Pretty Little Liars - Unschuldig - Sara Shepard - E-Book
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Pretty Little Liars - Unschuldig E-Book

Sara Shepard

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Beschreibung

Der fulminante Auftakt der Bestsellerreihe und die Vorlage für die internationale Hit-TV-Serie »Pretty Little Liars«

Spencer, Aria, Emily und Hanna waren einmal beste Freundinnen. Eine Clique, die wie Pech und Schwefel zusammenhielt, ein einzigartiges Team in Rosedale. Aber das war vorher. Bevor das mit Alison passierte. Denn Alison, Anführerin und Intrigantin extraordinaire, ist eines Tages spurlos verschwunden. Jetzt, drei Jahre später, haben sich die vier besten Freundinnen auseinander gelebt. Plötzlich tauchen mysteriöse Nachrichten von „A.“ auf und versetzen Spencer und ihre Freundinnen in Angst und Schrecken. Woher kennt A. ihre intimsten Geheimnisse? Steckt dahinter Alison?

Ein fesselnder Pagteturner mit Kultstatus - bei den »Pretty Little Liars« ist Suchtgefahr garantiert! Diese Reihe bietet eine unwiderstehliche Mischung aus jeder Menge Glamour und tödlichen Intrigen.

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Seitenzahl: 337

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Sara Shepard

Pretty Little Liars

Unschuldig

Aus dem Amerkanischenvon Violeta Topalova

cbj

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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel »Pretty Little Liars« bei Harper Teen, an imprint of Harper Collins Publishers, New York.

© 2006 der Originalausgabe by Alloy Entertainment and Sara Shepard

© 2009 für die deutschsprachige Ausgabe bei cbt/cbj Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Übersetzung: Violeta Topalova

Lektorat: Birgit Gehring

Umschlagbild: Ali Smith/Tina Amantula

Umschlaggestaltung: zeichenpool, München

he · Herstellung: ReD

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3- 641-03135-0V002

www.penguinrandomhouse.de

Für JSW

Drei können ein Geheimnis bewahren,wenn zwei von ihnen tot sind.

Benjamin Franklin

WIE ALLES BEGANN

Dreh die Uhr ein paar Jahre zurück, und stell dir vor, es sind die Sommerferien zwischen der siebten und achten Klasse. Du bist vom Sonnenbaden an eurem mit Stein eingefassten Pool gebräunt, trägst deinen Juicy-Couture-Trainingsanzug (weißt du noch, wie angesagt die Dinger damals waren?) und träumst von deinem Schwarm, dem Typ aus der anderen Elite-Schule, deren Namen wir verschweigen, der in den Sommerferien bei Abercrombie & Fitch in der Mall Jeans zusammenlegt. Du isst gerade Coco Pops, wie du sie am liebsten magst – mit fettarmer Milch und schon ganz matschig. Dann fällt dir das Mädchengesicht auf dem Milchkarton auf. VERMISST. Sie ist hübsch – um einiges hübscher als du – und ihre Augen blicken frech und lebhaft. Du denkst: Hmm, vielleicht mag sie ihre Coco Pops auch am liebsten weich und matschig. Und den Abercrombie-Typen fände sie mit Sicherheit auch schnucklig. Du fragst dich, wie ein Mädchen, das so … ja, das so ist wie du, einfach verschwinden kann. Und eigentlich enden doch nur Mädchen, die an Misswahlen teilnehmen, auf Milchkartons.

Aber da hast du dich getäuscht.

 

Aria Montgomery vergrub ihr Gesicht im Rasen vor dem Haus ihrer besten Freundin Alison DiLaurentis. »Lecker«, murmelte sie.

»Wieso schnüffelst du am Rasen?«, rief Emily Fields hinter ihr und stieß mit ihrem langen, sommersprossigen Arm die Türe des Volvo-Kombis ihrer Mutter zu.

»Er riecht gut.« Aria strich ihr pink gesträhntes Haar zurück und sog tief die warme frühe Abendluft ein. »Nach Sommer.«

Emily winkte ihrer Mom zum Abschied zu und zog die No-Name-Jeans hoch, die tief auf ihren mageren Hüften saß. Emily nahm schon seit der Vorschule an Schwimmwettbewerben teil, und obwohl sie in ihrem Speedo-Einteiler fantastisch aussah, trug sie nie enge oder auch nur annähernd niedliche Klamotten wie all die anderen Mädchen in der Siebten. Emilys Eltern achteten nämlich streng darauf, dass sie ihre Persönlichkeit von innen heraus entwickelte (obwohl Emily ziemlich sicher war, dass es ihre Persönlichkeit nicht beflügelte, dass sie ihr IRISH-GIRLS-DO-IT-BETTER-Tanktop ganz hinten in ihrer Unterwäscheschublade verstecken musste).

»Mädels!« Alison tänzelte durch den Vorgarten auf sie zu. Ihr Haar war zu einem unordentlichen Pferdeschwanz gebunden und sie trug noch ihre Hockeyuniform von der Jahresabschlussparty der Mannschaft an diesem Nachmittag. Alison hatte es als einzige Siebtklässlerin in die Auswahlmannschaft der Schule geschafft und fuhr seitdem immer mit den älteren Mädchen der Rosewood-Day-Schule nach Hause, aus deren Jeeps Jay-Z dröhnte. Bevor Alison ausstieg, sprühten die Älteren sie mit Parfüm ein. Das maskierte den Gestank der Zigaretten, die sie auf der Fahrt geraucht hatten.

»Hab ich was verpasst?«, rief Spencer Hastings, zwängte sich durch einen Spalt in der Hecke um Alis Grundstück und rannte zu den anderen. Spencer wohnte nebenan. Sie warf ihren langen, glatten dunkelblonden Pferdeschwanz zurück und nahm einen tiefen Zug aus ihrer violetten Sigg-Flasche. Im Gegensatz zu Ali war Spencer im Herbst nicht in die Auswahlmannschaft aufgenommen worden und musste im Team der siebten Klasse spielen. Seit einem Jahr trainierte sie wie besessen Hockey, um ihre Chancen zu verbessern, und die Mädchen wussten ganz genau, dass sie bis zu ihrer Ankunft hinten im Garten Dribbeln geübt hatte. Spencer konnte nicht ertragen, wenn jemand etwas besser draufhatte als sie. Besonders nicht wenn dieser Jemand Alison war.

»Wartet auf mich!«

Sie drehten sich um. Hanna Marin kletterte aus dem Mercedes ihrer Mom. Sie stolperte über ihre Sporttasche und wedelte heftig mit ihren pummeligen Armen. Seit ihre Eltern sich im letzten Jahr hatten scheiden lassen, legte sie stetig an Gewicht zu und passte nicht mehr in ihre alten Klamotten. Ali verdrehte zwar bei Hannas Anblick die Augen, aber die anderen Mädchen taten so, als fiele es ihnen nicht auf. Wozu hat man schließlich beste Freundinnen?

