Projekt Pluto - Lucy Kissick - E-Book

Projekt Pluto E-Book

Lucy Kissick

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Beschreibung

Die Menschheit hat sich über das gesamte Sonnensystem ausgebreitet. Terraforming – die Veränderung ganzer Planeten, um sie erdähnlicher zu machen – wird von allen Kolonien betrieben. Projekt Plutoshine ist das bisher ambitionierteste Terraforming-Vorhaben: sechs Milliarden Kilometer von der Sonne entfernt, mit einer durchschnittlichen Oberflächentemperatur von -242° C, braucht Pluto vor allem Licht und Wärme. Beides soll durch gewaltige Spiegel im Orbit auf die Eiswelt gebracht werden. Doch jemand sabotiert das Projekt. Terraforming-Ingenieur Lucian will herausfinden, wer hinter den Anschlägen steckt – und kommt dabei einem Geheimnis auf die Spur, das unser gesamtes Universum für immer verändern wird ...

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Das Buch

In der Zukunft hat die Menschheit auf nahezu allen größeren Himmelskörpern unseres Sonnensystems Kolonien errichtet und mit dem Terraforming begonnen, um diese neuen Welten bewohnbar zu machen. Projekt Plutoshine ist das bisher ambitionierteste Vorhaben: Sechs Milliarden Kilometer von der Sonne entfernt, mit einer durchschnittlichen Oberflächentemperatur von -242 °C, braucht Pluto vor allem Licht und Wärme. Beides soll durch gewaltige Spiegel im Orbit auf die Eiswelt gebracht werden. Doch jemand sabotiert Projekt Plutoshine. Ingenieur Lucian ist davon überzeugt, dass die neunjährige Nou etwas über die Anschläge weiß. Seit sie ihren Vater bei einem mysteriösen Unfall verloren hat, hat sie jedoch kein Wort mehr gesprochen. Lucian versucht alles, um zu ihr durchzudringen – doch Nou hütet ein Geheimnis, das alles, was wir über unser Universum zu wissen glauben, infrage stellt …

Die Autorin

Lucy Kissick schrieb ihren Roman Projekt Pluto, während sie an ihrer Doktorarbeit an der University of Oxford arbeitete, in der sie Seen auf dem Mars im Labor nachbildete, um die Atmosphäre unseres Nachbarplaneten genauer zu untersuchen. Inzwischen arbeitet sie als Wissenschaftlerin in der Atomindustrie und lebt zwischen Bergen und Meer im englischen Lake District.

Mehr über Lucy Kissick und ihren Roman erfahren Sie auf:

LUCY KISSICK

PROJEKTPLUTO

ROMAN

Aus dem Englischen vonPeter Robert

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

PLUTOSHINE

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 07/2023

Redaktion: Joern Rauser

Copyright © 2022 by Lucy Kissick

Copyright © 2023 dieser Ausgabe und der Übersetzungby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München,unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com(Outer Space, NASA images, petrmalinak) und iStockphoto (cokada)

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-29737-4V001

www.diezukunft.de

Prolog

Irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft

Eins-zwei-drei.

Eins-zwei-drei.

Eine Abfolge kurzer, hoher, schriller Pfeiflaute, dann eine weitere. Wie ein Vogelruf oder ein SOS. Inzwischen kannten die drei Gestalten das Muster, darum warteten sie auf den letzten Teil der Sequenz: Eins-zwei-drei-vier, etwas tiefer. Dann wiederholte sich der Zyklus.

Im engen Innern ihrer Helme waren ihre Atemzüge kurz und abgehackt. Hier draußen, unter der Schwärze des Eises und weitab vom Trost der Sterne, stand eines fest: Dies war kein Vogelruf, und wenn es ein SOS war, dann das fernste, das je ein Mensch gehört hatte.

Ein Aufblitzen von Farbe im Lichtschein der Lampen, das genauso schnell wieder verschwand. Die Atemgeräusche verstummten.

In ihrem Blickfeld färbte sich alles rot.

»Tja«, sagte einer, doch es klang völlig falsch: ruhig, gelassen und unbekümmert. »Das verändert alles.«

Phase

1

1

Irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft,ein Jahr später

Als Nou zum ersten Mal die Sonne sah, war sie ein kleines Mädchen, kaum 0,02 Jahre alt und in ihren beheizten Stiefeln noch ungeschickt auf den Beinen. In diesem Alter war ihr Bruder Edmund ihre ganze Welt, und sie lag in seinen Armen. Er zeigte auf einen winzigen Lichtpunkt am gestirnten Himmel, der sich für Nou in nichts von den anderen unterschied.

»Das sind alles Sterne«, sagte er. Über den Helmfunk klang seine Stimme vertraut in ihren Ohren. »Aber der da ist was Besonderes.«

»Der?«

»Ja. Das ist unser Stern. Wir nennen ihn die Sonne. Und eines Tages wird dieser Stern das Antlitz unserer Welt verändern.«

Nou dachte eine Weile darüber nach. Auf ihrer Welt war der Himmel dunkel, die Nächte waren lang, und Sternenlicht tränkte die Ebenen aus Eis, die sich bis zum Horizont und darüber hinaus erstreckten. Von diesen Lichtpunkten kam keine Wärme und, soweit sie mit ihrem nüchternen Weltverständnis erkennen konnte, auch nichts anderes.

Aber sie war hübsch, diese Sonne. Es gefiel Nou, wie Farben durch ihr Blickfeld liefen, wenn sie den Lichtpunkt mit zusammengekniffenen Augen betrachtete. Immer wenn jemand sie mitnahm, kehrte sie zu diesem gefrorenen Ufer zurück, zog die Erwachsenen an der Hand dorthin und blickte dann an ihrem Arm entlang nach oben, so wie bei ihrem Bruder damals. Sie verband die Sternenpunkte und suchte so konzentriert, dass sie dabei schielte, bis sie den richtigen fand – den hellsten –, ja, aber ihn auf Edmunds Art zu finden, war so, als folgte sie einem gewundenen Pfad, den nur sie beide kannten.

Doch wenn die Sonne etwas derart Besonderes war (überlegte sie mit 0,03 Jahren), warum war sie dann so winzig? Was machte sie?

Die ältesten Bewohner der Stern-Basis – diejenigen, die noch auf der Erde aufgewachsen waren – erzählten ihr von wundersamen Dingen wie warmem Lichtschein auf nackter Haut, von blendend hellem Lichtergefunkel auf Meeren, die bis über den Horizont hinaus reichten, und von den bescheidenen Ursprüngen des Lebens in Form chemischer Stoffe im glitzernden Wasser von Tidentümpeln.

Die Sonne konnte Eis schmelzen? Und Leben erschaffen?

Die jüngsten Bewohner – diejenigen, die mit Geschichten von der Erde aufgewachsen waren – erzählten ihr von schrecklichen Dingen wie geblendeten Astronomen in lange zurückliegenden Zeiten; von riesigen Spiegeln, die bewirkt hatten, dass der Mars Risse bekam und schmolz; vom Hitzetod der Pioniere auf dem Merkur.

