Preußentum und Sozialismus - Oswald Spengler - E-Book

Preußentum und Sozialismus E-Book

Oswald Spengler

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Beschreibung

Diese kleine Schrift ist aus Aufzeichnungen hervorgegangen, die für den "Untergang des Abendlandes", namentlich den zweiten Band bestimmt, die teilweise sogar der Keim waren, aus dem diese ganze Philosophie sich entwickelt hat. Spenglers Werk wird in Zyklen immer wieder neu entdeckt. Samuel P. Huntington greift mit seinen Thesen vom "Kampf der Kulturen" wesentlich auf Spenglers "Untergang" zurück. In globalen Krisenzeiten wird Spenglers konsequente Weltsicht der schicksalhaften Entwicklung von Imperien als Horoskop der Weltgeschichte gesehen. Eine brauchbare Blaupause zur Lösungsfindung stellen sie nicht dar. Null Papier Verlag

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Oswald Spengler

Preußentum und Sozialismus

Oswald Spengler

Preußentum und Sozialismus

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2021 EV: C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, 1921 1. Auflage, ISBN 978-3-962818-70-8

null-papier.de/719

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ein­lei­tung

Die Re­vo­lu­ti­on

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

So­zia­lis­mus als Le­bens­form

8.

9.

Eng­län­der und Preu­ßen

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

Marx

19.

20.

21.

Die In­ter­na­tio­na­le

22.

23.

24.

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

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Ihr

Sach­bü­cher bei Null Pa­pier

Wal­den

Rö­mi­sche Ge­schich­te

Kul­tur­ge­schich­te des Al­ter­tums

Deut­sche Ge­schich­te

Der Un­ter­gang des Abend­lan­des

Das Le­ben Jesu

Vom Krie­ge

Der Drei­ßig­jäh­ri­ge Krieg

Preu­ßen­tum und So­zia­lis­mus

Kul­tur­ge­schich­te der Neu­zeit

Feld­post­brie­fe und Ta­ge­bü­cher – 1940-1945

Die Psy­cho­lo­gie der Mas­sen

Ge­schmacks­ver­ir­run­gen im Kunst­ge­wer­be

An­sich­ten der Na­tur

Über den Um­gang mit Men­schen

Das Kunst­werk im Zeit­al­ter sei­ner tech­ni­schen Re­pro­du­zier­bar­keit

Die Kunst Recht zu be­hal­ten

Kri­ti­ken und Re­zen­sio­nen

Newslet­ter abon­nie­ren

Der Newslet­ter in­for­miert Sie über:

die Neu­er­schei­nun­gen aus dem Pro­gramm

Neu­ig­kei­ten über un­se­re Au­to­ren

Vi­deos, Lese- und Hör­pro­ben

at­trak­ti­ve Ge­winn­spie­le, Ak­tio­nen und vie­les mehr

htt­ps://null-pa­pier.de/newslet­ter

Einleitung

Die­se klei­ne Schrift ist aus Auf­zeich­nun­gen her­vor­ge­gan­gen, die für den »Un­ter­gang des Abend­lan­des«, na­ment­lich den zwei­ten Band be­stimmt, die teil­wei­se so­gar der Keim wa­ren, aus dem die­se gan­ze Phi­lo­so­phie sich ent­wi­ckelt hat.1

Das Wort So­zia­lis­mus be­zeich­net nicht die tiefs­te, aber die lau­tes­te Fra­ge der Zeit. Je­der ge­braucht es. Je­der denkt da­bei et­was andres. Je­der legt in die­ses Schlag­wort al­ler Schlag­wor­te das hin­ein, was er liebt oder hasst, fürch­tet oder wünscht. Aber nie­mand über­sieht die his­to­ri­schen Be­din­gun­gen in ih­rer Enge und Wei­te. Ist So­zia­lis­mus ein In­stinkt oder ein Sys­tem? Das End­ziel der Mensch­heit oder ein Zu­stand von heu­te und mor­gen? Oder ist er nur die For­de­rung ei­ner ein­zel­nen Klas­se? Ist er mit dem Mar­xis­mus iden­tisch?

