Sara Shepard
Pretty Little Liars
Makellos
Aus dem Amerikanischenvon Violeta Topalova
cbj
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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel »Flawless – A Pretty Little Liars Novel« bei Harper Teen, an imprint of Harper Collins Publishers, New York
© 2006 der Originalausgabe by Alloy Entertainment and Sara Shepard
© 2009 für die deutschsprachige Ausgabe bei cbt/cbj Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Übersetzung: Violeta Topalova
Lektorat: Birgit Gehring
Umschlagbild: Ali Smith/Tina Amantula
he · Herstellung: ReD
ISBN 978-3-641-03138-1
V005
www.penguinrandomhouse.de
Für MDS und RNS
Auge um Auge – und die ganze Welt wird blind sein.
Mahatma Ghandi
WIE ALLES BEGANN
Es gibt immer einen Jungen aus der Nachbarschaft, bei dessen Anblick es dir eiskalt über den Rücken läuft. Wenn du deinem Freund vor der Haustür einen Gutenachtkuss gibst, siehst du ihn aus dem Augenwinkel bewegungslos am Straßenrand stehen und dich beobachten. Lästerst du irgendwo mit deinen Freundinnen ab, biegt garantiert er wie zufällig um die Ecke – nur dass es bei dieser Häufigkeit bestimmt kein Zufall mehr ist. Er ist die schwarze Katze, die deine Wege auswendig zu kennen scheint. Wenn er an deinem Haus vorbeiradelt, denkst du: Ich werde meine Bioarbeit verhauen. Wenn er dich merkwürdig ansieht, sei auf der Hut. In jeder Stadt gibt es so einen unglückseligen Jungen, und in Rosewood war sein Name Toby Cavanaugh.
»Ich glaube, sie braucht mehr Rouge.« Spencer Hastings lehnte sich zurück und musterte ihre Freundin Emily Fields kritisch. »Ihre Sommersprossen leuchten immer noch durch.«
»Ich hab da noch einen Abdeckstift von Clinique.« Alison DiLaurentis sprang auf und rannte zu ihrem Make-up-Täschchen aus blauem Cord.
Emily betrachtete sich in dem Spiegel, der auf dem Couchtisch in Alisons Wohnzimmer stand. Sie legte den Kopf schief, erst auf die eine, dann auf die andere Seite, und schürzte die pinkfarbenen Lippen. »Meine Mom würde mich umbringen, wenn ich mit dem Zeug im Gesicht nach Hause käme.«
»Kann sein, aber wenn du es abwischst, bringen wir dich um«, warnte Aria Montgomery, die aus unerfindlichen Aria-Gründen in einem rosafarbenen Mohair-BH durchs Zimmer stolzierte, den sie sich neulich selbst gestrickt hatte.
»Genau. Em, du siehst echt klasse aus«, mischte sich Hanna Marin ein. Sie saß im Schneidersitz auf dem Boden und verdrehte alle naselang den Hals, um zu überprüfen, ob ihre Poritze aus den hüfthohen, ein bisschen zu knappen Blue-Cult-Jeans hervorblitzte.
Es war ein Freitagabend im April. Ali, Aria, Emily, Spencer und Hanna veranstalteten ihre regelmäßige Sechstklässlerinnen-Pyjamaparty: Sie kleisterten sich mit Tonnen von Make-up zu, mampften Kartoffelchips und ließen nebenbei MTV Cribs auf Alis Flachbildfernseher laufen. Heute war der Fußboden mit Kleiderhaufen übersät, denn die Mädels hatten beschlossen, für den Rest des Schuljahres die Klamotten zu tauschen.
Spencer hielt eine zitronengelbe Kaschmirstrickjacke an ihren zarten Oberkörper.
»Nimm sie«, sagte Ali. »Die wird an dir niedlich aussehen.«
Hanna zog Alis olivgrünen Cordrock über die Hüften, drehte sich zu ihr um und warf sich in Pose. »Was meinst du? Würde ich Sean darin gefallen?«
Ali stöhnte und feuerte ein Kissen nach Hanna. Seit sie sich im vergangenen September angefreundet hatten, schwärmte Hanna ihnen die Ohren voll, wie süüüüüüüüß sie Sean Ackard fand, ihren Mitschüler an der Rosewood-Day-Privatschule, die sie alle seit der ersten Klasse besuchten. Letztes Frühjahr war Sean noch ein kleiner, sommersprossiger, uninteressanter Knilch gewesen, aber in den Sommerferien hatte er einen Wachstumsspurt hingelegt und seinen Babyspeck verloren. Jetzt wollten ihn so ungefähr alle Mädchen küssen.
Erstaunlich, wie viel sich innerhalb weniger Monate verändern konnte. Das wussten die Mädchen – außer Ali – nur zu gut.
Letztes Jahr waren sie einfach nur … da gewesen. Spencer gab die übereifrige Streberin ab, die immer in der ersten Reihe saß und sich auf jede Lehrerfrage meldete. Aria war freakig angehaucht unterwegs und dachte sich lieber Tanz-Choreografien aus, anstatt wie alle anderen Hockey zu spielen. Emily war die schüchterne Leistungsschwimmerin, unter deren stiller Oberfläche manch Interessantes brodelte – wenn man sich die Mühe machte, Em näher kennenzulernen. Und Hanna mochte zwar tollpatschig und trampelig sein, aber wenn es um Vogue und Teen Vogue ging, machte ihr niemand etwas vor, und dann und wann platzte sie mit Fakten über die Modewelt heraus, von denen sonst niemand eine Ahnung hatte.
Sie waren natürlich alle etwas Besonderes, klar, aber zu ihrem Unglück lebten sie in Rosewood, Pennsylvania, einem Vorort knapp dreißig Kilometer vor Philadelphia. Und in Rosewood war alles etwas Besonderes. Die Blumen dufteten süßer, das Wasser schmeckte frischer und die Häuser waren größer als anderswo. Fremde witzelten gerne, die Streifenhörnchen von Rosewood würden nachts den Abfall wegräumen und die Gehwege jäten, damit der schmucke Vorort morgens wieder perfekt genug für seine anspruchsvollen Einwohner sei. An einem Ort, an dem alles makellos aussah, war es schwer, als außergewöhnlich zu gelten.
Aber irgendwie hatte Ali es geschafft. Mit ihren langen blonden Haaren, dem herzförmigen Gesicht und den riesigen blauen Augen war sie das schönste Mädchen der Gegend. Nachdem sie Spencer, Aria, Emily und Hanna um sich geschart hatte – manchmal kam es ihnen so vor, als habe Ali sie überhaupt erst entdeckt -, waren sie plötzlich weit mehr als einfach nur da. Plötzlich hatten sie einen Freischein für all die aufregenden Dinge, die sie vorher nie zu tun gewagt hatten. Sie motzten sich morgens nach der Busfahrt zur Schule im Mädchenklo auf und zogen ihre Uniformröcke hoch über die Knie. Sie steckten Jungs mit Kussmündern verzierte Zettelchen im Unterricht zu. Oder sie marschierten in einer arroganten Fünferkette durch die Flure von Rosewood und ließen all die Loser links liegen.
Ali griff nach einem violett glitzernden Lippenstift und schmierte ihn sich dick auf den Mund. »Wer bin ich?« Die anderen stöhnten. Ali imitierte Imogen Smith, eine Klassenkameradin, die ein bisschen zu sehr in ihren grellen Lippenstift verliebt war.