Nou saß da, die Arme um die Knie geschlungen, und hörte ihnen mit großen Augen zu. Dies war nicht bloß ein kleiner Lichtpunkt. Die Sonne, entschied sie, war ohne Zweifel etwas Besonderes.

Und wenn man an zweieinhalb Orten außerhalb der Erde Leben gefunden hatte (niemand wusste genau, ob die verdächtig bakterienähnlichen Lebensformen auf dem Mars dazu zählten), so folgte für sie ganz logisch daraus, dass es auch auf ihrer Welt Leben geben musste.

Und sie würde diejenige sein, die es fand.

Als die Terraformer auf Pluto eintrafen, war es Nou – jetzt 0,04 und für zehn Erdenjahre eher klein – beinahe gelungen.

Zu behaupten, es sei kalt auf Pluto, war so ähnlich, als würde man die Reise dorthin als Katzensprung bezeichnen oder sagen, es sei dort ein bisschen dunkel: Wenn man vier Milliarden Kilometer weit flog oder die dreißigfache Entfernung von der Erde zur Sonne zurücklegte, um auf einer Oberfläche zu landen, auf der Temperaturen von mehr als zweihundert Grad unter null herrschten, versagten normale Beschreibungsmethoden.

Für Lucian bedeutete Plutos Kälte das permanente, nicht ausblendbare Brummen der Heizelemente seines Raumanzugs und den Verlust jeglichen Gefühls in Armen und Beinen, sobald er sich nur ein paar Sekunden lang nicht bewegte. Die Entfernung von seiner Heimat brachte eine Art Schwindelgefühl mit sich, eine leise Panik, die ihm die Luft abschnürte, wenn er zu lange darüber nachdachte. Er glaubte nicht, dass er sich jemals an die hiesige Schwerkraft gewöhnen würde: Jeder Schritt war ein schwungvolles Abheben, ein kurzer Flug, und dann das Gegenteil – eine halbe Sekunde schreckliche Angst, der mühsame Versuch, wieder zum Boden hinunterzugelangen, und schließlich eine Aufwallung von Erleichterung bei jeder Landung.

Vor allem faszinierte ihn jedoch die Horizontlinie. Auf dieser sonnenfernen Welt, auf der es Stickstoff schneite und niemals heller wurde als kurz vor dem Morgengrauen auf der Erde, war der Himmel blau. Dies war aber kein irdisches Blau – nicht das Kornblumenblau eines wolkenlosen Mittags –, sondern ein dunkleres, wässrigeres, fast indigofarben, wo es nach oben hin auslief.

Er liebte diesen Ort jetzt schon.

Lucian platzte schier vor Aufregung. Er war völlig aus dem Häuschen. Er stand auf Pluto. Auf dieser Welt, die man als »Neuen Horizont« bezeichnete. Zu allen Seiten erstreckte sich eine gewaltige Ebene aus schartigem, buckligem weißen Eis – und was für ein Eis das war! Nicht das normale Wassereis wie auf der Erde, auch kein Kohlendioxid wie auf dem Mars. Das Pluto-Eis setzte sich aus Stickstoff, ein wenig Methan und einem Quäntchen Kohlenmonoxid zusammen. Er überquerte einen Boden, der so kalt war, dass er buchstäblich aus gefrorener Luft bestand.

Der richtige Name der Eisfläche lautete Sputnik Planitia oder – abseits des Lateinischen – Sputnik-Ebene. Seit ihrer Entdeckung in den frühen Jahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts war die ikonische Landschaft jedoch eher durch ihre Form bekannt geworden: als die eine Hälfte von Plutos Herz.

An dem stark gekrümmten Horizont vor ihm zeichneten sich die al-Idrisi Montes ab: Eisberge von der Größe echter Berge, die vor langer Zeit an den ewig gefrorenen Küsten dieses Herzens gestrandet waren. Und dort, am Fuß ihrer gezackten Klippen, wuchs wie eine Ansammlung winziger Kristalle die leuchtende Stern-Basis empor.

Dieser Anblick ließ Lucians Herz höherschlagen. Der fernste Außenposten der Menschheit. Er stolperte immer wieder über seine eigenen Füße, während er halb hüpfend, halb springend in schiefen Winkeln auf dem Boden aufsetzte und jede darauffolgende kurze Ausschüttung von Adrenalin genoss. Nachdem er besonders knapp an einem richtigen Fehltritt vorbeigerauscht und für gute zehn Sekunden ins Schweben geraten war, kam eine Stimme in rauem Ton durch seine Hörkapsel: »Ist dir eigentlich klar«, sagte sie, »dass dich rund hundert Leute gleich an ihre Basis klatschen sehen werden wie eine Fliege an die Windschutzscheibe?«

»Ach, na ja«, erwiderte Lucian, nach Atem ringend, aber gut gelaunt über ihre private Leitung. »Man kann nicht früh genug anfangen, sich einen Ruf zu erarbeiten.«

»Bei deinem Gleichgewichtssinn muss ja jeder denken, dass du auf der Erde geboren bist.«

Lucian war sich undeutlich bewusst, dass er mit seiner behandschuhten Hand nach oben griff, um sich verlegen die Haare zu zerzausen, dabei jedoch nur auf den Helm stieß.

»Sehen Sie, Halley – es ist ein bisschen so, als stiege man eine leicht schräg stehende Treppe hinauf. Obwohl man es weiß, wird man es wohl vergessen und bei jedem Schritt stolpern.«

Er drehte sich um und winkte ihr zu, einem von einer Handvoll Glühwürmchen in der Ferne. Als er wieder nach vorn sah, war die Hauptschleuse der Basis kaum noch zwei große Sprünge entfernt. Dahinter, durch die Glaswände zu beiden Seiten, sah es so aus, als wäre ganz Pluto gekommen, um sie zu begrüßen. Die Menschen drückten sich an die Fenster und scharten sich drinnen zusammen, einige strahlten ihn an, manche winkten, andere sprangen hoch und schwebten wie Federn, um besser sehen zu können. Ihre Neugier war verständlich: Neuankömmlinge hier an der Außengrenze der Zivilisation waren selten, und einige von ihnen hatten schon ihr ganzes Leben hier verbracht, ohne jemals ein fremdes Gesicht zu sehen. Einen Augenblick lang fiel ihm ein leuchtendes Spruchband ins Auge: Willkommen, Sonnenbringer!

»Sonnenbringer?«, sagte Halley so spöttisch wie üblich, aber giftiger als nötig. Die alte Professorin schien in einer noch bissigeren, ungeselligeren Stimmung zu sein als sonst. »Halten die uns für ein Pantheon alter Gottheiten? Wir sind Terraformer, um der Erde willen.«

Lucian verzog das Gesicht zur Entsprechung eines Achselzuckens und vergaß dabei einen Moment lang sein Publikum.

