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Sie verlieren ihre Freundin, werden von einem mysteriösen Stalker verfolgt und entrinnen nur knapp dem Tod – doch das hindert Aria, Spencer, Hanna und Emily garantiert nicht an ihrem ganz großen Auftritt! Die Drama-Queens lieben ihn einfach, den Glamour, den Glitzer, den unerhörten Skandal. Bis ihnen genau das zum Verhängnis wird – denn es gibt jemanden, der weiß, was letzten Spring Break auf Jamaica passiert ist …
Ein fesselnde Pagteturner mit Kultstatus - bei den "Pretty Little Liars" ist Suchtgefahr garantiert! Diese Reihe bietet eine unwiderstehliche Mischung für Fans von jeder Menge Glamour und tödlichen Intrigen.
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Seitenzahl: 367
DIE AUTORIN
Foto: © Daniel Snyder
Sara Shepard hat an der New York University studiert und am Brooklyn College ihren Magisterabschluss im Fach Kreatives Schreiben gemacht. Sie wuchs in einem Vorort von Philadelphia auf, wo sie auch heute lebt. Ihre Jugend dort hat die »Pretty Little Liars«-Serie inspiriert, die in 22 Länder verkauft wurde und die, ebenso wie ihre Reihe »Lying Game«, zum New York Times Bestseller wurde. Inzwischen wird »Pretty Little Liars« mit großem Erfolg als TV-Serie bei ABC gesendet. In Deutschland wird »Pretty Little Liars« seit Mai 2014 auf Super RTL gezeigt.
Von der Autorin sind außerdem bei cbt erschienen:
Pretty Little Liars – Unschuldig (Band 1)
Pretty Little Liars – Makellos (Band 2)
Pretty Little Liars – Vollkommen (Band 3)
Pretty Little Liars – Unvergleichlich (Band 4)
Pretty Little Liars – Teuflisch (Band 5)
Pretty Little Liars – Mörderisch (Band 6)
Pretty Little Liars – Herzlos (Band 7)
Pretty Little Liars – Vogelfrei (Band 8)
Lying Game – Und raus bist du (Band 1)
Lying Game – Weg bist du noch lange nicht (Band 2)
Lying Game – Mein Herz ist rein (Band 3)
Lying Game – Wo ist nur mein Schatz geblieben? (Band 4)
Lying Game – Sag mir erst, wie kalt du bist (Band 5)
Lying Game – Und du musst gehen (Band 6)
Sara Shepard
Aus dem Englischen
von Ursula Held
Für alle Pretty-Little-Liars-Leser und Fans
Wer auf Rache aus ist, der grabe zwei Gräber.
Konfuzius
EWIGE FREUNDSCHAFT
Kennst du jemanden, der sieben Leben hat? Wie dieser Tarzan, der sich letzten Sommer sieben Knochen gebrochen hat und trotzdem die Torliste in seinem Lacrosse-Team anführt? Oder diese Bitch, die in Erdkunde neben dir saß, in sämtlichen Tests gemogelt und mit allen ihr falsches Spiel gespielt hat und doch immer elegant gelandet ist? Miau.
Auch Freundschaften können sieben Leben haben. Oder was ist mit dem Jungen, mit dem du dich verkracht hattest und mit dem du dann über zwei Jahre echt eng warst? Oder deiner so überredungsstarken besten Freundin, der du immer wieder verziehen hast? Sie war für dich doch nie wirklich gestorben, oder? Obwohl es wahrscheinlich besser gewesen wäre.
Vier hübsche Mädchen aus Rosewood jedenfalls treffen eine alte Freundfeindin wieder, von der sie dachten, sie wäre in Flammen aufgegangen. Aber eigentlich müssten sie wissen, dass in Rosewood nichts jemals vorbei ist. Manche längst verloren geglaubte beste Freundin lebt weiter, bis sie bekommt, was sie will:
Rache.
• • •
»Die Letzte, die von den Klippen springt, zahlt das Abendessen!« Spencer Hastings machte einen Doppelknoten in die Schnüre ihres Ralph-Lauren-Bikinis und rannte zum Rand der Felsen – sie ragten über das schönste blaue Meer, das sie je gesehen hatte. Und das sollte was heißen, denn Familie Hastings hatte praktisch jede karibische Insel bereist – selbst die kleinen, die nur mit einem Privatflugzeug erreichbar sind.
»Bin schon da!«, rief Aria Montgomery, warf ihre Havaianas-Flipflops von sich und drehte ihre langen blauschwarzen Haare zu einem Knoten. Die baumelnden Armbänder an beiden Handgelenken und ihre Federohrringe ließ sie an.
»Aus dem Weg!« Hanna Marin strich sich über ihre schmalen Hüften – die hoffentlich immer noch schmal waren nach dem Riesenteller frittierten Muscheln, den sie sich zur Begrüßung an der jamaikanischen Fischbude gegönnt hatte.
Emily Fields war die Letzte. Sie legte ihr T-Shirt auf einen großen, flachen Stein. Als sie dann am Rand der Klippen stand und hinuntersah, wurde ihr mulmig. Sie blieb stehen, legte die Hand auf den Mund und wartete, bis das Gefühl vorbeiging.
Die Mädchen sprangen von der Klippe und landeten alle zugleich im warmen tropischen Meer. Sie tauchten lachend auf – alle hatten sie gewonnen, oder eben verloren – und blickten zurück auf The Cliffs, das jamaikanische Urlaubsresort hoch über ihnen. Das rosafarbene, stuckgeschmückte Gebäude, das die Gästezimmer, ein Yogastudio, einen Tanzklub und einen Wellnessbereich beherbergte, ragte bis in die Wolken, und mehrere Gäste lagen auf den schattigen Balkonen oder schlürften Cocktails auf der Terrasse. Palmen rauschten im Wind, die Inselvögel krächzten. Leise waberte eine Steeldrum-Version von Bob Marleys »Redemption Song« herüber.
»Paradiesisch«, flüsterte Spencer. Die anderen murmelten zustimmend.
Das hier war der perfekte Ort für ihren Spring Break, und das komplette Gegenteil von Rosewood in Pennsylvania, wo die Mädchen sonst lebten. Natürlich, der Vorort von Philadelphia war postkartentauglich, mit dichten grünen Wäldern, teuren Herrenhäusern, idyllischen Reitwegen, urigen alten Scheunen und verfallenen Anwesen aus dem 17. Jahrhundert. Aber nach dem, was zwei Monate zuvor geschehen war, mussten die Mädchen dringend einmal etwas anderes sehen. Sie mussten vergessen, dass Alison DiLaurentis – das Mädchen, das sie einst so bewundert hatten, dem sie alle nachgeeifert hatten – sie beinahe umgebracht hatte.