»Warte.« Spencer schürzte ihre geschwungenen Lippen und reichte Ali ein Kissen. »Steck dir das unters Shirt.«
»Coole Idee.« Ali stopfte das Kissen unter ihr pinkfarbenes Polohemd und die anderen kicherten. Es ging das Gerücht, dass Imogen mit Jeffrey Klein aus der Zehnten aufs Ganze gegangen war und jetzt sein Baby im Bauch trug.
»Ihr seid schrecklich.« Emily war rot angelaufen. Sie war die Prüdeste in ihrem Kreis, was vielleicht an ihrer extrem strengen Erziehung lag. Ihre Eltern hielten Spaß für eine Todsünde.
»Wieso denn, Em?« Ali hakte sich bei Emily unter. »Imogen ist schrecklich fett geworden, sie sollte hoffen, dass sie schwanger ist.«
Die Mädchen lachten wieder, aber diesmal weniger ungeniert. Ali hatte ein Talent dafür, die Schwächen anderer Menschen aufzudecken, und obwohl sie, was Imogen betraf, völlig recht hatte, fragten sich die Freundinnen manchmal, was Ali wohl über sie sagte, wenn sie nicht dabei waren. Und ganz ehrlich, sie hatten nicht die leiseste Ahnung.
Sie wühlten sich wieder durch die Kleiderhaufen. Aria verliebte sich in ein ultrasportliches Fred-Perry-Kleid von Spencer. Emily zog sich einen Jeansminirock über die dünnen Beine und fragte alle, ob er zu kurz sei. Ali nannte Hannas Joe’s-Jeans am Bund zu weit ausgestellt und zog sie wieder aus. Als sie in ihrer bonbonrosa Boy-Unterhose aus Frottee. am Fenster vorbeiging, erstarrte sie.
»Oh mein Gott!«, schrie sie und duckte sich hinter das blaubeerfarbene Samtsofa.
Die Mädchen wirbelten herum. Vor dem Fenster war Toby Cavanaugh. Er stand regungslos da und starrte sie an.
»Igitt, igitt, igitt!« Aria verbarg ihren Busen. Sie hatte Spencers Kleid ausgezogen und trug wieder nur ihren gestrickten BH.
Spencer, die angezogen war, rannte zum Fenster. »Verpiss dich, du Spanner!«, kreischte sie. Toby grinste frech, drehte sich um und rannte weg.
Die meisten Kids von Rosewood wechselten die Straßenseite, wenn sie Toby begegneten. Er war ein Jahr älter als die fünf Mädchen, blass, hochgewachsen und dünn, und er wanderte immer alleine und ziellos durch die Nachbarschaft, als würde er allen nachspionieren. Es wurde gemunkelt, dass er einmal dabei erwischt worden sei, wie er seinem Hund einen Zungenkuss gegeben habe. Und dass er ein so guter Schwimmer sei, weil er Kiemen statt Lungen habe. Außerdem schlief er angeblich in einem Sarg oben im Baumhaus, das auf seinem Grundstück stand.
Toby sprach nur mit einem einzigen Menschen: mit Jenna, seiner Stiefschwester, die mit den Mädchen in dieselbe Klasse ging. Jenna war ebenfalls hoffnungslos uncool, aber wenigstens nicht so gruselig. Sie kommunizierte immerhin in ganzen Sätzen. Und sie war auf verstörende Weise hübsch, hatte dichtes dunkles Haar, riesige, schwermütige grüne Augen und volle rote Lippen.
»Ich fühle mich … missbraucht!« Aria schüttelte ihren von Natur aus dünnen Körper, als habe man sie in Kolibakterien getaucht. »Wie kann er es wagen, uns so zu erschrecken?!«
Alis Gesicht war vor Wut rot angelaufen. »Das wird er uns büßen!«
»Wie denn?« Hanna riss ihre hellbraunen Augen auf.
Ali dachte einen Moment lang nach. »Wir zahlen es ihm mit gleicher Münze heim!«
Sie mussten, erklärte Ali, Toby einen richtig fiesen Schrecken einjagen. Wenn der Typ nicht gerade durch das Viertel schlich und Leuten nachspionierte, hockte er in seinem Baumhaus, spielte Gameboy oder konstruierte womöglich einen gigantischen Roboter, um ganz Rosewood atomar zu vernichten. Da Toby die Strickleiter zu seinem Baumhaus immer hochzog, damit niemand ihn dort störte, konnten sie schlecht die Köpfe zur Tür hineinstrecken und Buh rufen. »Also benutzen wir Feuerwerkskörper. Und zum Glück wissen wir auch, wo wir welche finden.« Alison grinste breit.
Toby war von Feuerwerkskörpern besessen. Er hatte sich einen Vorrat Silvesterraketen unter seinem Baum angelegt und schoss gelegentlich welche durch das Baumhausfenster in den Himmel. »Wir schleichen uns rüber, klauen eine und fackeln das Ding vor seinem Fenster ab«, erklärte Ali. »Er wird sich in die Hose scheißen vor Schreck.«
Die Mädchen schauten auf das Cavanaugh-Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die Lichter waren erloschen, obwohl es noch gar nicht so spät war, gerade mal halb elf.
»Ich weiß nicht«, sagte Spencer.
»Hmm«, machte Aria. »Was ist, wenn etwas schiefgeht?«
Ali seufzte übertrieben genervt. »Kommt schon, Mädels.«
Alle schwiegen. Dann räusperte Hanna sich. »Also ich bin dabei.«
»Von mir aus«, gab Spencer nach. Emily und Aria stimmten mit einem Schulterzucken zu.
Ali klatschte in die Hände und deutete auf die Couch vor dem Fenster. »Ich mache das. Ihr könnt von dort aus zu sehen.«
Die Mädchen eilten zu dem riesigen Frontfenster und beobachteten, wie Ali sich über die Straße schlich. Tobys Haus stand dem der DiLaurentis’ direkt gegenüber und war in dem gleichen eindrucksvollen viktorianischen Stil erbaut. Doch keines der beiden Häuser war so groß wie die Farm von Spencers Familie, die an Alis Hintergarten angrenzte. Das Anwesen der Hastings verfügte über eine eigene Windmühle, acht Schlafzimmer, eine separate Garage für fünf Autos, einen mit Naturstein eingefassten Pool und eine zum Gästehaus umgebaute Scheune.
Ali rannte seitlich am Haus der Cavanaughs vorbei zu Tobys Baumhaus. Es war teilweise von hohen Kiefern und Ulmen verdeckt, aber im Schein der Straßenlaternen konnten sie gerade so seinen Umriss erkennen. Einen Augenblick später glaubten sie, Ali mit einer Rakete in der Hand zu sehen, wie sie ein paar Meter zurückging, damit sie einen guten Blick in das Fenster des Baumhauses hatte, in dem bläulicher Lichtschein flackerte.
»Glaubt ihr, sie wird es wirklich tun?«, flüsterte Emily. Ein Auto glitt vorbei und tauchte Tobys Haus in Scheinwerferlicht.
»Nee«, sagte Spencer und drehte nervös an den Diamantohrsteckern, die sie von ihren Eltern für das letzte Einserzeugnis bekommen hatte. »Sie blufft doch nur.«
Aria kaute auf der Spitze ihres schwarzen Zopfes herum. »Absolut.«
»Ist Toby überhaupt da drin?«, fragte Hanna.
Die vier verfielen in nervöses Schweigen. Sie hatten zwar schon oft an Alis Streichen teilgenommen, aber die waren eher harmlos gewesen. Sie hatten sich in den Meerwasser-Whirlpool im Spa geschlichen, obwohl sie keinen Termin hatten, ins Shampoo von Spencers Schwester schwarze Haartönung gemischt und gefälschte Liebesbriefe von Rektor Appleton an ihre uncoole Mitschülerin Mona Vanderwaal geschickt. Doch diesmal war ihnen irgendwie nicht wohl bei der Sache.