Alison, Aria, Spencer, Emily und Hanna hatten sich Anfang der Sechsten angefreundet, als ihre Eltern sie alle angemeldet hatten, samstagnachmittags als Freiwillige bei dem Wohltätigkeitsprogramm der Rosewood-Day-Privatschule mitzuarbeiten. Nun, fast alle, Spencer hatte sich wirklich freiwillig gemeldet. Dass Alison damals gewusst hatte, wer die vier anderen waren, war fraglich. Aber die vier wussten genau, wer Alison war. Sie war perfekt. Hübsch, witzig und clever. Beliebt. Alle Jungs träumten davon, Alison zu küssen, und alle Mädchen – sogar die älteren – träumten davon, so zu sein wie sie. Und als Alison zum ersten Mal über Arias Witze lachte, sich bei Emily nach dem Schwimmtraining erkundigte, Hanna ein Kompliment über ihre Hemdbluse machte und Spencers Handschrift als unvergleichlich ordentlich bezeichnete, da empfanden die Mädchen das unwillkürlich als … eine Art Auszeichnung. Vor Ali hatten sie sich gefühlt wie Oma-Jeans mit Bundfalten und hoher Taille: uncool und nur aus den falschen Gründen auffallend. Aber durch Ali fühlten sie sich wie die perfekt sitzenden Stella McCartneys, die sich kein Mensch leisten konnte.

Jetzt, mehr als ein Jahr später, am letzten Schultag der siebten Klasse, waren sie nicht nur die besten Freundinnen, sondern die Mädchenclique der Rosewood Day. Diesen Status hatte ihnen all das verschafft, was im vergangenen Jahr geschehen war. Jede gemeinsame Pyjamaparty, jeder Ausflug war ein neues Abenteuer gewesen. Sogar Schulstunden wurden spannend, wenn diese fünf zusammensteckten (der Tag, an dem sie den schwülstigen Liebesbrief des Star-Sportlers an seine Mathe-Nachhilfelehrerin über die schuleigene Lautsprecheranlage vorgelesen hatten, war in die Annalen der Rosewood Day eingegangen). Aber es gab auch Erlebnisse, die sie alle am liebsten vergessen hätten. Und ein Geheimnis, über das sie niemals wieder reden wollten. Ali sagte immer, Geheimnisse seien der Klebstoff, der ihr Fünfergespann bis in alle Ewigkeiten zusammenhalten würde. Falls das stimmte, waren sie wirklich Freunde fürs Leben.

»Bin ich froh, dass dieser Tag vorbei ist«, stöhnte Alison und schob Spencer sanft wieder durch den Spalt in der Hecke. »He, zu eurer Scheune.«

»Bin ich froh, dass die siebte Klasse vorbei ist«, sagte Aria, als sie ihren vier Freundinnen zu der in ein Gästehaus umgebauten Scheune folgte, in der Spencers Schwester Melissa während ihrer letzten Highschool-Jahre gewohnt hatte. Glücklicherweise hatte Melissa gerade ihren Abschluss gemacht und würde den Sommer in Prag verbringen. Heute Abend hatten sie die Scheune ganz für sich allein.

Plötzlich hörten sie eine piepsige Stimme: »Alison! Hey, Alison! Hey, Spencer!«

Alison drehte den Kopf zur Straße. »Bin raus«, flüsterte sie.

»Bin raus«, sagten Spencer, Aria und Emily wie aus einem Mund.

Hanna runzelte die Stirn. »Mist.«

Dieses Spielchen hatte Alison von ihrem Bruder Jason geklaut, einem Zwölftklässler an der Rosewood Day. Jason und seine Freunde spielten es bei Gartenpartys der Privatschulen, wenn sie Mädels abcheckten. Wer als Letzter »Bin raus« sagte, musste sich den Abend lang um die hässliche Braut kümmern, während seine Freunde sich mit deren heißen Freundinnen vergnügten – und das bedeutete, man war genauso lahm und unattraktiv wie die Tussi. Alis »Bin raus«-Version spielten die Mädels immer dann, wenn sich in ihrer Nähe jemand aufhielt, der hässlich, uncool oder einfach nur vom Pech verfolgt war.

Diesmal galt ihr »Bin raus« Mona Vanderwaal – einer Nulpe aus der gleichen Straße, deren Lieblingsbeschäftigung es war, sich bei Spencer und Alison einzuschleimen  – und ihren zwei freakigen Freundinnen Chassey Bledsoe und Phi Templeton. Chassey war die Tusnelda, die sich in den Computer der Schule gehackt und danach den Rektor über angemessene Sicherheitsmaßnahmen aufgeklärt hatte. Und Phi schleppte die ganze Zeit ein Jo-Jo mit sich herum, mehr brauchte man nicht zu sagen. Die drei standen in der Mitte der stillen Vorortstraße und starrten die Mädchen an. Mona hockte auf ihrem Roller, Chassey auf ihrem schwarzen Mountainbike und Phi stand neben ihnen – mit ihrem Jo-Jo natürlich.

»Wollt ihr zu mir rüberkommen und Fear Factor mit angucken?«, rief Mona.

»Geht leider nicht«, säuselte Alison. »Wir haben was vor.«

Chassey runzelte die Stirn. »Wollt ihr nicht sehen, wie sie lebende Käfer essen?«

»Bäh!«, flüsterte Spencer Aria zu, die daraufhin begann, wie ein Affe unsichtbare Läuse aus Hannas Haaren zu picken.

»Ja, schade.« Alison legte den Kopf in den Nacken. »Aber wir planen diese Pyjamaparty schon seit einer Ewigkeit. Nächstes Mal vielleicht?«

Mona senkte den Blick und starrte auf den Gehweg. »Hmm, klar.«

»Bis dann.« Alison drehte sich um und verdrehte die Augen. Die anderen Mädchen taten es ihr nach.

Sie durchquerten Spencers Hintergarten. Zu ihrer Linken befand sich das Grundstück von Alis Eltern, die gerade einen meterhohen Pavillon für die vielen luxuriösen Gartenpartys bauen ließen, die sie jedes Jahr gaben. »Gott sei Dank sind die Bauarbeiter nicht da«, sagte Ali mit einem Blick auf den gelben Bulldozer.

Emily erstarrte. »Haben die dich wieder dumm angemacht?«

»Nur die Ruhe, Killer«, sagte Alison. Die anderen kicherten. Manchmal nannten sie Emily »Killer«, weil sie sich benahm wie Alis persönlicher Pitbull Terrier. Früher hatte Emily mit ihnen darüber gelacht, aber seit einiger Zeit schien sie es nicht mehr witzig zu finden.