Der Feh­ler al­ler Wol­len­den ist, dass sie das, was sein soll­te, mit dem ver­wech­seln, was sein wird. Wie sel­ten ist der frei­e Blick über das Wer­den hin! Noch sehe ich nie­mand, der den Weg die­ser Re­vo­lu­ti­on be­grif­fen, ih­ren Sinn, ihre Dau­er, ihr Ende über­schaut hät­te. Man ver­wech­selt Au­gen­bli­cke mit Epo­chen, das nächs­te Jahr mit dem nächs­ten Jahr­hun­dert, Ein­fäl­le mit Ide­en, Bü­cher mit Men­schen. Die­se Marxis­ten sind nur im Ver­nei­nen stark, im Po­si­ti­ven sind sie hilf­los. Sie ver­ra­ten end­lich, dass ihr Meis­ter nur ein Kri­ti­ker, kein Schöp­fer war. Für eine Welt von Le­sern hat er Be­grif­fe hin­ter­las­sen. Sein von Li­te­ra­tur ge­sät­tig­tes, durch Li­te­ra­tur ge­bil­de­tes und zu­sam­men­ge­hal­te­nes Pro­le­ta­ri­at war nur so lan­ge Wirk­lich­keit, als es die Wirk­lich­keit des Ta­ges ab­lehn­te, nicht dar­stell­te. Heu­te ahnt man es – Marx war nur der Stief­va­ter des So­zia­lis­mus. Es gibt äl­te­re, stär­ke­re, tiefe­re Züge in ihm als des­sen Ge­sell­schafts­kri­tik. Sie wa­ren ohne ihn da und ha­ben sich ohne ihn und ge­gen ihn wei­ter ent­fal­tet. Sie ste­hen nicht auf dem Pa­pier, sie lie­gen im Blut. Und nur das Blut ent­schei­det über die Zu­kunft.

Wenn aber der So­zia­lis­mus nicht Mar­xis­mus ist – was ist er dann? Hier steht die Ant­wort. Heu­te schon ahnt man sie, aber den Kopf vol­ler Plä­ne, Stand­punk­te, Zie­le, wagt man nicht, sie zu wis­sen. Man flüch­tet vor Ent­schei­dun­gen von der ehe­ma­li­gen ener­gi­schen Hal­tung zu mitt­le­ren, ver­al­te­ten, mil­de­ren Auf­fas­sun­gen, selbst zu Rous­seau, zu Adam Smith, zu ir­gen­det­was. Schon ist je­der Schritt ge­gen Marx ge­rich­tet, aber bei je­dem ruft man ihn an. In­des­sen ist die Zeit der Pro­gramm­po­li­tik vor­bei. Wir spä­ten Men­schen des Abend­lan­des sind Skep­ti­ker ge­wor­den. Ideo­lo­gi­sche Sys­te­me wer­den uns nicht mehr den Kopf ver­wir­ren. Pro­gram­me ge­hö­ren in das vo­ri­ge Jahr­hun­dert. Wir wol­len kei­ne Sät­ze mehr, wir wol­len uns selbst.

Und da­mit ist die Auf­ga­be ge­stellt: es gilt, den deut­schen So­zia­lis­mus von Marx zu be­frei­en. Den deut­schen, denn es gibt kei­nen an­de­ren. Auch das ge­hört zu den Ein­sich­ten, die nicht län­ger ver­bor­gen blei­ben. Wir Deut­sche sind So­zia­lis­ten, auch wenn nie­mals da­von ge­re­det wor­den wäre. Die an­de­ren kön­nen es gar nicht sein.

Ich zeich­ne hier nicht eine je­ner »Ver­söh­nun­gen«, kein Zu­rück oder Bei­sei­te, son­dern ein Schick­sal. Man ent­geht ihm nicht, wenn man die Au­gen schließt, es ver­leug­net, be­kämpft, vor ihm flüch­tet. Das sind nur an­de­re Ar­ten es zu er­fül­len. Du­cunt vo­len­tem fata, no­len­tem tra­hunt. Alt­preu­ßi­scher Geist und so­zia­lis­ti­sche Ge­sin­nung, die sich heu­te mit dem Has­se von Brü­dern has­sen, sind ein und das­sel­be. Das lehrt nicht die Li­te­ra­tur, son­dern die un­er­bitt­li­che Wirk­lich­keit der Ge­schich­te, in der das Blut, die durch nie aus­ge­sproch­ne Ide­en ge­züch­te­te Ras­se, der zur ein­heit­li­chen Hal­tung von Leib und See­le ge­w­ord­ne Ge­dan­ke über blo­ße Idea­le, über Sät­ze und Schlüs­se hin­weg­schrei­tet.

