Reden und Aufsätze - Oswald Spengler - E-Book

Reden und Aufsätze E-Book

Oswald Spengler

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Beschreibung

Dieser Band enthält folgende Schriften: Heraklit Der Sieger Einführung zu Ernst Droems "Gesängen" Pessimismus? Frankreich und Europa Aufgaben des Adels Plan eines neuen Atlas Antiquus Altasien Nietzsche und sein Jahrhundert Zur Entwicklungsgeschichte der deutschen Presse Entwurf zu einem juristischen Preisausschreiben Vom deutschen Volkscharakter Einführung zu einem Aufsatz Richard Korherrs über den Geburtenrückgang Das Alter der amerikanischen Kulturen Der Streitwagen und seine Bedeutung für den Gang der Weltgeschichte Gedicht und Brief Zur Weltgeschichte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends Ist Weltfriede möglich?

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Reden und Aufsätze

Oswald Spengler

Inhalt:

Oswald Spengler – Biografie und Bibliografie

Heraklit

Einleitung

A. Die Reine Bewegung

B. Das formale Prinzip

Der Sieger

Einführung zu Ernst Droems "Gesängen"

Pessimismus?

Frankreich und Europa

Aufgaben des Adels

Plan eines neuen Atlas Antiquus

Altasien

Nietzsche und sein Jahrhundert

Zur Entwicklungsgeschichte der deutschen Presse

Entwurf zu einem juristischen Preisausschreiben

Vom deutschen Volkscharakter

Einführung zu einem Aufsatz Richard Korherrs über den Geburtenrückgang

Das Alter der amerikanischen Kulturen

Der Streitwagen und seine Bedeutung für den Gang der Weltgeschichte

Gedicht und Brief

Zur Weltgeschichte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends

Ist Weltfriede möglich?

Quellenverzeichnis

Reden und Aufsätze, Oswald Spengler

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849619596

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Frontcover: © Vladislav Gansovsky - Fotolia.com

Oswald Spengler – Biografie und Bibliografie

Deutscher Kultur- und Geschichtsphilosoph, geboren am 29. Mai 1880 in Blankenburg im Harz, verstorben am 8. Mai 1936 in München. Sohn eines Postsekretärs. Nach dem Bestehen des Abiturs 1899 studiert er Mathematik und Naturwissenschaften in Halle, München und Berlin. Bereits 1904 promoviert er. Von 1908 bis 1911 arbeitet er als Gymnasiallehrer in Hamburg, anschließend zieht er um nach München. Nach einer kurzen Anstellung als Kulturredakteur arbeitet er als freier Schriftsteller. Immer wieder kommt er auch in Kontakt mit den Nationalsozialisten, mit denen er anfangs sympathisiert, sich dann aber immer mehr abwendet. Er stirbt an Herzversagen.

Wichtige Werke:

    Der metaphysische Grundgedanke der heraklitischen Philosophie, 1904.

    Der Untergang des Abendlandes, 1918 – 1922

    Preußentum und Sozialismus, 1919.

    Neubau des Deutschen Reiches, 1924.

    Politische Pflichten der deutschen Jugend. 1924.

    Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einer Philosophie des Lebens, 1931

    Politische Schriften, 1932.

    Jahre der Entscheidung, 1933.

Heraklit

Eine Studie über den energetischen Grundgedanken seiner Philosophie

(1904)

Einleitung

I

In dem Jonier Heraklit erreicht die griechische Philosophie des 6. und 5. Jahrhunderts – keine Schule, sondern eine Reihe selbständiger, mächtiger, ihrer Zeit an Reife weit überlegener und erstaunlich schöpferischer Denker, wie sie später, als die Philosophie ihren Sitz in Athen genommen hatte, nicht wieder aufgetreten sind – ihren Gipfel. Griechenland hat niemals gewaltigere Menschen hervorgebracht als diese, von denen einer dem andern folgend mit Meisterstrichen ein Bild des Kosmos schuf, nichts weniger als kritisch und mit dem Vorsatz, den Anforderungen strenger Wissenschaft zu genügen, sondern in hoher Intuition und mit einem gewaltigen Blick den Sinn der Welt, ihre Vergangenheit und Zukunft umfassend. In diesem Sinne hat man ihre Leistungen zu beurteilen. An Stelle der kühlen Strenge des Unterscheidens und Zerlegens, wie sie Aristoteles besitzt, findet man hier, um ein Wort Goethes zu gebrauchen, die "exakte sinnliche Fantasie", eine Richtung auf Gestalten und Gedanken, nicht deren abstrakte Folgerungen, Begriffe und Gesetze. Heraklit ist nicht nur der tiefste, sondern auch der vielseitigste und umfassendste Geist unter ihnen. Die Systeme des Anaximander, Xenophanes, Pythagoras finden in dem seinigen verwandte Seiten. Die großen Probleme des griechischen Denkens – das Verhältnis von Form und Ding an sich, der Begriff des Gesetzes, der Begriff der inneren Einheit alles Seins oder Geschehens, der Ursprung des Seins, der Ursprung des Andersseins – die man in dieser Zeit entdeckte und zu naiven und kühnen Formeln verdichtete, vereinigte er in den Grundgedanken seiner Lehre, die andern repräsentieren sie einzeln. Es wäre unrichtig, aus diesem Grunde in Heraklit einen Nachfolger oder Nachahmer dieser Lehren sehen zu wollen. Ob zwischen Anaximander oder Xenophanes und ihm das Verhältnis des Meisters zum Jünger oder eine andere engere Beziehung bestand – eine Unwahrscheinlichkeit, wenn man die geistige und politische Unabhängigkeit der hellenischen Städte und die selbstbewußte, von der üblichen weit entfernte Lebensführung dieser Philosophen in Betracht zieht – ist eine Frage von geringer Bedeutung. Die Möglichkeit einer mittelbaren Einwirkung ist ja vorhanden. Aber von den zahlreichen möglichen, aus Beobachtung, Erlebnissen, Eindrücken, Meinungen der anderen stammenden Anregungen werden nur diejenigen gewirkt haben, die auf verwandte, im Grunde schon vorhandene Elemente trafen. Daß Heraklits Unabhängigkeit niemals in Frage gestellt worden ist, darf man aus seinem Charakter mit großer Gewißheit schließen. Wenn sich eine ähnliche Richtung im Denken jener Philosophen beobachten läßt (wie die Gleichheit des Ausgangspunktes und die parallele Behandlung gleicher Fragen), so folgt dies aus der organischen Einheit des geistigen Lebens innerhalb einer umgrenzten Kulturepoche, wie es die Geschichte häufiger zeigt. (Die ataraxia als Basis aller ethischen Lehren im 3. Jahrhundert, das Problem der Methode bei Bacon, Descartes, Galilei.)

Der Gedanke, in dem Heraklit eine neue Auffassung des kosmischen Daseins gab, ist ein energetischer: der eines reinen (stofflosen), gesetzmäßigen Geschehens. Die Entfernung dieser Idee von der Anschauung anderer, und zwar gleichmäßig der Jonier, Eleaten und Atomisten, ist eine außerordentliche. Heraklit ist mit ihr unter den Griechen völlig einsam geblieben; es gibt keine zweite Konzeption dieser Art. Alle andern Systeme enthalten den Begriff der substanziellen Grundlage (arxh, apeiron, to pleon, ylh, to plhres und auch Platos Erscheinungswelt, genesis im Gegensatz zur Ideenwelt, aitia ths geneseos), und die Stoa, die sich später Heraklits Worte und Formeln aneignete, mußte sie erst mit demokritischem Geist erfüllen, um sie dem Zeitalter annehmbar zu machen. Daraus vor allem erklären sich die häufigen Mißverständnisse in der Auffassung dieser Lehre, nicht weil sie uns ungenügend bekannt ist,1 sondern weil sie im Gegensatz zu der uns geläufigen Denkweise steht. Die Geschichte der Heraklitforschung zeigt, wie man, um sich einen schwierigen, fremdartigen Gedanken zu assimilieren, mangels einer angemessenen modernen Ausführung der Idee auf alle möglichen andern zurückgreift, um sich an bekannte Begriffe und Anschauungen halten zu können. Man darf zweifeln, ob irgendeine der möglichen Erklärungen noch nicht versucht worden ist. Heraklit erscheint als Schüler des Anaximander (Lassalle, Gomperz), des Xenophanes (Teichmüller), der Perser (Lassalle, Gladisch), der Ägypter (Tannery, Teichmüller), der Mysterien (Pfleiderer), als Hylozoist (Zeller), Empirist und Sensualist (Schuster), "Theologe" (Tannery), als Vorläufer Hegels (Lassalle). Sein großer Gedanke gleicht der Seele Hamlets: jeder versteht ihn, aber jeder anders. –