Bumm!
Emily und Aria zuckten zurück. Spencer und Hanna drückten sich die Nasen an der Fensterscheibe platt. Auf der anderen Straßenseite war immer noch alles dunkel, nur das Licht aus dem Fenster des Baumhauses flackerte etwas heller als vorher.
Hanna kniff die Augen zusammen. »Vielleicht war das gar keine Rakete.«
»Was denn sonst? Ein Schuss?«, fragte Spencer sarkastisch.
Dann hörten sie jemanden schreien und der Deutsche Schäferhund der Cavanaughs begann zu bellen. Die Mädchen packten einander aufgeregt an den Armen. Das Licht auf der Veranda ging an, laute Stimmen sprachen durch einander und Mr Cavanaugh stürzte aus der Seitentür. Plötzlich züngelten aus dem Baumhausfenster kleine Flammen. Es war wie in dem Brandschutz-Video, das Emily sich jedes Weihnachten mit ihren Eltern ansehen musste. Dann heulten Sirenen.
Aria starrte die anderen an. »Was ist da los?«
»Glaubst du …?«, flüsterte Spencer.
»Was, wenn Ali …«, begann Hanna.
»Mädels«, erklang eine Stimme hinter ihnen. Ali stand in der Tür. Ihre Arme hingen schlaff an den Seiten herab und sie war blass – leichenblass sogar.
»Was ist passiert?«, fragten alle wie aus einem Mund.
Ali sah besorgt aus. »Ich weiß es nicht. Aber es war nicht meine Schuld.«
Das Geheul der Sirenen wurde lauter und lauter. Ein Krankenwagen bog heulend in die Auffahrt der Cavanaughs ein. Rettungssanitäter sprangen heraus und eilten zum Baumhaus. Die Strickleiter war heruntergelassen worden.
»Was ist passiert, Ali?« Spencer drehte sich um und stürmte zur Tür. »Du musst uns sagen, was passiert ist!«
Ali rannte hinter ihr her. »Bleib da, Spence!«
Hanna und Aria sahen sich an. Sie hatten zu viel Angst, den beiden ins Freie zu folgen. Was, wenn jemand sie entdeckte?
Draußen kauerte sich Spencer hinter einen Busch und starrte über die Straße. Sie entdeckte das hässliche, gezackte Loch in der Scheibe von Tobys Baumhausfenster. Das Feuer war inzwischen anscheinend gelöscht worden. Jemand schlich von hinten an sie heran. »Ich bin’s«, sagte Ali.
»Was …«, begann Spencer, aber bevor sie ihre Frage beenden konnte, kletterte ein Sanitäter die Strickleiter hinunter. Er hatte einen Arm um eine zweite Person geschlungen. War Toby verletzt? Oder etwa … tot?
Drinnen und draußen reckten die Mädchen die Hälse. Ihre Herzen rasten. Und dann, für einen Augenblick, setzten sie simultan aus.
Es war gar nicht Toby. Es war Jenna.
Einige Minuten später kamen Ali und Spencer ins Haus zurück. Ali erzählte allen mit beinahe unheimlicher Ruhe, was passiert war: Die Rakete war versehentlich durch das Fenster geschossen und hatte Jenna getroffen. Niemand hatte gesehen, wie Ali den Feuerwerkskörper gezündet hatte, also waren sie sicher, solange keine von ihnen den Mund aufmachte. Schließlich gehörte das Feuerwerk Toby, und wenn die Polizei jemanden beschuldigen würde, dann ihn.
Sie weinten die ganze Nacht, klammerten sich aneinander und machten fast kein Auge zu. Spencer war so geschockt, dass sie sich vor dem Fernseher zu einer Kugel zusammenrollte und stundenlang wortlos durch die Kanäle zappte. Als sie am nächsten Morgen aufstanden, wusste schon die ganze Nachbarschaft, dass jemand ein Geständnis abgelegt hatte.
Toby.
Die Mädchen hielten das zuerst für einen schlechten Scherz, aber in der Lokalzeitung stand es schwarz auf weiß: Toby hatte gestanden, mit einem angezündeten Feuerwerkskörper gespielt und ihn versehentlich in Richtung seiner Schwester abgeschossen zu haben. Die Rakete war ihr ins Gesicht geschlagen … und hatte ihr das Augenlicht geraubt. Ali las den Artikel laut vor, während die Freundinnen um den Küchentisch der DiLaurentis’ saßen und sich an den Händen hielten. Die Mädchen hätten eigentlich erleichtert sein müssen. Aber … sie kannten nun mal die Wahrheit.
Jenna verbrachte einige Tage im Krankenhaus, sie war hysterisch und sehr verwirrt. Alle fragten sie, was genau passiert war, aber sie konnte sich offenbar an nichts erinnern. Sie sagte, sie wisse auch nicht, was direkt vor dem Unfall geschehen sei. Die Ärzte sprachen von posttraumatischem Stress.
Die Rosewood-Day-Privatschule veranstaltete zu Jennas Gunsten einen Spiel-nicht-mit-Feuerwerkskörpern-Nachmittag, gefolgt von einer Wohltätigkeitsveranstaltung mit Tanz und Kuchenverkauf. Die Mädchen, vor allem Spencer, engagierten sich mit Feuereifer und schützten Ahnungslosigkeit und Bestürzung vor. Wenn jemand fragte, sagten sie, Jenna sei ein liebes Mädchen und eine sehr gute Freundin. Das sagten auch die anderen Mädchen, die nie ein Wort mit ihr gewechselt hatten. Jenna kehrte nicht wieder an die Rosewood Day zurück. Sie besuchte fortan eine Schule für Blinde in Philadelphia und nach jener Nacht sah man sie nicht mehr im Städtchen.
In Rosewood wurden unangenehme Dinge sanft, aber gründlich entfernt, und Toby bildete keine Ausnahme. Für den Rest des Schuljahres ließen seine Eltern ihn zu Hause unterrichten.
Nach dem Sommer wurde Toby in eine Besserungsanstalt nach Maine geschickt. Er reiste ohne großes Tamtam ab, an einem klaren Tag Mitte August. Sein Vater fuhr ihn zum Bahnhof, wo er alleine den Zug zum Flughafen nahm. Am selben Nachmittag beobachteten die Mädchen, wie die Cavanaughs das Baumhaus im Garten abrissen. Es war, als wollten sie alles auslöschen, was an Tobys Existenz erinnerte.
Zwei Tage nach Tobys Abreise lud Ali die Mädchen auf einen Campingausflug in die Pocono Mountains ein. Die Fünf machten eine Kanutour, kletterten und sonnten sich am Ufer des Sees. Als ihre Gespräche sich abends Toby und Jenna zuwandten – was in jenem Sommer oft geschah -, erinnerte Ali sie daran, dass sie niemals einer Menschenseele davon erzählen durften. Sie würden dieses Geheimnis für immer bewahren … und es würde sie für alle Ewigkeit zusammenschweißen. Als sie in dieser Nacht in ihr Fünferzelt krochen und sich in ihre Kaschmirkapuzenpullis kuschelten, schenkte Ali jeder von ihnen ein buntes geknüpftes Freundschaftsbändchen als Zeichen ihres Bundes. Sie band es allen vieren um das Handgelenk und bat sie einzeln, ihr nachzusprechen: »Ich verspreche, nichts zu erzählen und dieses Geheimnis mit ins Grab zu nehmen.«
Sie wiederholten die Worte, zuerst Spencer, dann Hanna, dann Emily und am Schluss Aria. Ali legte ihr Freundschaftsbändchen als Letzte an. »Ich verspreche, dieses Geheimnis mit ins Grab zu nehmen«, flüsterte sie, nachdem sie den Knoten gemacht und die Hand aufs Herz gelegt hatte. Die Mädchen fassten sich im Kreis an den Händen. Trotz der schrecklichen Situation waren sie froh, dass sie einander hatten.