Doch Vergessen war nicht möglich. Obwohl schon einige Zeit seit den Ereignissen vergangen war, wurden die Mädchen von Erinnerungen geplagt, und immer wieder tauchten plötzlich Bilder auf wie Gespenster. Etwa wie Alison sie an den Händen gefasst und beteuert hatte, sie wäre nicht ihre Zwillingsschwester Courtney, wie die Eltern behaupteten, sondern immer noch die beste Freundin der vier, die von den Toten zurückgekehrt sei. Oder wie Ali sie ins Haus ihrer Familie in den Pocono Mountains eingeladen hatte, zur Wiedersehensfeier, wie sie sagte. Kurz nachdem sie dort angekommen waren, hatte Ali sie in ein Schlafzimmer in der ersten Etage geführt und sie angefleht, sie noch einmal hypnotisieren zu dürfen, so wie an dem Abend damals, als sie in der siebten Klasse verschwunden war. Dann hatte sie die Tür zugeworfen, von außen abgeschlossen und unter dem Schlitz einen Zettel durchgeschoben, auf dem sie verriet, wer sie war … und wer sie nicht war.
Sie nannte sich zwar Ali, ja. Aber wie sich herausstellte, waren sie nicht mit der richtigen Ali befreundet gewesen. Das Mädchen, das diesen Zettel in dem Haus in den Bergen geschrieben hatte, war nicht dasselbe Mädchen, das Spencer, Aria, Emily und Hanna beim Rosewood-Day-Wohltätigkeitsflohmarkt angesprochen hatte. Sie war auch nicht das Mädchen, mit dem sie anderthalb Jahre Klamotten getauscht, getratscht, gewetteifert und das sie angehimmelt hatten. Das war Courtney gewesen, die sich als Ali ausgab und kurz nach Beginn der sechsten Klasse in ihr Leben getreten war. Die echte Ali war eine Unbekannte. Sie war A., die Absenderin unheimlicher Textnachrichten, die Ian Thomas getötet und den Wald hinter Spencers Haus abgebrannt hatte. Die dafür gesorgt hatte, dass die Mädchen verhaftet wurden; die Jenna Cavanaugh ermordet hatte, weil die zu viel wusste, und ihre Zwillingsschwester Courtney – ihre Ali – in jener verhängnisvollen Nacht, als die Mädchen nach Abschluss der siebten Klasse ihre Pyjamaparty gefeiert hatten. Und jetzt wollte sie auch die anderen ausschalten.
Die Mädchen hatten gerade die letzte Zeile der Nachricht gelesen, als ihnen Rauch in die Nase stieg – die echte Ali hatte das Gas aufgedreht und ein Streichholz gezündet. Sie hatten sich knapp retten können, aber Ali hatte weniger Glück gehabt. Als die Berghütte explodierte, war Ali noch drinnen gewesen.
Aber stimmte das wirklich? Es kursierten eine Menge Gerüchte, laut denen sie lebend da rausgekommen war. Die ganze Geschichte war jetzt öffentlich, auch der Zwillingstausch, und obwohl sie eine kaltblütige Killerin war, waren doch viele Menschen immer noch fasziniert von der echten Ali. Es hieß, man habe Ali in Denver, in Minneapolis, in Palm Springs gesehen. Die Mädchen schlossen diesen Gedanken aber aus. Sie mussten weitermachen. Es gab nichts mehr, wovor sie Angst haben mussten.
Zwei Gestalten erschienen oben am Rand der Klippen. Eine war Noel Kahn, Arias Freund; der andere Mike Montgomery, Arias Bruder und Hannas Freund. Die Mädchen kraulten zu den in den Felsen gehauenen Stufen.
Noel reichte Aria ein großes flauschiges Badetuch, in das am unteren Rand THE CLIFFS, NEGRIL, JAMAIKA rot eingestickt war. »Du siehst echt sexy aus in dem Bikini.«
»Ja, klar.« Aria senkte den Blick und starrte auf ihre bleichen Beine. So heiß wie die blonde Göttin unten am Strand, die sich den ganzen Tag mit Sonnenöl eingerieben hatte, war sie sicher nicht. Hatte Noel diese Tussi nicht eben ausgiebig begutachtet, oder war sie wieder Opfer ihrer paranoiden Eifersucht?
»Ich mein’s ernst.« Noel kniff Aria in den Hintern. »Ich melde mich schon mal zum Nacktbaden an. Und auf Island steigen wir nackt in diese heißen Quellen.«
Aria wurde rot.
Noel gab ihr einen Stups mit dem Ellbogen. »Du freust dich doch auf Island, oder?«
»Ja, klar!« Noel hatte Aria mit Tickets nach Island überrascht, für sie und auch Hanna und Mike, alles auf Kosten der megareichen Familie Kahn. Aria konnte das nicht ablehnen – sie hatte drei wunderbare Jahre auf Island verbracht, nachdem Ali, ihre Ali, verschwunden war. Dennoch sträubte sich irgendwas in ihr gegen die Reise, irgendeine Ahnung, dass sie lieber zu Hause bleiben sollte. Warum, das war ihr nicht klar.
Die Mädchen schlüpften in ihre Sarongs, Strandkleider und, was Emily betraf, ein Oversize-T-Shirt mit dem Schriftzug MERCI BEAUCOUP auf der Brust, und anschließend führten Noel und Mike sie ins tropische Restaurant auf der Dachterrasse. Zahllose junge Leute, die ebenfalls ihre Ferien hier verbrachten, standen an der Bar, flirteten und kippten Drinks. In einer Ecke kicherte ein Mädchenknäuel in Miniröcken und hohen Riemchensandalen. Große, sonnenverbrannte Typen in Badeshorts und eng anliegenden Polos, barfuß in Turnschuhen, stießen mit ihren Bierflaschen an und redeten über Sport. In der Luft lag so ein Knistern, die prickelnde Aussicht auf schnelle Kontakte, vernebelte Erinnerungen und nächtliches Planschen im Salzwasserpool des Resorts.
Und da pulsierte noch etwas und die vier Mädchen spürten es sofort. Aufregung, Spannung, ja … aber auch ein Anflug von Gefahr. Es fühlte sich an wie einer dieser Abende, die wunderbar werden können … oder aber ein schreckliches Desaster.
Noel stellte sich an. »Was wollt ihr trinken?«
»Red Stripe«, antwortete Hanna. Spencer und Aria nickten beistimmend.
»Und Emily?«, wandte sich Noel an sie.
»Ich nehme nur ein Ginger Ale«, sagte Emily.
Spencer legte ihr die Hand auf den Arm. »Alles okay bei dir?« Emily war sicher kein Partytiger, aber es war schon komisch, dass sie nicht mal im Urlaub ein bisschen über die Stränge schlug.
Emily hielt sich die Hand vor den Mund. Sie stand umständlich auf und taumelte zur Toilette am anderen Ende. »Ich muss nur kurz …«
Alle beobachteten, wie sie sich durch die Menschen auf der Tanzfläche schlängelte und auf die pinkfarbene Toilettentür zusteuerte. Mike zuckte zusammen. »Ist das Montezumas Rache?«
»Keine Ahnung«, sagte Aria. Sie hatten alle darauf geachtet, hier auf der Insel kein Leitungswasser zu trinken. Aber Emily war seit dem Feuer nicht mehr sie selbst. Sie hatte Ali geliebt. Zu erleben, dass das Mädchen, das sie für ihre beste Freundin hielt, das offenbar doch genauso verknallt war wie sie selbst, ihr so das Herz brach und dann auch noch versuchte sie umzubringen, das musste für Emily eine Katastrophe gewesen sein.