Der Versuch, die Ideen eines Philosophen, dem die scharfe, durch lange Übung geschulte Ausdrucksweise einer hochentwickelten Wissenschaft unbekannt war, ohne diese Genauigkeit zu beurteilen, führt nicht zum Ziele. Teichmüller (Bd. I S. 80) sagt: "Wer bei Heraklit exakte Begriffe sucht, gibt sich unnütze Mühe. – Bei Heraklit bestand die Philosophie nur in einer allegorischen Verallgemeinerung einiger auffallender Tatsachen. – Wollten wir schärfer bestimmen, so würden wir Heraklits Denkweise zerstören." Eine Folge dieser Auffassung ist es, wenn man durch ungenügende Feststellung der Begriffe und unhaltbare Analogien zu den schwersten Irrtümern kommt. Ein Beispiel ist die Anwendung des Begriffs arxh, den Anaximander für seine Philosophie geschaffen hat und der nur innerhalb des Hylozoismus einen Sinn hat, auf andere, auch Heraklit, in dessen System er ganz gegenstandslos ist. Man muß vorsichtig, sogar skeptisch sein nicht nur in der Erklärung der griechischen Gedankenelemente an sich, sondern vor allem in ihrer Abgrenzung gegen die modernen. Wir dürfen nicht vergessen, daß unsere Grundbegriffe das Ergebnis der ganzen Entwicklung der neueren Philosophie seit dem 16. Jahrhundert sind und nur in diesem Ideenkreis eine unbedingte Geltung haben. Den innerhalb so verschiedener Kulturen, wie es die antike und die neuere sind, entstandenen Gedankenkomplexen, die sich schon durch die verschiedene Auffassung vom Wesen der Wissenschaft überhaupt unterscheiden, entsprechen beiderseits durchaus eigentümliche Begriffe. Selbst ein so naheliegender wie der Begriff Materie ist bei Demokrit und in der modernen Naturwissenschaft nicht derselbe; dort liegt z.B. die Ursache der Bewegung im Wesen der Materie (tyxh), hier ist sie als an den Äther gebundene Energie ein selbständiger Faktor außerhalb.

Eine andere Schwierigkeit liegt darin, daß Heraklit zwar seiner Anschauung gewiß war, ihr aber sprachlich nicht immer einen angemessenen Ausdruck gab. Nicht nur der Mangel einer wissenschaftlichen Sprache mit zweckmäßig geschaffenen Ausdrücken, auch nicht das Fehlen einer regelrechten Polemik unter diesen Philosophen, die zu einer scharfen und vorsichtigen Ausdrucksweise gezwungen hätte, sind der wichtigste Grund dafür, sondern die Unmöglichkeit, eine neue, dem Augenschein widersprechende Erkenntnis der Natur mit den gewohnten, unter andern Eindrücken und Meinungen entstandenen Wortsymbolen zu geben. Goethe, dessen Ansichten über die Natur von einem ähnlichen Geist getragen waren, bemerkte diese Grenze wohl. "Alle Sprachen sind aus naheliegenden menschlichen Bedürfnissen, menschlichen Beschäftigungen und allgemein menschlichen Empfindungen und Anschauungen entstanden. Wenn nun ein höherer Mensch über das geheime Wirken und Walten der Natur eine Ahnung und Einsicht gewinnt, so reicht seine ihm überlieferte Sprache nicht hin, um ein solches von menschlichen Dingen durchaus Fernliegendes auszudrücken. – Er muß bei seiner Anschauung ungewöhnlicher Naturverhältnisse stets nach menschlichen Ausdrücken greifen, wobei er denn fast überall zu kurz kommt, seinen Gegenstand herabzieht oder wohl gar verletzt und vernichtet." (Eckermann, Gespr. mit Goethe III, 20. Juni 1831.)

Eine Darstellung der gesamten Lehre Heraklits ist durch den Verlust seiner Schrift unmöglich geworden. Es soll hier lediglich eine Entwicklung des Prinzips versucht werden, das dieser Denker zur Grundlage seines Weltsystems machte und das mit wenigen Worten in eine Formel zu bringen ist: panta rei, die Idee eines reinen gesetzmäßigen Werdens. Es liegt in den Worten, daß die Ausführung nach zwei Seiten zu erfolgen hat: das Werden selbst und sein Gesetz. Diese Trennung ist eine rein methodische. Ihr entspricht, wie betont werden muß, durchaus nicht eine dualistische Gliederung des heraklitischen Kosmos. Alle im folgenden erwähnten Gedanken sind ein und dasselbe Grundprinzip, das, als Einheit konzipiert, in den Fragmenten (und bei der aphoristischen Schreibweise Heraklits vielleicht schon in seinem Buche) nur in einer Anzahl verschiedener Darstellungen, wie sie der Fantasie eines leidenschaftlichen künstlerischen Menschen entsprangen, erhalten geblieben sind.

II

Es wäre für das Verständnis dieser Lehre ein Hindernis, wenn uns die Kenntnis der großen und tragischen Persönlichkeit Heraklits verlorengegangen wäre. Wir könnten nicht verstehen, weshalb dieser Philosoph den agon, die vornehmste Sitte seiner Zeit, zur Sitte des Kosmos machte, was er mit dem Feuer meinte, dem er eine herrschende Rolle im Weltall zuschrieb. Seine Lehre ist selbst für diese Zeit und für einen Griechen in ungewöhnlichem Grade persönlich, ohne daß von ihm selbst viel die Rede wäre.

Wir sehen einen Menschen, dessen ganzes Fühlen und Denken unter der Herrschaft einer ungezügelten aristokratischen Neigung stand, die durch Geburt und Erziehung stark angelegt und durch Widerstand und Enttäuschung gereizt und gesteigert war. Hier ist der letzte Grund für jeden Zug seines Lebens und jede Besonderheit seiner Gedanken zu suchen. Noch in der energischen Konzentration des Systems, in dem Vermeiden und Verschmähen aller Einzelheiten und Nebensachen, dem Niederschreiben in kurzen, starken, ihm allein geläufigen Wendungen erkennen wir die Hand des Aristokraten.

Der hellenische Adel,2 dessen Untergang in dieser Zeit sich vollzieht, hat die bedeutungsreichste und schönste Periode der hellenischen Kultur geschaffen. Er hat durch seine Sitte für alle Zeit den Typus des vollkommenen Hellenen festgestellt, eine unvergleichlich hohe und edle Kultur des einzelnen Menschen (kalokagatia); er vertrat nicht nur Rechte oder Interessen, sondern eine Weltanschauung und eine Sitte (Burckhardt). Es war eine stolze, glückliche, herrschaftliebende und -gewöhnte Kaste, stolz auf das Blut, den Rang, die Waffen, die "Antibanausie"; sie war im Alleinbesitz des Geistes und der Kunst. Man kann die ungeheure ethische Macht der Kaste und ihrer Lebensauffassung über den Geist des einzelnen begreifen. Sie selbst konnte untergehen, aber wer einmal in ihrem Banne stand, vermochte sich ihr nicht wieder zu entziehen. Heraklit besaß ihr ganzes Selbstbewußtsein und ihren Stolz, eine starke, ungewollte, jeder Reflexion über sich selbst fremde Vornehmheit; er hängt mit Leidenschaft an ihren tapfern, gesunden, lebensfrohen Sitten, am Kampf, am Streben nach Ruhm.3 Dieser stolze unbeugsame Mann liebte den Unterschied von Herrschenden und Gehorchenden, er hatte Ehrfurcht vor den althergebrachten Sitten und Institutionen,4 die der Demokratie nicht mehr heilig waren. Er war ein zu tiefer Menschenkenner, um den Menschen seiner Zeit schlechthin, unter Absehen von Geburt und Rang, zu beurteilen. Er glaubte an den homerischen Unterschied5 der aristoi der Menschen von großer und vornehmer Lebensauffassung, und der Masse (oi polloi), an der er mit spöttischem Scharfblick die Mängel des Standes entdeckt.6 Er läßt sich nicht auf Angriffe und Auseinandersetzungen mit dem dhmos ein, das verbieten ihm sein Geschmack und die Selbstbeherrschung, die eine der ersten Tugenden des vornehmen Griechen war;7 ohne Wut, ohne Ausfälle beurteilt er das Volk von oben herab, kalt, boshaft, mit Verachtung und Ekel, zuweilen durch eine sarkastische Bemerkung den aufsteigenden Groll verbergend.

Der Name des weinenden Philosophen, den ihm das Altertum gab, wird nicht ohne Grund entstanden sein, das verraten Anekdoten8 und manche seiner Aphorismen,9 aus denen ein bittrer, verwundeter Ton spricht. Durch Abkunft und tiefe Anhänglichkeit an ein Lebensideal geknüpft, wurde er zu einer Zeit geboren, wo dies Ideal keine Daseinsmöglichkeit mehr hatte. Die Macht und die Sitten des Adels waren gesunken oder verschwunden. Die Demokratie begann zu herrschen. Zum Nachgeben oder nutzlosen Klagen war er zu starr und zu trotzig. Eine der ersten und einflußreichsten Würden in Ephesos, die ihm durch Erblichkeit zufiel (die des basileys), war für ihn nicht mehr das, was sie hätte sein müssen. Er verzichtete auf sie. Das Leben der polis verlor die aristokratische Form und die Menge begann zu regieren.