Die Fünf trugen ihre Bändchen beim Duschen, bei Ferienreisen nach Washington D. C. und Colonial Williamsburg – oder in Spencers Fall Bermuda -, bei matschigen Hockey turnieren und Grippe. Ali schaffte es, ihr Bändchen beinahe makellos sauber zu halten, als würde Schmutz seine Bedeutung verringern. Manchmal berührten sie die Bändchen und flüsterten »Mit ins Grab«, um sich daran zu erinnern, wie eng sie miteinander verbunden waren. Es wurde ihr Code; sie alle wussten, was er bedeutete. Ali benutzte diesen Code ein Dreivierteljahr später am letzten Schultag der siebten Klasse, als die Mädchen ihre erste Ferien-Pyjamaparty starteten. Damals ahnte niemand, dass Ali nur wenige Stunden später verschwinden würde.
Oder dass sie an diesem Tag ihr Geheimnis wirklich mit ins Grab nehmen sollte.
WAREN WIR NICHT MAL FREUNDINNEN?
Spencer Hastings stand mit ihren drei ehemals besten Freundinnen Hanna Marin, Aria Montgomery und Emily Fields auf dem apfelgrünen Rasen vor der Rosewood Abbey. Drei Jahre hatten die Mädchen nicht miteinander gesprochen; ihr Kontakt war nicht lange nach Alison DiLaurentis’ mysteriösem Verschwinden abgebrochen. Aber heute hatte der Trauergottesdienst für Ali sie wieder zusammengeführt. Zwei Tage zuvor hatten Bauarbeiter Alis Leiche unter einer Betonplatte in ihrem ehemaligen Hintergarten gefunden.
Spencer schaute noch einmal auf die SMS, die sie gerade auf ihrem Sidekick bekommen hatte.
Ich bin immer noch hier, Bitches. Und ich weiß alles. – A.
»Oh mein Gott«, flüsterte Hanna. Das Display ihres BlackBerry zeigte denselben Text an, genau wie Arias Treo und Emilys Nokia. In der vergangenen Woche hatten sie alle E-Mails, SMS und Instant Messages von einer Person bekommen, die mit dem Buchstaben A. unterzeichnete. Die Nachrichten hatten hauptsächlich von Dingen aus der siebten Klasse gehandelt, dem Jahr, als Ali verschwand, aber sie hatten auch auf neue Geheimnisse angespielt, auf Sachen, die jetzt, in der Gegenwart, passierten. Spencer hatte Alison selbst hinter A. vermutet und gehofft, sie sei auf unerklärliche Weise zurückgekommen. Aber diese Hoffnung hatte sich zerschlagen. Alis Körper war unter dem Beton verwest, was bedeutete, dass sie … tot war, und das schon sehr, sehr lange.
»Glaubt ihr, es geht um die Jenna-Sache?«, flüsterte Aria und strich sich unruhig über die kantigen Gesichtszüge.
Spencer steckte ihr Handy wieder in die Tweedtasche. »Wir sollten hier nicht darüber sprechen. Es könnte uns jemand hören.« Sie schaute nervös zur Kirchentreppe, wo vor einem Augenblick noch Toby und Jenna Cavanaugh gestanden hatten. Spencer war Toby seit Alis Verschwinden nicht mehr begegnet, und Jenna hatte sie zuletzt in der Nacht ihres Unfalls gesehen, als sie schlaff in den Armen des Sanitäters hing, der sie aus dem Baumhaus holte.
»Die Schaukeln?«, flüsterte Aria. Sie sprach vom Spielplatz der Rosewood-Day-Grundschule. Dort hatten sie sich früher oft getroffen, um in Ruhe zu reden.
»Perfekt«, sagte Spencer und drängte sich durch die Trauergemeinde. »Bis gleich.«
Es war ein klarer Herbstnachmittag. Die Luft roch nach Äpfeln und Kaminfeuer. Ein Heißluftballon schwebte über ihren Köpfen. So schrecklich es war, der Tag gab den passenden Rahmen für die Totenmesse des schönsten Mädchens von Rosewood ab.
Ich weiß alles.
Spencer erschauerte. Das musste ein Bluff sein. Wer immer A. sein mochte, A. konnte nicht alles wissen. Nicht über die Jenna-Sache. Und auf keinen Fall über das Geheimnis, das nur Spencer und Ali miteinander geteilt hatten. In der Nacht von Jennas Unfall war Spencer Zeugin eines Zwischenfalls geworden, von dem ihre Freundinnen keine Ahnung hatten – Ali hatte sie damals schwören lassen, es Emily, Aria und Hanna nie zu verraten. Und da Spencer nicht reden durfte, verdrängte sie den Gedanken an den Vorfall und tat so, als sei er nie passiert.
Aber es war passiert: In jener kühlen Frühlingsnacht in der sechsten Klasse war Spencer nach Alis Rückkehr ins Wohnzimmer hinaus ins Freie gerannt. Die Luft roch nach verbranntem Haar. Sie sah, wie Jenna die wackelige Strickleiter hinuntergebracht wurde.
Ali war neben ihr. »Hast du das mit Absicht gemacht?«, fragte Spencer entsetzt.
»Nein!« Ali packte Spencers Arm. »Es war …«
Jahrelang hatte Spencer versucht, zu vergessen, was als Nächstes geschehen war. Toby Cavanaugh kam auf sie zu gerannt. Das Haar klebte ihm am Kopf und sein sonst leichenblasses Gesicht war gerötet. Er peilte schnurstracks Ali an.
»Ich habe dich gesehen!« Toby zitterte vor Wut. Er schaute hinüber zur Auffahrt seines Elternhauses, in die gerade ein Polizeiauto eingebogen war. »Ich werde den Bullen alles erzählen.«
Spencer keuchte auf. Die Türen des Krankenwagens knallten zu und er fuhr mit heulender Sirene davon. Ali blieb ganz ruhig.
»Gut, aber ich habe dich auch gesehen, Toby«, sagte sie kühl. »Und wenn du mich verpetzt, verpetze ich dich. Bei deinen Eltern!«
Toby wich einen Schritt zurück. »Nein.«
»Doch!«, konterte Ali. Obwohl sie nicht einmal eins sechzig groß war, wirkte sie plötzlich riesig. »Du hast die Rakete gezündet, und du hast dabei deine Schwester verletzt.«
Spencer packte ihre Freundin am Arm. Was war nur in sie gefahren? Aber Ali schüttelte sie ab.
»Stiefschwester«, murmelte Toby beinahe unhörbar. Er schaute auf sein Baumhaus und dann auf die Straße. Ein zweites Polizeiauto rollte langsam auf das Haus der Cavanaughs zu. »Das zahl ich dir heim«, zischte er Ali an. »Wart’s nur ab!« Dann verschwand er.