Ich zäh­le da­mit auf den Teil un­se­rer Ju­gend, der tief ge­nug ist, um hin­ter dem ge­mei­nen Tun, dem plat­ten Re­den, dem wert­lo­sen Plä­ne­ma­chen das Star­ke und Un­be­sieg­te zu füh­len, das sei­nen Weg vor­wärts geht, trotz al­lem; die Ju­gend, in wel­cher der Geist der Vä­ter sich zu le­ben­di­gen For­men ge­sam­melt hat, die sie fä­hig ma­chen, auch in Ar­mut und Ent­sa­gung, rö­misch im Stolz des Die­nens, in der De­mut des Be­feh­lens, nicht Rech­te von an­de­ren, son­dern Pf­lich­ten von sich selbst for­dernd, alle oh­ne Aus­nah­me, ohne Un­ter­schie­d, ein Schick­sal zu er­fül­len, das sie in sich füh­len, das sie sind. Ein wort­lo­ses Be­wusst­sein, das den ein­zel­nen in ein Gan­zes fügt, un­ser Hei­ligs­tes und Tiefs­tes, ein Erbe har­ter Jahr­hun­der­te, das uns vor al­len an­de­ren Völ­kern aus­zeich­net, uns, das jüngs­te und letz­te uns­rer Kul­tur.

An die­se Ju­gend wen­de ich mich. Möge sie ver­ste­hen, was da­mit ih­rer Zu­kunft auf­er­legt wird; möge sie stolz dar­auf sein, dass man es darf.

»Un­ter­gang des Abend­lan­des«, bei Null Pa­pier er­schie­nen.  <<<

Die Revolution

1.

Die Ge­schich­te kennt kein Volk, des­sen Weg tra­gi­scher ge­stal­tet wäre. In den großen Kri­sen kämpf­ten alle an­de­ren um Sieg oder Ver­lust; wir ha­ben im­mer um Sieg oder Ver­nich­tung ge­kämpft: von Ko­lin und Hoch­kirch über Jena und die Frei­heits­krie­ge, wo noch auf fran­zö­si­schem Bo­den ver­sucht wur­de, durch eine Auf­tei­lung Preu­ßens die Ver­stän­di­gung zwi­schen des­sen Ver­bün­de­ten und Na­po­le­on zu er­rei­chen, über jene ver­zwei­fel­te Stun­de von Ni­kols­burg, in der Bis­marck an Selbst­mord dach­te, und Se­dan, das die Kriegs­er­klä­rung Ita­li­ens und da­mit eine all­ge­mei­ne Of­fen­si­ve der Grenz­mäch­te eben noch ab­wand­te, bis zu dem Ge­wit­ter furcht­ba­rer Krie­ge über den gan­zen Pla­ne­ten hin, des­sen ers­te Schlä­ge eben ver­hallt sind. Nur der Staat Fried­richs des Gro­ßen und Bis­marcks durf­te es wa­gen, an Wi­der­stand über­haupt zu den­ken.

In all die­sen Ka­ta­stro­phen ha­ben Deut­sche ge­gen Deut­sche ge­stan­den. Es ge­hört nur der Ober­flä­che der Ge­schich­te an, dass es oft Stamm ge­gen Stamm oder Fürst ge­gen Fürst war; in der Tie­fe ruh­te je­ner Zwie­spalt, den jede deut­sche See­le birgt und der schon in go­ti­scher Zeit, in den Ge­stal­ten Bar­ba­ros­sas und Hein­richs des Lö­wen zur­zeit von Le­gna­no groß und düs­ter her­vor­trat. Wer hat das ver­stan­den? Und wer durch­schaut jene Wie­der­kehr des Her­zogs Wi­du­kind in Luther? Wel­cher dunkle Drang ließ all jene Deut­schen für Na­po­le­on kämp­fen und füh­len, als er mit fran­zö­si­schem Blu­te die eng­li­sche Idee über den Kon­ti­nent trug? Was ver­bin­det in der tiefs­ten Tie­fe das Rät­sel von Le­gna­no mit dem von Leip­zig? Wes­halb emp­fand Na­po­le­on die Ver­nich­tung der klei­nen fri­de­ri­cia­ni­schen Welt als sei­ne erns­tes­te Auf­ga­be – und im Grun­de sei­nes Geis­tes als eine un­lös­ba­re?