Da verließ er die Stadt, wo er ein kleiner Machthaber hätte sein können, und ging in das Gebirge, in eine freiwillige Einsamkeit, ein Dasein, das dem geselligen Griechen, der mit dem Schicksal seiner Stadt verwachsen war, das furchtbarste dünkte. Er ist unversöhnlich dort geblieben, sein Leben ertragend, das ihn zuletzt dem Wahnsinn nahe brachte, wenn man Theophrast glauben darf.10 –

Als Hellenen galt ihm der Ruhm, man könnte sagen die Berühmtheit, als das Höchste.11 Es ist die Frage, ob ihn jene selbstgewählte Einsamkeit und die seltsamen Züge, die ihm eine bewundernde Aufmerksamkeit zuzogen, nicht vielleicht für eine Rolle in Ephesos schadlos halten sollten. Jeder Grieche wollte in aller Munde sein, und um jeden Preis. Herostrat ist ein berühmtes Beispiel dafür, was man zu diesem Zwecke versuchen konnte. Aber man sieht das auch an Alkibiades, Themistokles und jedem andern, der als echter Hellene gelten kann. Man darf bei Heraklit am wenigsten diese nationale Form des Ehrgeizes, einen verhängnisvollen Zug des griechischen Charakters, vergessen. Diese Eigenschaft, die in unsern Augen unedel erscheint, ist kein Streben, das dem Gegner Großmut und Anerkennung nicht versagt, sondern ein unbändiger verzehrender Neid, ja Haß gegen jeden, der glücklicher war, eine bis zur Selbstvernichtung gehende Unerträglichkeit des Bewußtseins, weniger als andere bewundert zu werden, das die Griechen mit ihrem lebhaften Empfinden zu einem tief unglücklichen Volk machte.

Für die Philosophie folgte daraus, daß es in der altern Zeit nie zu der Behandlung eines Problems durch eine Reihe von Denkern nacheinander gekommen ist. Hier beginnt jeder von vorn, vielleicht gerade vom Gegenteil aus, kaum einer hat die Entdeckungen der Vorgänger dankbar angenommen. Man weiß vielmehr die Unterschiede hervorzukehren, sogar zu übertreiben, und bis auf Aristoteles hat jeder der Großen die andern spöttisch genug angesehen. Man darf von Heraklit als einem Griechen keine Anerkennung fremder Verdienste erwarten. Er neigt im Gegenteil zu schroffer Betonung der Gegensätze in Paradoxien und Antithesen, und wenn er einmal einen berühmten Namen nennt, geschieht es gewiß immer mit einer Bosheit dazu (Fr. 40, 57, 129; Plut. de Iside 48, 370). Die Besonderheit seines Schicksals steigerte in ihm das Selbstgefühl des ungewöhnlichen Menschen und führte zu einer Überspannung des Originalitätstriebes, zu einer grundsätzlichen Ablehnung aller fremden Meinungen, selbst zum Vermeiden geläufiger, ihm vielleicht trivial klingender Wendungen. Unter diesen Voraussetzungen ist die Genesis seiner Gedanken zu verfolgen und der Grad ihrer Abhängigkeit von gleichzeitigen Systemen zu bemessen.

III

Für jeden denkenden Menschen gibt es eine Form des Denkens, die aus denselben psychischen Ursachen wie die Weltanschauung und die Denkergebnisse entspringend mit ihnen eng verknüpft ist. Im weitesten Sinne, nicht nur als instinktive Art der logischen Gedankenführung, sondern auch als unbewußte Methode der Auswahl und Verwertung von Eindrücken jeder Art ist sie als Vermittler zwischen Persönlichkeit und System, unter Umständen sogar als selbständiger Anlaß zu Ideen von Wert. Der Stil des Denkens und die Lehre selbst sind verwandt. Für die heraklitische Philosophie ist dieser Umstand wichtig. Heraklit war – in einer Zeit des naiven, noch nicht zur Reflexion über sich selbst herangereiften Denkens – in der glücklichen Lage, aus dem Vollen schöpfen zu können, sich seinen Wünschen überlassen zu dürfen, ohne durch bedeutendere Vorarbeiten auf seinem Gebiet auf die Forschung in kleinerem Maßstabe innerhalb festgelegter Richtungen beschränkt zu sein, ein Glück, dessen Goethe sich bewußt war, als er einmal hervorhob: Als ich achtzehn Jahre war, war Deutschland auch erst achtzehn. (Eckermann, Gespr. mit Goethe I, 15. Febr. 1824.)

War Heraklit seiner Weltanschauung nach Aristokrat, so kann man ihn hinsichtlich seines ganzen Denkverfahrens als Psychologen bezeichnen. Beides steht in einem häufiger zu beobachtenden Zusammenhang. Damit soll über den Gegenstand seiner Untersuchungen nichts ausgesagt, nur eine Methode der Behandlung angedeutet werden. Er betrachtet die Natur nicht an sich selbst als Objekt, nach Erscheinung, Ursprung und Zweck, sein Verfahren ist vielmehr eine Analyse der Naturvorgänge, soweit sie Vorgänge, Veränderungen sind, ihren gesetzlichen Verhältnissen nach; man kann sein System eine Psychologie des Weltgeschehens nennen. Aus dieser neuen philosophischen Fragestellung folgt die Auffindung neuer Probleme. Heraklit kann als der erste Sozialphilosoph, der erste Erkenntnistheoretiker, der erste Psycholog gelten. Seine Aphorismen über den Menschen sind nicht Sprüche mit ethischer Tendenz wie die Gnomen des Bias oder Solon, sondern zum erstenmal wirklich beobachtete, durchaus objektive, den didaktischen Ton ganz vermeidende Bemerkungen.

Vergessen wir endlich einen wesentlichen Unterschied nicht, der Heraklit und die ganze griechische Philosophie von der neuern trennt. Das Volk, dessen Erzieher Gymnastik, Musik und Homer waren, das für die Welt das Wort kosmos erfand, weil es in ihr vor allem den Sinn der Ordnung und Schönheit sah, behandelte die Philosophie nicht eigentlich als Wissenschaft (abstrakt wissenschaftliche Untersuchungen sind immer dem metaphysischen Endzweck untergeordnet worden), sondern als den Weg, ein Weltbild zu schaffen, das ihm seine Stellung im All zu übersehen erlaubte, und als eine Gelegenheit, seine Freude am Formen zu betätigen. Es wäre falsch, das griechische Denken, das unter freiem Himmel, in einer südlichen, sonnigen Landschaft, aus einem heitern und leichtbeweglichen Leben heraus entstand, wegen dieser uns fremden Verwandtschaft zur Kunst tiefer als das unsere zu stellen. Dem Hellenen der klassischen Zeit ist die Philosophie bildende Kunst, Architektonik der Gedanken. Die plastische Kraft der Hellenen, ihre Fähigkeit, alles Erlernte und Selbstgeschaffene einem einheitlichen Stil zu unterwerfen, ist eine ungeheure, und diesem Gefühl für Form entspringt die Neigung, philosophische Systeme als Kunstwerke zu konzipieren.

Heraklit ist der bedeutendste Künstler unter den Vorsokratikern. Davon zeugt nicht nur das satte und farbenreiche Pathos seines Stils, sondern vor allem die geniale Plastik seiner Darstellung. Er sieht seine Ideen, berechnet sie nicht. Ihren intuitiven Charakter, dem alle Dialektik, wie sie vor allem das gegnerische System des Parmenides stützt, fremd ist,12 unterstützen die immer glücklich gewählten Beispiele (wie die vom Bogen und der Leier, vom Mischtrank), in denen er ein ihm greifbar vor Augen stehendes Bild wiederzugeben versucht. Es blieb zuweilen kein andres Mittel der Verständigung übrig, weil ihm durch seine Problemstellung bezüglich der sprachlichen Darstellung Schwierigkeiten erwuchsen, die er nicht immer bewältigen konnte, trotz einer Energie des Denkens, die in der alten Philosophie selten ihresgleichen findet. Sein Hauptgedanke widerspricht dem Augenschein und dem gewohnten Denken vollkommen und beansprucht ein hohes Maß von Abstraktionskraft, um überhaupt gefunden zu werden. Einer unerbittlichen Konsequenz und einem sichern Blick über das Gebiet seiner Untersuchungen verdankt er eine innere Einheit des Systems, die wahrscheinlich nie wieder erreicht worden ist. Es ist mit großer Einfachheit auf einen Gedanken konzentriert und in Einzelheiten bei seiner immanenten Logik unangreifbar.

