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Das Grauen geht weiter:
Kalt spürte Zamorra die Klinge an der Kehle.
»Man hat immer eine Wahl«, sagte die Stimme hinter ihm. »Wofür entscheiden Sie sich?«
»Also gut«, würgte der Professor hervor. »Sie haben gewonnen. Ich mache keine Dummheiten mehr.«
»Sehr gut. Ich nehme Ihnen jetzt Ihr Amulett ab. Falls Sie es sich plötzlich anders überlegen und mich doch angreifen, bedenken Sie bitte drei Dinge. Erstens: Vielleicht können Sie mich töten, aber vorher würde es mir gelingen, Ihnen die Kehle durchzuschneiden. Und es wäre schade um den weißen Anzug."
Der zweite und abschließende Teil um das Grauen von Wardenclyffe
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Seitenzahl: 156
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Der Schattenwanderer
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Der Schattenwanderer
(2. Teil)
von Oliver Fröhlich
Kalt spürte Zamorra die Klinge an der Kehle.
»Also gut«, würgte der Professor ergeben hervor. »Sie haben gewonnen.«
»Sehr gut. Ich nehme Ihnen jetzt Ihr Amulett ab. Falls Sie es sich plötzlich anders überlegen und mich doch angreifen, bedenken Sie bitte drei Dinge. Erstens: Vielleicht können Sie mich töten, aber vorher würde es mir gelingen, Ihnen die Kehle durchzuschneiden. Und es wäre schade um den weißen Anzug. Das Blut bekäme man nie wieder heraus. Zweitens: Wer sagt Ihnen, dass mein Tod auch das Wesen in meinem Schatten vernichtet? Und drittens das Wichtigste: Mein Tod reicht nicht aus, um das Ende der Welt aufzuhalten.«
Zamorra fröstelte, als er die Worte hörte. Das Ende der Welt? War das nicht eine Nummer zu hoch gegriffen für das, was bisher geschehen war?
Als der Druck der Klinge ein wenig nachließ, versuchte er, die Sitzposition zu variieren, aber die Kabelbinder, mit denen seine Handgelenke an den Armlehnen des Stuhls fixiert waren, verhinderten das.
Der Professor hatte keine Ahnung, wo er sich befand. In einem Hotelzimmer, soweit er es beurteilen konnte, aber es lag im Halbdunkel, sodass er sich nicht sicher sein konnte. Auch wie sein Entführer ihn direkt aus dem Bett verschleppt und hierhergebracht hatte, wusste er nicht.
Mit anderen Worten: Nicole würde ihn hier kaum finden.
Der Mann, der hinter ihm stand, mit der Linken Zamorras Haare gepackt hielt und den Schädel so weit in den Nacken überstreckte, dass sich die Haut über dem Kehlkopf spannte, während er ihm mit der Rechten ein Messer an den Hals drückte, hatte sich als Jericho King vorgestellt.
Endlich ließ er wenigstens die Haare los. Ohne die Klinge völlig wegzunehmen, beugte sich King links an dem Professor vorbei und wand ihm das Amulett aus den Fingern. Dabei ging er vorsichtiger zu Werke, als es Zamorras Gegner üblicherweise taten.
Für einen Augenblick schien er unschlüssig, was er nun damit anstellen sollte, dann schob er es dem Professor unter das Gesäß. Warum auch immer gerade dorthin.
Natürlich konnte Zamorra es jederzeit rufen, und Jericho King wusste das. Schließlich hatte ihm der Entführer die Silberscheibe bereits in Ben Hendersons Gästezimmer abgenommen und auf dem Nachtkästchen zurückgelassen. Dementsprechend überrascht und ungehalten war King gewesen, als das Amulett plötzlich trotzdem in der Handfläche des Dämonenjägers erschienen war.
Vielleicht hätte sich der Professor die Klinge am Hals sogar erspart, hätte er Jericho King nicht sofort mit Merlins Stern angegriffen. King jedoch hatte der Attacke knapp entgehen können, indem er einen Schritt zurück in den Schatten getreten – und gleich darauf hinter Zamorra wieder aufgetaucht war.1
Würde der Professor das Amulett also erneut rufen, könnte er King damit noch weniger überraschen als beim ersten Mal.