Die Scheune lag direkt vor ihnen. Sie war klein und gemütlich, mit einem Panoramafenster in der Front, aus dem man auf die idyllische Farm von Spencers Eltern sehen konnte, die eine eigene Windmühle besaß. Hier in Rosewood, Pennsylvania, einer kleinen Vorstadt dreißig Kilometer von Philadelphia entfernt, lebten nur wenige Leute in Fertigvillen aus dem Katalog. Die meisten wohnten  – wie Spencer – in alten Herrenhäusern mit fünfundzwanzig Zimmern und hatten Pools mit Mosaikboden und eingebauter Whirlpool-Ecke. Rosewood roch im Sommer nach Flieder und frisch gemähtem Gras und im Winter nach sauberem Schnee und Kaminfeuer. Hier gab es überall üppige, hoch gewachsene Kiefern, traditionell betriebene Farmen in Familienbesitz und die niedlichsten Füchse und Kaninchen. Es gab glamouröse Shoppingcenter und Anwesen aus der Kolonialzeit, ausgedehnte Parks für Geburtstags-, Schulabschluss- und Einfach-so-Partys. Und die Jungs von Rosewood waren unglaublich gut aussehend und strahlten den gleichen gesunden Wohlstand aus wie die Typen im Abercrombie &-Fitch-Katalog. Dies war Philadelphias Edelvorort, voller uralter, edler Familien, noch älterem Geld und geradezu antiken Skandalen.

Als die Mädchen an der Scheune ankamen, hörten sie Kichern von drinnen. Jemand quietschte: »Ich hab gesagt, Finger weg!«

»Oh Mann«, stöhnte Spencer. »Was macht die denn hier?«

Sie spähte durch das Schlüsselloch und sah Melissa, ihre immer wie aus dem Ei gepellte, alles exzellent beherrschende ältere Schwester, und Ian Thomas, ihren leckeren Freund. Die beiden lieferten sich einen kleinen Ringkampf auf der Couch. Spencer trat mit dem Schuh gegen die Tür, dass die aufsprang. Die Scheune roch nach Moos und leicht angebranntem Popcorn. Melissa fuhr herum.

»Was zum Teuf…«, begann sie. Dann bemerkte sie die anderen und lächelte. »Oh. Hi, Mädels.«

Die Mädels blickten auf Spencer. Sie beschwerte sich ständig, ihre Schwester sei eine Gift spritzende Superkobra, deshalb waren sie immer überrascht, wenn Melissa sich so zuckersüß zeigte wie gerade.

Ian stand auf, reckte sich und grinste Spencer an. »Hi.«

»Hi, Ian«, sagte Spencer in deutlich fröhlicherem Tonfall. »Ich wusste nicht, dass ihr hier drin seid.«

»Doch, das wusstest du«, sagte Ian und lächelte sie träge an. »Du hast uns doch beobachtet.«

Melissa justierte den schwarzen Haarreif in ihrem langen blonden Haar und funkelte ihre Schwester an. »Was gibt’s?«, fragte sie in anklagendem Ton.

»Äh… ich wollte nicht so reinplatzen, aber… aber heute Abend haben wir die Scheune reserviert«, stotterte Spencer.

Ian gab Spencer einen spielerischen Klaps auf den Arm. »Ich hab dich nur ein bisschen verarscht«, neckte er.

Auf Spencers Hals zeigten sich rote Flecken. Ian hatte wuscheliges blondes Haar, haselnussbraune Schlafzimmeraugen und ein anbetungswürdiges Sixpack.

»Wow«, sagte Ali viel zu laut. Alle drehten die Köpfe in ihre Richtung. »Melissa, du und Ian, ihr seid wirklich ein absolut verschärft süßes Paar. Das habe ich noch nie gesagt, aber ich habe das schon immer gedacht. Findest du nicht auch, Spence?«

Spencer blinzelte. »Äh …«, machte sie leise.

Melissa starrte Ali einen Moment perplex an und wandte sich dann wieder Ian zu. »Kann ich mal kurz draußen mit dir reden?«

Ian leerte seine Corona-Flasche, während die Blicke der Mädchen an ihm klebten. Sie bedienten sich nur gaaanz, gaaanz heimlich an den Alkoholvorräten ihrer Eltern. Ian stellte die leere Flasche ab, schenkte ihnen zum Abschied ein Lächeln und folgte Melissa nach draußen. »Adieu, Ladys.« Er zwinkerte ihnen zu und schloss die Tür.

Alison rieb sich übertrieben die Hände. »Wieder ein Problem gelöst dank Ali D. Wo bleibt die Dankesrede, Spence?«

Spencer antwortete nicht. Sie war viel zu beschäftigt damit, aus dem Panoramafenster zu starren. Über den violetten Himmel schwebten die ersten Glühwürmchen.

Hanna ging zu der verlassenen Popcornschüssel und nahm sich eine gute Handvoll. »Ian ist sooo heiß. Er ist sogar noch heißer als Sean.« Sean Ackard war der begehrteste Junge des gesamten Jahrgangs und Gegenstand von Hannas sehnlichsten Fantasien.

»Weißt du, was ich gehört habe?«, fragte Ali und warf sich auf die Couch. »Sean steht auf Mädels mit gutem Appetit.«

Hannas Augen leuchteten auf. »Ehrlich?«

»Natürlich nicht«, schnaubte Alison verächtlich.

Langsam ließ Hanna das Popcorn zurück in die Schüssel fallen.

»Also, ihr Süßen«, fuhr Ali fort. »Ich habe mir für heute Abend was besonders Cooles ausgedacht.«

»Ich hoffe, du meinst nicht schon wieder, nackt herumrennen.« Emily kicherte. Das hatten sie vor einem Monat getan – obwohl es grausig kalt gewesen war. Hanna hatte sich zwar geweigert, ihr Unterhemd und ihr mit dem Wochentag bedrucktes Höschen auszuziehen, aber die anderen waren splitterfasernackt über ein abgeerntetes Maisfeld in der Nähe gerannt.

»Dir hat das ein bisschen zu viel Spaß gemacht«, murmelte Ali. Emilys Lächeln erstarb. »Nein, das hier habe ich mir extra für den letzten Schultag aufgespart. Ich habe gelernt, wie man Leute hypnotisiert.«

»Hypnotisiert?«, wiederholte Spencer.

»Matts Schwester hat es mir beigebracht«, antwortete Ali und blickte auf die gerahmten Fotos von Melissa und Ian, die auf dem Fenstersims standen. Alis derzeitiger Freund Matt hatte die gleichen sandfarbenen Haare wie Ian.

»Wie macht man das?«, fragte Hanna.