Heraklit darf als Realist bezeichnet werden, trotzdem er leicht für das Gegenteil zu nehmen ist. Jeder Begriff, der auf symbolistische Absichten zu deuten scheint, läßt sich bei näherem Eingehen auf einen realen Grund zurückführen. Er besitzt einen durchaus gesunden Blick für das greifbar Vorhandene13 und oft eine große Feinheit im Unterscheiden.14 Aber er verleugnet den Aristokraten nirgends; sein Denken hat einen wahren Imperatorenstil, ein selbst für diese Zeit in Einzelheiten sehr summarisches Verfahren.15 Nur die großen, grundlegenden Ideen sind ihm des Nachdenkens wert, bei einer ausgesprochenen Abneigung gegen eigentlich wissenschaftliche Detailforschung. Er hat eine bestimmte, streng begrenzte Ansicht, wie man denken müsse. Man soll nicht alles wissen wollen, nur das Wertvolle und Große, wenig auslesen, dies aber durchdringen. Er will Tiefe, Gehalt, Klarheit, nicht Umfang des Wissens. Daher seine Polemik: polymatih noon exein oy didaskei. Hsiodon gar an edidaxe kai Pytagorhn aytis te Xenopanea te kai Ekataion (Fr. 40). Matih ist die bloße Kenntnisnahme der Dinge. Das Sammeln von Tatsachen, ohne Überblick und Verständnis, ist ihm verhaßt. Nicht etwa wenig wissen: xrh gar ey mala pollon istoras pilosopoys andras einai katA H. (Fr. 35.) Istorih ist die in die Tiefe dringende kritische Beobachtung (nicht Kenntnis aus Büchern: Gomperz a.a.O. 1002 f. Istor Zeuge, Kritiker, bei Homer Schiedsrichter. Vgl. Porphyr, de abst. II, 49: Istor gar pollon o ontos pilosopos.

Eine "wissenschaftliche Philosophie" wird auf solcher Grundlage nie entstehen. Aber man hat hier die außerhalb des Schwerpunkts liegenden Fragen und den Grundgedanken selbst zu unterscheiden; dieser ist wirklich erschöpfend ausgeführt. Man darf die Logik der Gedankenführung auch nicht an der unsystematischen Darstellung messen. Die Schrift ist eine Aphorismensammlung, wie eine Bemerkung Theophrasts und die Fragmente selbst lehren. Heraklit hat nicht im bescheidensten Sinne didaktisch, geschweige denn populär zu wirken versucht, das beweist sein durchaus nicht auf leichtes Verständnis Rücksicht nehmender Stil und entspricht seiner menschenverachtenden Weltanschauung vollkommen.

Fußnoten

1 Die Meinung von Th. Gomperz (Wien. Sitzungsber. 113 [1886] S. 947). Die übrigen, hier benutzten Schriften sind: Schleiermacher, Herakleitos der Dunkle (Werke III. Abt. II. Bd.); Zeller, Philosophie der Griechen Bd. I; F. Lassalle, Die Philosophie Herakleitos des Dunklen von Ephesos; P. Schuster, Heraklit von Ephesus; E. Pfleiderer, Die Philosophie des Heraklit von Ephesus; G. Teichmüller, Neue Studien zur Geschichte der Begriffe Bd. I, II; G. Schäfer, Die Philosophie des Heraklit von Ephesus und die moderne Heraklitforschung; G. Tannery, Rév. philos. 1883, XVI, Héraclite et le concept de Logos.

2Über den Adel s. Wachsmuth, Hell. Altert. I S. 347 ff.; J. Burckhardt, Griech. Kulturgesch. I S. 171 ff., IV S. 86 ff.

3 Fr. 24: Arhipatoys teoi timosi kai antropoi. Fr. 25: Moroi gar mezones mezonas moiras lagxanoysi. Die Fragmentzählung geschieht nach H. Diels, Herakleitos von Ephesus, griech. u. deutsch, Berlin 1901.) [Diese Fragmentzählung ist auch in der Ausgabe der Vorsokratiker von H. Diels (5. Aufl., Berlin 1934, bearb. von W. Kranz, Text u. Übersetzung S. 150 ff.) beibehalten. Anm. des Verlags.]

4 Fr. 33: Nomos kai boylh peitestai enos. Fr. 44: Maxestai xrh ton dhmon yper toy nomoy okosper teixeos.

5 Aristos (xarieis) bei Homer im Sinne von Adel II. VII, 159, 327, XIX, 193. Od. I, 245 und öfter. Ebenso bei Heraklit Fr. 13, 29, 49, 104. Oi polloi in Fr. 2, 17, 29.

6 Unter vielen andern Fr. 29: Aireyntai gar en anti ananton oi aristoi, kleos aenaon tnhton, oi de polloi kekorhntai okosper kthneaFr. 104: Dhmon aoidoisi peitontai kai didaskaloi xreiontai omiloi...

7 Fr. 43: Ybrin xrh sbennynai mallon h pyrkaihn. Auch Fr. 47.

8 Er sah einmal spielenden Kindern zu, als Leute aus Ephesos vorüberkamen und stehen blieben. Er fuhr sie an: Was habt ihr hier zu gaffen? Ist dies nicht besser, als mit euch den Staat zu regieren? (Diog. Laert. IX, 3.)

9 Fr. 121. Auch Fr. 85: Tymoi maxestai xalepon o gar an telhi, pyxhs oneitai.

10 Aus dem starken Eindruck, den dieser Mann auf seine Zeitgenossen machte, entsprangen die bekannten Erzählungen wie jene, daß er seine Schrift im Artemistempel niedergelegt habe, damit sie erst der Nachwelt in die Hand käme (Diog. Laert. IX, 6).

11 Fr. 24, 25, 29.

12 Vgl. Fr. 81, wo er die rhetorische Methode kopidon arxhgos Führer zur Abschlachtung, nennt. (Angeblich gegen Pythagoras, vgl. Anm. zu Byw. Fr. 138.)

13 Fr. 55: Oson opis akoh mathsis, tayta ego protimeo.

14 Ein Beispiel: Oy gar proneoysi (durch Nachdenken einsehen) toiayta oi polloi, okoiois egkyreysin, oyde matontes (sinnlich wahrnehmen), ginoskoysin (begreifen), eoytoisi de dokeoysi (haben das Gefühl, es verstanden zu haben).

15 Der Eindruck dieser Methode auf spätere, etwas pedantische Philosophen Diog. Laert. IX, 8: Sapos de oyden ektitetai.

A. Die Reine Bewegung

I. Erste Formulierung: Panta rei.

1. Der Kosmos als Energieprozeß

Der Grundgedanke, auf den Heraklit seine Anschauung des Kosmos gründete, ist in dem berühmt gewordenen panta rei ereits vollständig enthalten. Der bloße Begriff des Fließens (der Veränderung) ist aber zu unbestimmt, um die feineren und tieferen Abstufungen dieses Gedankens erkennen zu lassen, dessen Wert nicht darin liegt, eine bloße Verschiedenheit der sich folgenden Zustände der sichtbaren und greifbaren Welt zu behaupten, die niemand bezweifelt. Gleich am Anfang ist der wichtige Unterschied hervorzuheben zwischen der Vorstellung, die Heraklit von dem Verlaufe und dem innersten Charakter des Weltgeschehens selbst hatte, von dem er sagte, daß er unsrer Wahrnehmung nicht zugänglich sei, und dem Anblick, den die Welt der Dinge, die wir folgerichtig als Erscheinung dieses Geschehens und seine Wirkung auf die Sinne aufzufassen haben., uns darbietet. Legt man diese kantische Unterscheidung, die Heraklits Lehre praktisch zweifellos enthält, obwohl sie in den Bruchstücken seiner Schrift nicht grundsätzlich getrennt erscheint, zugrunde, so vermeidet man einen der häufigsten Mißgriffe in der Beurteilung dieser Lehre. –

Will man das Geschehen in der Natur auf die ursprünglichsten Elemente zurückführen, so bleibt der Begriff der Veränderung noch mehrerer Auffassungen fähig. Man kann ein Substrat mit der einzigen Bestimmung der Beharrlichkeit annehmen, dann erscheint die Veränderung als die Art, wie das Beharrende in jedem Augenblick existiert. Kant bezeichnete von diesem vorsichtigen und unangreifbaren Standpunkte aus den Satz, daß die Substanz beharre, als Tautologie. "Denn bloß diese Beharrlichkeit ist der Grund, warum wir auf die Erscheinung die Kategorie der Substanz anwenden, und man hätte beweisen müssen: daß in allen Erscheinungen etwas Beharrliches sei, an welchem das Wandelbare nichts als Bestimmung seines Daseins ist."1 Um zu einer einfachem und anschaulichen Vorstellung zu gelangen, fügt man meist zu jenem Merkmal des Substrats noch die der Raumerfüllung, Undurchdringlichkeit und qualitativen Beständigkeit und erhält so den Begriff der (körperlich gedachten) Materie, worauf sich deren Veränderung nur noch als eine räumliche denken läßt. Dieser demokritische Begriff der Verschiebung von Massenteilen (peripora) den auch die neuere Naturwissenschaft enthält, liegt nicht im panta rei. Es ist möglich, den Begriff eines Substrats überhaupt, sei es als das im Wechsel der Erscheinungen Beharrende (das sich physikalisch als das unveränderliche Verhältnis der auf einen Körper wirkenden Kräfte zu den daraus folgenden Beschleunigungen beschreiben läßt), sei es als eigentliche Materie, fallen zu lassen, wodurch der Begriff der Veränderung (des Werdens, Fließens) einen neuen und reichern Inhalt erhält.