Wie sollte es nun weitergehen?
»Ich habe Sie auf dem Foto gesehen«, sagte Zamorra.
»Auf welchem Foto?«
»Auf dem, das ich im Tesla Science Center entdeckt habe. Es zeigt Sie zusammen mit Nikola Tesla, seinem Geschäftsführer George Scherff und anderen Arbeitern. Es ist hundertzwanzig Jahre alt. Das macht Sie wie alt? Hundertvierzig? Hundertfünfzig?«
»Ich erinnere mich an den Tag, als es aufgenommen wurde. Das Bild existiert noch? Erstaunlich.« King machte eine kurze Pause. »Ich bin im Jahr 1880 geboren, falls es Sie interessiert. Oder 1881. So genau weiß ich es nicht mehr. Damals, vor meiner Bekanntschaft mit Mister Tesla, hatte ich es nicht so mit Zahlen. Wieso haben Sie sich das Foto angesehen? Wie sind Sie auf Wardenclyffe gekommen?«
Zamorra überlegte, wie viel er offenbaren sollte. Doch gab es überhaupt etwas, das King nicht längst wusste? Schließlich war er es, der für die Todesserie auf Long Island verantwortlich war. Aber solange sie sich unterhielten, brachte King ihn nicht um. Außerdem gewannen Nicole Duval und Ben Henderson dadurch mehr Zeit, den Meister des Übersinnlichen zu suchen. Das hieß, falls sie ihn überhaupt schon vermissten.
Natürlich hoffte Zamorra darüber hinaus, dass Kings Aufmerksamkeit irgendwann nachlassen würde. Dass er die Klinge vielleicht doch noch zurücknahm. Und vor allem, dass er ihn hypnotisch beeinflussen konnte. Dazu müsste King aber vor ihn treten und ihn ansehen.
»Sagt Ihnen der Name Ben Henderson etwas?«, fragte der Professor.
»Nein. Wer ist das?«
»Ein Polizist hier auf Long Island. Er bat einen Freund von mir, Kontakt mit mir aufzunehmen. Über die Serie von Toten, die wie Greise aussahen, obwohl ihr tatsächliches Alter zwischen zwanzig und fünfzig lag, brauche ich Ihnen nichts zu erzählen, denke ich mal. Darüber wissen Sie bestens Bescheid, nicht wahr?«
Jericho King schwieg.
»Die Todesfälle ließen Ben Henderson keine Ruhe«, fuhr Zamorra fort. »Da laut Rechtsmedizin keiner der Toten durch Gewalteinwirkung, sondern an Altersschwäche starb, hält Bens Vorgesetzter die Polizei für nicht zuständig.«
Wobei man natürlich trefflich darüber streiten konnte, ob es sich nicht doch um Gewalteinwirkung handelte, wenn jemand einen anderen rapide altern ließ.
»Er sieht darin Fälle für Ärzte und Wissenschaftler, aber nicht für die Ordnungshüter. Also hat mich Ben inoffiziell und ohne das Wissen seines Chefs angefordert.«
»Weil Sie sich mit derlei Dingen auskennen«, sagte King. Es klang eher nach einer Feststellung als nach einer Frage. »Mit Menschen, denen die Lebensenergie entzogen wird.«
»So ist es.«
Wieder stiegen unschöne Erinnerungen in Zamorra hoch. An die Gosh-Dämonen, die Zeitsäufer, mit denen er es einst zu tun bekommen hatte und die sich von der Lebenszeit ihrer Opfer ernährten. Und vor allem an den Augenblick, als vor etlichen Jahren die Quelle des Lebens zu versagen gedroht und die geliehene Energie von ihm und den restlichen Unsterblichen zurückgeholt hatte. Innerhalb von Sekunden war Zamorras Körper gealtert, bis er sein tatsächliches Alter von damals beinahe siebzig Jahren erreicht hatte.
Eine Erfahrung, die er nicht unbedingt noch einmal machen wollte, und die ihn vor wenigen Stunden in eine irrationale Panik hatte verfallen lassen. Da nämlich war er Jericho King zum ersten Mal begegnet und hatte das gefühlt, was wohl auch die Opfer der aktuellen Todesserie zuletzt gefühlt hatten: wie ihm das Leben aus dem Körper rann und er nichts dagegen tun konnte.