Hannas Handy summte und durchbrach die Stille. Sie zog es aus ihrer Strandtasche aus Strohgeflecht und stöhnte. »Jetzt ist es offiziell. Mein Vater kandidiert für den Senat. Dieser Idiot aus seinem Wahlkampfteam will mich treffen, sobald ich zurück bin.«
»Echt?« Aria legte Hanna den Arm um die Schulter. »Ist doch toll!«
»Wenn er gewinnt, bist du First Daughter!«, meinte Spencer. »Und überall in der Presse!«
Mike schob seinen Stuhl zu Hanna heran. »Darf ich dann dein persönlicher Leibwächter sein?«
Hanna nahm eine Handvoll Bananenchips aus einer Schüssel auf dem Tisch und schob sie sich in den Mund. »Nein, ich werde nicht First Daughter. Wenn, dann Kate.« Die Stieftochter ihres Vaters und seine neue Frau waren seine neue Familie. Hanna und ihre Mutter waren die Verstoßenen.
Aria schlug Hanna leicht auf die Hand, sodass ihre Armreifen klimperten. »Du bist besser als sie und das weißt du.«
Hanna rollte verächtlich die Augen, aber sie war Aria dankbar für den Versuch, sie aufzuheitern. Ein Gutes hatte die Tragödie um Ali: Die vier waren wieder beste Freundinnen und noch vertrauter miteinander als in der siebten Klasse. Sie hatten sich geschworen, ewig Freundinnen zu bleiben. Nichts sollte mehr zwischen sie kommen.
Noel kam mit den Getränken, alle stießen an und riefen mit übertriebenem jamaikanischen Akzent: »Yeah Mon!«
Nach dem Essen gingen Noel und Mike zu einem Airhockey-Tisch in der Ecke und spielten. Der DJ drehte die Musik auf und aus den Lautsprechern wummerte Alicia Keys. Mehrere Leute wiegten sich zu den Rhythmen. Ein gut gebauter Typ mit welligen braunen Haaren fing Spencers Blick auf und lud sie mit einem Wink ein, auch auf die Tanzfläche zu kommen.
Aria stieß sie an. »Na los, Spence!«
Spencer wandte sich errötend ab. »Ärghs, wie schleimig!«
»Er sieht aus wie das perfekte Andrew-Heilmittel«, drängte Hanna. Andrew Campbell, Spencers Ex, hatte erst vor einem Monat mit ihr Schluss gemacht – offenbar waren Spencers Erlebnisse mit Ali und A. »einfach zu viel« für ihn. Schlappschwanz eben.
Spencer warf einen zweiten Blick auf den tanzenden Kerl. Also gut, in seinen langen Khakis und den schnürsenkellosen Segelschuhen sah er doch ganz süß aus. Dann entdeckte sie die Aufschrift auf seinem Polo: PRINCETON CREW. Princeton war ihr größtes Ziel.
Hanna freute sich, als sie kurz danach dieselbe Beobachtung machte: »Spence, das ist ein Zeichen! Ihr zwei könntet bald im selben Studentenwohnheim wohnen!«
Spencer senkte den Blick. »Ich komme da sowieso nicht hin.«
Die anderen sahen sich überrascht an. »Aber klar doch«, widersprach Emily leise.
Spencer griff nach ihrem Bier, nahm einen kräftigen Schluck und ignorierte die bohrenden Blicke. In Wahrheit hatte sie nämlich die Schule in den vergangenen Monaten schleifen lassen – und wer sollte ihr das verübeln, nachdem ihre angeblich beste Freundin sie alle hatte töten wollen? Als sie das letzte Mal mit ihrem Vertrauenslehrer über ihre Leistungen gesprochen hatte, war sie schon auf Platz siebenundzwanzig abgerutscht. Von dieser Position kam man nicht auf eine der angesehenen Elite-Hochschulen.
»Ich häng lieber mit euch rum«, sagte Spencer. Sie wollte während der Ferien nicht an die Schule denken.
Aria, Emily und Hanna zuckten mit den Schultern, dann hoben sie nochmals die Gläser. »Auf uns«, sagte Aria.
»Auf unsere Freundschaft«, setzte Hanna hinzu.
Die Mädchen ließen ihre Gedanken an einen Zen-artigen Ort wandern und zum ersten Mal seit Tagen mussten sie nicht automatisch an die schreckliche Vergangenheit denken. Einen Moment lang blitzten keine Nachrichten von A. auf. Es war, als befinde sich Rosewood in einem anderen Sonnensystem.
Der DJ spielte jetzt einen alten Madonna-Song und Spencer stand auf. »Kommt, wir tanzen.«
Auch die anderen wollten aufspringen, aber Emily packte Spencer fest am Arm und zog sie wieder auf den Stuhl. »Keine Bewegung.«
»Was ist los?« Spencer sah sie wütend an. »Wieso?«
Emilys Augen waren tellerrund. Ihr Blick war auf irgendetwas bei der Wendeltreppe gerichtet. »Da.«
Alle wandten sich um und starrten in dieselbe Richtung. Ein schlankes blondes Mädchen in einem gelben Sommerkleid stand auf dem Treppenabsatz. Sie hatte beeindruckende blaue Augen, pink geschminkte Lippen und eine Narbe über der rechten Augenbraue. Selbst von ihrem Tisch aus konnten sie sehen, dass sie noch mehr Narben am Körper trug: runzelige Haut an den Armen, Schnittwunden im Nacken, verschrumpeltes Fleisch an den nackten Beinen. Doch selbst mit diesen Verletzungen strahlte sie Schönheit und Selbstvertrauen aus.
»Was ist denn?«, raunte Aria.
»Kennst du sie?«, fragte Spencer.
»Seht ihr denn nicht?«, flüsterte Emily mit zitternder Stimme. »Erkennt man das nicht sofort?«
»Was sollen wir denn sehen?«, erkundigte sich Aria sanft und besorgt.
»Das Mädchen da.« Emily drehte sich zu ihnen um. Ihr Gesicht war bleich, die Lippen blutleer. »Das ist … Ali.«
ZEHN MONATE SPÄTER
1
EINE NETTE KLEINE PARTY
Ein dicklicher Caterer mit sorgfältig manikürten Fingernägeln hielt Spencer Hastings ein Tablett mit dampfendem zerlaufenen Käse unter die Nase. »Überbackener Brie?«
Spencer suchte sich einen Cracker aus und biss hinein. Köstlich. Es kam nicht jeden Tag vor, dass ihr in der eigenen Küche Häppchen gereicht wurden, aber an diesem Samstagabend gab ihre Mutter eine kleine Begrüßungsparty für eine neu hinzugezogene Familie. Die letzten paar Monate war Mrs Hastings nicht danach gewesen, die Gastgeberin zu spielen, jetzt aber hatte sie anscheinend einen Anfall von gesellschaftlichem Enthusiasmus.