Die allgemeinsten Grundbegriffe, die zur schematischen Veranschaulichung von Naturvorgängen, zu der jeder denkende Mensch neigt, unerläßlich sind, unterliegen im Laufe der Jahrhunderte einer Entwicklung, die von dem jeweiligen Standpunkt der Wissenschaft bestimmt wird, so daß sie inhaltlich nur noch dem Denken einer begrenzten Zeit vollkommen genügen, diesem aber so notwendig sind, daß es nicht ohne Schwierigkeit möglich ist, sich von ihrem Einfluß zu befreien, um die andersgearteten Begriffe einer frühern Epoche (in diesem Falle Heraklits) richtig und objektiv aufzufassen. Wenn Plato im Philebos die Erscheinungswelt für ein Produkt des leeren Raumes (to mh on, apeiron) und der mathematischen Form (peras) erklärt, so können wir uns von diesen Begriffen kaum die entsprechende Vorstellung bilden.

Die meisten Versuche, Heraklits besondere Gedankengänge zu verstehen, werden beeinflußt durch diejenige Anschauung, welche der neuern Naturwissenschaft und sehr vielen Philosophen seit Hobbes eigen ist – und zwar nicht nur als "Arbeitshypothese" (Ostwald) –, welche das in der Anschauung Gegebene, infolge langer Denkgewöhnung beinahe mit Notwendigkeit, in eine aktive und eine passive Komponente zerlegt. Hier werden also zwei Größen unterschieden, die Materie und die selbständige, davon getrennte Energie, deren Objekt die Materie ist. Der zweite, in der griechischen Philosophie unbekannte Begriff ist durchaus substanziell aufzufassen. Infolgedessen ist aber das Bedürfnis, zu dieser Energie einen Träger, an den sie gebunden ist, vorzustellen, so stark, daß nach ihrer prinzipiellen Trennung von der Materie die Wellentheorie des Lichtes die Annahme einer zweiten Art von Materie, des Äthers, zur Folge hatte, nur weil man eine Größe mit diesen Merkmalen sich nicht ohne einen Träger wirkend vorstellen konnte. (Lord Kelvin hat nachgewiesen, daß dieser hypothetische Äther mit Eigenschaften, wie sie die Wellenbewegung der Lichtstrahlen voraussetzt, nicht existenzfähig ist.)

Ein körperlicher Träger der Bewegung ist nicht zur Vorstellung des Wirkens im Raume, der "Wirklichkeit", notwendig. Die von Mach und Ostwald aufgestellte energetische Theorie steht darin der Idee Heraklits weit näher. Nachdem bereits die kritischen Philosophen des 18. Jahrhunderts die Dinge für zusammengeordnete Komplexe von Empfindungen erklärt und damit das Endziel beinahe aller philosophischen Forschung, das Begreifen der Dinge an sich, als unmöglich und irrtümlich nachgewiesen hatten, konnte man die Substanz nicht mehr material auffassen. Die Energetik erkennt diese Kritik wenigstens für den Begriff der Materie an und definiert die Natur als eine Summe von Energien (wobei dieser Begriff aber wieder durchaus substanziell gefaßt ist). "Wir erlangen unsere Kenntnis der Außenwelt nur dadurch, daß unsere Sinnesorgane in bestimmter Weise von den Objekten derselben erregt werden; die Art und Stärke dieser Erregungen schreiben wir den ›Eigenschaften‹ der Materie zu. Nehmen wir aber den Objekten jene Eigenschaften, so behalten wir nichts übrig, was unsern Erfahrungen zugänglich ist, und die Materie verschwindet bei dem Versuch, sie für sich zu denken" (Ostwald, Chem. Energie, 2. Aufl., S. 5). Diese Annäherung der Energetik an Heraklit ist wichtig, denn sie macht es zum ersten Male möglich, seine Gedanken in eine moderne, wissenschaftliche Form zu bringen. Das im Raum Vorhandene ist ausschließlich Energie: "Denken wir uns deren verschiedene Arten von der Materie fort, so bleibt nichts übrig, nicht einmal der Raum, den sie einnahm. Somit ist Materie nichts als eine räumlich zusammengeordnete Gruppe verschiedener Energien und alles, was wir von ihr aussagen wollen, sagen wir nur von diesen Energien aus" (Ostwald, überwind. d. wissensch. Materialismus, S. 28). Auf diese Substanz läßt sich aber wieder die erwähnte Bestimmung Kants anwenden, daß sie selbst beharrt (das Gesetz J.R. Mayers) und nur ihre Art zu existieren sich ändert (die "Formen" der Energie, Licht, Wärme, Elektrizität).

Die griechische Anschauung ist von Anfang an eine andere. Der Begriff der Kraft ist erst von Galilei geschaffen worden und den Griechen unbekannt. Unterscheiden wir also zwischen Bewegung und Energie. Bewegung (ein Beziehungsbegriff) setzt nur ein Bewegtes voraus und nichts außerdem. Energie (die substanziell vorgestellte Ursache der Bewegung) ist selbst eine zweite Größe neben dem Bewegten, auch wenn dies wieder nur als Gruppe von Energien gedacht werden soll. Wir sagen: "Die Kraft greift an einem Punkte an." Dagegen kennt die monistische griechische Philosophie nur immanente und ideelle Ursachen der Bewegung (anagkh, pilia kai neikos, logos, tyxh); Demokrits Atome bewegen sich infolge der tyxh; es liegt in ihrer Natur, sich zu bewegen. Sie brauchen keine angreifende Energie. Für den griechischen Monismus ist damit das im Raum Vorhandene (am besten von Parmenides mit to pleon, das Raumerfüllende, bezeichnet) als einzige und unzerlegbare Substanz eine ganz andere Größe geworden. Dieser  Begriff der Substanz ist es, den Heraklit leugnet.

Das erste Problem der griechischen Philosophie, für welches der Mythus eine Lücke ließ, aber auch keine Richtung gab, ist das des "Ursprungs" der Dinge. Das am Anfang der Welt liegende Chaos, das ein Grieche als qualitativ unbestimmbare, in ihrer Bewegung regellose Masse definiert haben würde, ließ die Idee eines Urstoffs entstehen. Arxh ist ein Stoff. Nach der Meinung des Thales und Anaximenes besteht die Welt aus den qualitativen Verwandlungen dieses zuerst vorhandenen Stoffes. Die Bedeutung Anaximanders liegt darin, daß er für dessen Bestimmung die sinnlichen Qualitäten ausschaltete. Das apeiron, als arxh gedacht, ist ein der Wahrnehmung gänzlich entzogenes Etwas, dessen spezifische Einwirkung auf die Sinne erst Qualitäten und also Dinge entstehen läßt. Immerhin wird hier noch ein körperlich gedachter Hintergrund der Empfindungen angenommen. Die unbedingte Skepsis dem Substanzbegriff gegenüber ist schwer. Parmenides bemerkte mit Recht, daß alles Denken sich auf ein Sein bezieht, daß alles, was gedacht wird, in diesem Augenblick die Eigenschaft der Substanzialität erhält.

Da das griechische Denken keine Trennung von Bewegendem und Bewegtem kennt, und Heraklit die Einheit im Weltgeschehen ausdrücklich betont – sein Ausspruch ek panton en kai ex enos panta ist darin gleichbedeutend mit dem en kai pan des Xenophanes –, so muß die Annahme eines reinen, einheitlichen, unaufhörlichen "Werdens", das die Eleaten leugnen,2 den Substanzbegriff in jedem Sinne ausschließen.

In der Ausführung des Gedankens treten die äußersten Schwierigkeiten der sprachlichen Darstellung auf; einer der Fälle, wo wir bemerken, daß die Sprache selbst philosophische Grundsätze enthält. Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs, bemerkte Lichtenberg; "es wird also immer von uns wahre Philosophie mit der Sprache der falschen gelehrt." Wir können die Leugnung des Seins sprachlich nicht genau ausdrücken. Oyden menei, panta xorei: man fühlt, daß die Subjekte dieser Sätze bereits ein zuständliches Sein enthalten. Die Sprache ist eleatische Philosophie. –

Heraklit erklärt die Dinge grundsätzlich für eine in jedem Sinne erfolgende Veränderung: legei poy H., oti panta xorei kai oyden menei. (Plato, Cratyl. 402 A.) Diese vollkommene Verwandlung (metabolh in Fr. 91, antamoibh in Fr. 90) scheidet Plato (Theätet 181 B. ff.) in eine räumliche (peripora) und qualitative (alloiosis). Es muß festgehalten werden, daß es für einen Griechen nur eine reale Größe in der Außenwelt gibt, um die Abweisung des Substanzbegriffs in diesem Gedanken zu finden. Heraklit gebraucht den Substanzbegriff, der ihm aus der Philosophie der Zeit hätte geläufig sein müssen (arxh, apeiron), niemals (Teichmüller Bd. I S. 147). Ebenfalls kennt er den aus der Annahme der bewegten Materie leicht folgenden Begriff des leeren Raumes nicht. Heraklit versuchte, einen angemessenen Ausdruck für seinen neuen Gedanken zu finden. In den Sätzen: synapies ola kai oyk ola, symperomenon diaperomenon, synaidon diaidon, kai ek panton en kai ex enos panta (Fr. 10) und: gnomhn, oteh ekybernhse panta dia panton (Fr. 41. Vgl. Pseudo-Linus 13 Mullach: katA erin synapanta kybernatai dia pantos) sieht man zweifellos den Versuch einer energetischen Formel, um das reine, nicht an Materie gebundene Wirken im Räume auszudrücken.