»Tja, also, ich bezeichne mich lieber als Solaringenieur, und das ist ja wohl auch keine unzutreffende Beschreibung, oder? Ich meine, wären wir vor tausend Jahren auf der Erde gelandet, hätten uns die Leute wahrscheinlich für Götter gehalten, bei dem, was wir heutzutage so alles …«

»Nein.« Das Klick des Verbindungsabbruchs folgte, dann fuhr sie auf der öffentlichen Leitung fort: »Wir sind in zwei Minuten da, Dr. Harbour …«

Lucians Herz setzte für einen Schlag aus, und sein Helm fuhr herum. Einen schrecklichen Moment lang befürchtete er, einfach an dem Mann vorbeigesprungen zu sein, aber nein: Als er seinen Körper auf korrektere Weise drehte, sah er eine hochgewachsene, schlanke Gestalt aus der Luftschleuse kommen.

Jetzt bereute Lucian seine Eile: Er würde die Begrüßung allein absolvieren müssen. Er fummelte an seiner Handgelenkskonsole herum und schaltete auf die richtige Frequenz.

»Dr. Harbour? Hi. Rechts von Ihnen.«

Die Gestalt drehte sich um. Unter den harten Schatten der Helmbeleuchtung wirkte ihre Miene ernst, und in der nahezu sonnenlosen Mittagsdüsternis schien Plutos Kälte noch härter zuzubeißen.

Edmund Harbour. Der Mann, den man »Prinz von Pluto« nannte, Sohn des legendären Clavius Harbour. Lucian hatte Edmund während der Planungsphase natürlich unzählige Male per Fernkommunikation getroffen, doch selbst in einer Zeit, in der alles virtuell war, konnte nichts die unverfälschte Intimität einer Begegnung von Angesicht zu Angesicht ersetzen. Na ja, von Helm zu Helm. Lucian sprang vorsichtig hinüber.

»Hey.« Er lächelte zumindest noch von dem Lauf, also brauchte er sich nicht zu einem Lächeln zu zwingen. Als sich ihre Handschuhe berührten, wäre er beinahe zurückgezuckt, weil er fast mit einem Kälteschock gerechnet hatte. »Wie schön, dass wir uns endlich im wirklichen Leben begegnen.«

»Auch ich grüße Sie.« Harbours Händedruck war fest. Er verneigte sich leicht. Seine Haltung wie auch seine Stimme waren voll von gemessener, feierlicher Würde. »Unsere Leute warten schon seit einer Generation auf diesen Tag.«

»Geht mir vom Gefühl her ganz genauso«, ertönte Halleys Stimme, als sie und die anderen Mitglieder des Teams sich zu ihnen gesellten. Sie schüttelte Harbour kräftig die Hand. »Großartig, dass wir uns endlich in drei Dimensionen begegnen. Könnten wir das vielleicht ins Innere verlegen? Meine Füße sind fast schon taub.«

Während die Neuankömmlinge die Basis betraten, blieb Lucian zurück, drehte sich um und ließ den Blick ein letztes Mal schweigend über die zerknitterte Ebene des Herzens schweifen. Diese Aussicht würde er im Lauf der nächsten derzeit nicht feststehenden Anzahl von Jahren noch oft genug genießen können, aber im Augenblick waren jeder Riss und jede Spalte ganz neu, und so bedeutete dieser Anblick eine einzige Freude. Über ihm leuchteten die Sterne, genauso wie in seinem eigenen Winkel des Sonnensystems. Es kam ihm wie ein himmlischer Scherz vor, dass auch ihre Positionen genau dieselben waren: eine freundliche Erinnerung an die Relativität von Entfernungen. Er konzentrierte sich und suchte den Himmel nach einem besonderen Stern ab.

Und als er den Blick wieder senkte, sah er weiter vorn eine kleine Gestalt, die ihn beobachtete: noch jemand, der sich durch die Luftschleuse hinausgewagt hatte. Lucian betrachtete das Gesicht und erkannte, dass es ein Kind war, vielleicht ein Mädchen, ein bleiches Gesicht inmitten dieses anonymen Durcheinanders von Anzügen, die zu seinem eigenen Schiff gehörten. Sie stand unbeholfen da, ein federleichter, flugbereiter Vogel, hielt seinem Blick jedoch mit angestrengter Konzentration stand. Sie schien drauf und dran zu sein, ihm eine Frage zu stellen.

»Hi.« Lucian sprach sie über die öffentliche Nahbereichsfrequenz an und winkte ihr kurz zu. »Wie geht’s dir? Ich bin Lucian.«

Sie fuhr ruckartig herum und schaute zurück, als hätte jemand sie gerufen, und bevor er noch etwas sagen konnte, war sie schon wieder in der Luftschleuse verschwunden.

»Hey, Lucian?«

Lucian blickte sich um. Die Audiofunktionen der Raumanzüge verbesserten sich fast täglich, aber sie konnten Richtungen noch immer nicht so präzise bestimmen wie ein Ohr im Freien. Er zuckte zusammen, als er der Quelle hinter sich direkt gegenüberstand.

»Zu nah, Stan.«

Stan war Lucians Doktorand. Der Junge rang die Hände in den dicken Handschuhen, und Lucian verspürte einen leisen Anflug von Erleichterung, als er bemerkte, dass auch er sich mit unbeholfenen Schritten bewegte.

»Verzeihung. Ähm. Die erwarten doch nicht von mir, dass ich da was sage, oder?«

»Oh, nein, nein.« Während sie beide hineingingen, legte Lucian Stan beruhigend eine Hand auf die Schulter, wenn auch eher zugunsten seiner eigenen Standfestigkeit. »Es ist lediglich eine Art Gemeindeversammlung. Wahrscheinlich werden nur ein paar Vertreter hingehen. Ich nehme an, sie werden bloß wollen, dass Halley ein paar Worte sagt.«

Zehn Minuten später hatte er ein Mikrofon vor dem Mund, ein Namensschild an der Brust und einen Krug Sprudelwasser in der Hand, der seinen Weg über einen langen Tisch in einem Raum nahm, bei dem es sich wahrscheinlich um die Kantine handelte. Außer ihm hatten noch vier weitere Rednerinnen und Redner am Tisch Platz genommen, und vor ihnen saßen dicht gedrängt die Plutonier. Offenbar alle bis auf den letzten Mann.

»Wie groß wird er sein?«

»Wie hell wird er sein?«

»Wie gefährlich wird das sein?«

»Wie können wir uns daran beteiligen?«

Lucian hatte in seiner beruflichen Laufbahn bereits an einem Dutzend weitaus kleinerer Terraformingprojekte mitgearbeitet, und noch nie war eines derart einhellig hoffnungsvoll und begeistert aufgenommen worden. Ihre Fragen waren berechtigt, sachkundig und nahmen kein Ende.

»Nächste Frage.« Edmund Harbour, der die Gesprächsrunde leitete, streckte eine Hand aus.

Er trug einen Anzug in schickem Schwarz – im Kontrast zu der hell erleuchteten Basis –, hatte eine Physiognomie, die alterslos wirkte (achtundzwanzig? achtunddreißig?), und sprach so ruhig und klug, dass Lucian das Gefühl hatte, seine eigenen Fachkenntnisse wären weitgehend überflüssig. Er hätte attraktiv sein können, aber Lucian sah nur gerade Linien und harte Kanten: prägnante Kinnpartie, scharf konturierte Stirn, noch schärfere Augen. Alles – von seiner reglosen Haltung bis zu seiner makellosen Frisur – wirkte so starr, dass es nicht einmal ein Lächeln zuzulassen schien.