Der Welt­krieg ist, am Abend der west­li­chen Kul­tur, die große Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen den bei­den ger­ma­ni­schen Ide­en, Ide­en, die wie alle ech­ten nicht ge­spro­chen, son­dern ge­lebt wur­den. Er trug seit sei­nem wirk­li­chen Aus­bruch, dem Vor­pos­ten­ge­fecht auf dem Bal­kan 1912, zu­nächst die äu­ße­re Form des Kamp­fes zwei­er Groß­mäch­te, von de­nen die eine bei­na­he nie­mand, die an­de­re alle auf ih­rer Sei­te hat­te. Er en­de­te zu­nächst im Sta­di­um der Schüt­zen­grä­ben und ver­rot­ten­den Mil­lio­nen­hee­re. Aber schon in die­sem wur­de eine neue For­mel des un­ge­mil­der­ten Ge­gen­sat­zes ge­fun­den, die au­gen­blick­lich mit den Schlag­wor­ten So­zia­lis­mus und Ka­pi­ta­lis­mus in ei­nem sehr fla­chen Sin­ne und mit der vom vo­ri­gen Jahr­hun­dert er­erb­ten Über­schät­zung rein wirt­schaft­li­cher Ein­zel­hei­ten be­zeich­net wird. Hin­ter ih­nen tritt die letz­te große See­len­fra­ge des faus­ti­schen Men­schen zu­ta­ge. In die­sem Au­gen­blick tauch­te, den Deut­schen selbst nicht be­wusst, das na­po­leo­ni­sche Rät­sel wie­der auf. Ge­gen die­ses Meis­ter­stück von Staat, uns­re ech­tes­te und ei­gens­te Schöp­fung, so ei­gen, dass kein an­de­res Volk es zu ver­ste­hen und nach­zuah­men ver­moch­te, dass man es hass­te wie al­les Dä­mo­nisch-Uner­gründ­li­che, rann­te das eng­li­sche Heer Deutsch­lands an.

2.

Denn das gibt es. Was hier zum töd­li­chen Streich aus­hol­te, war nicht not­wen­dig ein Ver­rat aus welt­bür­ger­li­chem Han­ge oder schlim­me­ren Grün­den; es war ein bei­na­he me­ta­phy­si­sches Wol­len, zäh und selbst­los, oft ein­fäl­tig ge­nug, oft be­geis­tert und ehr­lich pa­trio­tisch, aber in sei­nem blo­ßen Da­sein eine stets be­rei­te Waf­fe für je­den äu­ße­ren Feind von der prak­ti­schen Tie­fe des Eng­län­ders; ein ver­häng­nis­vol­ler In­be­griff von po­li­ti­schen Wün­schen, Ge­dan­ken, For­men, die in Wirk­lich­keit nur ein Eng­län­der aus­fül­len, meis­tern, nut­zen kann, für Deut­sche trotz al­ler schwe­ren Lei­den­schaft und erns­ten Op­fer­wil­lig­keit nur ein An­lass di­let­tan­ti­scher Be­tä­ti­gung, in sei­ner staats­feind­li­chen Wir­kung ver­nich­tend, ver­gif­tend, selbst­mör­de­risch. Es war die un­sicht­ba­re eng­li­sche Ar­mee, die Na­po­le­on seit Jena auf deut­schem Bo­den zu­rück­ge­las­sen hat­te.