Spencer packte Ali erneut am Arm. »Was sollen wir jetzt machen?«
»Nichts«, sagte Ali beinahe lässig. »Wir sind aus dem Schneider.«
»Alison?« Spencer blinzelte ungläubig. »Hast du nicht gehört? Er hat dich gesehen. Er will es der Polizei sagen!«
»Das glaube ich kaum.« Alison lächelte. »Nicht bei dem, was ich über ihn weiß.« Und dann beugte sie sich zu Spencer und flüsterte ihr ins Ohr, bei was sie Toby beobachtet hatte. Es war so ekelhaft gewesen, dass Ali darüber komplett vergessen hatte, dass sie eine angezündete Rakete in der Hand hielt, bis das Ding loszischte und versehentlich in das Fenster des Baumhauses schoss.
Ali ließ Spencer schwören, den anderen kein Wort davon zu verraten, und drohte, ihr alle Schuld in die Schuhe zu schieben, falls Spencer doch plapperte. Aus Angst vor Alis Drohung hielt Spencer den Mund. Sie befürchtete zwar, dass Jenna etwas sagen würde – sie musste sich doch daran erinnern, dass Toby nicht der Schuldige gewesen war -, aber Jenna war nach dem Unfall verwirrt und hysterisch und gab an, sich überhaupt nicht an jene Nacht zu erinnern.
Über ein Jahr später verschwand Ali.
Die Polizei verhörte alle, Spencer eingeschlossen, und fragte, ob Alison irgendwelche Feinde gehabt habe. Spencer dachte sofort an Toby. Sie konnte nicht vergessen, dass er gesagt hatte: Das zahl ich dir heim. Aber wenn sie den Cops von Toby erzählte, müsste sie auch die Wahrheit über Jennas Unfall erzählen. Sie müsste erzählen, dass sie einen Teil der Verantwortung trug. Dass sie die Wahrheit gewusst und bisher geschwiegen hatte. Und sie müsste ihren Freundinnen gestehen, dass sie seit mehr als einem Jahr diesen Vorfall vor ihnen geheim gehalten hatte. Also sagte Spencer nichts.
Sie zündete sich eine neue Zigarette an und fuhr vom Parkplatz der Rosewood Abbey. Kein Grund zur Panik. A. konnte unmöglich alles wissen, wie in den SMS behauptet. Außer natürlich, A. war Toby Cavanaugh. Doch das ergab keinen Sinn. A.s Nachrichten an Spencer betrafen ein Geheimnis, von dem nur Ali wusste: Damals, in der siebten Klasse, hatte Spencer Ian, den Freund ihrer Schwester Melissa, geküsst. Spencer hatte das nur Ali anvertraut, sonst niemandem. Und A. wusste auch von Wren, der gerade Melissas jüngster Exfreund geworden war, nachdem Spencer mit ihm letzte Woche mehr angestellt hatte, als nur einen Kuss zu tauschen.
Andererseits wohnten die Cavanaughs in Spencers Straße. Wenn Toby ein Fernglas besaß, konnte er möglicherweise in ihr Schlafzimmer sehen. Und: Toby war in Rosewood, obwohl es September war. Sollte er da eigentlich nicht längst wieder in seiner Besserungsanstalt sein?
Spencer parkte auf dem gepflasterten Parkplatz der Rosewood Day. Ihre Freundinnen hatten sich bereits bei dem Kletterschloss auf dem Spielplatz der Grundschule versammelt. Es war ein schönes Schloss aus Holz, mit Türmen, Flaggen und einer Rutsche in Drachenform. Der Parkplatz war leer, die Gehwege verlassen und die Sportplätze ausgestorben. Die ganze Schule hatte wegen Alis Totenmesse geschlossen.
»Ihr alle habt also auch Nachrichten von A. bekommen?«, fragte Hanna, als Spencer sich zu ihnen gesellt hatte. Alle hielten ihre Handys in der Hand und starrten auf die Ich-weiß-alles -SMS.
»Ich habe noch zwei andere bekommen«, sagte Emily zögernd. »Ich dachte, sie seien von Ali.«
»Ich auch!«, keuchte Hanna und hielt sich am Kletterturm fest. Aria und Spencer nickten ebenfalls. Sie sahen sich reihum mit großen, verängstigten Augen an.
»Was stand in den Nachrichten?« Spencer schaute Emily an.
Die schob sich verlegen eine rotblonde Strähne aus der Stirn. »Das war … etwas Persönliches.«
Spencer war so überrascht, dass sie laut auflachte. »Du hast doch keine Geheimnisse, Em!« Emily war das liebste, bravste Mädchen auf dem Planeten.
Emily wirkte verletzt. »Nun, offenbar doch.«
»Oh.« Spencer ließ sich auf eine der Stufen sinken, die zur Rutsche hinaufführten. Sie atmete tief ein und erwartete, Mulch und Sägemehl zu riechen. Stattdessen roch es plötzlich nach verbranntem Haar – wie in der Nacht von Jennas Unfall. »Was ist mit dir, Hanna?«
Hanna rümpfte ihr zierliches Näschen. »Wenn Emily nichts sagt, erzähle ich auch nichts. Es ging um etwas, das nur Ali wusste.«
»Das Gleiche gilt für mich«, sagte Aria schnell. Sie senkte den Blick. »Sorry.«
Spencer spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. »Also habt ihr alle Geheimnisse, von denen nur Ali wusste?«
Alle nickten und Spencer schnaubte verächtlich. »Waren wir nicht mal Freundinnen?«
Aria wandte sich stirnrunzelnd an Spencer. »Was stand denn in deinen SMS?«
Spencer hielt ihr Ian-Geheimnis für nicht sonderlich skandalös, zumindest nicht im Vergleich zu dem, was sie über die Jenna-Sache wusste. Aber jetzt hatte sie keine Lust mehr, darüber zu reden. »Es ist ein Geheimnis, das nur Ali kannte, genau wie bei euch.« Sie klemmte sich eine lange blonde Haarsträhne hinters Ohr. »Aber A. hat auch auf etwas angespielt, das jetzt, ganz frisch passiert ist. Ich hatte das Gefühl, dass mich jemand beobachtet.«
Arias eisblaue Augen weiteten sich. »Ich auch.«
»Also gibt es jemanden, der uns alle beobachtet«, flüsterte Emily. Ein Marienkäfer landete auf ihrer Schulter und sie zuckte zusammen und schüttelte ihn fast panisch ab.
Spencer stand auf. »Meint ihr, es ist vielleicht … Toby?«
Die anderen schauten sie überrascht an. »Wie kommst du auf Toby?«, fragte Aria.
»Er ist Teil der Jenna-Sache«, sagte Spencer vorsichtig. »Was, wenn er Bescheid weiß?«
Aria deutete auf die SMS auf ihrem Treo. »Glaubst du wirklich, da geht es um … die Jenna-Sache?«
Spencer leckte sich die Lippen. Sag es ihnen! »Wir wissen immer noch nicht, warum Toby die Schuld auf sich genommen hat«, wagte sie sich vor, um zu testen, wie die anderen darauf reagieren würden.
Hanna dachte kurz nach. »Toby könnte nur Bescheid wissen, wenn eine von uns geplaudert hätte.« Sie sah die Mädchen misstrauisch an. »Ich habe nichts gesagt.«
»Ich auch nicht«, sagten Aria und Emily wie aus einem Mund.
»Und wenn er es auf andere Art herausgefunden hat?«, fragte Spencer.