Wie aufs Stichwort wuselte Veronica Hastings in einer Wolke Chanel No. 5 in die Küche, befestigte eben Ohrhänger an ihren Ohrläppchen und schob sich einen dicken Diamantring über den rechten Ringfinger. Der Ring war neu – ihre Mutter hatte sämtlichen Schmuck, den ihr Spencers Vater jemals gekauft hatte, durch neue Klunker ersetzt. Ihr aschblondes Haar fiel glatt und weich bis zum Kinn, die Augen standen dank professionell aufgetragenem Make-up groß und wach im Gesicht, und das schwarze Etuikleid ließ den Blick auf die Pilates-gestählten Arme frei.
»Spencer, deine Freundin ist hier, um sich um die Garderobe zu kümmern«, informierte Mrs Hastings ihre Tochter und stellte abgelegte Teller aus dem Spülbecken in die Maschine. Dann sprühte sie ein weiteres Mal die Kücheninsel ab, obwohl vor gerade einmal einer Stunde ein Reinigungsteam durchs Haus gezogen war. »Vielleicht solltest du mal nachsehen, ob sie etwas braucht.«
»Wer ist hier?« Spencer verzog das Gesicht. Sie hatte niemanden gebeten, an diesem Abend auszuhelfen. Normalerweise engagierte ihre Mutter Studenten vom Hollis College, wenn sie derlei Jobs zu vergeben hatte.
Mrs Hastings seufzte ungeduldig und überprüfte ihre makellose Erscheinung in der Edelstahl-Kühlschranktür. »Emily Fields. Ich habe sie vorm Arbeitszimmer postiert.«
Spencer verkrampfte sich. Emily war hier? Von ihr war sie sicher nicht eingeladen worden.
Sie wusste nicht einmal, wann sie zuletzt mit Emily gesprochen hatte – es musste Monate her sein. Aber ihre Mutter – und alle anderen – glaubten, die beiden wären immer noch eng befreundet. Daran war auch das Titelblatt des People Magazine schuld: Es hatte überall in den Regalen gelegen, kurz nachdem die echte Ali versucht hatte, sie alle zu töten. Auf dem Foto waren Spencer, Emily, Aria und Hanna in Vier-Mädels-Umarmung zu sehen. Hübsch, aber bestimmt keine Lügner lautete die Überschrift. Vor Kurzem hatte ein Reporter bei den Hastings angerufen, weil er Spencer zusammen mit den anderen zu einem Interview einladen wollte. Die grausame Nacht in den Poconos jährte sich am kommenden Samstag zum ersten Mal, und die Öffentlichkeit war neugierig, wie es den Mädchen inzwischen ging. Spencer hatte abgelehnt. Sie war sicher, dass die anderen auch so entschieden hatten.
»Spence?«
Spencer wirbelte herum. Mrs Hastings war gegangen, aber an ihrer Stelle stand nun Spencers ältere Schwester Melissa, den schlanken Körper in einen eleganten grauen Trenchcoat gewickelt. Ihre langen Beine steckten in eng anliegenden schwarzen Hosen von J. Crew.
»Hey.« Melissa trat vor und umarmte Spencer, die daraufhin von – ja, wovon wohl? – Chanel No. 5 umnebelt wurde. Melissa war ein Mama-Klon, doch Spencer bemühte sich, ihr das nicht übel zu nehmen.
»Wie schön, dich zu sehen!«, schmachtete Melissa, als wäre sie eine entfernte Tante, die Spencer zuletzt als Kleinkind gesehen hatte. Dabei waren die beiden erst vor zwei Monaten in Colorado zusammen Skifahren gewesen.
Da trat jemand von hinten neben sie. »Hi, Spencer«, sagte der Mann zu Melissas Rechten. Er sah seltsam aus in Jackett, Krawatte und gebügelten Hosen. Spencer kannte ihn eigentlich in der Uniform des Rosewood Police Department, mit Pistole am Gürtel. Darren – auch bekannt als Officer Wilden – war der leitende Ermittler im Mordfall Alison DiLaurentis gewesen. Er hatte Spencer wegen der vermissten Ali – die eigentlich Courtney war – zahllose Male befragt.
»H-hallo«, sagte Spencer, als Wilden seine Finger um Melissas Hand flocht. Die beiden waren jetzt fast ein Jahr ein Paar, wirkten aber immer noch seltsam zusammen. Wenn Melissa und Wilden ihre Profile bei einem Datingportal abgeben würden, gäbe es in Trillionen Jahren keine Übereinstimmung.
In einem früheren Leben war Wilden der böse Junge von Rosewood Day gewesen, der Privatschule, zu der alle gingen – der Halbstarke, der dreckige Sprüche an die Klotür schrieb und vor den Augen des Sportlehrers Joints rauchte. Melissa dagegen war Weltverbesserin, Abschiedsrednerin und Schönheitskönigin, die unter »sich betrinken« verstand, einen Sahnelikörtrüffel zu naschen. Spencer wusste, dass Wilden bei den Amish in Lancaster County in Pennsylvania aufgewachsen war, als Teenager aber von dort ausgerissen war. Hatte er dieses pikante Detail schon ihrer Schwester mitgeteilt?
»Ich hab eben beim Reinkommen Emily gesehen«, sagte Wilden. »Seht ihr euch diesen verrückten Fernsehfilm nächstes Wochenende an?«
»Äh …« Spencer strich sich über die Bluse und wollte einer Antwort entgehen. Wilden meinte das Doku-Drama Pretty Little Killer, das die Rückkehr der echten Ali, ihre Angriffe als A. und ihren Tod nacherzählte. In einem Parallel-Leben würden die vier vielleicht tatsächlich diesen Film zusammen anschauen, die Darstellerinnen begutachten, sich über falsche Dialoge ärgern und angesichts von Alis Wahnsinn erschaudern.
Aber nicht jetzt. Nach Jamaika war ihre Freundschaft zerbrochen. Inzwischen konnte Spencer nicht einmal in einem Raum mit einer der alten Freundinnen sein, ohne dass ihr kribbelig und heiß wurde.
»Was macht ihr eigentlich hier?«, fragte Spencer und lenkte die Unterhaltung weg von der Vergangenheit. »Ich meine natürlich nicht, dass ich etwas dagegen hätte!« Sie warf Melissa ein freundliches Lächeln zu. Früher hatten die beiden Schwestern einiges auszufechten gehabt, aber seit dem Feuer im vergangenen Jahr versuchten sie, diese Streitigkeiten hinter sich zu lassen.
