert? Und wie haben Sie sich an das angepasst, was Ihnen passiert ist?«

Im Fokus der Behandlung stehen individuelle Symptome und Verhaltensweisen.

Im Fokus der Behandlung steht der ganze Mensch. Dabei wird anerkannt, dass er in einer Familie, einem Nachbarschaftsumfeld und einem System lebt, das Auswirkungen auf ihn hat.

Symptome / Probleme gelten als pathologisch; die Klient*innen sind krank, geschädigt oder schlecht.

Symptome / Probleme sind von den Klient*innen eingesetzte Überlebensstrategien, um mit unbewältigten Traumen umzugehen; im Allgemeinen tun diese Menschen ihren Umständen entsprechend ihr Bestes.

Den pathologischen Erscheinungen bei Klient*innen werden bestimmte »Etiketten« aufgeklebt.

Humanisieren von Klient*innen, indem die Auswirkung von Traumen auf das Individuum, die Familien und das nachbarschaftliche Umfeld beschrieben wird.

Die professionellen Begleiter*innen sind die Experten in der Erbringung von Hilfsangeboten für innerlich Gebrochene.

Professionelle Begleiter*innen arbeiten mit den Klient*innen zusammen und unterstützen Agency, eigene Entscheidungsspielräume und die Kontrolle im Heilungsprozess.

Die Ziele werden von den Profis festgelegt. Im Mittelpunkt steht die Symptomlinderung.

Die Ziele werden von den Klient*innen vorgegeben. Im Mittelpunkt stehen Genesung, Agency, Wachstum und Heilung.

Hilfe erfolgt reaktiv; im Allgemeinen liegt der Schwerpunkt auf Krisenmanagement.

Hilfe erfolgt proaktiv; im Allgemeinen liegt der Schwerpunkt darauf, weiteren Krisen vorzubeugen und die Resilienz zu stärken.

Behandlung zielt auf Symptom- und Verhaltensmanagement oder -ausschaltung ab.

Behandlung zielt darauf ab, zugrunde liegende Traumen aufzulösen und ein vermehrtes In-Kontakt-Sein mit sich selbst und anderen zu unterstützen.

Reflexionsübung

Wir laden Sie ein, sich ein paar Momente Zeit zu nehmen, um über die folgenden Fragen zu reflektieren:

Was mussten Sie in Ihrem frühen Umfeld tun, um sich nicht in Gefahr zu bringen? Haben Sie zum Beispiel gelernt, den Mund zu halten? Haben Sie gelernt, sich zu wehren und gegen andere zu kämpfen? Haben Sie gelernt, sich aus möglichen Konflikten herauszuhalten? Welche Anpassungsstrategien haben Sie erlernt?Auf welche Weise haben Sie die Anpassungsleistungen aus Ihrer Kindheit in Ihr Erwachsenenleben mitgenommen?Auf welche Weise könnten diese Anpassungen Ihnen heute in Ihrem Erwachsenendasein zu schaffen machen?

Wir möchten Sie einladen, beim Reflektieren über diese Fragen wahrzunehmen, was dabei gedanklich, emotional und körperlich in Ihnen vorgeht.

Ich (Brad) habe Erfahrungen im Rahmen kommunaler psychosozialer Dienste mit einkommensschwachen, unterversorgten und marginalisierten Klient*innen gesammelt. Die meisten von ihnen schlugen sich mit den Folgen von Armut, häuslicher Gewalt und Kindesmissbrauch herum. Ich arbeitete bei einer Stelle, die Jugendliche und Familien betreute, die Anspruch darauf über das Gesundheitsfürsorgeprogramm Medi-Cal hatten. Das Programm, für das ich tätig war, galt speziell »emotional gestörten« Kindern (soweit die offizielle Bezeichnung). Ein Großteil von ihnen lebte nicht bei seinen leiblichen Eltern, sondern bei Pflegeeltern, den Großeltern, bei Tanten, älteren Geschwistern oder entfernteren Angehörigen. Die meisten dieser Kinder waren in einem chronisch unsicheren Wohnumfeld aufgewachsen. Viele mussten darüber hinaus mit den direkten und indirekten Auswirkungen kultureller, intergenerationaler und systemischer Traumen zurechtkommen. Das galt vor allem für Kinder und Familien mit indianischen und hispanischen Wurzeln, die hier einen erheblichen Prozentsatz ausmachten.

Viele Kinder kamen im Mittelschulalter erstmals mit dem Gesetz in Konflikt. Die meisten Jungen, mit denen ich arbeitete, gaben sich in der Jugendstrafanstalt die Klinke in die Hand. Das chaotische, unberechenbare und unsichere häusliche Umfeld hatte tiefreichende negative Auswirkungen auf ihre Entwicklung. Von uns als klinischem Team wurde verlangt, die diversen Symptome und Störungen nach den Kriterien des DSM-Katalogs zu diagnostizieren. In Besprechungen weigerte ich mich, diese Kinder als emotional gestört zu bezeichnen. Stattdessen bezeichnete ich ihr jeweiliges Lebensumfeld als fundamental gestört. Für mich war klar, dass das Problem, das diese Kinder hatten, in einem Versagen ihrer Umwelt lag. Diese Kinder taten einfach im Rahmen ihrer Umstände ihr Bestmögliches, um zu überleben.