»Du meinst, jemand anders hat Ali vielleicht damals beobachtet und es dann Toby gesteckt?«, überlegte Aria. »Oder er hat sie selbst gesehen?«
»Nein … ich meine …, ach, keine Ahnung«, sagte Spencer. »Das sind nur so Gedanken.«
Sag es ihnen!, dachte Spencer wieder. Aber sie konnte nicht. Alle sahen sich wieder genauso misstrauisch an wie direkt nach Alis Verschwinden, als ihre Freundschaft kaputtgegangen war. Wenn Spencer ihnen die Wahrheit über Toby erzählte, würden die anderen sie dafür verabscheuen, dass sie bei der Polizei nach Alis Verschwinden nicht damit herausgerückt hatte. Womöglich gaben sie ihr sogar die Schuld an Alis Tod. Und vielleicht hatten sie sogar recht damit. Was, wenn Toby sich tatsächlich … gerächt hatte? »Ich habe nur laut gedacht«, hörte sie sich selbst sagen. »Das ist wahrscheinlich alles Quatsch.«
»Ali hat gesagt, außer uns wüsste niemand davon«, warf Emily mit feuchten Augen ein. »Sie hat es uns geschworen. Erinnert ihr euch?«
»Außerdem, woher sollte Toby so viel über uns wissen?«, fügte Hanna hinzu. »Ich würde eher auf eine alte Hockeykollegin von Ali tippen, oder auf ihren Bruder, auf irgendjemanden, mit dem sie sich abgegeben hat. Toby dagegen konnte sie nicht ausstehen. Wir konnten ihn alle nicht ausstehen.«
»Ihr habt sicher recht«, sagte Spencer achselzuckend. Sobald die Worte ihren Mund verlassen hatten, entspannte sie sich. Sie machte sich einen Kopf wegen nichts.
Alles war still, fast zu still. In der Nähe knackte ein Zweig und Spencer wirbelte herum. Die Schaukeln schwangen, als sei jemand gerade abgesprungen. Ein brauner Vogel auf dem Dach der Rosewood-Day-Grundschule starrte sie an, als wisse auch er über sie Bescheid.
»Ich glaube, da wollte uns nur jemand Angst machen«, flüsterte Aria.
»Bestimmt«, pflichtete Emily ihr bei, aber sie klang nicht überzeugt.
»Und wenn wir wieder Nachrichten bekommen?« Hanna zog ihr kurzes schwarzes Kleid über ihre schlanken Schenkel. »Ich meine, wir sollten schon herausfinden, wer dahintersteckt.«
»Lasst uns telefonieren, wenn eine von uns noch mal eine Nachricht bekommt«, schlug Spencer vor, »dann versuchen wir, die Puzzlestücke zusammenzusetzen. Aber wir sollten nicht, na ja, den Kopf verlieren. Ich denke, wir sollten uns keine übertriebenen Sorgen machen.«
»Ich mache mir keine Sorgen«, behauptete Hanna schnell.
»Ich auch nicht«, sagten Aria und Emily gleichzeitig.
Aber als auf der Hauptstraße eine Hupe ertönte, zuckten alle zusammen.
»Hanna!« Mona Vanderwaal, Hannas beste Freundin, streckte ihren hellblonden Kopf aus dem Fenster eines gelben Hummer H3. Sie trug eine große, rosa getönte Pilotenbrille.
Hanna sah die anderen ohne Bedauern an. »Ich muss los«, murmelte sie und rannte den Hügel hinauf.
In den vergangenen Jahren hatte Hanna sich neu erfunden und sich in eines der hipsten Mädchen von Rosewood verwandelt. Sie hatte abgenommen, ihr Haar in einem sexy Kastanienbraun gefärbt, sich eine Designer-Garderobe zugelegt, und nun stolzierte sie mit Mona Vanderwaal – einer ebenfalls zum schillernden Star transformierten Nulpe – durch die Schule, als sei sie zu gut für alle anderen. Spencer fragte sich, was wohl Hannas großes Geheimnis sein mochte.
»Ich sollte auch los.« Aria rückte ihre violette Beuteltasche zurecht. »Ähm, ich ruf euch an.«
Spencer blieb bei dem Kletterschloss zurück, genau wie Emily, deren normalerweise fröhliches Gesicht traurig und müde wirkte. Spencer legte die Hand auf Emilys sommersprossigen Arm. »Alles in Ordnung?«
Emily schüttelte den Kopf. »Ali ist …«
»Ich weiß.«
Sie umarmten sich linkisch, dann hastete Emily in Richtung Wald davon. Sie sagte, sie werde die Abkürzung nach Hause nehmen. Obwohl zwischen den Mädchen seit Jahren Funkstille geherrscht hatte und sie nicht miteinander gesprochen hatten, selbst wenn sie im Unterricht nebeneinander saßen oder sich in der Mädchentoilette begegneten, wusste Spencer genau, wie jede ihrer drei ehemals besten Freundinnen tickte. Sie kannte die Feinheiten ihrer Persönlichkeiten so gut, wie es nur sehr enge Freunde tun. Natürlich wusste sie, dass Emily Alis Tod besonders schwer nahm. Sie hatten Em früher den Spitznamen »Killer« gegeben, weil sie Ali immer wie ein eifersüchtiger Pittbull verteidigte.
Spencer sank in den Ledersitz ihres Autos und drehte das Radio an. Sie suchte, bis sie 610 AM, Philadelphias Sport sender, fand. Es beruhigte sie komischerweise, wenn von Testosteron befeuerte Männer Fakten und Statistiken über Baseball- und Basketballmannschaften bellten. Sie hatte gehofft, im Gespräch mit ihren alten Freundinnen würde sich manches klären, aber nun war alles nur noch … Ja, wie eigentlich? Die Suche nach einer passenden Umschreibung brachte sogar das Sprachgenie Spencer ins Rudern. Verworrener? Verrückter?
Als ihr Handy in der Tasche vibrierte, nahm sie es, ohne groß nachzudenken, heraus. Das war wahrscheinlich Emily. Oder Aria, vielleicht sogar Hanna. Spencer runzelte die Stirn und öffnete die Nachricht.
Spence, ich verstehe, dass du ihnen unser kleines Geheimnis über Toby nicht erzählt hast. Die Wahrheit kann gefährlich sein – und du willst doch sicher nicht, dass den Mädels etwas zustößt, oder? – A.
HANNA VERSION 2.0
Mona Vanderwaal stellte den Hummer ihrer Eltern auf PARKEN, ließ aber den Motor laufen. Sie warf ihr Handy in ihre riesige cognacfarbene Lauren-Merkin-Umhängetasche und grinste ihre beste Freundin Hanna an. »Ich habe versucht, dich anzurufen.«
Hanna blieb misstrauisch auf dem Gehweg stehen. »Warum bist du hier?«
»Wovon sprichst du?«
»Ich habe dich nicht gebeten, mich abzuholen.« Zitternd deutete Hanna auf ihren Toyota Prius. »Mein Auto steht gleich da drüben. Hat dir jemand gesagt, dass ich hier bin?«
Mona wickelte eine lange weißblonde Haarsträhne um ihren Finger. »Ich bin auf dem Heimweg von der Kirche, du Spinnerin. Ich habe dich gesehen und bin hergefahren.« Sie kicherte. »Hast du deiner Mutter ein Valium geklaut? Du siehst ziemlich fertig aus.«
Hanna zog eine Camel Ultra Light aus der Schachtel in ihrer schwarzen Prada-Tasche und zündete sie an. Natürlich war sie fertig. Ihre ehemals beste Freundin war ermordet worden und seit einer Woche schickte ihr jemand namens A. gruselige Nachrichten. Jeden Moment des heutigen Tages – beim Umziehen für Alisons Messe, als sie im Supermarkt eine Diet Coke gekauft hatte, beim Einbiegen auf die Schnellstraße, die zur Rosewood Abbey führte – hatte sie das Gefühl gehabt, dass jemand sie beobachtete. »Ich habe dich in der Kirche gar nicht gesehen«, murmelte sie.