»Gut«, sagte King. Was immer er damit meinen mochte. »Das erklärt aber noch nicht, wie Sie die Spur nach Wardenclyffe und zu mir gefunden haben.«
»Ein Freund hat für mich recherchiert, ob es in der Vergangenheit vergleichbare Fälle gab. Er ist fündig geworden. Vor langer Zeit kam es auf einer Farm in der Nähe der Experimentalstation von Nikola Tesla in Wardenclyffe zu ähnlichen Ereignissen.«
»Ich weiß.« Jericho King seufzte. »Mister Wilson und seine Familie.«
»Möchten Sie mir davon erzählen?«
»Darüber denke ich noch nach.«
»Ich würde die Geschichte gern hören.« Zamorra ahnte, dass das lange Leben King einsam gemacht hatte. Deshalb hatte er von seinen Freunden gesprochen – und gaukelte King nun vor, selbst einer zu sein. »Jedenfalls erschien damals ein Zeitungsartikel, der die Toten mit den Experimenten in Wardenclyffe in Verbindung brachte. Also haben wir uns dort umgesehen. Das Laborgebäude existiert auch heute noch. Mittlerweile befindet sich auf dem Gelände das Tesla Science Center. Dort haben wir das Foto von Ihnen entdeckt. Sie haben sich gut gehalten, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben. Nur schade, dass Sie dafür Menschen die Lebensenergie rauben müssen.«
»Sie haben ja keine Ahnung«, entgegnete King.
Zamorra konnte nicht beurteilen, ob er das sarkastisch oder ernst meinte – oder ob sich King gar über ihn lustig machte.
»Und wie haben Sie mich in der Einkaufsmeile gefunden?«, erkundigte sich der Entführer.
»Sie sprechen von der Selden Plaza? Verletzt es Ihre Gefühle, wenn ich Ihnen verrate, dass ich gar nicht nach Ihnen gesucht habe?«
»Tut es nicht. Also wie?«
Erneut zögerte Zamorra und entschied sich dann für die Wahrheit. »Mit meinem Amulett. Bei den ersten fünf Opfern suchten wir nach einer Gemeinsamkeit, nach etwas, das erklärte, warum Sie ausgerechnet diese Menschen ausgewählt haben. Das letzte, das sechste jedoch, ein Mann namens Stanley Petrocelli, ist erst gestorben, als wir schon auf Long Island waren. Das Amulett erlaubte es mir ... nun, seine letzten Stunden nachzuvollziehen. So fanden wir heraus, dass in einem Café in der Selden Plaza eine Art Parasit in Petrocellis Schatten eingedrungen ist. Wie ein Fragment eines anderen Schattens.
Mehr noch, wir stellten fest, dass auch die restlichen Opfer kurz vor ihrem Tod in Läden der Selden Plaza waren. Leider in verschiedenen Läden, sodass Ben Henderson der Zusammenhang nicht schon vorher aufgefallen war.
Wie auch immer, mithilfe des Amuletts konnte ich der Spur des Schattenparasiten folgen. Zumindest habe ich das versucht. Übrigens eine sehr anstrengende Prozedur. Deshalb habe ich Sie auf dem Parkplatz nicht bemerkt und bin in Sie hineingelaufen. Normalerweise hätte ich schneller reagiert, aber so ist es Ihnen gelungen, diese ... Kreatur in meinen Schatten fließen zu lassen und sich an meiner Lebenskraft zu laben. Darf ich Sie etwas fragen? Wieso haben Sie den Angriff abgebrochen? Gab es zu viele Zeugen, die uns zusammen gesehen hätten? Und was hat es mit der Selden Plaza auf sich? Warum holen Sie sich Ihre Opfer ausgerechnet dort?«
King schwieg lange. Vielleicht überlegte er auch, wie viel er seinem Gegner verraten wollte.
»Erzählen Sie es mir«, half der Professor ein wenig nach.