Das, der bis zur Wucht ei­nes Schick­sals her­aus­ge­bil­de­te Man­gel an Tat­sa­chen­sinn ist es, was von der Höhe der Stau­fer­zeit an, wo die­se pracht­vol­len Men­schen sich über die For­de­rung des Ta­ges er­ha­ben fühl­ten, bis her­ab zur pro­vin­zia­len Bie­der­män­ne­rei des 19. Jahr­hun­derts, die man auf den Na­men des deut­schen Mi­chel ge­tauft hat, je­nem an­de­ren In­stinkt ent­ge­gen­ar­bei­te­te und ihm eine Ent­fal­tung auf­zwang, die sei­ne äu­ße­re Ge­schich­te zu ei­ner dich­ten Fol­ge ver­zwei­fel­ter Ka­ta­stro­phen ge­stal­tet hat. Das Mi­chel­tum ist die Sum­me uns­rer Un­fä­hig­kei­ten, das grund­sätz­li­che Miss­ver­gnü­gen an über­leg­nen Wirk­lich­kei­ten, die Dienst und Ach­tung for­dern, Kri­tik zur un­rech­ten Zeit, Ru­he­be­dürf­nis zur un­rech­ten Zeit, Jagd nach Idea­len statt ra­scher Ta­ten, ra­sche Ta­ten statt vor­sich­ti­gen Ab­wä­gens, das »Volk« als Hau­fe von Nörg­lern, die Volks­ver­tre­tung als Bier­tisch hö­he­rer Ord­nung. Al­les das ist eng­li­sches We­sen, aber in deut­scher Ka­ri­ka­tur. Und vor al­lem das Stück­chen pri­va­ter Frei­heit und ver­brief­ter Un­ab­hän­gig­keit, das man ge­nau dann aus der Ta­sche zieht, wenn John Bull es mit si­cherm In­stinkt bei­sei­te le­gen wür­de.

Der 19. Juli 1917 ist der ers­te Akt der deut­schen Re­vo­lu­ti­on. Das war kein blo­ßer Wech­sel der Füh­rung, son­dern wie die bru­ta­le Form na­ment­lich dem Geg­ner ver­riet, der Staats­s­treich des eng­li­schen Ele­ments, das sei­ne Ge­le­gen­heit wahr­nahm. Es war die Auf­leh­nung nicht ge­gen die Macht ei­nes Un­fä­hi­gen, son­dern ge­gen die Macht über­haupt. Un­fä­hig­keit der Staats­lei­tung? Hat­ten die­se Grup­pen, in de­nen nicht ein Staats­mann saß, nur den Sp­lit­ter im Auge der Verant­wort­li­chen ge­se­hen? Hat­ten sie statt der Fä­hig­kei­ten, die sie nicht bie­ten konn­ten, in die­ser Stun­de et­was andres ein­zu­set­zen als ein Prin­zip? Es war kein Auf­stand des Vol­kes, das zu­sah, ängst­lich, zwei­felnd, ob­wohl nicht ohne jene mi­chel­haf­te Sym­pa­thie mit al­lem, was ge­gen die da oben ging, es war eine Re­vo­lu­ti­on in den Frak­ti­ons­zim­mern. Mehr­heits­par­tei­en ist bei uns ein Name für einen Ve­rein von zwei­hun­dert Mit­glie­dern, nicht für den grö­ße­ren Teil des Vol­kes. Erz­ber­ger als der tak­tisch be­gab­tes­te De­m­agog un­ter ih­nen, groß in Hin­ter­hal­ten, Über­fäl­len, Skan­da­len, ein Vir­tuo­se im Kin­der­spiel des Mi­nis­ter­stür­zens, ohne die ge­rings­te staats­män­ni­sche Be­ga­bung eng­li­scher Par­la­men­ta­ri­er, de­ren Knif­fe er nur be­herrsch­te, zog den Schwarm der Na­men­lo­sen nach sich, die auf eine öf­fent­li­che Rol­le, gleich­viel wel­che, er­picht wa­ren. Es wa­ren die Epi­go­nen der Bie­der­mei­er­re­vo­lu­ti­on von 1848, die Op­po­si­ti­on als Wel­t­an­schau­ung be­trach­te­ten, und die Epi­go­nen der So­zi­al­de­mo­kra­tie, de­nen die ei­ser­ne Hand Be­bels fehl­te, der mit sei­nem star­ken Wirk­lich­keits­sinn dies scham­lo­se Schau­spiel nicht ge­dul­det, der eine Dik­ta­tur, von rechts oder links, ge­for­dert und er­reicht hät­te. Er hät­te dies Par­la­ment zum Teu­fel ge­jagt und die Pa­zi­fis­ten und Völ­ker­bunds­schwär­mer er­schie­ßen las­sen.