Für mich selbst und eine ganze Reihe mitfühlender Kolleg*innen, denen die Kinder am Herzen lagen, fühlte es sich falsch an, die Störung auf Seiten des Kindes zu verorten und sich nicht die Welt der Erwachsenen vorzunehmen, die dem Kind das vorenthielt, was es brauchte. Es war für unser Empfinden wichtig, anzuerkennen, dass die verhaltensmäßigen und emotionalen Reaktionen der Kinder, so problematisch sie oft waren, zustande kamen, weil sie ein Weg waren, dem Versagen der Umwelt Rechnung zu tragen. Die Familien, Gesellschaftskreise und Sozialsysteme, in denen diese Kinder lebten, ließen sie tagtäglich im Stich.

Wie so viele in unserer Lage hatten wir in unserem klinischen Umfeld kaum eine Wahl: Wir mussten Diagnosen nach den DSM-Vorgaben stellen, damit diese vulnerablen Kinder die Therapie erhielten, die sie so dringend brauchten. Bei unseren klinischen Besprechungen quälten wir uns immer wieder mit offiziellen Diagnosen wie Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (HDHS), depressive Erkrankung, Angststörung, Zwangsstörung, oppositionelles Trotzverhalten, Störung des Sozialverhaltens, reaktive Bindungsstörung und Störung des autistischen Formenkreises. Zu allem Überfluss wussten wir, dass die meisten dieser Kinder daraufhin mit Psychopharmaka behandelt werden würden, die oft zahlreiche heftige Nebenwirkungen und möglicherweise langfristige psychologische und physiologische Folgen hatten.

Die Klassifikationssysteme, auf die wir uns in Sachen seelische Gesundheit stützen, wurzeln bislang nicht in einer traumainformierten Perspektive, sonst könnte ich hier ganz anders schreiben. Würden wir uns bei der Arbeit alle in traumasensiblen Systemen bewegen, wie das Kollegium der Lincoln Alternative High School, so würden wir Kindern nicht als emotional gestört oder als jugendlichen Delinquenten begegnen. Wir könnten sie stattdessen als Menschen betrachten, bei denen jeder wache Moment ihres Alltags von der Notwendigkeit bestimmt wird, die Auswirkungen unbewältigter Traumen auf ihr Gehirn und ihren Körper zu regulieren. Auch wenn wir eine zunehmende Erforschung belastender Kindheitserfahrungen und Entwicklungstraumen beobachten können – es liegt hier noch ein weiter Weg vor uns. Wir als Autoren dieses Buches hegen die Hoffnung, dass sich die psychische Gesundheitsfürsorge zunehmend in Richtung eines traumainformierten Diagnosesystems verlagern wird, bis hin zur Kenntnis von spezifischen Störungen, die die Auswirkungen komplexer Traumen auf Kinder sowie ihre langfristigen Auswirkungen auf die späteren Erwachsenen auf den Punkt bringt.

Belastende Kindheitserfahrungen (ACEs, Adverse Childhood Experiences)

»Das menschliche Gehirn ist ein soziales Organ, das von der Erfahrung geprägt wird und das sich so ausbildet wie erforderlich, um auf die Erfahrungen zu reagieren, denen wir ausgesetzt sind. Vor allem in der Frühzeit unseres Lebens wird das Gehirn also, wenn man sich ständig in einem Zustand des Terrors befindet, darauf getrimmt, ständig alarmiert zu sein und auf Gefahr zu lauern, und es wird versuchen, diese schrecklichen Gefühle zum Verschwinden zu bringen. In einem gesunden Entwicklungsumfeld gelangt das Gehirn an den Punkt, Vergnügen, aktives Sich-Einlassen auf das Umfeld und Entdeckerfreude zu verspüren. Das Gehirn wird offen dafür, zu lernen, Dinge zu sehen, Informationen aufzunehmen, Freundschaften zu schließen. Doch wer … nicht berührt oder gesehen wird, bei dem werden sich ganze Teile des Gehirns kaum entwickeln. Und so haben wir am Ende einen Erwachsenen, der ›weggetreten‹ ist, keinen Kontakt zu anderen Menschen herstellen kann, kein Selbstgefühl zu erleben vermag und nichts Erfreuliches erfährt. Wenn einem nichts als Gefahr und Angst begegnet, bleibt das Gehirn darin hängen, sich einfach nur vor Gefahr und Angst zu schützen.«8

Dr. Bessel van der Kolk

Unser Verständnis belastender Kindheitserfahrungen (Adverse Childhood Experiences, ACEs) geht auf die Kaiser-Permanente Adipositas-Klinik im kalifornischen San Diego zurück.9 Die Klinik, spezialisiert auf massiv übergewichtige Patient*innen, die abnehmen wollten, erzielte großartige Erfolge. Doch es gab ein Problem. Dr. Vincent Felitti