»Tut mir leid, ich musste versprechen, es nicht zu verraten«, bedauerte Ali und sah die vier an. »Wollt ihr rausfinden, ob es funktioniert?«

Aria setzte sich auf ein lavendelfarbenes Kissen und runzelte die Stirn.

»Ich weiß nicht so recht …«

»Warum nicht?« Alis Blick wanderte zu der Schweinehandpuppe, die aus Arias violetter Umhängetasche ragte. Aria schleppte immer schräges Zeug mit sich herum – Stofftiere, aus alten Romanen gerissene Seiten, Postkarten von Orten, an denen sie nie gewesen war.

»Sagt man unter Hypnose nicht Dinge, die man eigentlich für sich behalten will?«

»Hast du etwas zu verbergen?«, konterte Ali. »Und warum schleppst du eigentlich immer diese dämliche Schweinepuppe mit dir herum?« Sie deutete darauf.

Achselzuckend zog Aria das Schwein aus ihrer Tasche. »Mein Dad hat mir Miss Piggy aus Deutschland mitgebracht. Sie berät mich in Herzensangelegenheiten.« Sie steckte die Hand in die Puppe.

»Du steckst dem Ding die Hand in den Arsch!«, quietschte Ali, und Emily begann zu kichern. »Außerdem verstehe ich nicht, warum du so an etwas hängst, was dir dein Dad geschenkt hat.«

»Das ist nicht witzig«, zischte Aria und starrte Emily wütend an.

Alle schwiegen ein paar Sekunden lang und sahen sich mit ausdruckslosen Gesichtern an. So etwas passierte in letzter Zeit ziemlich oft. Jemand – meist Ali – erwähnte irgendetwas, worüber sich eine andere aufregte, aber niemand traute sich zu fragen, was in aller Welt eigentlich los war.

Spencer brach das Schweigen. »Äh … sich hypnotisieren lassen, klingt irgendwie schräg.«

»Du hast doch keine Ahnung«, sagte Ali schnell. »Stellt euch nicht an. Ich hypnotisiere euch alle in einem Rutsch.«

Spencer zupfte am Gummizug ihres Rocks. Emily blies Luft durch die Zähne. Aria und Hanna tauschten einen unsicheren Blick. Ali dachte sich andauernd neues Zeugs für die Gruppe aus. Letzten Sommer hatten sie Löwenzahnsamen geraucht, weil sie gehört hatte, davon bekäme man Halluzinationen. Letzten Herbst waren sie in Pecks Pond schwimmen gegangen, obwohl man dort einmal eine Wasserleiche gefunden hatte. Ehrlich gesagt hatten sie oft keine Lust, die Sachen zu machen, zu denen Alison sie brachte. Sie liebten Alison abgöttisch, aber manchmal hassten sie Alison auch – weil die sie herumkommandierte und in einen merkwürdigen Bann geschlagen hatte. Manchmal kamen sie sich in Alis Gesellschaft irgendwie unecht vor. Sie fühlten sich wie Marionetten, an deren Fäden Ali zog. Jede Einzelne von ihnen wünschte sich, nur ein einziges Mal stark genug zu sein, um Ali ein Nein entgegenzuhalten.

»Bittebitte…«, bettelte Ali. »Du willst doch, Emily, stimmt’s?«

»Äh …« Emilys Stimme zitterte. »Nun…«

»Ich mache mit«, sagte Hanna schnell.

»Ich auch«, sagte Emily eine Sekunde später.

Spencer und Aria nickten widerstrebend. Zufrieden dunkelte Ali den Raum ab und zündete einige süß nach Vanille duftende Kerzen an, die auf dem Couchtisch standen. Dann lehnte sie sich zurück und begann zu summen. »Okay, Mädels, entspannt euch«, wandte sie sich im Singsang an die anderen, und die Mädchen machten es sich in einem Kreis auf dem Boden bequem. »Eure Herzen schlagen langsamer. Denkt ruhige Gedanken. Ich zähle jetzt von einhundert zurück, und sobald ich euch berühre, habe ich Macht über euch.«

»Gruselig.« Emily lachte unsicher.

Alison begann. »Hundert… neunundneunzig … achtundneunzig…«

Zweiundzwanzig …

Elf …

Fünf …

Vier …

Drei …

Sie berührte Arias Stirn mit dem Daumen. Spencer schlug die Beine auseinander. Arias linker Fuß zuckte.

»Zwei …« Langsam berührte sie Hanna, dann Emily und bewegte sich in Richtung Spencer. »Eins.«

Spencer riss die Augen auf, bevor Alison sie berühren konnte. Sie sprang auf und rannte zu dem Panoramafenster.

»Was soll denn das?«, flüsterte Ali. »Du machst die ganze Stimmung kaputt.«

»Es ist zu dunkel hier drinnen.« Spencer zog die Vorhänge zur Seite.

»Nein.« Alison richtete sich kerzengerade auf. »Es muss dunkel sein. So funktioniert das nun mal.«

»Quatsch, stimmt überhaupt nicht.« Die Jalousie klemmte und Spencer riss sie mit einem Grunzen auf.

»Doch. Das stimmt.«

Spencer stemmte die Hände in die Hüften. »Ich will es heller. Und den anderen geht es vielleicht genauso.«

Alison sah die drei anderen an, die immer noch die Augen geschlossen hatten.

»Es muss nicht immer alles so laufen, wie du es dir in den Kopf gesetzt hast.«

Alison lachte verächtlich auf. »Mach sie zu!«

Spencer verdrehte die Augen. »Mann, nimm ein Valium.«

»Du denkst, ich sollte ein Valium nehmen?«, hakte Alison nach.

Sie starrten sich einen Augenblick lang wütend an. Es war einer dieser lächerlichen Streite, die mal darum kreisten, wer zuerst das neue Lacoste-Polokleid bei Neiman Marcus gesehen hatte, oder darum, ob honigfarbene Strähnchen billig aussahen, aber in Wahrheit ging es um etwas vollkommen anderes. Etwas viel Größeres.

Schließlich deutete Spencer auf die Tür. »Verschwinde.«

»Gern!« Alison marschierte nach draußen.

»Prima!«

Aber ein paar Sekunden später folgte Spencer ihr ins Freie. Der in bläuliches Licht getauchte Abend war windstill und das Haupthaus lag vollkommen dunkel da. Es war sehr ruhig – selbst die Grillen schwiegen – und Spencer hörte ihren eigenen Atem. »Warte einen Moment!«, schrie sie und knallte die Tür hinter sich zu. »Alison!«

Doch Alison war verschwunden.

 

Als die Tür ins Schloss knallte, öffnete Aria die Augen. »Ali?«, rief sie. »Mädels?« Sie erhielt keine Antwort und sah sich um.