Der Fragesteller erhob sich.

»Mit welchem Temperaturanstieg können wir rechnen, und im Verlauf welcher Zeiträume?«

»Ungefähr dreißig Grad Celsius innerhalb der ersten hundert Jahre, mehr oder weniger auf dem ganzen Planeten.« Lucian übernahm es, diese Frage zu beantworten, während er einen halben Ingwerkeks aus einer Packung aß, die herumgereicht wurde. »Aber bei der Dreihundert-Kilometer-Version wären es ungefähr fünfzig in den mittleren Breiten. Was den Zeitraum betrifft …«

»Denken Sie an einen Lichtschalter«, unterbrach ihn Halley trocken. »Beim Licht, heißt das. Bei der Temperatur gibt es eine Wirkungsverzögerung, ein langsames, exponentielles Wachstum. Wir nehmen an, dass sie sich ungefähr« – sie wackelte mit der Hand hin und her – »bei minus siebzig, minus fünfzig Grad Celsius einpendeln wird, und zwar nach etwa fünfhundert E-Jahren. Sie dürfen nicht vergessen, dass Pluto noch nie eine Sonne hatte. Nun bringen wir eine hierher. Einige geologische Systeme werden sofort reagieren, und andere … Nun, sie heißen nicht ohne Grund ›geologisch‹, weil sie sich nämlich nur in wesentlich größeren Zeiträumen verändern.«

»Es ist hundertprozentig sicher«, fügte Lucian hinzu, als er sah, wie sich Hände in die Höhe reckten. »Zuerst schmilzt das Stickstoffeis, dann, etwas langsamer, das Methaneis. Die Aktivierung der Hydrosphäre wird immer ein gewisses Maß an planetaren … Umwälzungen mit sich bringen, aber vergessen Sie nicht, wir sprechen davon, enorme Energiemengen auf kontrollierbare Art und Weise einzusetzen.«

Eine weitere Hand.

»Wie lange wird es dauern, bis er einsatzfähig ist?«

»Geben Sie uns zwei Erdenjahre.« Das war der Chefingenieur des Projekts, ein rüstiger Mann namens Parkin, etwas über achtzig Jahre alt, den Lucian mochte und gut kannte. »Mit Erlaubnis der Bürger von Pluto sind wir bereit, mit der Arbeit zu beginnen, sobald wir diese Kekse aufgegessen haben.«

Parkin war ursprünglich ein Plutonier, den Clavius Harbour persönlich ausgewählt hatte, und ein alter Hase in puncto Megakonstruktionen. Während Halley als Gigantin in der Entwicklung wissenschaftlicher Konzepte galt, war Parkin ihr Pendant: Er erweckte ihre Welten mit technischen Mitteln zum Leben. Nicht zum ersten Mal dachte Lucian, der zwischen ihnen saß, über die Surrealität seiner Lage nach.

»Eine letzte Frage.« Edmund Harbour machte eine Kopfbewegung zu einer anderen Hand.

Die Sprecherin erhob sich. »Wir alle haben die Suche nach indigenen Plutoniern sehr aufmerksam verfolgt, und viele von uns setzten sie weiterhin fort. Falls es tatsächlich Leben auf Pluto gibt, welche Auswirkungen könnte dieses Projekt dann darauf haben?«

Eine elektrische Ladung schien durch den Raum zu fegen, wie Wind, der das Getreide auf einem Feld in Bewegung versetzt. Leise Worte wanderten von einem gesenkten Kopf zum nächsten. Lucian schaffte es, Halleys Blick auf sich zu lenken, ohne den Kopf zu drehen, aber seine Verwirrung traf nur auf kalkulierte Ausdruckslosigkeit.

»Das übernehme ich.«

Das war die weiche, flüssige Stimme einer Frau am anderen Ende des Tisches. Lucian hatte sie zuvor im Trubel der Vorstellungen begrüßt, ohne dass etwas hängen geblieben wäre, aber jetzt sah er, dass auf ihrem Namensschild Mallory Madoc stand … Das war Mallory Madoc? Es war einer jener Namen, die jeder innerhalb seines Fachgebiets kannte, aber er hatte noch nie daran gedacht, nach ihrem Gesicht zu suchen. Sie sah so jung aus … für die Leiterin des ersten Teams, das extraterrestrisches Leben entdeckt hatte.

»Was wir auf Europa durchweg gesehen haben, waren voneinander unabhängige Kolonien thermophiler Methanbildner in der Umgebung hydrothermaler Tiefseeschlote«, sagte Madoc in einem energischen Ton, der besser für wissenschaftliche Symposien geeignet gewesen wäre. »Auf Enceladus ist es eine ähnliche Geschichte, würdest du das nicht auch sagen, Yolanda?«

Eine dunkelhaarige, dunkeläugige Frau in der ersten Reihe reagierte mit einem Nicken, während Lucian spürte, wie es bei dem Namen klick machte. Er war sofort gespannt gewesen, als er zum ersten Mal gehört hatte, dass Yolanda Moreno ebenfalls auf Pluto war: die Frau, die nur Monate nach Madoc Leben auf dem Saturnmond Enceladus gefunden hatte. Sie nannten sich Xenobiologinnen – und Lucian fragte sich erst jetzt, aus welchem Grund es das Duo, das das Fachgebiet buchstäblich begründet hatte, ausgerechnet zu einem abgelegenen, eine Jahresreise von der Zivilisation entfernten Zwergplaneten verschlagen hatte.

Nun … vermutlich aus demselben Grund, weshalb es Leute wie ihn dorthin verschlug. Weil dieser Planet etwas für Pioniere war. Eben weil er eine Jahresreise von der Zivilisation entfernt war.

»Einschließlich der Erde«, fuhr Madoc fort, »haben wir jetzt drei Datenpunkte – vier, wenn wir den Mars mitzählen – für die Verhaltensweisen des Lebens in lichtarmen, eisreichen Umgebungen. Falls Pluto tatsächlich Leben beherbergt, stünde zu erwarten, dass wir es an folgenden Orten und in folgender Gestalt antreffen: Erstens« – sie streckte einen Finger in die Höhe – »in Wärmeströmungen oder Bereichen geochemischer Aktivität konzentriert. Zweitens, tief unter der Oberfläche. Und drittens, wie auf Europa und Enceladus, als sehr einfache mikroskopische Form. Ich glaube fest daran, dass die beständige Wärmezufuhr durch Projekt Plutoshine jegliches Leben ernähren, es sogar aus seinen Verstecken ins Freie locken würde.«

»Danke, Dr. Madoc, und ich fürchte, unsere Zeit ist schon um.« Harbour war aufgestanden. »Damit möchte ich die heutige Gesprächsrunde beenden. Bitte bedanken Sie sich zusammen mit mir noch einmal bei unseren Rednern, sowohl bei den vertrauten Gesichtern« – er deutete auf Parkin und Madoc – »als auch bei unseren neuesten Mitbewohnern.«

Neueste Mitbewohner. Lucian dachte behutsam über die Wörter nach, während Hände herabsanken und Applaus anschwoll. Ihm wurde immer noch ein bisschen schwindlig bei dem Gedanken, dass er nun ein Bewohner dieses fernsten bewohnten Außenpostens der Menschheit war. Vielleicht war es aber auch nur eine Begleiterscheinung seiner schmerzenden Knochen oder der Tatsache, dass seine Augen sich anfühlten, als hätte er sie seit der Querung der Neptun-Umlaufbahn nicht mehr geschlossen.