»Sie glauben, Sie wissen ganz genau Bescheid«, sagte er schließlich. »Aber Sie irren sich. Sie kennen sicherlich das Gleichnis von den blinden Männern und dem Elefanten. In ihm beschreiben die Blinden das Tier unterschiedlich, weil jeder von ihnen einen anderen Körperteil ertastet. Das Gleiche tun Sie. Sie vereinen die Hälfte der blinden Männer in sich, können aber die Wahrheit nicht erkennen, weil Sie noch nicht sämtliche Körperteile betastet haben.«
»Sehr anschaulich.«
»Vielen Dank, Professor.«
Zamorra zuckte zusammen. »Sie kennen mich?«
»Der weiße Anzug spricht für sich. Ich habe in den letzten Jahrzehnten gelegentlich von Ihnen gehört. Und immer habe ich mich gefragt, ob ich ein Aufeinandertreffen fürchten oder herbeisehnen soll. Nun, da es so weit ist, kann ich sagen, dass ich mich freue, Ihnen endlich zu begegnen.«
»Ich wünschte, ich könnte dasselbe von mir behaupten«, erwiderte Zamorra, während ein anderer Satz in ihm widerhallte.
Der weiße Anzug spricht für sich.
Natürlich! Wieso hatte er daran nicht sofort gedacht? Nach der Zeitschau und dem Angriff des Schattenfragments war er so erschöpft gewesen, dass er auf dem Bett in Ben Hendersons Gästezimmer so schnell eingeschlafen war, dass er nicht mal die Schuhe hatte ausziehen können. Von dem weißen Anzug ganz zu schweigen. Und das bedeutete, dass in der Innentasche des Jacketts immer noch das TI-Gamma steckte.
Damit konnte er Nicole nicht nur kontaktieren, sie konnte ihn auch orten.
Vielleicht gelang es ihm sogar, das Gerät mit dem Sprachsteuerungsbefehl zu aktivieren und seine Lebens- und Kampfgefährtin unauffällig anzurufen. Es gab nur ein Problem: In Erinnerung an eine Zeit, als sie Überraschung noch mit Redewendungen wie »Beim Hammerzeh der Panzerhornschrexe« ausgedrückt hatten, war ihre Wahl zur Aktivierung der Sprachsteuerung auf den Befehl »Schrexe, allez!« gefallen.
Ein Satz, den man nicht eben unauffällig in einen Dialog einflechten konnte.
»Also schön«, sagte Jericho King. »Lassen Sie mich etwas Licht in Ihr Dunkel bringen. Sie haben vorhin die Familie Wilson erwähnt. Nach dem Tod meiner Momma habe ich dort gewohnt. Sie ist an Krebs gestorben, wissen Sie? Und da hat mich Mister Wilson bei sich aufgenommen und als Helfer auf seiner Farm beschäftigt. Sie lag nicht weit von Wardenclyffe und Nikola Teslas Labor entfernt.
Ich war damals ... Wie soll ich sagen? Einfältig? Naiv? Dumm? Ach was, reden wir nicht drumherum. Ich war geistig zurückgeblieben, konnte kaum lesen und schreiben oder rechnen, und beim Zählen kam ich nicht bis zehn. Ich weiß noch, dass ich damals immer gesagt habe: Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben – das ist eine Woche.
Vielleicht war es das, was mich zu einem idealen Wirt gemacht hat für das, was Sie Schattenparasit oder Schattenfragment nennen.«
Beim Sprechen lockerte er zwar ein wenig die Klinge, aber nicht genug, als dass sich Zamorra hätte entspannen können.
»Auf jeden Fall war ich selbst zu dieser Zeit sehr empfindsam. Ich fühlte, dass unter der Insel etwas lauerte. Ich verglich es mit dem Krebsgeschwür meiner Mutter, ohne dass ich genauer sagen konnte, worum es sich handelte. Das fand ich erst später heraus. Nämlich in der Nacht, als Nikola Tesla zum ersten Mal den Wardenclyffe Tower aktivierte.«
Kings Stimme geriet ins Stocken, als müsste er sich fassen.
Zamorra nutzte die Gelegenheit. Obwohl er King versprochen hatte, keine Dummheiten zu machen, sagte er: »Schrexe, allez!«
Ein kurzes Vibrieren aus dem Jackett zeigte ihm, dass das TI-Gamma auf Sprachsteuerung umgeschaltet hatte. Glücklicherweise war es so konfiguriert, dass es nur auf die Stimmen von Zamorra oder Nicole reagierte und nicht jeden unbekannten Befehl quittierte mit »Ich habe Sie leider nicht verstanden« – oder einem ähnlich verräterischen Satz, der aus einer Jackettinnentasche erklang.