Das also war der Ba­stil­le­sturm der deut­schen Re­vo­lu­ti­on.

Sou­ve­rä­ni­tät der Par­tei­füh­rer ist ein eng­li­scher Ge­dan­ke. Um ihn zu ver­wirk­li­chen, müss­te man Eng­län­der von In­stinkt sein und den ge­sam­ten Stil des eng­li­schen öf­fent­li­chen Le­bens hin­ter sich und in sich ha­ben. Mi­ra­beau dach­te dar­an. »Die Zeit, in der wir le­ben, ist sehr groß; die Men­schen aber sind sehr klein und noch sehe ich nie­mand, mit dem ich mich ein­schif­fen möch­te« – ihm dies stol­ze und re­si­gnier­te Wort nach­zu­spre­chen, hat­te 1917 nie­mand das Recht. Die Här­te der Staats­ge­walt bre­chen, nichts Ent­schei­den­des mehr über sich dul­den, ohne selbst Ent­schei­dun­gen ge­wach­sen zu sein, das war der rein ne­ga­ti­ve Sinn die­ses Staats­s­trei­ches: Ab­set­zung des Staa­tes, Er­satz durch eine Olig­ar­chie sub­al­ter­ner Par­teihäup­ter, die nach wie vor Op­po­si­ti­on als Be­ruf und Re­gie­ren als An­ma­ßung emp­fan­den, vor dem la­chen­den Geg­ner, vor ver­zwei­feln­den Zuschau­ern im In­nern Stück für Stück ab­tra­gen, an­boh­ren, ver­rücken, die neue All­macht an den wich­tigs­ten Be­am­ten er­pro­ben wie ein Ne­ger­kö­nig ein Ge­wehr an sei­nen Skla­ven, das war der neue Geist, bis in der schwar­zen Stun­de des letz­ten Wi­der­stan­des die­ser Staat ver­schwand.

3.

Dem Hand­streich der eng­li­schen Staats­geg­ner folg­te mit Not­wen­dig­keit im No­vem­ber 1918 der Auf­stand des mar­xis­ti­schen Pro­le­ta­ri­ats. Der Schau­platz wur­de aus dem Sit­zungs­saal auf die Stra­ße ver­legt. Ge­deckt durch die Meu­te­rei der »Hei­mat­ar­mee« bra­chen die Le­ser der ra­di­ka­len Pres­se los, von den klü­ge­ren Füh­rern ver­las­sen, die nur noch halb von ih­rer Sa­che über­zeugt wa­ren. Auf die Re­vo­lu­ti­on der Dumm­heit folg­te die der Ge­mein­heit. Es war wie­der nicht das Volk, nicht ein­mal die so­zia­lis­tisch ge­schul­te Mas­se; es war das Pack mit dem Li­te­ra­ten­ge­schmeiß an der Spit­ze, das in Ak­ti­on trat. Der ech­te So­zia­lis­mus stand im letz­ten Rin­gen an der Front oder lag in den Mas­sen­grä­bern von halb Eu­ro­pa, der, wel­cher im Au­gust 1914 auf­ge­stan­den war und den man hier ver­riet.

Es war die sinn­lo­ses­te Tat der deut­schen Ge­schich­te. Es wird schwer sein, in der Ge­schich­te an­de­rer Völ­ker Ähn­li­ches zu fin­den. Ein Fran­zo­se wür­de den Ver­gleich mit 1789 als eine Be­lei­di­gung sei­ner Na­ti­on mit Recht ab­leh­nen.

War das die große deut­sche Re­vo­lu­ti­on?

Wie flach, wie flau, wie we­nig über­zeugt war das al­les! Wo man Hel­den er­war­te­te, fand man be­frei­te Sträf­lin­ge, Li­te­ra­ten, De­ser­teu­re, die brül­lend und steh­lend, von ih­rer Wich­tig­keit und dem Man­gel an Ge­fahr trun­ken, um­her­zo­gen, ab­setz­ten, re­gier­ten, prü­gel­ten, dich­te­ten. Man sagt, die­se Ge­stal­ten be­schmut­zen jede Re­vo­lu­ti­on. Ge­wiss. Nur dass in den an­de­ren das ge­sam­te Volk mit sol­cher Ur­ge­walt her­vor­brach, dass die Hefe ver­schwand. Hier han­del­te sie al­lein. Die un­ge­heu­re Mas­se, die ein Ge­dan­ke zur Ein­heit schmie­de­te, blieb aus.