»Ach, wir sind nur vorbeigekommen, um ein paar Kisten zu holen, die ich in meinem alten Zimmer stehen gelassen habe«, erklärte Melissa. »Und dann wollen wir noch zu diesem Küchendesign-Studio. Hab ich dir das erzählt? Ich gestalte meine Küche noch mal neu! Ich hätte gerne ein eher mediterranes Thema. Und Darren zieht bei mir ein!«
Spencer warf Wilden einen fragenden Blick zu. »Was ist mit deinem Job in Rosewood?« Melissa wohnte in einem luxuriös renovierten Haus am Rittenhouse Square in Philadelphia. Ihre Eltern hatten es ihr zu ihrem Abschluss an der Penn geschenkt. »Da hast du ganz schön zu fahren von Philly.«
Wilden grinste. »Ich habe mich letzten Monat aus dem Polizeidienst verabschiedet. Melissa hat mir einen Job als Sicherheitsmann am Philadelphia Museum of Art besorgt. Ich werde da künftig jeden Tag die marmornen Stufen hochrennen, wie Rocky.«
»Und wertvolle Gemälde schützen«, erinnerte ihn Melissa.
»Oh.« Wilden zog an seinem Hemdkragen. »Ja, natürlich.«
»Für wen ist diese Party hier eigentlich?« Wilden nahm zwei Gläser von der Granitplatte der Kücheninsel und goss sich und Melissa Pinot Noir ein.
Spencer deutete achselzuckend aufs Wohnzimmer. »Eine Familie, die ins Haus gegenüber gezogen ist. Ich nehme an, Mom will einen guten Eindruck machen.«
Wilden sah auf. »Das Haus der Cavanaughs? Das hat jemand gekauft?«
Melissa schnalzte mit der Zunge. »Die müssen ein supergünstiges Angebot bekommen haben. Ich würde da nicht mal wohnen wollen, wenn man mir das Haus schenkte.«
»Vielleicht wollen sie einen Schlussstrich unter die Vergangenheit setzen«, murmelte Spencer.
»Na dann Prost.« Melissa hob ihr Glas an den Mund.
Spencer betrachtete die streifigen Muster in den Travertinfliesen. Es war tatsächlich bemerkenswert, dass jemand das alte Haus der Cavanaughs gekauft hatte – beide Kinder der Familie waren während der Zeit dort gestorben. Toby hatte Selbstmord begangen, kurz nachdem er aus der Jugendstrafanstalt nach Rosewood zurückgekehrt war. Jenna war erdrosselt und hinter dem Haus in einen Graben geworfen worden – von der echten Ali.
»Also, Spencer«, wandte sich Wilden wieder ihr zu. »Du hast da was geheim gehalten.«
Spencer fuhr hoch, ihr Blutdruck stieg. »W-wie?« Wilden besaß Ermittler-Instinkt. Ahnte er, dass sie etwas verbarg? Von Jamaika konnte er nichts wissen. Niemand würde je etwas davon erfahren, solange sie lebte.
»Du gehst nach Princeton!«, rief Wilden. »Gratuliere!«
Langsam strömte wieder Luft in Spencers Lungen. »Oh. Ja. Ich weiß es seit ungefähr einem Monat.«
»Ich musste es ihm verraten, Spence.« Melissa strahlte. »Ich hoffe, es macht dir nichts aus.«
»Und dann auch noch eine frühe Zulassung.« Wilden machte große Augen. »Toll!«
»Danke.« Aber Spencers Haut kribbelte, als wäre sie zu lange in der Sonne gewesen. Es war wahnsinnig anstrengend gewesen, wieder Leistungsbeste zu werden und sich einen Platz in Princeton zu sichern. Sie empfand keinen besonderen Stolz, aber immerhin, sie hatte es geschafft.
Mrs Hastings kam wieder in die Küche geschneit und klatschte in die Hände. »Melissa, Spencer! Warum mischt ihr euch nicht ein bisschen unter die Leute? Ich erzähle schon seit zehn Minuten von meinen wunderbaren Töchtern! Ich will mit euch angeben!«
»Mom«, maulte Spencer, die doch insgeheim froh war, dass ihre Mutter auf sie beide stolz war, nicht nur auf Melissa.
Mrs Hastings schob Spencer in Richtung Tür. Zum Glück versperrte ihnen Mrs Norwood den Weg, eine langjährige Tennispartnerin von Spencers Mutter. Als sie Mrs Hastings entdeckte, riss sie die Augen auf und packte sie an den Handgelenken. »Veronica! Ich brenne darauf, mit dir zu reden! Guter Fang, meine Liebe!«
»Was meinst du?« Mrs Hastings blieb stehen und schenkte ihr ein breites falsches Lächeln.
Mrs Norwood senkte affektiert unschuldig das Kinn und zwinkerte. »Jetzt tu mal nicht so, als wäre da nichts! Ich weiß das mit Nicholas Pennythistle! Keine schlechte Partie!«
Mrs. Hastings wurde bleich. »O-oh.« Ihr Blick huschte zu ihren Töchtern. »Äh, ich habe es den beiden noch nicht so richtig gesagt …«
»Wer ist Nicholas Pennythistle?«, unterbrach Melissa in scharfem Ton.
»Ein guter Fang?«, wiederholte Spencer.
Mrs Norwood bemerkte ihren Fauxpas und zog sich ins Wohnzimmer zurück. Mrs Hastings wandte sich an ihre Töchter. Eine Ader an ihrem Hals trat deutlich sichtbar hervor. »Ähm, Darren, würdest du uns einen Augenblick entschuldigen?«
Wilden nickte und entschwand ins Nebenzimmer. Mrs Hastings setzte sich auf einen der Barhocker und seufzte. »Also, ich wollte euch das heute Abend erzählen, wenn alle gegangen sind. Ich treffe mich mit jemandem. Sein Name ist Nicholas Pennythistle, und ich glaube, es ist ernst. Ich möchte, dass ihr ihn kennenlernt.«
Spencer fiel die Kinnlade runter. »Ist das nicht ein bisschen früh?« Wie konnte ihre Mutter nur schon wieder an eine Beziehung denken? Die Scheidung war noch nicht lange durch. Vor Weihnachten war Spencers Mutter noch in Jogginghose betrübt durchs Haus geschlichen.
Mrs Hastings schnaubte abwehrend. »Nein, es ist nicht zu früh, Spencer.«
»Weiß Dad davon?« Spencer traf ihren Vater beinahe jedes Wochenende. Die beiden gingen dann in eine Ausstellung oder sahen sich in seinem Penthouse in der Altstadt Dokumentarfilme an. Vor Kurzem hatte Spencer in der Wohnung ihres Vaters Spuren einer Frau entdeckt – eine zweite Zahnbürste im Bad, eine Flasche Pinot Grigio im Kühlschrank – und vermutet, dass er sich mit jemandem traf. Sie hatte auch da das Gefühl, für eine neue Beziehung war es viel zu früh. Und jetzt hatte ihre Mutter also auch einen Freund. Ironischerweise war Spencer die Einzige in ihrer Familie, die nicht vergeben war.
»Ja, euer Vater weiß es.« Mrs Hastings klang entnervt. »Ich habe es ihm gestern gesagt.«
Eine Serviererin kam in die Küche. Mrs Hastings ließ sich ihr Sektglas auffüllen. »Ich möchte, dass ihr morgen Abend mit Nicholas und mir und seinen Kindern im Goshen Inn essen geht, also macht euch frei. Und zieht was Hübsches an.«
»Seine Kinder?«, quiekte Spencer. Die Sache wurde immer schlimmer. Sie malte sich aus, dass sie einen Abend mit zwei kleinen Nervensägen mit Korkenzieherlöckchen und einem Hang zur Tierquälerei verbringen musste.