Hanna und Emily waren auf dem Teppich zusammengesunken und die Tür war geschlossen. Aria öffnete sie und ging hinaus auf die Veranda. Niemand dort. Auf Zehenspitzen schlich sie bis an die Grenze zu Alis Grundstück. Die Wälder breiteten sich vor ihr aus, alles war still.

»Ali?«, flüsterte sie. Nichts. »Spencer?«

Drinnen rieben sich Hanna und Emily die Augen. »Ich hatte einen sehr seltsamen Traum«, sagte Emily langsam. »Ich meine, ich glaube, dass es ein Traum war. Er war ganz kurz. Alison fiel in einen sehr tiefen Tümpel, in dem riesige Pflanzen wuchsen.«

»Das habe ich auch geträumt!«, sagte Hanna.

»Ehrlich?«, fragte Emily.

Hanna nickte. »Hm, so ähnlich. In dem Tümpel war eine riesige Pflanze. Und ich glaube, Alison habe ich auch gesehen. Vielleicht war es nur ein Schatten, aber er gehörte definitiv ihr.«

»Wow«, flüsterte Emily. Sie starrten sich mit weit aufgerissenen Augen an.

»Mädels?« Aria betrat die Scheune. Sie war sehr blass.

»Alles in Ordnung?«, fragte Emily.

»Wo ist Alison?« Aria runzelte die Stirn. »Und wo ist Spencer?«

»Keine Ahnung«, sagte Hanna.

In diesem Moment stürzte Spencer herein. Die Mädchen zuckten zusammen. »Was ist?«, fragte sie.

»Wo ist Ali?« Hannas Stimme war kaum zu hören.

»Ich weiß es nicht«, flüsterte Spencer. »Ich dachte … Ich weiß es nicht.«

Draußen kam Wind auf. Die Mädchen verstummten. Sie hörten die Zweige von Bäumen über die Fensterscheiben streichen. Es klang, als würde jemand mit langen Fingernägeln über einen Teller kratzen.

»Ich glaube, ich will nach Hause«, sagte Emily.

 

Am nächsten Morgen hatten sie immer noch nichts von Alison gehört. Die Freundinnen riefen sich per Konferenzschaltung an, diesmal zu viert statt zu fünft.

»Glaubt ihr, sie ist wütend auf uns?«, fragte Hanna. »Sie war den ganzen Abend so komisch.«

»Wahrscheinlich ist sie bei Katy«, sagte Spencer. Katy war mit Ali im Hockeyteam.

»Oder bei Tiffany, ihrer Freundin aus dem Sommerlager?«, warf Aria ein.

»Ich wette, sie hat irgendwo eine Menge Spaß«, sagte Emily leise.

Eine nach der anderen bekam einen Anruf von Mrs DiLaurentis, die nach Ali fragte. Zuerst deckten die Mädchen sie, das war ein ungeschriebenes Gesetz. Sie hatten Emily gedeckt, als die sich nach 23 Uhr, und damit später als vereinbart, nach Hause geschlichen hatte. Sie hatten für Spencer gelogen, als die Melissas Ralph-Lauren-Dufflecoat ausgeliehen und dann im Zug vergessen hatte. Und so weiter und so fort. Aber als die Mädchen den Hörer auflegten, spürten sie, wie ihre Mägen sich verkrampften. Irgendetwas war ganz und gar nicht in Ordnung.

Am Nachmittag rief Mrs DiLaurentis noch einmal an, diesmal voller Panik. Als es Abend wurde, hatten die DiLaurentis die Polizei eingeschaltet, und am nächsten Morgen war der sonst makellose Rasen vor dem Haus der DiLaurentis mit Polizeiwagen und Übertragungswagen des Fernsehens übersät. Das war der feuchte Traum eines jeden Lokalsenders: Hübsches, reiches Mädchen in einer der sichersten Upperclass-Städtchen des Landes verschwunden.

Hanna rief Emily sofort nach dem ersten Bericht über Ali in den Abendnachrichten an. »Hat die Polizei dich heute auch verhört?«

»Ja«, flüsterte Emily.

»Mich auch. Hast du ihnen von …« Sie hielt kurz inne. »Von der Jenna-Sache hast du ihnen nichts erzählt, oder?«

»Nein«, keuchte Emily entsetzt. »Warum? Glaubst du, sie wissen etwas darüber?«

»Nein … das kann nicht sein«, flüsterte Hanna nach kurzem Zögern. »Nur wir wissen davon. Wir vier … und Alison.«

Die Polizei befragte die Mädchen – und praktisch alle anderen Einwohner von Rosewood, von Alis Sportlehrer aus der Grundschule bis zu dem Verkäufer, der ihr einmal im Supermarkt eine Schachtel Marlboros verkauft hatte. Es war der Sommer vor Beginn der achten Klasse und die Mädchen hätten eigentlich mit älteren Jungs bei Poolpartys flirten, in ihren Hintergärten gegrillte Maiskolben essen und zum Shopping in die King James Mall fahren sollen. Stattdessen lagen sie weinend in ihren Himmelbetten oder starrten mit leerem Blick auf die Fotos an ihren Wänden. Spencer bekam einen Putzfimmel, bei dem sie darüber nachdachte, worum es bei ihrem Streit mit Ali wirklich gegangen war und welche Dinge nur sie allein über Ali wusste. Hanna verbrachte Stunden auf dem Boden ihres Zimmers und versteckte leer gefutterte Chipstüten unter der Matratze. Emily dachte die ganze Zeit an den Brief, den sie Ali kurz vor ihrem Verschwinden geschickt hatte. Hatte Ali ihn überhaupt erhalten? Aria saß mit Miss Piggy an ihrem Schreibtisch. Allmählich riefen sich die Mädchen seltener an. Sie alle wurden von denselben Gedanken gequält, aber sie hatten einander nichts mehr zu sagen.

Der Sommer ging in das neue Schuljahr über, dem der nächste Sommer folgte. Immer noch keine Spur von Ali. Die Polizei setzte ihre Suche diskret fort. Die Medien hatten das Interesse an dem Fall verloren und beschäftigten sich lieber mit dem Dreifachmord in Philadelphias Center City. Zweieinhalb Jahre nach Alisons Verschwinden verließen die DiLaurentis Rosewood. Und auch in Spencer, Emily und Hanna veränderte sich etwas. Wenn sie jetzt an Alis altem Haus vorbeiliefen, mussten sie nicht mehr sofort weinen. Sie begannen, bei seinem Anblick etwas anderes zu spüren.

Erleichterung.