In der Be­bel­par­tei war et­was Sol­da­ti­sches ge­we­sen, das sie vor dem So­zia­lis­mus al­ler an­de­ren Län­der aus­zeich­ne­te, klir­ren­der Schritt der Ar­bei­ter­ba­tail­lo­ne, ru­hi­ge Ent­schlos­sen­heit, Dis­zi­plin, der Mut, für et­was Jen­sei­ti­ges zu ster­ben. Seit die in­tel­li­gen­te­ren Füh­rer von ges­tern sich dem Fein­de von ges­tern, der vor­märz­li­chen Spieß­bür­ger­lich­keit in die Arme ge­wor­fen hat­ten, aus Angst vor dem Er­folg ei­ner Sa­che, die sie seit 40 Jah­ren ver­tra­ten, aus Angst vor der Verant­wor­tung, vor dem Au­gen­blick, wo sie Wirk­lich­kei­ten nicht mehr an­grei­fen, son­dern schaf­fen soll­ten, er­losch die See­le der Par­tei. Hier trenn­ten sich – zum ers­ten Male! – Mar­xis­mus und So­zia­lis­mus, die Klas­sen­theo­rie und der Ge­sam­tin­stinkt. Be­schränk­te Ehr­lich­keit war nur bei den Spar­ta­kis­ten. Die Klü­ge­ren hat­ten den Glau­ben an das Dog­ma ver­lo­ren, den Mut zum Bru­che mit ihm noch nicht ge­fun­den. Und so hat­ten wir das Schau­spiel ei­ner Ar­beiter­schaft, die durch ei­ni­ge dem Ge­hirn ein­ge­häm­mer­te Sät­ze und Be­grif­fe in ih­rem Be­wusst­sein vom Vol­ke ab­ge­spal­ten war, von Füh­rern, die ihre Fah­ne ver­lie­ßen, Ge­führ­ten, die nun füh­rer­los vor­wärts stol­per­ten – am Ho­ri­zont ein Buch, das sie nie ge­le­sen und das jene in sei­ner Be­schränkt­heit nie ver­stan­den hat­ten. Sie­ger in ei­ner Re­vo­lu­ti­on ist nie eine ein­zel­ne Klas­se – da hat man 1789 falsch ver­stan­den; Bour­geoi­sie ist nur ein Wort –, son­dern, es sei im­mer wie­der ge­sagt, das Blut, die zum Leib, zum Geist ge­w­ord­ne Idee, die alle vor­wärts treibt. Sie nann­ten sich 1789 die Bour­geoi­sie, aber je­der ech­te Fran­zo­se war und ist heu­te noch Bür­ger. Je­der ech­te Deut­sche ist Ar­bei­ter. Das ge­hört zum Stil sei­nes Le­bens. Die Marxis­ten hat­ten die Ge­walt in Hän­den. Aber sie dank­ten frei­wil­lig ab; der Auf­stand kam für ihre Über­zeu­gung zu spät. Er war eine Lüge.

4.

Ver­ste­hen wir über­haupt et­was von Re­vo­lu­ti­on? Als Ba­ku­nin 1848 den Aufruhr in Dres­den mit ei­ner Nie­der­bren­nung al­ler öf­fent­li­chen Ge­bäu­de krö­nen woll­te und auf Wi­der­stand stieß, er­klär­te er »Die Deut­schen sind zu dumm dazu« und ging sei­ner Wege. Die un­be­schreib­li­che Häss­lich­keit der No­vem­ber­ta­ge ist ohne Bei­spiel. Kein mäch­ti­ger Au­gen­blick, nichts Be­geis­tern­des; kein großer Mann, kein blei­ben­des Wort, kein küh­ner Fre­vel, nur Klein­li­ches, Ekel, Al­bern­hei­ten. Nein, wir sind kei­ne Re­vo­lu­tio­näre. Kei­ne Not, kei­ne Pres­se, kei­ne Par­tei kann einen ord­nungs­wid­ri­gen Sturm mit der Ge­walt von 1813, 1870, 1914 her­vor­ru­fen. Von ein paar Nar­ren und Stre­bern ab­ge­se­hen, wirk­te die Re­vo­lu­ti­on auf je­den wie ein ein­stür­zen­des Haus, am tiefs­ten viel­leicht auf die So­zia­lis­ten­füh­rer selbst. Es ist ohne Bei­spiel: sie hat­ten plötz­lich, was sie seit 40 Jah­ren er­streb­ten, die vol­le Ge­walt, und emp­fan­den sie als Un­glück. Die­sel­ben Sol­da­ten, die un­ter der schwarz-weiß-ro­ten Fah­ne vier Jah­re lang als Hel­den ge­foch­ten hat­ten, ha­ben un­ter der ro­ten nichts ge­wollt, nichts ge­wagt, nichts ge­leis­tet. Die­se Re­vo­lu­ti­on hat ih­ren An­hän­gern den ech­ten Mut nicht ge­ge­ben, son­dern ge­nom­men.