Mona nahm ihre Sonnenbrille ab und musterte sie mit ihren runden blauen Augen. »Du hast mich direkt angeschaut. Ich habe dir zugewunken. Jetzt erzähl mir nicht, du weißt das nicht mehr!«
Hanna zuckte die Achseln. »Ich … erinnere mich nicht.«
»Tja, dann warst wohl zu sehr mit deinen alten Freundinnen beschäftigt«, bemerkte Mona spitz.
Hanna schwieg verlegen. Ihre alten Freundinnen waren ein Tabuthema zwischen ihnen – vor endlos langer Zeit hatte Mona zu den Mädchen gehört, die von Ali, Hanna und den anderen gehänselt wurden. Und nach Jennas Unfall war Mona das einsame Lieblingsobjekt ihres Spottes. »Sorry. Es war ziemlich voll da.«
»Dabei habe mich bestimmt nicht versteckt«, sagte Mona in verletztem Ton. »Ich saß direkt hinter Sean.«
Hanna atmete scharf ein. Sean.
Sean Ackard war seit letztem Freitag ihr Exfreund – ihre Beziehung war auf Noel Kahns Party implodiert. Hanna hatte entschieden, an jenem Partyfreitag ihre Jungfräulichkeit an Sean zu verlieren, aber kaum hatte sie ihm das deutlich zu verstehen gegeben, da hatte er sie abserviert und ihr eine Predigt über Respekt vor dem eigenen Körper gehalten. Aus Rache hatte Hanna sich den BMW der Ackards für eine kleine Spritztour mit Mona geschnappt und das Auto auf dem Highway gegen einen Telefonmasten gesetzt.
Mona drückte mit ihrem Pumps auf das Gaspedal des Hummers und ließ den hochzylindrigen Motor aufheulen. »Hör zu. Notfall. Wir haben noch keine Dates.«
»Wofür?« Hanna blinzelte.
Mona hob eine perfekt gezupfte Augenbraue. »Erde an Hanna? Für Foxy! Dieses Wochenende. Jetzt, wo du Sean abgesägt hast, kannst du endlich mit jemand Coolem dort aufkreuzen.«
Hanna starrte auf den Löwenzahn, der aus den Rissen im Asphalt wuchs. Foxy war der jährliche Wohltätigkeitsball der »jungen Mitglieder der Rosewooder Gesellschaft« und wurde vom Rosewooder Fuchsjagdverein ausgerichtet, daher auch der Spitzname. Für flockige 250 Dollar, die an eine vom Verein bestimmte wohltätige Einrichtung flossen, gab es Dinner, Tanz und die Möglichkeit, das eigene Foto im Philadelphia Enquirer oder im Internet auf dem Society-Blog der Gegend zu bewundern. Außerdem war Foxy eine exzellente Gelegenheit, sich richtig in Schale zu werfen, einen aufzutrinken und sich den Freund einer anderen anzulachen. Hanna hatte ihr Ticket schon im Juli gekauft und geglaubt, mit Sean dort anzurauschen. »Ich will eigentlich gar nicht hin«, murmelte sie verdrossen.
»Natürlich gehst du hin!« Mona verdrehte die Augen und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Hey, ruf mich einfach an, wenn die Tabletten nicht mehr wirken, okay?« Sie stellte die Automatik auf DRIVE und schoss davon.
Hanna lief langsam zu ihrem Prius. Die anderen waren weg und ihr silbernes Auto wirkte auf dem leeren Parkplatz sehr verlassen. Ein unbehagliches Gefühl nagte an ihr. Mona war ihre beste Freundin, aber Hanna hatte gerade eine Unmenge Geheimnisse vor ihr. Da waren zum Beispiel die gruseligen SMS. Oder der Umstand, dass sie am Samstagmorgen wegen des Diebstahls von Seans Auto verhaftet worden war. Oder dass Sean sie abgesägt hatte, und nicht anders herum. Sean war so diplomatisch, dass er seinen Freunden nur gesagt hatte, sie hätten sich »beide gegen eine feste Beziehung entschieden«. Hanna war sicher, die Geschichte so zu ihrem Vorteil umbiegen zu können, dass niemand jemals die Wahrheit erfahren musste.
Doch wenn sie Mona davon erzählte, würde das ihrer Freundin nur zeigen, dass Hannas Leben allmählich außer Kontrolle geriet. Hanna und Mona hatten sich gemeinsam neu erfunden, und ihre oberste Regel als regierende Diven der Schule lautete: Sie mussten stets perfekt sein. Das bedeutete, klapperdürr zu bleiben, die neuesten Jeans vor allen anderen zu tragen und niemals die Kontrolle zu verlieren. Jede Unsicherheit, jeder kleinste Patzer konnte den sofortigen Rückfall in den Alptraum Uncoolness bedeuten, und dorthin wollten sie nicht zurück. Niemals. Also musste Hanna so tun, als sei in der vergangenen Woche gar nichts Schlimmes passiert, obwohl das absolute Gegenteil der Fall war.
Sie parkte vor ihrem Haus, einem riesigen georgianischen Ziegelmonster mit Aussicht auf den Mount Kale. Sie sah in den Rückspiegel und zuckte entsetzt zurück. Ihre Haut war fleckig und fettig, ihre Poren wirkten riesig. Sie beugte sich näher zum Spiegel und auf einmal … war ihre Haut wieder makellos. Bevor sie aus dem Auto stieg, holte sie einige Male tief Luft. Solche Halluzinationen hatte sie in letzter Zeit ein bisschen zu oft gehabt.
Zitterig schlich sie sich ins Haus und ging zur Küche. Als sie eintrat, erstarrte sie.
Am Küchentisch saß ihre Mutter vor einem Teller Käse und Cracker. Ihr rotgoldenes Haar war zu einem Chignon aufgesteckt und ihre mit Diamanten besetzte Chopard-Uhr glitzerte in der Nachmittagssonne. Im Ohr hatte sie ihr drahtloses Headset.
Und neben ihr … saß Hannas Vater.
»Wir haben auf dich gewartet«, sagte ihr Dad.
Hanna wich einen Schritt zurück. Seine Haare waren stärker ergraut, und er trug eine neue Brille, aber sonst sah er noch genauso aus wie früher: groß, von Lachfältchen umkränzte Augen, blaues Polohemd. Auch seine Stimme war dieselbe. Tief und ruhig wie die eines Nachrichtensprechers im Radio. Hanna hatte ihn seit dreieinhalb Jahren weder gesehen noch mit ihm gesprochen. »Was machst du hier?«, platzte sie heraus.
»Ich war geschäftlich in Philadelphia«, sagte Mr Marin, und bei dem Wort geschäftlich vibrierte seine Stimme vor Nervosität. Er nahm seine Dobermann-Kaffeetasse und trank. Aus dieser Tasse hatte er auch früher immer seinen Kaffee getrunken, als er noch bei ihnen lebte, und Hanna fragte sich, in welchem Schrank er sie wohl aufgestöbert hatte.
»Deine Mom hat mich angerufen und mir das mit Alison erzählt. Es tut mir so leid, Hanna.«
»Ja«, krächzte Hanna. Ihr war schwindelig.
»Willst du darüber reden?« Ihre Mom knabberte an einem Stück Käse.
Hanna neigte verwirrt den Kopf zur Seite. Das Verhältnis zwischen ihr und ihrer Mutter war eigentlich eher wie das zwischen Chefin und Praktikantin. Wie Mutter und Tochter verhielten sie sich nie. Ashley Marin hatte sich bei Philadelphias Werbeagentur McManus & Tate verbissen die Karriereleiter hinaufgekämpft und behandelte alle Menschen wie Angestellte. Hanna konnte sich nicht daran erinnern, wann ihre Mutter ihr das letzte Mal eine emotionale Frage gestellt hatte. Womöglich war es das erste Mal. »Äh, schon in Ordnung. Aber danke sehr«, sagte sie ein bisschen schnippisch.