Erst später, nachdem Edmund Harbour die rund ein Dutzend Neuankömmlinge persönlich zu ihren Unterkünften gebracht und ihnen eine gute Nacht gewünscht hatte (Nacht wurde durch gedämpfte Beleuchtung gekennzeichnet und durch deren allmähliches Hellerwerden bei Tagesanbruch beendet), kam Lucian dazu, Halley zu fragen, was es mit dem ganzen Tamtam um die Lebensfrage überhaupt auf sich hatte.

Ihre Augenbrauen stiegen in die Höhe, aber sie wandte den Blick nicht von dem Livestream in ihrem gemeinsamen Wohnzimmer ab.

»Musst du das wirklich fragen?«

Lucian blickte auf. Er war gerade dabei, Stan, der aufrecht in einem Sessel saß und so stetig, tief und gesund atmete, wie es nur im Schlaf möglich war, eine flauschige Decke überzulegen.

»Ja, natürlich muss ich das fragen«, erwiderte Lucian, »sonst würde ich mir Ihnen gegenüber ja das schmerzhafte Eingeständnis meiner grassierenden Unwissenheit ersparen.«

»Der Unfall liegt erst ein Jahr zurück.« Halley sah dem Brandungsspiel an einer Meeresküste weiter zu. »Ein so großes Drama für einen so kleinen Planeten – auf der Erde spricht man noch immer darüber, mein Junge.« Sie ließ das Kamerabild – mindestens neunzehn Stunden alt, falls die Live-Aufnahmen mit Lichtgeschwindigkeit gereist waren – mit einer Handbewegung auf Wellen zoomen, die den Sand tränkten. »Hast du nicht den leeren Platz neben Edmund gesehen?«

Lucian hatte ihn gesehen. Es war ihm außerordentlich unangenehm gewesen, wie ein Gleichrangiger danebenzusitzen.

»Lehnen die Leute wirklich die gesamte Disziplin der Xenobiologie ab, nur weil bei einem Suchtrupp etwas schiefgegangen ist?« Er hockte sich auf die Armlehne eines Sofas und verschränkte die Arme. »Selbst jetzt, wo ich hier bin, verstehe ich das nicht.«

»Viele meinten, sie hätten gar nicht erst suchen sollen, oder es sei für die Katz gewesen.« Halleys Achselzucken ging in ein Recken und Strecken über. Sie war eine Löwin von einer Frau, knochig, aber stark, mit einem unerschrockenen Blick, der alles in seiner Bahn zu sezieren und dann wieder zusammenzusetzen schien. »Ich sehe es genauso wie du, aber denk daran, nichts ist jemals ›nur weil‹, wenn es um Clavius Harbour geht. Pluto ist immer noch dabei, sich an seine Abwesenheit zu gewöhnen.«

»Machen Sie ›Sonnensystem‹ draus.« Lucian ließ sich in die Tiefen des Sofas sinken. »Wissen Sie noch, wie wir es auf dem Schiff erfahren haben? Wir waren da draußen, mitten im Nirgendwo im Asteroidengürtel, und jeder von uns wusste darüber Bescheid.«

»Diese altruistischen Genies, die …« Halley brach ab, als es an ihrer Tür klingelte.

Lucian öffnete, und da stand sie. Das kleine Vogelmädchen. Irgendwie wusste er, dass sie es war, minus Anzug: dieselbe Größe, dieselben riesigen Augen, dieselbe ängstliche, zaghafte Intensität. Von Angesicht zu Angesicht war sie sogar noch kleiner, mit hübschen, feinen Zügen und knochigen Schultern, die Arme eng am Körper, als wollte sie so wenig Raum wie irgend möglich einnehmen. Sie blickte mit einem Ausdruck zu ihm hinauf, den Lucian, als er später darüber nachdachte, nur als Schreckensstarre bezeichnen konnte.

»Hi«, sagte er und legte irgendwie den wohlmeinenden, ein wenig herablassenden Ton in dieses eine Wort, den Erwachsene für Kinder reservieren. »Ich erinnere mich an dich. Wie geht’s dir?«

Das Mädchen sagte kein Wort, sondern streckte nur eine Hand aus, in der ein Zettel steckte.

»Oh! Danke …«

Sie verbeugte sich leicht, als er den Zettel entgegennahm, und dann, in dem Moment, als er auf seine Hände schaute und den Blick wieder hob, verschwand sie.

Er zwinkerte. Es musste irgend so eine Plutonier-Spezialität sein, mithilfe der Schwerkraft auf genau die richtige Weise zu springen.

Halley blickte interessiert herüber.

»Sehe ich richtig? Hast du gerade versucht, mit Nou Harbour zu reden?«

»Harbour?« Lucian fuhr herum. »Edmund Harbour hat eine Tochter?«

»Du hast wirklich kein Wort auf einer dieser Gesellschafts- und Kulturseiten gelesen, die ich dir geschickt habe, nicht wahr? Sie ist seine Schwester – mit einem Altersabstand von mehr als zwanzig Jahren.«

Lucian rief sich Harbours ernste Gestalt in Erinnerung, phlegmatisch, undurchdringlich, und versuchte angestrengt, irgendetwas an dem Mann zu entdecken, was entweder brüderlich oder väterlich war.

»Moment mal.« Etwas war gerade in sein Bewusstsein vorgedrungen. »Was meinen Sie mit ›versucht, mit ihr zu reden‹? Ich kann gut mit Kindern! Es gefällt mir nicht …«

»Nou Harbour hat seit über einem Jahr keine zwei Worte gesprochen.«

Lucians Mund öffnete sich zu einem stummen »Oh«.

»Tatsächlich ist das sogar eine Untertreibung.« Nachdenklich hob Halley den Blick. »Sie hat kein einziges Wort gesagt.«

»Aha. Okay.« Lucian schüttelte den Kopf. »Was macht das mit jemandem? Was ist denn passiert?«

»Körperlich ist alles in Ordnung mit ihr. Es ist allgemein bekannt, dass es sich um ein psychisches Trauma handelt.« Halley betrachtete ihn geduldig, mit undurchdringlicher Miene, und überließ es ihm, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen.

Lucian brauchte einen Moment, um aufzuheben, was sie ihm hingeworfen hatte.

»Oh! Vor einem Jahr … Der Unfall ihres Vaters?«

»Großartig kombiniert. Edmund sagt, sie sei dabei gewesen, als es passiert ist. Wie er selbst auch. Offensichtlich gehen sie auf unterschiedliche Weise damit um.« Halley fixierte ihn. »Na, machst du ihn auf? Ich möchte sehen, was sie zu sagen hat, wenn sie schon mal redet.«

Er faltete den Zettel auseinander:

Kann ich bitte helfen?