»Zachary ist achtzehn und Amelia fünfzehn«, antwortete Mrs Hastings barsch.
»Also, ich finde das wundervoll, Mom«, urteilte Melissa strahlend. »Natürlich musst du in deinem Leben weitermachen! Ist doch nur gut für dich!«
Spencer wusste, dass sie etwas Ähnliches von sich geben sollte, aber ihr fiel nichts ein. Sie war es gewesen, die die Affäre ihres Vaters mit Alis Mutter offengelegt hatte, wodurch herauskam, dass Ali und Courtney die Halbschwestern von Spencer und Melissa waren. Nicht dass sie das gewollt hätte – A. hatte sie gezwungen.
»Und jetzt mischt euch unters Volk! Wir geben eine Party!« Mrs Hastings packte Melissa und Spencer am Arm und schob sie ins Wohnzimmer.
Spencer stolperte in den Raum, der sich mit Nachbarn, Mitgliedern des Country Club und Eltern vom Förderverein der Rosewood Day gefüllt hatte. Eine Gruppe Jugendlicher, die Spencer seit dem Kindergarten kannte, hatte sich an dem großen Erkerfenster versammelt und kippte unverhohlen Champagner. Naomi Ziegler kreischte auf, als Mason Byers sie kitzelte. Sean Ackard unterhielt sich angeregt mit Gemma Curran. Spencer hatte nicht die geringste Lust, mit irgendjemandem von ihnen zu sprechen.
Stattdessen ging sie an die Bar – warum nicht erst mal einen Drink zur Stärkung –, blieb aber mit dem Absatz am Teppichrand hängen. Ihr glitten die Beine weg und auf einmal hing sie in der Luft. Sie griff nach einem der schweren Ölgemälde an der Wand und konnte sich gerade so abfangen, bevor sie mit der Nase zuerst auf dem Teppich landete, aber mehrere Köpfe drehten sich in ihre Richtung und starrten sie an.
Emily fing Spencers Blick auf, bevor Spencer weggucken konnte. Sie winkte ihr äußerst zaghaft zu. Spencer ging zurück in die Küche. Sie würden jetzt nicht reden. Und auch später nicht.
Die Temperatur in der Küche schien noch angestiegen zu sein. Das Geruchsgemisch aus frittierten Appetithäppchen und stinkendem Käse ließ Spencer schwindelig werden. Sie beugte sich über die Arbeitsplatte und holte mehrmals tief Luft. Als sie dann wieder ins Wohnzimmer schaute, hielt Emily den Blick gesenkt. Gut.
Dafür starrte jemand anderes sie an. Wilden hatte den stummen Austausch mit Emily bestimmt beobachtet. Spencer konnte förmlich sehen, wie es in seinem Polizistenhirn ratterte: Wie konnte diese perfekte Hochglanzmagazin-Freundschaft nur kaputtgehen?
Spencer schmiss die Küchentür zu und zog sich in den Keller zurück, aus dem sie eine Flasche Champagner mitbrachte. Tut mir leid, Wilden. Von diesem Geheimnis würde er niemals erfahren – und auch sonst niemand.
2
PELZE, FREUNDINNEN UND FERNES GEKICHER
»Bitte keinen Drahtbügel«, kommandierte eine grauhaarige Matrone, als sie sich von ihrem Burberry-Trenchcoat trennte und ihn Emily Fields in die Arme legte. Ohne auch nur Danke zu sagen, stapfte die Frau daraufhin mitten ins Wohnzimmer der Hastings und griff sich ein Canapé. Oberzicke.
Emily hängte den Mantel, der nach Eau de Cologne, Zigaretten und nassem Hund roch, auf einen Bügel, befestigte eine Nummer daran und schob ihn vorsichtig in den großen Eichenschrank in Mr Hastings’ Arbeitszimmer. Spencers Labradoodle Rufus und Beatrice standen keuchend hinter dem Hunde-Türgitter und waren offenbar beleidigt, dass man sie von der Party ausgeschlossen hatte. Emily strich ihnen über die Köpfe und die beiden wedelten fröhlich mit den Schwänzen. Wenigstens die Hunde freuten sich, sie zu sehen.
Zurück an der Garderobe blickte sie sich vorsichtig im Raum um. Spencer war in die Küche entschwunden und nicht wieder herausgekommen. Emily wusste nicht, ob sie erleichtert oder enttäuscht sein sollte.
Im Haus der Hastings sah es aus wie immer: Ahnenporträts im Flur, verspielte französische Sessel und Couchen im Wohnzimmer und schwere goldbestickte Vorhänge vor den Fenstern. In der sechsten und siebten Klasse hatten Emily, Spencer, Ali und die anderen immer gespielt, dieser Raum sei ein Salon in Versailles. Ali und Spencer hatten sich dann gestritten, wer Marie Antoinette sein durfte, während Emily meistens die Zofe spielen musste. Ali hatte Emily einmal in ihrer Rolle als Königin befohlen, ihr die Füße zu massieren. »Ich weiß, du liebst das«, hatte sie gespottet.
Emily wurde von Traurigkeit erfasst wie von einer starken Welle. Es schmerzte, an die Vergangenheit zu denken. Wenn sie diese Erinnerungen nur in eine Kiste packen, zum Nordpol schicken und für immer los sein könnte.
»Nicht so krumm dahocken«, zischte da eine Stimme.
Emily sah auf. Vor ihr stand ihre Mutter, mit gerunzelter Stirn und missmutig gekräuselten Mundwinkeln. Sie trug ein blaues Kleid, das an einer unattraktiven Stelle zwischen Knien und Waden endete, und wie ein Baguette unter den Arm geklemmt eine Tasche aus falschem Schlangenleder.
»Und lächle mal«, fügte Mrs Fields hinzu. »Du siehst miesepetrig aus.«
Emily hob die Schultern. Sollte sie etwa grinsen wie eine Irre? Oder ein Liedchen trällern? »Dieser Job ist nicht gerade ein Vergnügen«, erklärte sie.
Mrs Fields’ Nasenflügel bebten. »Es war sehr zuvorkommend von Mrs Hastings, dir diese Möglichkeit zu bieten. Also lass dich nicht hängen, so wie sonst immer.«
Autsch. Emily versteckte sich hinter einem Vorhang aus rotblonden Haaren. »Ich lasse mich nicht hängen.«
»Dann mach deine Arbeit. Verdien ein wenig Geld. Gott weiß, jedes bisschen zählt.«
Mrs Fields stapfte davon und setzte für die Nachbarn ein freundliches Gesicht auf. Emily sank auf ihrem Stuhl zusammen und kämpfte gegen die Tränen an. Lass dich nicht hängen, so wie sonst immer. Ihre Mutter war außer sich gewesen vor Wut, als Emily im vergangenen Juni ohne Erklärung das Schwimmteam verlassen und stattdessen den Sommer in Philadelphia verbracht hatte. Emily war auch im Herbst nicht in das Team an der Rosewood Day zurückgekehrt. In der Welt des Wettkampfschwimmens bedeutete eine Unterbrechung von ein paar Monaten ernsthafte Schwierigkeiten, besonders in der Zeit der Stipendienvergabe. Zwei Saisons zu verpassen kam einer Selbstzerstörung gleich.