»Was soll das heißen?«, fragte King.
»Ein Ausruf des Erstaunens«, behauptete Zamorra. »Etwas hat unter der Insel gelauert? Und Tesla hat es mit seinen Experimenten geweckt? Das muss den Geschichtsbüchern wohl entgangen sein.«
»Glauben Sie mir etwa nicht?«
Und da war sie, die Chance, auf die er gewartet hatte. Schneller als gedacht eröffnete sie sich ihm. »Keineswegs. Wissen Sie, ich habe einen gewissen ... Ruf. Nicole Duval ... sagt immer, ich soll mein Mundwerk besser im Zaum halten. Das führt sonst nur zu Missverständnissen.«
Er hoffte, die Pausen in den Sätzen waren lang genug ausgefallen, dass das TI-Gamma die Anweisung »Ruf Nicole Duval« richtig interpretiert hatte. Ein Vorteil war, dass das Gerät nicht nur Französisch verstand.
»Sie sind ein komischer Vogel, Zamorra«, stellte King fest.
»Das höre ich nicht zum ersten Mal. Also, was war es, das unter der Insel gelauert hat?«
Der Professor befürchtete, dass sein Entführer nicht mehr erzählten würde, denn entgegen dem gängigen Klischee kamen Schurken, die in einem Anfall von Überheblichkeit alles offenbarten, gar nicht so häufig vor. Doch King bildete die löbliche Ausnahme. Oder lag es nicht an Überheblichkeit? Bezweckte er etwas?
»Zunächst einmal«, fuhr er fort, »begehen Sie zwei Fehler. Erstens hat es Tesla nicht geweckt in dem Sinne, dass es vorher geschlafen hätte. Zweitens hat es nicht gelauert. Es lauert immer noch. Sie verfügen über einige Erfahrung, also ist Ihnen vermutlich bekannt, dass es nicht nur diese Welt, nicht nur dieses Universum gibt.«
Zamorra nickte, darauf bedacht, der Klinge am Hals nicht zu nah zu kommen.
»Die Barriere zu einer anderen Welt ist unter Long Island besonders dünn. Diese andere Welt ... nun, einst strotzte sie vor Leben und Vielfältigkeit. Bis der Weltenknechter kam. Er ist nicht böse im Sinne christlicher Werte, sondern aus sich selbst heraus. Sein Tun dient der Triebbefriedigung. Er jagt aus der Freude am Schrecken, den er damit auslöst, und aus der Freude am Jagen. Und natürlich, um sich zu ernähren. Er hat von dieser anderen Welt nichts übrig gelassen. Sein Hunger nimmt wieder zu. Und nun sucht er einen Übergang zu einem neuen Jagdgrund.«
»Sie sprechen von unserer Welt?«
»Richtig. Nikola Tesla hat mit seinen Experimenten die Barriere durchstoßen. Nur für einen winzigen Augenblick und nur in einem Ausmaß, wie es im Vergleich zur Erde einem Nagel entsprechen mag, den Sie irgendwo in den Boden schlagen. Und doch hat es ausgereicht, den Weltenknechter auf diese Welt aufmerksam zu machen.«
»Woher wissen Sie das alles?«
»Weil bei dem Experiment im Jahr 1903 etwas durch die Wunde in der Barriere entkam. Ein winziges Fragment, ein minimaler Span von einem gigantischen Mammutbaum. Es schlüpfte in meinen Schatten, wo es seit damals lebt. In Ihren Worten: der Schattenparasit.«
»Er hat dafür gesorgt, dass Sie einen geistigen Entwicklungsschub gemacht haben«, vermutete Zamorra.