Dieses Wirken ist der sinnlichen Wahrnehmung entzogen. Was wir sehen und fühlen, ist immer ein Seiendes, ein beharrender Zustand: tanatos (seiend, unbewegt) estin, okosa egertentes oreomen (Fr. 21). Die Sinne täuschen: Diese Einsicht machte ihn zu einem Skeptiker der Erkenntnis. Der Hintergrund der uns umgebenden körperlichen Welt, das im Raum wirkende "Werden", ist nicht erkennbar. Heraklit redet von einer unsichtbaren Harmonie gegenüber der sichtbaren in der Erscheinungswelt (armonih apanhs panerhs kreitton Fr. 54). Dasselbe will Fr. 123 sagen: pysis kryptestai pilei, die Natur pflegt verborgen zu sein;3 in der Natur ist das tiefere Wesen nicht ohne weiteres erkennbar, man muß den Eindruck der Sinne erst deuten. Diese Erscheinung des energetischen Prozesses für uns ist außerdem eine verschiedenartige: o teos ... (=pysis, kosmos) alloioytai de okosper [pyr], opotan symmighi tyomasin, onomazetai katA hdonhn ekastoy (Fr. 67).

Aus dieser Theorie folgt notwendig, daß das Werden und Fließen ein ununterbrochenes sein muß: o kykeon diistatai [mh] kinoymenos (Fr. 125). Dies Bild vom Mischtrank ist ein Beispiel für die Meisterschaft, mit der Heraklit seinen Ideen eine glückliche Anschaulichkeit zu geben weiß. (Nietzsche macht auf das Treffende des Ausdrucks "Wirklichkeit" aufmerksam.) Ein Ausgleich des antagonistischen Wirkens würde Ruhe für immer sein. Es ist für die Existenz des Kosmos notwendig, daß sich unaufhörlich differente Spannungen gegenüberstehen, widerstreben, aneinander messen; es darf kein Augenblick der Ruhe eintreten, fortwährend muß ein Minimum des Unausgeglichenen im Räume vorhanden sein.4 Wir haben uns das ewige Wirken als An- und Abschwellen von Spannungen (Gegensätzen) zu denken. Ein Versuch, dies auszusprechen, ist Fr. 91: allA oxythti kai taxei metabolhs skidnhsi kai palin synagei kai proseisi kai apeisi. Als prägnante Wendungen für diesen Gedanken finden sich die beinahe gleichbedeutenden Ausdrücke symperomenon diaperomenon (in Fr. 10: synapies ola kai oyk ola, symperomenon diaperomenon, synaidon diaidon ktl ... Plato Soph. 242 e: diaperomenon aei xymperetai. Luc. vit. auct. 14: aion pais esti paizon pesseyon syndiaperomenoss. Plato Symp. 187 A: to en gar phsi diaperomenon ayto ayto xymperestai.) und odos ano kato (in Fr. 60: odos ano kato mia kai oyth. Diog. Laert. IX, 8: kaleistai metabolhn [vgl. Fr. 91] odon ano kato). Diese Vorstellung, daß das Wirken im Räume, also das An- und Abschwellen entgegenstehender Spannungen, in der Weise erfolgt, daß unaufhörlich ein Streben nach Ausgleichung vorhanden ist, kennt die Energetik als das Helmsche Gesetz: Jede Energieform hat das Bestreben, von Stellen, in welchen sie in höherer Intensität vorhanden ist, zu Stellen von niederer Intensität überzugehen (Helm, Lehre von der Energie, S. 59 ff.). Der Unterschied liegt ausschließlich in der nichtsubstanziellen Vorstellungsweise Heraklits. Der Versuch, dieser abstrakten Erwägung in einem dem Auge verständlichen und gefälligen Bilde Gestalt zu geben – eine Neigung, der Heraklit am leichtesten und liebsten nachgibt – führt zuletzt auf die Vorstellung einer wellenförmigen Bewegung. (Es ist die einzige leicht übersehbare Vorstellung einer an den Ort gebundenen Bewegung.) Der Jonier, der täglich den Blick auf das Meer richten konnte, mußte wissen, wie sehr sich in seiner Bewegung, von der leichtgeschwungenen Linie bis zu den hohen mäandrischen Wellenzügen, die Unruhe einer erstrebten und nie erreichten Vereinigung spiegelt. In diesem Sinne, halb Abstraktion und halb künstlerische Anschauung, darf man wohl die palintropos armonih kosmoy, okosper toxoy kai lyrhss (Fr. 51) verstehen.5 Die Linie des altgriechischen Bogens ist derjenigen der Leier gleich (Arist. Rhet. III, 11 p. 1412 h 35: toxon pormigx axordos), eine ebenmäßig geschwungene Kurve, deren Enden sich nähern. Man könnte, um Heraklits Vorstellung der Linien der ausgleichsuchenden Gegensätze näherzukommen, an die Arsis und Thesis der Metrik und die Tonlinie von Melodien (lenken. So vermeidet man den Irrtum einer Annahme schwingender Teilchen. Diese Vorstellung gilt im ganzen Umfange des Kosmos: to en gar phsi diaperomenon ayto ayto xymperestai osper armonian toxoy kai lyras (Plato Symp. 187 A). Ein Vergleich läßt die Bedeutung dieser Idee vollkommen übersehen: hn (anagkhn) eimarmenhn oi polloi kaloysin, Empedoklhs de pilian omoy kai neikos H. de palintropon armonihn kosmoy okosper lyras kai toxoy. (Plut. de anim. procr. 27 p. 1026). Wenn man sich erinnert, was die eimarmenh, das große, überall und unbedingt waltende Schicksal, in der Vorstellung eines Griechen ist, wird man auch den Sinn der Harmonie Heraklits (die mit logos oder nomos gleichbedeutend ist) verstehen.

Alle diese Versuche, eine neue Anschauung des Geschehens zu gewinnen, entspringen aus der Leugnung des beharrenden Seins. Alles ist nicht etwa im Fluß begriffen – "alles" wäre immer noch ein Sein –, sondern der Hintergrund der Erscheinung ist ausschließlich als reines Wirken, wenn man will, als Summe von Spannungen, zu denken.

Fußnoten

1 Krit. d.r. Vernunft (Kehrbach) S. 177.

2 Xenophanes bei Clem. Strom. V, 109 p. 714 P. (Diels Frg. 26):

Aiei dAen taytoi mimnei kinoymenos oyden

oyde meterxestai min epiprepei allote allhi.

3 pilei nicht: liebt es, sich zu verbergen. Das Wort soll nicht so persönlich klingen. Vgl. pilei in Fr. 87 nach Diels: Ein hohler Mensch pflegt bei jedem Wort starr dazustehen.

4 Dasselbe bedeutet die Lehre von der Entropie, eine Grundlage der modernen theoretischen Physik.

5 Die meist symbolisch aufgefaßt wurde; von Lassalle (I S. 114) als Symbol des apollinischen Kultes, von Pfleiderer (S. 90) und Schäfer (S. 76) als Symbole des heitern Lebens und des Todes, was für Heraklit viel zu sentimental ist; dagegen als Bild des Weltprozesses von Bernays (Ges. Abh. I S. 41) und von Zeller (I S. 548).

2. Das Feuer

Heraklit erwähnt das Feuer in einer Weise, die uns zwingt, es als Sein, als Zustand zu denken; es gibt also selbst für ihn in der Welt der Erscheinungen Zustände – im wesentlichen mit den Aggregatzuständen zusammenfallend –, die in diesem System, wo der Begriff der Substanz abgewiesen wird, eine Erklärung herausfordern. Die Tatsache, daß es in der Natur scheinbar Zustände der Ruhe gibt (aus denen die Annahme von beharrenden Substanzen erst entstand), kann nicht bestritten werden. Heraklit erwähnt sie (tanatos estin, okosa egertentes oreomen. Fr. 21) und schreibt sie dem Trug der Sinne zu. Dem Auge ist es verwehrt, das Werden und Fließen zu sehen (Fr. 54 und 123. Siehe S. 18). Es erscheint dem Menschen unter mehreren typischen Gestalten, Formen der sinnlichen Erscheinung (gh, pyr, talassa, prhsthr; es sind bereits die Elemente des Empedokles), die untereinander wechselnd und von vorübergehendem Dasein sind. Sie haben eine rein subjektive Realität. Man sprach früher von Licht, Wärme, Elektrizität als von Naturkräften. Heute bezeichnet man sie in ähnlicher Absicht als Formen der Energie, indem man stillschweigend annimmt, daß sie als Erscheinungsformen der "Energie an sich", jener unerkennbaren Ursache des Geschehens gelten sollen. So denkt sich Heraklit das Feuer, das Meer, die Erde und den Sturm – Dinge, die nur scheinbar das Sein und die Dauer haben, die sie dem erkennenden Geist einreden möchten, und die, dem Auge entrückt, nichts mehr sind als ewiges ruheloses Fließen und Werden, eins wie das andere.