Ihre Eltern waren verzweifelt. Weißt du denn nicht, dass wir das College nicht bezahlen können, wenn du kein Stipendium bekommst? Merkst du nicht, dass du dir deine Zukunft verbaust?
Emily wusste nicht, was sie ihnen antworten sollte. Sie konnte ihnen auf keinen Fall erzählen, warum sie das Team verlassen hatte. Nie im Leben.
Vor ein paar Wochen war sie ihrer alten Mannschaft wieder beigetreten und hoffte nun, dass ein College-Scout Mitleid mit ihr hatte und ihr noch in letzter Minute einen Platz verschaffte. Ein Anwerber von der University of Arizona war im vergangenen Jahr an ihr interessiert gewesen, und Emily klammerte sich an die Vorstellung, dass er sie noch immer im Team haben wollte. Doch heute Vormittag hatte sie auch diesen Traum aufgeben müssen.
Sie holte ihr Handy aus der Tasche und las noch einmal die Absage, die der Scout ihr per Mail geschrieben hatte. Tut mir leid … es gibt einfach nicht genügend Plätze … viel Glück. Emily starrte auf die Worte. Ihr drehte sich der Magen um.
Auf einmal roch es penetrant nach angebratenem Knoblauch und Pastillen für frischen Atem. Das Streichquartett, das in einer Ecke des Zimmers vor sich hin sägte, klang auf einmal absurd schräg. Die Wände schoben sich auf Emily zu. Was sollte sie nächstes Jahr machen? Sich einen Job suchen und weiter zu Hause wohnen? Zum staatlichen College gehen? Sie musste raus aus Rosewood – wenn sie hierblieb, würden die furchtbaren Erinnerungen sie auffressen, bis nichts mehr von ihr übrig blieb.
Da bemerkte sie ein großes schwarzhaariges Mädchen neben der Porzellanvitrine. Aria.
Emily pochte das Herz. Spencer hatte sich vorhin verhalten, als habe sie ein Gespenst gesehen, als sich ihre Blicke trafen, aber vielleicht war es bei Aria anders. Emily beobachtete, wie Aria den zur Schau gestellten Nippes begutachtete – als wären diese Gegenstände wichtiger als die Menschen im Raum, doch so war Aria immer auf Partys, wenn sie gerade allein dastand –, und Emily wurde auf einmal ganz wehmütig. Sie trat hinter ihrem Garderobentisch hervor und ging auf ihre alte Freundin zu. Wenn sie doch einfach zu ihr eilen und sie fragen könnte, wie es ihr ginge. Oder ihr von dem verpassten Schwimm-Stipendium erzählen. Sich eine schmerzlich vermisste Umarmung holen. Wären die vier nur nicht zusammen nach Jamaika geflogen, dann könnte sie genau das jetzt tun.
Aria hob den Kopf und sah Emily an. Ihre Augen weiteten sich. Sie verzog den Mund.
Emily streckte sich und lächelte ihr entgegen. »H-hey.«
Aria zuckte zusammen. »Hey.«
»Ich kann dir den abnehmen, wenn du willst.« Emily zeigte auf Arias violetten Trenchcoat, der immer noch fest um ihre Hüften geknotet war. Emily war dabei gewesen, als Aria den Mantel im vergangenen Jahr in einem Secondhandladen in Philly gekauft hatte, kurz bevor sie zusammen nach Jamaika verreist waren. Spencer und Hanna hatten gemeint, der Mantel rieche nach alter Frau, aber das hatte Aria nicht abgeschreckt.
Nun steckte sie die Hände in die Manteltaschen. »Das geht auch so.«
»Der Mantel steht dir wirklich gut«, redete Emily weiter. »Lila ist einfach deine Farbe.«
Arias Kiefermuskel zuckte. Es sah aus, als wollte sie etwas sagen, aber sie hielt den Mund fest geschlossen. Dann hellte sich ihr Blick auf, als sie auf der anderen Seite des Zimmers etwas entdeckte. Noel Kahn, ihr Freund, kam herübergelaufen und legte die Arme um sie. »Ich hab dich gesucht.«
Aria küsste ihn zur Begrüßung, dann steuerten die beiden davon, ohne noch etwas zu sagen.
Einige Gäste in der Mitte des Wohnzimmers brachen in Gelächter aus. Mr Kahn, der schon schwankte, als habe er zu viel getrunken, klimperte auf dem Klavier der Hastings und spielte die rechte Hand von Strauss’ Donauwalzer. Emily war die Party auf einmal unerträglich. Sie stolperte gerade noch durch die Haustür nach draußen, als ihr auch schon die Tränen kamen.
Draußen war es ungewöhnlich warm für Februar. Sie trottete am Haus entlang in den Garten, während ihr die Tränen still über die Wangen liefen.
Der Bereich hinter dem Haus sah sehr verändert aus. Die alte Scheune, die am Ende des Grundstücks gestanden hatte, war verschwunden – die echte Ali hatte sie letztes Jahr in Brand gesteckt. Übrig geblieben war nur verbrannte schwarze Erde. Emily bezweifelte, dass dort je wieder etwas wachsen würde.
Nebenan stand das alte Haus der DiLaurentis. Maya St. Germain, mit der Emily im elften Schuljahr was gehabt hatte, wohnte immer noch dort, aber Emily sah sie kaum noch. Der Ali-Altar, der so lange im Vorgarten der Laurentis gestanden hatte, nachdem Courtney – ihre Ali – vor dem Haus getötet worden war, war ebenfalls verschwunden. Die Öffentlichkeit war immer noch wie besessen. In den Zeitungen gab es Sonderberichte zum Jahrestag des Alison-DiLaurentis-Feuers und dann war da noch diese furchtbare Filmbiografie Pretty Little Killer. Aber natürlich wollte niemand einen Mord gutheißen.
Bei diesem Gedanken fuhr Emily mit der Hand in ihre Jeanstasche und tastete nach der samtenen Troddel, die sie seit einem Jahr bei sich trug. Allein das Wissen, das sie noch da war, beruhigte sie.
Da ertönte ein Quäken und Emily wandte sich um. Kaum zehn Meter von ihr entfernt, beinahe eins mit dem Stamm der riesigen Eiche der Hastings, stand ein Teenager und wiegte ein in eine Decke gewickeltes Baby. »Schsch«, machte das Mädchen. Dann sah es zu Emily herüber und lächelte verlegen. »Entschuldige. Ich bin extra rausgegangen, um sie zu beruhigen, aber es funktioniert nicht.«
»Das macht doch nichts.« Emily wischte sich unauffällig die Augen. Sie betrachtete das winzige Baby. »Wie heißt sie?«
»Grace.« Das Mädchen hob das Baby ein wenig höher. »Sag Hallo, Grace.«
»Ist sie … dein Kind?« Das Mädchen musste ungefähr in Emilys Alter sein.