Das klas­si­sche Land west­eu­ro­päi­scher Re­vo­lu­tio­nen ist Frank­reich. Der Schall tö­nen­der Wor­te, die Blut­strö­me auf dem Stra­ßen­pflas­ter, la sain­te guil­lo­ti­ne, die wüs­ten Brand­näch­te, der Pa­ra­de­tod auf der Bar­ri­ka­de, die Or­gi­en ra­sen­der Mas­sen – das al­les ent­spricht dem sa­dis­ti­schen Geist die­ser Ras­se. Was an sym­bo­li­schen Wor­ten und Ak­ten zu ei­ner voll­stän­di­gen Re­vo­lu­ti­on ge­hört, kommt aus Pa­ris und ist von uns nur schlecht nach­ge­ahmt wor­den. Wie ein pro­le­ta­ri­scher Auf­stand un­ter feind­li­chen Ka­no­nen aus­sieht, ha­ben sie uns schon 1871 vor­ge­führt. Es wird nicht das ein­zi­ge Mal ge­we­sen sein.

Der Eng­län­der sucht den in­ne­ren Feind von der Schwä­che sei­ner Po­si­ti­on zu über­zeu­gen. Ge­lingt es nicht, so greift er ru­hig zu Schwert und Re­vol­ver und zwingt ihn, ohne re­vo­lu­tio­näre Me­lo­dra­ma­tik. Er schlägt sei­nem Kö­nig den Kopf ab, weil er dies Sym­bol in­stink­tiv für not­wen­dig hält; es ist für ihn eine Pre­digt ohne Wor­te. Der Fran­zo­se tut es – aus re­van­che, aus Freu­de an blu­ti­gen Sze­nen und mit dem geist­rei­chen Kit­zel, dass er ge­ra­de einen Kö­nigs­kopf dar­an wen­den kann. Denn ohne Men­schen­köp­fe auf Pi­ken, Ari­sto­kra­ten an der La­ter­ne, von Wei­bern ge­schlach­te­te Pries­ter wäre er nicht zu­frie­den. Das Er­geb­nis der großen Tage küm­mert ihn we­ni­ger. Der Eng­län­der will den Zweck, der Fran­zo­se die Mit­tel.

Was woll­ten wir? Wir brin­gen es nur zu Ka­ri­ka­tu­ren von bei­der­lei Art. Prin­zi­pi­en­rei­ter, Schul­füch­se, Schwät­zer in der Pauls­kir­che und in Wei­mar, ein klei­ner Spek­ta­kel auf der Gas­se, ein Volk im Hin­ter­grun­de, das we­nig be­tei­ligt zu­sieht. Aber eine ech­te Re­vo­lu­ti­on ist nur die ei­nes gan­zen Vol­kes, ein Auf­schrei, ein eher­ner Griff, ein Zorn, ein Ziel.

Und das, die­se deut­sche so­zia­lis­ti­sche Re­vo­lu­ti­on, fand 1914 statt. Sie voll­zog sich in le­gi­ti­men und mi­li­tä­ri­schen For­men. Sie wird, in ih­rer dem Durch­schnitt kaum ver­ständ­li­chen Be­deu­tung, die Wi­der­lich­kei­ten von 1918 lang­sam über­win­den und als Fak­tor ih­rer fort­schrei­ten­den Ent­wick­lung ein­ord­nen.