Die beiden konnten ihr ja wohl kaum vorwerfen, dass sie etwas verbittert war, oder? Nach der Scheidung war ihr Vater nach Annapolis gezogen, hatte eine Beziehung mit einer Frau namens Isabel begonnen und eine wunderschöne Quasi-Stieftochter namens Kate geerbt. Er schloss Hanna so eindeutig von seinem neuen Leben aus, dass sie ihn nur einmal besucht hatte. Und angerufen oder gemailt hatte er seit Jahren nicht. Er schickte ihr noch nicht einmal mehr Geburtstagsgeschenke – nur Schecks.
Ihr Vater seufzte. »Heute ist wahrscheinlich nicht der beste Tag, um darüber zu reden.«
Hanna beäugte ihn misstrauisch. »Um worüber zu reden?«
Mr Marin räusperte sich. »Nun, deine Mom hat mich noch aus einem anderen Grund angerufen.« Er senkte den Blick. »Das Auto.«
Hanna runzelte die Stirn. Das Auto? Welches Auto? Oh.
»Es ist schlimm genug, dass du Mr Ackards Auto gestohlen hast«, sagte ihr Vater. »Doch du hast außerdem Fahrerflucht begangen.«
Hanna sah ihre Mutter an. »Ich dachte, das sei alles geregelt?«
»Es ist gar nichts geregelt.« Ms Marin starrte sie warnend an.
Ah, das sah für mich aber anders aus, hätte Hanna am liebsten gesagt. Als die Bullen sie am Samstag gehen ließen, hatte Ms Marin geheimnisvoll angedeutet, sie hätte »sich mit den Cops arrangiert« und Hanna hätte nichts zu befürchten. Was sie damit gemeint hatte, klärte sich auf, als Hanna ihre Mutter am folgenden Abend mit dem jungen Polizeibeamten Darren Wilden beinahe in flagranti im Flur erwischt hatte.
»Das ist mein Ernst«, sagte Ms Marin, und Hanna hörte auf zu grinsen. »Die Polizei wird die Sache nicht weiter verfolgen, ja, aber da bleibt immer noch dein merkwürdiges Verhalten, Hanna. Zuerst klaust du bei Tiffany, und jetzt das. Ich wusste nicht mehr weiter, also habe ich deinen Vater angerufen.«
Hanna starrte auf den Käseteller, zu beschämt, um ihren Eltern in die Augen zu schauen. Ihre Mutter hatte ihrem Vater auch erzählt, dass sie beim Klauen erwischt worden war?
Mr Marin räusperte sich. »Die Anzeige wurde zwar fallen gelassen, aber Mr Ackard besteht auf einer außergerichtlichen Bereinigung der Angelegenheit.«
Hanna biss sich auf die Wange. »Zahlt so was nicht die Versicherung?«
»Darum geht es nicht«, antwortete Mr Marin. »Mr Ackard hat deiner Mutter ein Angebot gemacht.«
»Seans Vater ist plastischer Chirurg«, erklärte ihre Mutter. »Besonders engagiert er sich für eine Reha-Klinik für Verbrennungsopfer. Er will, dass du dort morgen um halb vier zur Arbeit antrittst.«
Hanna rümpfte die Nase. »Können wir ihm nicht einfach das Geld geben?«
Ms Marins winziges Handy klingelte. »Ich glaube, in der Klinik mit anzupacken, ist eine sinnvolle Erfahrung für dich. Du leistest etwas Gutes für die Gemeinschaft, und du kannst dir darüber klar werden, was du getan hast.«
»Aber das weiß ich doch längst!« Hanna Marin wollte ihre kostbare Freizeit nicht in einer Verbrennungsklinik vergeuden. Wenn sie schon Arbeitsdienst schieben musste, warum dann nicht in einer trendigen Organisation? In der UNO beispielsweise, zusammen mit Nicole Richie und Angelina Jolie?
»Es steht nicht mehr zur Diskussion«, sagte Ms Marin brüsk. Dann brüllte sie in ihr Telefon: »Carson? Sind die Muster fertig?«
Hanna presste die Fingernägel in die Handballen. Offen gesagt wollte sie nur nach oben, diesen schwarzen Fummel ausziehen – sahen ihre Oberschenkel darin wirklich so fett aus oder wirkte das nur in den Glastüren zur Veranda so? -, ihr Make-up auffrischen, zweieinhalb Kilo verlieren und sich einen Schuss Wodka reinpfeifen. Danach würde sie zurück in die Küche kommen und sich neu vorstellen.
Hanna schielte zu ihrem Vater und er lächelte ihr zaghaft zu. Ihr Herz hüpfte. Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, aber dann klingelte sein Handy. Er hielt einen Finger hoch, um ihr zu signalisieren, dass sie warten sollte. Dann nahm er das Gespräch entgegen. »Kate?«, fragte er in den Hörer.
Hannas sank das Herz in die Knie. Kate. Die wunderschöne, perfekte Quasi-Stiefschwester.
Ihr Vater klemmte das Handy unters Kinn. »Hi! Wie war dein Cross-Country-Lauf?« Er lauschte, dann strahlte er. »Weniger als achtzehn Minuten? Wahnsinn!«
Hanna schnappte sich ein Brocken Cheddar vom Käseteller. Bei ihrem Besuch in Annapolis hatte Kate sie keines Blickes gewürdigt. Ali, die eigentlich mitgekommen war, um Hanna moralisch zu unterstützen, hatte mit Kate sofort eine Wir-sind-hübsche-Mädchen-Freundschaft geschlossen, und dann hatten die beiden Hanna einfach links liegen gelassen. Hanna hatte das dazu gebracht, alles Essbare im Umkreis von einem Kilometer zu vertilgen, denn damals war sie ja noch fett und hässlich gewesen und hatte hemmungslos gefressen, wenn sie unglücklich war. Als sie sich nach ihrem Fressanfall den qualvoll angeschwollenen Bauch gehalten und gestöhnt hatte, da hatte ihr Vater sie in den kleinen Zeh gezwickt und gefragt: »Na, hat das kleine Schweinchen zu viel gefuttert?« Vor allen anderen! Danach war Hanna ins Badezimmer geflüchtet und hatte sich eine Zahnbürste in den Hals gesteckt.
Der Brocken Cheddar schwebte vor Hannas Mund. Sie atmete tief durch, wickelte ihn in eine Serviette und warf ihn in den Müll. All das war vor langer, langer Zeit passiert, als sie noch eine andere Hanna-Version gewesen war. Eine, von der nur Ali wusste, und die Hanna längst aus dem System geschmissen und durch eine neue, perfekte Version ersetzt hatte.
KANN MAN HIER IRGENDWO MITGLIED BEI DEN AMISH WERDEN?
Emily Fields stand vor dem Gray Horse Inn, einem alten Steinhaus, das im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg als Krankenhaus gedient hatte. Der aktuelle Pächter hatte die oberen Stockwerke in ein Gästehaus für reiche Städter verwandelt und betrieb im Erdgeschoss ein Bio-Café. Emily spähte durch die Fenster des Lokals und entdeckte Mitschüler mit ihren Familien, die Lachsbagels, italienische Sandwiches und riesige Portionen Salat verschlangen. Alle schienen nach der Messe für Ali schrecklichen Hunger zu verspüren.
»Du hast es geschafft.«