Sicher, Alison war Alison. Sie war die Schulter zum Anlehnen, die Einzige, der du es erlaubt hast, deinen Schwarm anzurufen, wenn du wissen wolltest, ob er auf dich stand. Und sie war die Autorität darüber, ob du in deinen neuen Jeans einen dicken Hintern hattest oder nicht. Aber die Mädchen hatten auch Angst vor ihr. Ali wusste mehr über sie als irgendjemand sonst, und zwar auch die schlimmen Dinge, die sie am liebsten wie eine Leiche vergraben hätten. Die Vorstellung, Ali könnte tot sein, war schrecklich, aber … wenn es so sein sollte, waren ihre Geheimnisse wenigstens sicher.

ORANGEN, PFIRSICHE UND LIMETTEN

»Jemand hat endlich das Haus gekauft, in dem die DiLaurentis früher gewohnt haben«, sagte Emily Fields’ Mutter. Es war Samstagnachmittag, und Mrs Fields saß, die Lesebrille auf die Nase geklemmt, am Küchentisch und erledigte Rechnungen.

Emily spürte, wie ihr die Vanilla Coke, die sie gerade trank, in die Nase schoss.

»Ich glaube, es wohnt jetzt wieder ein Mädchen in deinem Alter dort«, fuhr Mrs Fields fort. »Ich wollte ihnen eigentlich heute einen Willkommenskorb vor die Tür stellen. Vielleicht magst du das für mich erledigen?« Sie deutete auf die in Zellophan gehüllte Monstrosität auf der Arbeitsfläche.

»Um Gottes willen, Mom, nein«, stöhnte Emily. Seit Mrs Fields, die als Grundschullehrerin gearbeitet hatte, letztes Jahr in Rente gegangen war, hatte sie sich in Rosewoods inoffizielle Botschafterin verwandelt, die alle Neuzugänge mit Geschenkkörben empfing. Zu diesem Zweck stopfte sie eine Menge sinnloses Zeug – getrocknetes Obst, Gummibänder, mit denen man Einmachgläser besser aufbekam, Keramikhühner (Emilys Mom war verrückt nach Hühnern), den Rosewood-Kneipenführer und sonstigen Kram – in einen riesigen Weidenkorb. Sie gab die prototypische Vorstadt-Mama ab, allerdings ohne Geländewagen. Sie hielt die Dinger für angeberisch und eine Benzinverschwendung und fuhr stattdessen einen »oh so praktischen« Volvo-Kombi.

Mrs Fields stand auf und fuhr mit der Hand durch Emilys vom Chlor strapaziertes Haar. »Wäre es so schlimm für dich, dort vorbeizugehen, Schätzchen? Soll ich lieber Carolyn schicken?«

Emily warf einen Blick auf ihre Schwester Carolyn, die ein Jahr älter war als sie, es sich auf dem Fernsehsessel bequem gemacht hatte und Dr. Phil schaute. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das ist kein Problem. Ich mach das schon.«

Klar, Emily motzte manchmal und rollte die Augen, wenn ihre Mom sie um etwas bat, aber sie machte eigentlich immer, was von ihr verlangt wurde. Sie bekam beinahe nur Einser, war viermalige Pennsylvania-Meisterin im Schmetterling und eine sehr gehorsame Tochter. Regeln zu befolgen und Bitten zu erfüllen, war für sie ganz normal.

Außerdem hatte sie sich insgeheim einen Grund gewünscht, Alisons altes Haus wiederzusehen. Der Rest von Rosewood schien zwar über Alis Verschwinden vor drei Jahren, zwei Monaten und zwölf Tagen hinweg zu sein, aber für Emily galt das nicht. Wenn sie ihr Jahrbuch aus der siebten Klasse ansah, wollte sie sich immer noch wie ein Igel zusammenrollen. An regnerischen Nachmittagen las Emily manchmal Alisons alte Briefe und Zettel, die sie in einem Adidas-Schuhkarton unter ihrem Bett aufbewahrte. Sie hatte sogar die Cordjeans behalten, die Ali ihr einmal geliehen hatte. Sie hing auf einem Holzbügel in ihrem Kleiderschrank, obwohl sie ihr inzwischen viel zu klein war. Sie hatte sich in den letzten einsamen Jahren in Rosewood nach einer Freundin wie Ali gesehnt, aber wahrscheinlich würde sie die hier nicht finden. Ali war zwar nicht die perfekte Freundin gewesen, aber trotz all ihrer Fehler nur schwer zu ersetzen.

Emily straffte die Schultern und nahm die Volvo-Schlüssel von dem Haken neben dem Telefon. »Ich bin gleich zurück«, rief sie und schloss die Haustür hinter sich.

 

Als sie bei Alisons altem viktorianischen Haus am Ende der mit Bäumen gesäumten Straße ankam, sah sie als Erstes einen riesigen Müllhaufen am Straßenrand und ein Schild mit der Aufschrift ZUM MITNEHMEN!. Sie kniff die Augen zusammen und erkannte, dass einige Sachen Alison gehört hatten – zum Beispiel der weiße Cordsessel aus ihrem Schlafzimmer. Die DiLaurentis waren vor beinahe neun Monaten weggezogen. Offenbar hatten sie ein paar Dinge zurückgelassen.

Emily parkte hinter einem gewaltigen Umzugslaster und stieg aus dem Volvo. »Holla«, murmelte sie und versuchte, das Zittern ihrer Unterlippe zu verhindern. Unter dem Sessel lagen Stapel schmutziger Bücher. Emily beugte sich nach vorne und schaute auf die Buchrücken. Der Prinz und der Bettelknabe. Die rote Tapferkeitsmedaille. Das hatten sie doch in der Siebten im Englischunterricht bei Mr Pierce gelesen und über Symbolismus, Metaphern und Auflösungen gesprochen. Unter den beiden lagen noch mehr Bücher, auch ein paar alte Notizbücher schienen dabei zu sein. Daneben standen Kartons, die mit ALISONS ALTE KLEIDER und ALISONS ALTE UNTERLAGEN beschriftet waren. Aus einer Box ragte ein blaurotes Stoffband. Emily zog daran. Es war eine Schwimmmedaille aus der sechsten Klasse, die sie an dem Tag bei Alison vergessen hatte, als sie ein Spiel namens »Olympische Sexgöttinnen« spielten.

»Willst du die?«

Emily fuhr auf. Vor ihr stand ein großes, schlankes Mädchen mit milchkaffeebrauner Haut und wilden schwarzbraunen Locken. Sie trug ein gelbes Top, dessen einer Träger ihr von der Schulter gerutscht war und einen orange-grün gestreiften BH-Träger freigab. Emily war sich nicht ganz sicher, aber sie meinte, dass sie den gleichen BH zu Hause hatte. Er war von Victoria’s Secret und auf den, äh, Schalen waren kleine Orangen, Pfirsiche und Limetten aufgedruckt.

Die Schwimmmedaille fiel ihr aus der Hand und fiel klimpernd zu Boden. »Äh, nein«, stammelte sie und hob die Medaille schnell auf.