Die Wörter waren irgendwie … eigenartig geschrieben. In Schreibschrift zwar, aber unverbunden, als wäre ihr jeder Buchstabe aus den Fingern gerissen worden, und so langsam und sorgfältig, dass die Tinte des vorherigen Buchstabens jeweils genug Zeit zum Trocknen gehabt hatte.

»Also, ich kümmere mich nicht um sie, wenn sie helfen will.« Halley hatte den Satz kopfüber gelesen und wandte sich bereits ab. »Ich möchte nichts mit kleinen Kindern zu tun haben, das habe ich mehr als einmal klargemacht.«

»Wobei helfen? Bei dem, was wir machen – bei Plutoshine, meinen Sie?« Lucian blickte überrascht auf.

»Vermutlich.« Halley war auf dem Weg zu einer weißen Tür mit ihrem Namensschild, das daneben hing. »Soll sie doch bei Stan ein Mikropraktikum machen, oder wie das heißt. Dann kann er sich in seinem Lebenslauf auch als Betreuer bezeichnen …«

»Gute Nacht, Halley«, rief Lucian ihr nach, während sich ihre Schiebetür bereits schloss.

Er warf erneut einen Blick auf den Zettel in seiner Hand, auf die unverbundenen Buchstaben, die kindlichen Kringel, die sorgfältige, ordentliche Schrift. Wenn sie seit einem Jahr nicht mehr gesprochen hatte, dachte er, warum machte sie sich dann die Mühe, mit ihnen zu kommunizieren?

Nou hätte schwören können, dass sie den Boden unter den Füßen verlor, so heftig klopfte ihr Herz. Kaum drei Minuten waren vergangen, seit sie mit zitternden Händen vor der Tür der Sonnenbringer gestanden hatte. Drei Minuten, seit sie geflohen war, außerstande, sich zu beherrschen, und zu ihrem abgedunkelten Raum im nächsten Gang gelaufen war. Zwei Minuten, seit sie ihren Schreibtisch erreicht und sich darunter versteckt hatte – sie spürte, wie sich die Wände des engen Raumes gegen ihre Seiten, ihren Rücken und ihr Schädeldach pressten. Eine Minute, seit sie die Strümpfe ausgezogen, ihre Fußsohlen in die verlässliche Wärme des Bodens gedrückt und gespürt hatte, wie sie davon geerdet wurde. Sie war geborgen. In Sicherheit. Ihre Hände fühlten sich leer an, sie schlossen sich immer wieder um die Stelle, wo der Zettel gewesen war.

Aber sie hatte es getan. Sie hatte ihnen den Zettel gegeben. Dem großen Mann, dem mit den wilden Haaren. Und jetzt konnte sie ihnen vielleicht – nur vielleicht – helfen, das Leben wieder aus seinem Versteck zu holen.

Und vielleicht – sie kniff die Augen zu, bis selbst der rosige Lichtschein ihres Nachtlichts erlosch –, vielleicht würde das reichen, um das Schlamassel zu beheben, das sie mit dem Versuch, dies zu tun, bereits angerichtet hatte.

2

In den ersten Nächten, nachdem er wieder festen Boden unter den Füßen bekommen hatte, schlief Lucian nie besonders gut. Es lag am Ausblick: Obwohl er die Augen geschlossen hielt und das Bullauge abgedeckt war, gab es draußen vor dem Fenster eine Welt, die sich nicht bewegte. Kein unaufhörliches Rotieren des Schiffes um die eigene Achse; keine Sterne, die mit der Genauigkeit eines Uhrwerks in jeder Sekunde weiter kreisten als in einer ganzen Nacht auf der Erde. Ihm wurde schwindlig, wenn er zu lange darüber nachdachte – als hätte er das letzte Jahr nicht auf einem Raumflug verbracht, sondern wäre auf der Stelle gekreiselt und stünde erst jetzt still, während sich in seinem Kopf noch alles drehte.

Außerdem war er ein Kind in den frühen Morgenstunden des Weihnachtstages, kurz vor der Bescherung. Wie hätte er seine ersten Stunden auf Pluto mit Schlafen verbringen können?

All das erzählte Lucian seiner Familie, während er aufrecht im Bett saß und sein Miniatur-Ich anblinzelte, das ihn vom Bildschirm seiner Handgelenkskonsole aus anblickte. Wo sollte er anfangen? Er befand sich in Clavius Harbours Stern, auf der Welt, die er besiedelt hatte, in der Basis, die er erschaffen hatte, sogar in einem der Betten, die er entworfen hatte: Eine Glaskuppel über Lucian, etwas außerhalb der Reichweite seiner ausgestreckten Fingerspitzen, schloss ihn in dem behaglichen Innern einer schneelosen Schneekugel ein. Mit kleinen Bedienungselementen neben seinem Kissen ließen sich sogar tanzende Bilder auf die Kuppel werfen: prasselnder Regen, wehende Auroren, Lieblingsfilme. Pure Magie, ja, aber das Entscheidende war, dass die Kuppel auch eine unfehlbare Sicherheitsvorkehrung gegen einen Druckabfall darstellte. Clavius Harbour war – und hatte das nicht jeder gewusst? – ein Genie.

Und Lucian war bei dem Gedanken, dass er ihn tatsächlich kennenlernen würde, ganz aus dem Häuschen gewesen.

Aber das erzählte er seiner Familie nicht. Stattdessen erzählte er seiner Mum von den weichen Erdnusskeksen, die er unter ihrem Bett versteckt hatte, gefriergetrocknet, damit sie frisch blieben, besonders für diesen Tag. Er erzählte seiner kleinen Schwester Felicity, dass die gesamte Laborgruppe gewettet hatte, wie lange es wohl noch dauern würde, bis sie durch Sputnik Planitia schwimmen konnten, von »beim Wärmetod des Universums« bis zu »nächste Woche, wenn wir eine Wasserrutsche bauen, die groß genug ist«. Er fragte seine andere Schwester, Joy – ebenfalls jünger, aber so verdammt kompetent, dass er es häufig vergaß –, wie es finanziell mit den Pflegestellen der Familie lief und welches der Kinder seit ihrem letzten Gespräch ein Zuhause gefunden hatte. Er bat sie, die Katzen für ihn zu knuddeln, auch die aggressiven.

»Liebe und Sonnenschein«, wünschte ihnen ihr Sohn und Bruder und küsste seine Handfläche für die Kamera. »Ihr fehlt mir alle so.«

An seiner Handgelenkskonsole drückte Lucian auf Senden. Neunzehn Stunden später – die längste Wartezeit für einen zwischenmenschlichen Kontakt im gesamten Bereich der Zivilisation – würde seine Familie sein Gesicht sehen.

Zu diesem Zeitpunkt würde er schon ganz Stern erkundet haben. In seinen Haarwurzeln kribbelte es vor Erregung. Ein Kind, hellwach im Dunkeln am Weihnachtsmorgen, kann nur begrenzte Zeit widerstehen.