»Insofern trifft es der Begriff Parasit nicht besonders gut, finden Sie nicht? Schließlich gibt er mir etwas zurück. Intelligenz, Wissen. Eine Art Symbiose.«
»Lebenszeit nicht zu vergessen. Womit wir beim eigentlichen Problem wären. Denn die raubt Ihr ... Symbiosepartner von anderen Menschen. Worum geht es Ihnen überhaupt? Um Unsterblichkeit? Müssen die Leute deshalb sterben?«
King seufzte. »Wenn wir schon so vertraulich sprechen, will ich Sie auch ansehen. Ich werde das Messer nun wegnehmen. Habe ich Ihr Wort, dass Sie das nicht auszunutzen versuchen?«
Zamorra musste zugeben, dass er viel zu neugierig war, was Jericho King noch zu erzählen hatte. Außerdem hatte ein weiterer Vibrationsstoß im Jackett vorhin angezeigt, dass die Verbindung zu Nicole zustande gekommen war. Er musste also nichts überstürzen. »Sie haben mein Wort.«
Endlich verschwand das Metall von seinem Hals. Ein Scharren erklang. Wie Zamorra kurz darauf erkannte, stammte es von einem zweiten Stuhl, den King über den Boden zog und mit einigem Abstand ihm gegenüber abstellte. Zu weit, als dass der Professor noch in Reichweite der Klinge säße, aber halb im Schatten. King konnte also jederzeit fliehen.
Zum ersten Mal hatte der Meister des Übersinnlichen die Zeit, sein Gegenüber in Ruhe zu betrachten.
Jericho King bot eine imposante Erscheinung. Seine Größe schätzte Zamorra auf einen Meter neunzig, vielleicht etwas darunter. Und zu seinem Gewicht von deutlich über hundert Kilogramm trug Fett nur den geringsten Anteil bei. Brustkorb, Nacken, Schultern und Arme stellten eine echte Bewährungsprobe für sein T-Shirt dar.
Oder nein: eine Zerreißprobe.
Von der Lippe führte eine dünne weiße Linie am Nasenflügel vorbei zum rechten Jochbein. Eine Narbe, noch deutlich zu sehen, jedoch nicht mehr annähernd so prominent wie auf dem alten Foto. Kein Wunder, die Verletzung hatte ja über hundertzwanzig Jahre Zeit zum Heilen.
Zamorra sah in Kings graue Augen. Bewegten sich nicht Schlieren über die Augäpfel? Oder war das nur eine Täuschung, die der schlechten Beleuchtung geschuldet war?
Jericho King hielt dem Blick stand. »Sie wollen wissen, ob ich die Familie Wilson getötet habe? Die Antwort lautet: ja. Sie wollen wissen, warum? Die Antwort lautet: weil mein Schattenbegleiter Hunger hatte. Tat es mir leid? Hatte ich ein schlechtes Gewissen? Nicht einmal ansatzweise.
Für mich gab es nur noch ein Ziel. Ich wollte dem Weltenknechter durch die Barriere helfen. Also schloss ich mich dem Team um Nikola Tesla an, um die Experimente in meinem Sinn zu beeinflussen. Anfängliche Schwierigkeiten räumte ich aus dem Weg, indem ich gezielt eine Eigenheit des Schattenbegleiters einsetzte. Etwas, das Sie bereits selbst erfahren durften. Er versetzt seine temporären Wirte in Panik. Und ja nach Ausmaß und Stoßrichtung kann Angst ein sehr großer Motivator sein.«
Zamorra fand es schwer zu ertragen, King dabei zuzuhören, wie er in aller Ruhe von seinen schrecklichen Taten berichtete. Immerhin wusste er nun, warum sein Entführer vom Ende der Welt gesprochen hatte.
»Wussten Sie«, fragte King im Plauderton, »dass Tesla Strom in die Erde eingespeist hat, um die planeteneigene Ladung anzuregen? Er hoffte, mit einer bestimmten Frequenz eine stehende Welle zu erzeugen, die man von überall auf der Welt anzapfen konnte. Was er damit wirklich erreichte, war, die Barriere zu durchlöchern. Doch ich begriff schnell, dass das nicht ausreichen würde, sie auch einzureißen. Dazu bedurfte es einer ganz anderen Art von Energiestoß.«
»Die Lebensenergie Ihrer Opfer«, vermutete Zamorra.
»So ist es.«
»Damit niemand Verdacht schöpft wie bei den Wilsons, haben Sie sich Ihre Opfer aber in größerem Umkreis und nicht mehr so häufig gesucht.«