»Du kannst alles mitnehmen. Steht auf dem Schild.«

»Nein danke, ich will nichts.«

Das Mädchen streckte die Hand aus. »Maya St. Germain. Bin gerade hergezogen.«

»Ich …« Emily blieben die Worte im Hals stecken. »Ich bin Emily«, brachte sie schließlich heraus, nahm Mayas Hand und schüttelte sie. Es fühlte sich irgendwie förmlich an, einem Mädchen die Hand zu geben, und Emily war sich nicht sicher, ob sie das schon einmal gemacht hatte. Ihr war ein bisschen schwindelig. Vielleicht hatte sie zu wenig Honey Nut Cheerios zum Frühstück gegessen?

Maya deutete auf die Sachen neben der Straße. »Kannst du dir das vorstellen? Dieser ganze Müll war in meinem neuen Zimmer. Ich musste alles selbst raustragen, das war super nervig.«

»Ja, das hat alles Alison gehört.« Emilys Stimme war nur ein Flüstern.

Maya beugte sich vor und sah sich die Bücher an. Dabei zog sie den Träger ihres Tops wieder zurecht.

»Ist das eine Freundin von dir?«

Emily zögerte. Ist? Vielleicht wusste Maya gar nicht, dass Ali verschwunden war. »Äh, das war sie. Und ein paar andere Mädchen, die in der Gegend wohnen«, erklärte Emily. Den Teil mit dem Kidnapping oder dem Mord oder was immer geschehen war und sie nicht ertragen konnte, sich vorzustellen, ließ sie weg. »In der siebten Klasse. Jetzt komme ich in die elfte, an der Rosewood Day.« Nach dem Wochenende würde die Schule wieder beginnen. Genau wie das Herbsttraining und das bedeutete drei Stunden schwimmen täglich. Emily wollte gar nicht daran denken.

»Ich bin auch in der Rosewood Day!« Maya grinste. Sie warf sich auf Alisons alten Cordsessel, dass die Sprungfedern quietschten. »Meine Eltern haben auf dem Flug hierher die ganze Zeit davon geschwärmt, was für ein Glück ich habe, dass Rosewood mich genommen hat, und wie anders es dort sein wird als auf meiner alten Schule in Kalifornien. Dabei habt ihr hier sicher kein mexikanisches Essen in der Cafeteria, stimmt’s? Zumindest kein richtig gutes mexikanisches Essen, wie wir es in Kalifornien haben. Bei uns gab es das und es war unglaublich lecker. Ich muss mich wohl an das Fastfood-Zeug von Taco Bell gewöhnen. Aber bei deren Gorditas muss ich kotzen.«

»Oh.« Emily lächelte. Dieses Mädchen redete wirklich viel. »Ja, das Essen ist nicht so toll.«

Maya sprang aus dem Sessel auf. »Das klingt jetzt vielleicht komisch, weil ich dich gerade erst kennengelernt habe, aber würdest du mir helfen, die restlichen Kisten in mein Zimmer zu tragen?« Sie deutete auf ein paar Umzugskartons, die noch im Laster standen.

Emily riss die Augen auf. In Alisons altes Zimmer gehen? Andererseits wäre es total unhöflich, Nein zu sagen. »Äh, klar«, sagte sie mit zitternder Stimme.

Im Eingangsbereich roch es immer noch nach Dove-Seife und Potpourri wie damals, als die DiLaurentis noch hier lebten. Emily hielt an der Tür inne und wartete auf Mayas Anweisungen, obwohl sie Alis altes Zimmer am Ende des oberen Flurs auch mit verbundenen Augen gefunden hätte. Überall standen Umzugskartons und zwei dürre italienische Greyhounds kläfften hinter einem Gatter in der Küche.

»Ignorier sie«, sagte Maya, lief die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer und schob die Tür mit ihrer in Frottee gehüllten Hüfte auf.

Es sieht wie damals aus, dachte Emily, als sie das Schlafzimmer betrat. Aber eigentlich stimmte das überhaupt nicht: Maya hatte ihr breites Bett in eine andere Ecke gestellt, auf ihrem Schreibtisch thronte ein riesiger Flachbildschirm und Alisons geblümte Tapete war unter Mayas Postern kaum noch zu erkennen. Aber irgendetwas war gleich, als schwebe Alisons Geist in der Luft. Emily fühlte sich benommen, und sie lehnte sich an die Wand, um nicht zu fallen.

»Stell das irgendwohin«, sagte Maya. Emily riss sich zusammen, stellte den Karton ans Fußende des Bettes und sah sich um.

»Deine Poster gefallen mir«, sagte sie. Es waren hauptsächlich Bandposter: M.I.A., Black Eyed Peas, Gwen Stefani in Cheerleader-Uniform. »Ich steh auf Gwen«, fügte sie hinzu.

»Ja«, stimmte Maya zu. »Mein Freund ist total besessen von ihr. Er heißt Justin und ist aus San Francisco, genau wie ich.«

»Oh, ich habe auch einen Freund«, sagte Emily. »Sein Name ist Ben.«

»Ja?« Maya setzte sich aufs Bett. »Wie ist er so?«

Emily versuchte, sich Ben vorzustellen, mit dem sie seit vier Monaten zusammen war. Sie hatte ihn vorgestern gesehen, als sie Doom auf DVD bei ihr zu Hause angeschaut hatten. Natürlich war Emilys Mom die ganze Zeit im Nebenzimmer gewesen und immer wieder hereingekommen, um zu fragen, ob sie etwas bräuchten. Sie waren seit einiger Zeit befreundet gewesen, waren in der gleichen Schwimmmannschaft. Das ganze Team hatte sie dazu gedrängt, doch einmal miteinander auszugehen, also hatten sie nachgegeben. »Er ist cool.«

»Warum bist du nicht mehr mit dem Mädchen befreundet, das hier gelebt hat?«, fragte Maya.

Emily strich sich ihr rotblondes Haar hinter die Ohren. Ups. Maya wusste also wirklich nicht über Alison Bescheid. Wenn Emily jetzt anfing, über Ali zu reden, würde sie vermutlich in Tränen ausbrechen, und das wäre ziemlich komisch. Sie kannte diese Maya ja kaum. »Ich habe nicht mehr viel mit meinen Freunden aus der Siebten zu tun. Alle haben sich ziemlich verändert.«

Das war die Untertreibung des Jahres. Von Emilys ehemals besten Freundinnen war Spencer eine übertriebene Version ihres schon damals hyperperfekten Selbst geworden; Arias Familie war im Herbst nach Alis Verschwinden plötzlich nach Island gezogen; und die pummlige, liebenswerte Hanna war inzwischen weder pummlig noch liebenswert, sondern eine üble Giftspritze. Hanna und ihre inzwischen beste Freundin Mona Vanderwaal hatten sich in der achten Klasse bis zur Unkenntlichkeit verwandelt. Emilys Mom hatte Hanna neulich im örtlichen Supermarkt gesehen und zu Emily gesagt, das Mädchen sehe »nuttiger aus als diese Paris Hilton«. Emily hatte das Wort »nuttig« noch nie aus dem Mund ihrer Mutter gehört.