Wohin zuerst? Lucian kannte die Anlage der Basis gut: Als Student hatte er die Pläne an seiner Wand hängen gehabt. Was konnte für einen Jungen, der unter der Diktatur der Sonne aufgewachsen war, unvorstellbarer und auf morbide Weise faszinierender sein als eine Welt ohne sie? Er war dreizehn gewesen, als die ersten Siedler auf Pluto eintrafen, und schon damals, in einem Alter, als ihm alles Neue das Größte, Extremste und Aufregendste zu sein schien, hatte die Entstehung der ersten kleinen Stadt auf Pluto alle Superlative verdient. Er und seine Kameraden waren in Virtual-Reality-Spielen in diesen Räumen herumgelaufen; hatten Metadaten über Clavius Harbours Baupläne für interstellare Raumschiffe ausgetauscht; hatten die Namen und Fachgebiete der Wissenschaftler auswendig gelernt, die mit ihm zusammenarbeiteten, und waren bei Abenteuern abwechselnd in seine Rolle geschlüpft.

Ob es zu Hause wohl Kinder gab, die beim Spielen jetzt gerade in seine Rolle schlüpften? Lächelnd schüttelte Lucian den Kopf. Die Terraformingdebatte hatte sicherlich in allen Ecken und Winkeln des von Menschen bewohnten Sonnensystems Interesse geweckt, aber diese Ehre würde Leuten wie Halley oder Parkin vorbehalten bleiben. Diejenigen, die derart grandiose Pläne entwickelten und ausführten, waren in aller Munde und genossen den Status von Rockstars – und das zu Recht.

Um seine Füße herum leuchtete gedämpftes Licht auf und bewegte sich mit ihm – um ihm den Weg zu zeigen – wie Biolumineszenz, die jemandem folgte, der durch Meerwasser watete. Natürlich alles vollautomatisch, aber trotzdem hatte es allzu große Ähnlichkeit damit, beobachtet zu werden …

Lucian schnappte erfreut nach Luft, als es ihm wieder einfiel.

»Gen!«

Sofort erfüllte eine höfliche, androgyne Stimme die Luft.

»Hallo, Lucian. Oder, wie ich dich besser kenne, Quickestsilver-Unterstrich-Vierundsiebzig.«

Lucian grinste. »Also bist du wirklich mit deinem echten Ich in dieses Spiel eingebunden gewesen – mit deinem echten Server oder was auch immer, meine ich. In der Verschwörungsszene hieß es, das sei bloß ein Gerücht zu Reklamezwecken. Ich bin ständig zu dir gekommen, wenn ich auf der Suche nach Hinweisen und geheimen Räumen war.«

»Freut mich, wenn ich zu Diensten sein konnte«, erwiderte die KI der Basis. Lucian war immer noch unterwegs; die Stimme begleitete ihn so nahtlos, als säße sie in seinem Kopf. »Ich hoffe, du genießt deinen Aufenthalt hier in Stern, Lucian.«

»Das habe ich jedenfalls vor, Gen. Ich melde mich wieder.«

»Wann und wo immer du möchtest, Lucian.«

Lange, flache Stufen führten eine Wendeltreppe hinunter. Ihre Maße standen in direktem Verhältnis zur Schwerkraft, so wie die kurzen, stummelartigen Stufen auf der Erde mit den kurzen Stummelschritten ihrer Bewohner korrespondierten. Lucian nahm immer zwei auf einmal und blickte dabei nach oben: Sterne erwarteten ihn, sie tüpfelten den Himmel jenseits einer Kuppel, die nur auf einer Seite an das silberne Band jener schützenden Berge grenzte. In der Kuppel hing ein originalgetreuer Nachbau der New-Horizons-Sonde: des ersten Raumfahrzeugs, das Pluto besucht und durch dessen Augen die Menschheit zum ersten Mal einen Blick auf die Welt erhascht hatte, die für manche ein Zuhause werden würde.

Diese Etage – Ebene 0 – war die größte, luftigste und hellste, dort spielte sich alles ab. Scharfrandige Schatten krümmten sich im Gefolge seiner Entourage persönlicher Lichter, als Lucian hineinschlich, Flecken aus Licht und Dunkelheit, die gemeinsam über die Plaza sprangen und das geschäftige Treiben imitierten, das in seiner Fantasie hier tagsüber herrschte. Momentan mochte zwar alles still sein, aber hier würden Festlichkeiten stattfinden, Geburtstagsfeiern, Konzerte, Treffen mit Freundinnen und Freunden, lebhafte Diskussionen über in hohem Maße esoterische Seitenarme der Wissenschaft. Hier würde man auch entspannte freie Nachmittage verbringen. Dies war das wahre Herz von Pluto.

Er ging weiter, zu einer Tür in der Nähe. Dort stand auf einer kleinen silbernen Plakette … (er ging noch näher heran) … Die Parkanlagen. Eine Handbewegung, und die Tür fuhr zügig in die Wand. Lucian schlüpfte hindurch.

Und trat geradewegs in einen Wald.

Grün. Tau. Morgendlicher Vogelgesang. Einen Moment lang blieb er wie angewurzelt stehen; selbst der Atem in seiner Lunge kam zum Stillstand. Ein Jahr war eine lange Zeit, wenn man es in einer rotierenden Blechdose verbrachte. Die ganze virtuelle Realität im Sonnensystem, all das Grün in den Treibhäusern im All – nichts davon kam an das Gefühl von rauer Rinde unter den Fingerspitzen, den sauberen, pfeffrigen Geruch von Regen auf lehmiger Erde oder das ferne, klagende Zwitschern eines Rotkehlchens heran. Jede Fläche strotzte vor Leben. Durch die höchsten Äste der Bäume lugte das Gitterwerk einer großen Kuppel, und vor ihm schlängelte sich ein ausgetretener Pfad verlockend durch das Unterholz zwischen den Baumstämmen.

Die Strümpfe ein wenig feucht unter den Füßen, verschwand Lucian auf ihm.

Und so verbrachte er seine frühen Morgenstunden. Er entdeckte einen Videotagebuch-Raum mit allen erforderlichen Gerätschaften und Postkartenansichten des Herzens im Hintergrund; stieß auf einen Swimmingpool in Form eines rotierenden Laufrads, dessen Zentrifugalkräfte dafür sorgten, dass das Wasser seine Oberfläche beibehielt; fand, nachdem er die längste Strecke von einem Fuß auf den anderen gehüpft war, einen ziemlich großen Musikraum mit allen elementaren Dingen für eine gerade gegründete Band. Schlagzeug, Gitarren – fast wie seine eigene –, dazu ein prächtiger Flügel aus dem 3-D-Drucker, bizarre Percussions-Instrumente, deren Klang er sich kaum vorstellen konnte. Seine selbstgebauten Didgeridoos würden hier in guter Gesellschaft sein.

In allen Fasern vibrierend, wanderte Lucian zur Plaza zurück und genoss es dabei, den langen Weg über zahlreiche zuvor nicht genommene Abzweigungen und Sackgassen zu nehmen. Doch als er gut gelaunt zur Kuppel zurückkehrte, stellte er fest, dass seine Lichterspur dort nicht mehr die einzige war.