»Oh Gott, nein.« Das Mädchen lachte. »Sie ist meine Schwester. Aber meine Mutter quatscht da drinnen und ich spiele die Babysitterin.« Sie wühlte in der große Wickeltasche, die ihr um die Schulter hing. »Kannst du sie mal kurz halten? Ich suche ihre Flasche, aber die ist wohl ganz unten drin.«
Emily blinzelte. Sie hatte schon lange kein Baby mehr auf dem Arm gehabt. »Ja, okay …«
Das Mädchen reichte Emily das Baby, das in einer rosafarbenen Decke lag und nach Puder roch. Der kleine rote Mund ging auf und in den Augen standen Tränen. »Ist ja gut«, redete Emily dem Baby zu. »Wein du nur. Mir macht das nichts.«
Eine Falte erschien auf Grace’ kleiner Stirn. Sie schloss ihren Babymund und sah Emily neugierig an. Emily wurde von Gefühlen überwältigt. Erinnerungen brachen hervor, wollten an die Oberfläche, doch sie drängte sie energisch zurück.
Das Mädchen sah auf. »Hey, du bist ein Naturtalent! Hast du jüngere Geschwister?«
Emily biss sich auf die Lippe. »Nein, die sind älter. Aber ich habe viel babygesittet.«
»Das merkt man.« Sie lächelte. »Ich bin Chloe Roland. Meine Familie ist eben erst aus Charlotte hierhergezogen.«
Emily stellte sich vor. »Auf welche Schule gehst du?«
»Auf die Rosewood Day. Ich bin in der Zwölf.«
Emily lächelte. »Ich auch!«
»Und, wie findest du es da?«, fragte Chloe. Inzwischen hatte sie die Flasche ausgegraben.
Emily gab Grace zurück. Ging sie gern zur Rosewood Day? Viele Dinge dort erinnerten sie an ihre Ali – und an A. Jede Ecke, jeder Raum bewahrte die Erinnerung an etwas auf, das sie lieber vergessen wollte. »Keine Ahnung«, antwortete sie und ließ unbeabsichtigt einen leisen Schluchzer hören.
Chloe blinzelte in Emily tränenverschmiertes Gesicht. »Ist alles in Ordnung?«
Emily wischte sich die Tränen aus den Augen. Ihr Gehirn legte die Worte Ja sicher, ist alles gut zurecht, aber sie konnte sie nicht herausbringen. »Ich habe vorhin erfahren, dass ich kein Schwimmstipendium fürs College bekomme«, platzte es aus ihr heraus. »Meine Eltern können sich das ohne Stipendium nicht leisten. Es ist meine Schuld. Ich … ich bin seit letztem Sommer aus dem Schwimmteam raus. Und jetzt will mich keiner mehr. Ich hab keine Ahnung, was ich tun soll.«
Frische Tränen rannen über Emilys Gesicht. Seit wann flennte sie vor fremden Mädchen wegen ihrer Probleme? »Entschuldige. Ich bin sicher, du willst dir das nicht anhören.«
Chloe schnaubte. »Ach was. Das ist mehr, als irgendjemand auf dieser Party mir erzählt hat. Du schwimmst also, ja?«
»Ja.«
Chloe grinste. »Mein Vater ist ein großer Wohltäter an der University of North Carolina, seiner Alma Mater. Vielleicht kann er was für dich tun.«
Emily sah auf. »Die UNC ist super zum Schwimmen.«
»Vielleicht kann ich mit ihm reden.«
Emily starrte sie ungläubig an. »Aber du kennst mich ja nicht mal!«
Chloe nahm Grace wieder ein wenig höher auf den Arm. »Du machst einen netten Eindruck.«
Emily sah sich Chloe eingehender an. Sie hatte ein hübsches rundes Gesicht, strahlende braune Augen und langes glänzendes Schokopudding-Haar. Die Augenbrauen sahen aus, als wären sie länger nicht gezupft worden, und sie trug nur wenig Make-up. Emily war ziemlich sicher, dass sie Chloes Kleid bei The Gap gesehen hatte. Ihr war Chloes unkomplizierte Art gleich sympathisch.
Sie hörten, wie die Eingangstür der Hastings sich öffnete und einige Gäste auf die Veranda traten. Emily erfasste Panik. Die Garderobe!, durchschoss es sie.
»I-ich muss dann«, rief sie und wirbelte herum. »Ich soll mich hier eigentlich um die Garderobe kümmern. Jetzt werde ich bestimmt gleich gefeuert.«
»Schön, dich kennengelernt zu haben!« Chloe winkte ihr zu und ließ auch Grace winken. »Und, hey! Wenn du so dringend Geld brauchst, vielleicht magst du am Montag bei uns babysitten? Meine Eltern haben noch niemanden gefunden und ich hab ein Vorstellungsgespräch am College.«
Emily blieb im mit Raureif überzogenen Gras stehen. »Wo wohnt ihr denn?«
Chloe lachte. »Ach ja, das wäre gut zu wissen, stimmt’s?« Sie deutete auf die gegenüberliegende Straßenseite. »Da drüben.«
Emily starrte auf das große viktorianische Anwesen und verkniff sich ein erschrockenes Luftholen. Chloes Familie war in das ehemalige Haus der Cavanaughs gezogen.
»Äh, okay. Sicher.« Emily winkte und sprintete zurück ins Haus. Als sie an den dichten Büschen vorbeikam, die das Grundstück der Hastings von dem der DiLaurentis trennten, hörte sie schrilles Gekicher.
Sie hielt inne. Beobachtete sie jemand? Lachte da wer?
Das Kichern verzog sich in die Bäume. Emily lief durch den Vorgarten und versuchte, das Geräusch abzuschütteln. Sie bildete sich das ein. Niemand beobachtete sie, nicht mehr. Diese Zeit war zum Glück lange, lange vorbei.
Oder?
3
NOCH EINE PERFEKTE POLITIKERFAMILIE
Am selben Samstagabend hockte Hanna Marin mit ihrem Freund Mike Montgomery in einer alten Lagerhalle im Industrieviertel von Hollis. Der hohe Raum stand voller Scheinwerfer, Kameras und verschiedener Leinwände – ein einfacher blauer Hintergrund, eine Herbstszene und ein Bild mit einer riesigen, flatternden Amerikaflagge, die Hanna unerträglich plump fand.
Hannas Vater, Tom Marin, war von seinem Beraterstab umringt, richtete seine Krawatte und probte seinen Text. Im November wollte er für den US-Senat kandidieren, und heute sollte also sein erster Wahlspot gedreht werden, der ganz Pennsylvania vor Augen führen sollte, wie sehr er sich zum Senator eignete. Seine neue Frau Isabel stand neben ihm, fuhr sich durch ihr braunes, kinnlanges Haar, strich über ihren roten Politikergattinnen-Hosenanzug (komplett mit Schulterpolster, igitt) und begutachtete ihre orangefarbene Haut in einem Handspiegel von Chanel.