»Ich weiß, wie es ist, wenn man sich auseinanderlebt«, sagte Maya und wippte auf ihrem Bett. »Nimm meinen Freund. Er hat Riesenangst, dass ich ihn absäge, weil wir jetzt so weit voneinander weg leben. So ein Riesenbaby.«

»Mein Freund und ich sind in der gleichen Schwimmmannschaft, also sehen wir uns die ganze Zeit«, erwiderte Emily und suchte ebenfalls nach einem Sitzplatz. Fast schon ein bisschen zu oft, dachte sie.

»Du schwimmst?«, fragte Maya. Sie musterte Emily aufmerksam, was ihr unangenehm war. »Ich wette, du bist echt gut. Du hast die richtigen Schultern dafür.«

»Ach, keine Ahnung.« Emily errötete und lehnte sich gegen Mayas weißen Holzschreibtisch.

»Doch, hast du!« Maya lächelte. »Aber … würde es dir als Sportfanatikerin was ausmachen, wenn ich ein kleines Tütchen rauche?«

»Was, jetzt?«, fragte Emily mit großen Augen. »Haben deine Eltern nichts dagegen?«

»Die sind einkaufen. Mein Bruder ist zwar irgendwo, aber dem ist das egal.« Maya griff nach einer Blechbüchse unter ihrer Matratze und schob das Fenster rechts neben dem Bett auf. Sie holte einen Joint aus der Dose und zündete ihn an. Der Rauch zog in den Garten und formte eine Nebelwolke um die große Eiche.

Maya zog die Hand mit dem Joint ins Zimmer zurück. »Magst du auch mal?«

Emily hatte noch nie Gras geraucht. Sie hatte Angst, ihre Eltern würden es sofort merken, es an ihren Haaren riechen, oder sie dazu zwingen, eine Urinprobe abzugeben oder so was.

Aber als Maya den Joint elegant aus ihrem mit kirschfarbenem Lipgloss bedeckten Mund nahm, sah das sehr sexy aus. Emily wollte auch so sexy aussehen.

»Okay.« Emily setzte sich neben Maya und nahm den Joint von ihr. Ihre Hände berührten sich und sie sahen sich in die Augen. Mayas waren grün mit gelben Sprenkeln wie Katzenaugen. Emilys Hand zitterte. Sie war nervös, aber sie steckte den Joint in den Mund und nahm einen winzigen Zug, als trinke sie Vanilla Coke durch einen Strohhalm.

Aber es schmeckte überhaupt nicht nach Vanilla Coke. Sie fühlte sich, als habe sie ein Einmachglas mit verrotteten Kräutern inhaliert und hustete krächzend wie ein alter Mann.

»Holla«, sagte Maya und nahm ihr den Joint wieder ab. »Dein erstes Mal?«

Emily rang nach Atem und schüttelte nur den Kopf. Keuchend versuchte sie, Luft in ihre Lungen zu saugen. Endlich konnte sie wieder normal atmen. Maya drehte ihren Arm, und Emily sah eine lange weiße Narbe, die sich senkrecht über ihr Handgelenk zog. Wow. Auf der braunen Haut sah sie aus wie eine Albinoschlange. Gott, wahrscheinlich war sie schon high.

Plötzlich hörte man ein lautes Krachen. Emily sprang auf. Es krachte wieder. »Was ist das?«, keuchte sie.

Maya nahm noch einen Zug und schüttelte den Kopf. »Die Bauarbeiter. Jetzt sind wir erst seit heute hier und meine Eltern fangen schon mit dem Renovieren an.« Sie grinste. »Du bist ausgerastet, als stünden die Bullen vor der Tür. Schon mal erwischt worden?«

»Nein!« Der Gedanke war so weit hergeholt, dass Emily in Gelächter ausbrach.

Maya lächelte und blies den Rauch aus.

»Ich muss los«, krächzte Emily.

Maya sah enttäuscht aus. »Wieso?«

Emily schob sich vom Bett. »Ich habe meiner Mom gesagt, ich wäre gleich zurück. Aber wir sehen uns ja am Dienstag in der Schule.«

»Cool«, sagte Maya. »Hast du Lust, mich herumzuführen?«

Emily lächelte. »Klar.«

Maya grinste und winkte Emily mit den drei freien Fingern ihrer Jointhand. »Findest du alleine raus?«

»Denke schon.« Emily sah sich noch einmal in Alis, äh, Mayas Zimmer um und rannte dann die allzu vertraute Treppe hinunter.

Erst als Emily gierig die frische Luft eingesogen hatte, an Alisons alten Sachen vorbeigelaufen war und wieder im Kombi ihrer Eltern saß, bemerkte sie den Geschenkkorb auf dem Rücksitz. Scheiß drauf, dachte sie und stellte das Ding zwischen Alis alten Sessel und die Kisten. Wer braucht schon einen Kneipenführer von Rosewood? Maya lebt ja bereits hier.

ISLÄNDISCHE (UND FINNISCHE) MÄDCHEN SIND LEICHT ZU HABEN

»Oh mein Gott, Bäume! Ist das schön, große, fette Bäume zu sehen!«

Aria Montgomerys fünfzehnjähriger Bruder Michelangelo streckte den Kopf aus dem Autofenster wie ein Golden Retriever. Aria, Mike und ihre Eltern Ella und Byron – die darauf bestanden, dass ihre Kinder sie mit Vornamen ansprachen – kamen von Philadelphias Flughafen. Sie waren gerade aus Reykjavík, Island, eingetroffen. Arias Dad war Professor für Kunstgeschichte, und die Familie hatte die letzten knapp drei Jahre in Island verbracht, wo er für eine TV-Dokumentation über nordische Kunst recherchiert hatte. Jetzt waren sie zurück. Mike bestaunte Pennsylvanias Landschaft, und zwar in allen Details. Das aus dem 18. Jahrhundert stammende steinerne Gasthaus, in dem verzierte Keramikvasen verkauft wurden; die schwarzen Kühe, die von hinter einem hölzernen Weidezaun stumpf dem Auto nachglotzten; die im New-England-Stil gehaltene Shopping-Mall, die vor ihrer Abreise noch nicht da gewesen war. Sogar die schäbige, ein Vierteljahrhundert alte Dunkin’-Donuts-Filiale.

»Mann, ich kann’s nicht erwarten, eine Coolata zu schlürfen!«, schwärmte Mike.