Damit ist der Begriff des Feuers gegeben: eine Erscheinungsform des kosmischen Prozesses, aber noch nicht seine Bedeutung. Heraklit zeichnet diese Naturerscheinung, die an sich nichts vor den andern voraus haben sollte, in einer geheimnisvollen Weise aus. Um dieser hohen Bedeutung willen konnte man glauben, hier den Hauptpunkt der ganzen Lehre gefunden zu haben; auch der hierin liegende Gedanke ist vielen Mißverständnissen ausgesetzt gewesen. Die Auffassung des Feuers lediglich als Symbol der Veränderung1 darf als abgetan gelten; eine verdunkelnde Symbolik sacht man bei diesem Philosophen nicht mehr. Aber es ist unverständlich, wie die Vorstellung und Bezeichnung des Feuers als arxh von Aristoteles an üblich sein konnte.2 Arxh ist ein sehr spezieller Begriff, der wegen vieler von ihm nicht trennbarer Annahmen nur in beschränkter Weise angewendet werden kann. Die Jonier haben ihn gebildet; er schließt, wenn man ihn richtig versteht, das ganze System dieser Philosophen ein. Vor allem enthält er den Gedanken der Entwicklung und Rückverwandlung in einen normalen Zustand. Die Frage der Jonier lautete: Woraus sind die Dinge entstanden? Es wird ein Stoff, und zwar ein zeitlich und physikalisch ursprünglicher angenommen (denn arxh bedeutet beides), der bei Anaximander Qualitäten annimmt, während er selbst bleibt. Trotz qualitativer Veränderlichkeit hat die arxh die begrifflichen Merkmale eines Stoffes. Nach Anaximenes entstehen aus der Luft die andern Zustände durch eine räumliche (Volum-) Änderung dieses anfänglichen Stoffes (pyknosis, manosis), eine Ansicht, die derjenigen Demokrits nicht widerspricht. Wie konnte man Heraklit mit diesem Problem in Verbindung bringen! Keiner seiner Aussprüche steht zu dieser Frage in einem Verhältnis. Heraklit kennt keine Substanz, das allein ist entscheidend; er kennt aber auch die Idee der Entwicklung aus einem ursprünglichen und normalen Zustand nicht. Es ist unmöglich, im Zusammenhang seiner Gedanken nach einem Urstoff zu fragen. Sein Problem war: Wie vollzieht sich der kosmische Prozeß? Die angeblichen Zustände und Stoffe sind in Wahrheit die wechselnde Form seiner Erscheinung:pyros tropai proton talassa, talasshs de to men hmisy gh, to de hmisy prhsthr (Fr. 31). Das Feuer gilt also nicht als Stoff, sondern als troph (antamoibh in Fr. 90). Dieser Begriff ist wertvoll. Troph und arxh sind die stärksten Gegensätze, arxh eine Substanz, etwas an sich bestehendes und beharrendes, troph eine Metamorphose, eine Form. Als arxh kann immer nur einer der vorhandenen Stoffe angenommen werden, der aus irgendwelchen Gründen zuerst vorhanden ist; die übrigen sind von ihm abhängig. Troph ist das Feuer und jede andere Erscheinung gleichmäßig. Man frage sich, ob Anaximander diesen Ausdruck hätte gebrauchen können.

Heraklit stellte das Feuer unter den an sich gleichberechtigten Arten der Erscheinung in den Mittelpunkt. Der Grund dieser Wahl ist in dem weniger wissenschaftlichen als künstlerischen Charakter seines Denkens zu finden. Ihn leitete hier dasselbe Gefühl, welches das Feuer und die Sonne zu allen Zeiten zum Gegenstand religiöser Verehrung gemacht hat. Dieses geheimnisvollste, edelste, reinste aller Naturphänomene erschien dem Menschen einer ferngelegenen Zeit als etwas Heiliges, und Heraklits ehrfürchtige und für das ästhetisch Eindrucksvolle empfängliche Natur entzog sich diesem Eindruck nicht. Er sah hier am reinsten den Charakter des Ruhelosen dargestellt (pyr aeizoon). Das sagte seiner Neigung für Anschaulichkeit zu. Das Feuer ist die furchtbarste und machtvollste der elementaren Gewalten, welche die Natur wahrhaft beherrscht. Deshalb liebte er es (ta de panta oiakizei keraynos Fr. 64. Panta gar to pyr epelton krinei kai katalhpetai Fr. 66). Einen wissenschaftlichen Grund der Bevorzugung findet man nicht, und es ist auch nicht wahrscheinlich, daß er sich auf solche Gründe stützen wollte oder konnte. – Die sichtbare Gestalt der kosmischen Bewegung ändert sich unaufhörlich. Das Feuer als eine der möglichen Formen (tropai) ist, wenn auch die schönste und vornehmste, so doch nicht eine physikalisch wichtigere oder ursprünglichere, wie es ein Stoff, die arxh sein kann. Es ist eine Erscheinungsform wie jede andere, vergänglich wie jede andere: pyros te antamoibh ta panta kai pyr apanton okosper xrysoy xrhmata kai xrhmaton xrysos Fr. 90). Die tropai sind in fortwährender gegenseitiger Ablösung begriffen; es macht dies eine Seite ihres Wesens aus. Heraklit hat ein glückliches Wort für diesen Wechsel gleichwertiger Erscheinungen gefunden: zhi pyr ton aeros tanaton kai ahr zhi ton pyros tanaton, ydor zhi ton ghs tanaton, gh ton ydatos (Fr. 76). Man wird die Absicht dieses Ausdrucks verstehen: Die augenblickliche Vorherrschaft der einen Form bedingt bereits eine Machtsteigerung der andern, die endlich einen Grad erreicht, der einen Wechsel herbeiführen muß. Dabei gilt das Feuer – wie gesagt, nicht physikalisch, sondern ästhetisch – als die vollkommenste der denkbaren Formen. "Es gibt nach Heraklit eine Wertabstufung in den Elementen, die sich nach ihrem Abstande von dem bewegten und aus sich selbst lebendigen Feuer bestimmt" (E. Rohde, Psyche II S. 146). Der Kosmos, die große Ordnung des Verlaufs alles Weltgeschehens, ist in einem bestimmten Sinne wirklich mit dem Feuer identisch (kosmon tonde, ton ayton apanton oyte tis teon oyte antropon epoihse, allA hn aiei kai esti kai estai pyr aeizoon, aptomenon metra kai aposbennymenon metra Fr. 30). In Heraklits Meinung ist dem Weltall, der erhabenen Natur, die erhabenste, reinste, edelste Gestalt angemessen und natürlich; der Kosmos ist mithin nur dann im Zustande der Vollkommenheit, wenn das Wenden ausschließlich die Gestalt des Feuers angenommen hat, ein Zustand, der im Lauf der Zeiten regelmäßig wiederkehrt (Fr. 30, 66). Alle andern Gestalten (das Feste, Flüssige, Luftartige) erscheinen im Vergleich zu der Schönheit und Gewalt dieser als minderwertig. (Darauf zielen die Worte xrhsmosynh und koros Fr. 65. Teichmüller [I S. 136 ff.] sieht hier mit Recht eine Andeutung und Abart derjenigen griechischen Idee, die in der Entelechie des Aristoteles, dem Wege vom Potentiellen zum Aktuellen, ausgebildet erscheint.)

Fußnoten

1 In diesem Sinne besonders Schleiermacher und Zeller, der meint, Heraklit habe das Symbol von der sinnlichen Form noch nicht trennen können.

2Simpl. in Arist. Phys. 6 a: Ippasos kai Hrakl. pyr epoihsanto thn arxhn ... Zeller (I S. 541): "der Stoff, in welchem der Grund und das Wesen aller Dinge gesucht wird". Teichmüller (I S. 135): der Grundstoff "wie die Luft des Anaximenes und das Wasser des Thales". Pfleiderer (S. 119 ff.): "das sekundäre Konkretum zu den metaphysischen Ideen". Auch Gomperz, Lassalle, Heinze (Lehre vom Logos S. 4) bezeichnen das Feuer als Stoff.

3. Panta rei als formales Prinzip der organischen Natur

Wir kommen auf das andere, man kann sagen äußere Anwendungsgebiet des heraklitischen Bewegungsprinzips, die sichtbaren und handgreiflichen Veränderungen in der Natur, die uns umgibt. Der in der Formel Panta rei enthaltene Grundgedanke tritt hier auf als formales Prinzip des Lebens und Geschehens jeder Art. Wir haben also zwischen dem nie erkennbaren Hintergrund der Dinge, dem eigentlichen Werden und Wirken, und seiner äußern Erscheinung als Welt der Sinne zu unterscheiden. Die Anwendung auf das letzte Gebiet ist die von allen anerkannte und leicht begreifliche, meist allein unter panta rei verstandene.

Unsichtbar ist nur die Ruhelosigkeit des energetischen Prozesses (wie es etwa auch die Ätherwellen des Lichtes sind); die Veränderungen der Erscheinungswelt sieht jeder, sie machen das aus, was man volkstümlich das "Leben der Natur" nennt. Der zweite Unterschied ist wichtiger. Dem Geschehen in der Natur fehlt der Anschein der Gesetzmäßigkeit, einer strengen, sich gleichbleibenden Regel. In dem Wachstum einer Pflanze, dem Wellenspiel der Brandung, dem Verlauf atmosphärischer Ereignisse pflegt der Mensch diesen Eindruck nicht zu haben. Man kann hier nicht von einer gleichmäßigen, nicht einmal einer unaufhörlichen Veränderung in allen Fällen sprechen. Im energetischen Prozeß ist die Bewegung denknotwendig, sogar eine Tautologie; hier ist sie möglich, höchstens die Regel. Vor Heraklit hatte niemand hier eine Regel bemerkt. Der einfache Augenschein lehrt, daß diesem Leben und Geschehen der Rhythmus fehlt. Deshalb gilt dem künstlerischen Blick Heraklits die Harmonie der Erscheinung (die er gleichwohl annimmt) weniger als jene andere, aus einer metrischen Regelmäßigkeit entspringende, nur vorgestellte (armonih gar apanhs panerhs kreitton Fr. 54).

Die Verwandlung selbst entgeht niemandem, nur ihr Gesetz ist verborgen. Aber es ist da, wenn man es zu finden weiß. Und es ist dasselbe wie das des ewigen Wirkens.1 Das ist ein großer Gedanke. Es war Heraklits Meinung, daß die Natur wesentlich unter dem Eindruck dieser Veränderung steht, die ebenfalls eine vollkommene und allgemeine ist: potamoi gar oyk estin embhnai dis toi aytoi oyde tnhths oysias dis aptestai kata exin (Fr. 91). Dieser Gedanke hat, wie es einer allgemeinen Neigung Heraklit gegenüber entspricht, eine moralisierende, den einfachen Sinn ganz aufhebende Auslegung erfahren. Schuster erklärt ihn so, daß "kein Ding in der Welt dem schließlichen Untergang entgehe" (S. 201 f.) und Lassalle zitiert als Seitenstück den Vers: "Alles, was entsteht, ist wert, daß es zugrunde geht" (I S. 374). Damit ist gerade das Tiefste der Idee verkannt. Heraklit will einer teleologischen Auffassung des Seins widersprechen.2 Er sieht den "Lauf der Welt" ewig gleich, ohne Anfang und Ende: kosmon ton ayton apanton oyte tis teon oyte antropon epoihse, allA hn aiei kai estin kai estai ktl ... (Fr. 30). Der Wechsel der Erscheinungen ist immer derselbe, immer sich wiederholend; diese Vorstellung verdichtete sich zu einer Lehre der ewigen Wiederkunft. Jeder Versuch eines Entwicklungsgedankens, wie ihn bereits Anaximander hat (biologisch), fehlt hier gänzlich, ebenso jede Heranziehung des Kausalitätsbegriffes. Es gibt für diese Vorstellung kein besseres Bild als das von Heraklit selbst gewählte: potamoisi toisin aytoisin embainoysin etera kai etera ydata epirrei (Fr. 12). Wir sehen den Verlauf der Welt, als stünden wir am Ufer eines Flusses; unaufhörlich fließt er vorüber, immer gleich, ohne Anfang und Ende, ohne Ursache oder Ziel. Wir können das Geschehen im Kosmos nur seinem Charakter nach begreifen, nicht als Ereignis im ganzen übersehen.

Heraklits Auffassung des Lebens ist ein merkwürdiges Beispiel für diese Idee: o ths geneseos potamos oytos endelexos reon oypote sthsetai.3 Statt des einzelnen Lebewesens nimmt er die ganze Folge eines Geschlechts als Individuum, dessen Phasen (das Leben des einzelnen) nur Augenblicke und Abschnitte einer großen und ununterbrochenen Metamorphose sind. Nach dieser mehr morphologischen als physiologischen Anschauung hat man sich das Leben als Wechsel von Jugend und Alter, von Zunahme und Abnahme an Kraft zu denken (Antropos, okos en eypronh paos, aptetai aposbennytai nach Byw. Fr. 77, bei Diels verändert und ausführlicher). Diese Vorstellung läßt den Sinn der Wendung zhn ton tanaton erst ganz deutlich werden. In einem andern Ausspruch: genomenoi zoein eteloysi moroys tAexein. mallon de anapayestai kai paidas kataleipoysi moroys genestai (Fr. 20) ist das Wort anapayestai, ein Ausruhen zwischen zwei Abschnitten höchster Lebenstätigkeit, als Unterstützung dieser Auffassung wichtig.

Eine Konsequenz der beständigen Veränderung der Sinnenwelt – die folgerichtig auch auf den erkennenden Menschen ausgedehnt werden muß – ist der Zweifel an der Erkenntnis. Vor Heraklit hatte hier niemand ein Problem gesehen und es ist ein Beweis großer Energie des Denkens, den unbewußten Stolz überwunden zu haben, den eine Zeit, in der das philosophische Denken erst entsteht, darauf zu setzen pflegt. Aus den Grundzügen dieser Lehre hätte sich ein völliger Agnostizismus entwickeln lassen und Protagoras hat diesen Schritt wirklich getan, aber Heraklit war zu kraftvoll und positiv angelegt, um durch eine verneinende Stimmung seiner Philosophie eigentlich die Berechtigung zu nehmen, er konnte in den Hauptfragen nicht mißtrauisch und. ablehnend sein (wie es Lassalle durch Anführung jenes Faustzitats sagen will). Die Erkenntnislehre gehört nicht zu den wichtigen Problemen Heraklits. Nur weil sie den großen Hauptgedanken in ein schärferes Licht rückt, indem sie eine Einsicht in den ruhelosen, immer sich wandelnden Charakter der Welt und eine Überwindung des Augenscheins fordert, kann sie in diesem Zusammenhang Beachtung finden. (Fr. 21: tanatos estin okosa egertentes oreomen: die Außenwelt ist scheinbar ruhend. Arist. Metaph. I, 6: os aisthton aei reonton kai episthmhs peri ayton oyk oyshs. Diese Skepsis richtet sich nur gegen eine Wissenschaft, die bleibende Verhältnisse zugrunde legt. Fr. 107: kakoi martyres antropoisin optalmoi kai ota barbaroys pyxas exonton, d.h. für Menschen, die kritiklos bei der bloßen Sinneswahrnehmung stehen bleiben.)

Alle Schöpfungen der Kultur, Staat, Gesellschaft, Sitten, Anschauungen, sind Produkte der Natur; sie unterliegen denselben Bedingungen des Daseins wie die übrigen, dem strengen Gesetz, daß nichts bleibt und alles sich verändert. Es ist eine der größten Entdeckungen Heraklits, diese innere Verwandtschaft von Kultur und Natur bemerkt zu haben. Der Widerstand und Ausgleich entgegenstehender Spannungen bedeutet dasselbe für das energetische Geschehen, was der Krieg für das Dasein der Menschen. (Fr. 8: panta katA erin ginestai.) Der Krieg rechtfertigt die aristokratische Rangordnung, die Heraklit liebte. Es kann keine ewigen und bleibenden Verhältnisse geben, Götter und Menschen, Freie und Sklaven sind dem Gesetz einer notwendigen Wandlung unterworfen (Fr. 53). Heraklit wußte genau, daß die Aristokratie damals in Griechenland untergehen mußte.

Es kann in diesem Chaos der Verwandlungen keine bleibenden Werte geben; das ist die letzte Folge einer solchen Anschauungsweise. Diese Erkenntnis, gegen die sich der Geist am längsten wehrt, vertrat Heraklit nachdrücklich. Wir haben ein vollkommen zu Ende gedachtes System des Relativismus vor uns. In der Tat: wo es keinen Stillstand und Ruhepunkt gibt, können die Begriffe der Ethik und Ästhetik nur für den einzelnen geltend und nur von Fall zu Fall angewandt werden. So ist es mit den Wertschätzungen körperlicher Schönheit (Fr. 82, 83), der Klugheit (anhr nhpios hkoyse pros daimonos okosper pais pros andros Fr. 79), des Kostbaren, Angenehmen, Nützlichen (onoys syrmatA an elestai mallon h xryson Fr. 9; Fr. 37, 58, 61, 110–111). Die Werte und Eigenschaften der Dinge liegen zwischen zwei Extremen und sind nur einer subjektiven Anwendung fähig.

Fußnoten

1 Der Ausdruck odos ano kato findet sich mit Beziehung auf die Erscheinungswelt: metabolhn oras somaton kai geneseos allaghn, odon ano kai kato, kata ton H ... (Maxim. Tyr. XII, 4 p. 489).

2 Teichmüller (I S. 137) glaubt eine gewisse Teleologie zu entdecken, ohne sie jedoch beweisen zu können.

3Plut. cons. ad Apoll. 10. (Vgl. Bernays Rh. Mus. Bd. I S. 50.) Die vorhergehenden Sätze enthalten heraklitische Gedanken und beweisen obige Auffassung: tayto tAeni zon kai tetnhkos kai to egrhgoros kai to kateydon kai neon kai ghraion tade gar metapesonta ekeina esti kakeina palin metapesonta tayta ... Oyto h pysis ek ths ayths ylhs palai men toys progonoys hmon anesxen, eita sygxeasA aytoys egennhse toys pateras, eita hmas, eitA alloys epA allois anakyklhsei. kai o ths geneseos potamos oytos endelexos reon oypote sthsetai ...

II. Zweite Formulierung: Der Kampf der Gegensätze