»Hallo«, rief die Stimme einer Frau, voll und warm wie die allmählich einsetzende Morgendämmerung in dem Raum. »Lucian, nicht wahr?«

Lucian erschrak, als er das seidenweiche Haar von Mallory Madoc erkannte, der Xenobiologin, die am Vorabend gesprochen hatte – das war die Frau, der es gelungen war, Leben auf dem Jupitermond Europa zu entdecken. Sie saß auf einer Bank, die Beine an den Knöcheln gekreuzt, die Hände im Schoß. Und lächelte ihn an.

»Dr. Madoc, ja, hi, richtig.« Lucian erwiderte das Lächeln und hüpfte zu ihr hinüber. Mit einem Mal wurde ihm schmerzhaft bewusst, dass er unrasiert war und ein angegrautes T-Shirt trug, auf dem höchstwahrscheinlich (er wagte es nicht, nachzusehen) der Name einer Indie-Band aus der Zeit vor zweihundert Jahren prangte. Er wühlte in seinen morgendlichen Erinnerungen, in der vergeblichen Hoffnung, dass er sich die Haare gekämmt hatte. »Es ist … Wow. Es ist fantastisch, Sie kennenzulernen. Ihre Arbeit auf Europa war unglaublich.«

Lucian konnte nicht umhin, festzustellen, dass Mallory Madoc bezaubernd aussah. Elegant wie ein hohes Glas Gin Tonic, vielleicht irgendwo in den Vierzigern, mit Augen, die von trockenem Humor funkelten. Die berühmteste Xenobiologin des Sonnensystems streckte eine Hand aus.

»Bitte – Mallory.«

Lucian nahm sie. Ihr Griff war fest.

»Darf ich?« Er deutete auf den Platz neben ihr, und sie neigte einladend den Kopf.

»Der g-lag hat Sie zu mir gebracht, nehme ich an?« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Mir ging es genauso, als wir letztes Jahr eintrafen. Es hat Tage gedauert, bis mein Körper sich wieder daran erinnert hat, dass er für den Aufenthalt in Schwerkraft gedacht ist, und mich durchschlafen ließ.«

Wohltönend. Das Wort driftete in Lucians Bewusstsein nach vorn. Vielleicht hatte sie einfach mit dem Eis von Europa gesprochen, und dessen winzige Geschöpfe waren emporgesprossen, um sie kennenzulernen.

»Ach, es ist kein schlechter Morgen für einen kleinen Rundgang«, erklärt er ihr mit einem Achselzucken. »Meine Mum sagt immer, es gibt nur ein bekanntes Heilmittel, nämlich zu Hause zu bleiben.«

»Wäre das nicht ein Verlust für uns alle? Hier.« Sie goss eine dunkle Flüssigkeit in einen Becher und reichte ihn ihm. »Ich bin Frühaufsteherin, aber das hilft mir immer.«

»Oh, allerherzlichsten Dank«, sagte Lucian aufrichtig und spürte dann eher, als dass er es schmeckte, wie der Kaffee seinen Organismus attackierte. Ein leiser Nachgeschmack blieb: eine Süße wie Honig, wie bei einer Cantaloupe-Melone.

»Ich hätte da eine Frage …« Er zögerte. Die gesellschaftlichen Umgangsformen unter Wissenschaftlern erschienen ihm immer ein wenig undurchsichtig: Wie viel Small Talk durfte man überspringen, um zu den wirklich interessanten Dingen zu gelangen? »Ich weiß, das hören Sie bestimmt ständig, aber … Wie hat sich das in dem Moment angefühlt, als Sie es entdeckt haben? Das erste Leben außerhalb der Erde?«

Mallory lachte einmal – ein entzückender Laut. »Bitte, fragen Sie nur. Ich werde viel häufiger gefragt, ob ich auch das empfunden habe, was die Leute ihrer Ansicht nach selbst empfunden hätten. Erraten Sie, was das ist?«

Lucian stellte sich vor, er träfe auf neues Leben. Von einem solchen Moment hatte er schon oft geträumt, und was darauf folgte – die plötzliche Beschleunigung seines Pulsschlags und die Erweiterung seiner Pupillen –, war ihm vertraut.

»Euphorie«, sagte er atemlos. »Und ein Schwindelgefühl, und Ehrfurcht, und … ah. Stelle ich mir zumindest so vor.« Er fuhr sich verlegen durch die Haare, damit er etwas zu tun hatte. »Also, sprechen Sie weiter. Was glauben alle, was Sie empfunden haben?«

»Sie haben eine viel zu hohe Meinung vom Mensch als Kollektiv.« Mallory sah ihn an. In ihrem Blick lag so etwas wie Belustigung oder Mitleid. »Es ist Angst. Die Leute fragen mich, ob ich Angst hatte.« Sie schenkte ihm ein schwaches Lächeln, als wollte sie ihn einladen, diese enttäuschende Erfahrung zu teilen. »In der populären Kultur werden Außerirdische mit Kampfschiffen, Laserkanonen und … oh … existenzbedrohenden Waffen gleichgesetzt. Unsere Medien hatten unsere Spezies kaum auf einen so normalen Erstkontakt wie den mittels eines Mikroskops vorbereitet.«

Lucian dachte darüber nach. Nichts an der Entdeckung der ersten Xenoformen – so hatte man sie genannt, xeno für fremd und form für ihre Gestalt – war ihm normal vorgekommen. Er hatte zu jener Zeit gerade seine Doktorarbeit geschrieben und konnte sich noch lebhaft und deutlich daran erinnern, wie er seine Newsfeeds gecheckt hatte und der Raum ins Schwingen geraten war, als hinge er an einem Pendel, wie es in seinen Ohren gebraust hatte, und dann war sein Zimmergenosse hereingelaufen gekommen und hatte gefragt, weswegen er so herumjaulte …

»Also, Lucian, hier ist eine Frage, die Ihnen ständig gestellt werden wird, da Sie nun hier sind …«

»Oh?«

Mallory sah ihn durchdringend an. »Wieso kommt jemand, der sein gesamtes Leben entweder unter der Sonne oder mit dem Studium ihrer Kräfte verbracht hat, diesen ganzen weiten Weg hier heraus?«

So viel zum Thema Small Talk. Lucian atmete aus.

»Tja …«

»Wird sie Ihnen nicht fehlen?«

»Doch, natürlich. Aber es ist eher so, dass …« Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen, während sein Blick einer Gestalt draußen vor dem Fenster folgte, die eine morgendliche Joggingrunde auf dem Eis absolvierte. Lieber sie als er. »Ich musste herkommen«, sagte er schließlich. »Halley hat die Stelle ausgeschrieben, und ich wusste: Das war es. Ich konnte nicht Nein sagen.«

»Warum nicht?« Mallorys Blick war erbarmungslos.

»Ich weiß es nicht.« Er zuckte die Achseln. Er wusste es sehr wohl, war aber erneut befangen. Er sprach mit dieser Frau, als wären sie zwei Fremde am Tresen einer Hotelbar, deren Wege sich nie wieder kreuzen würden – was in dieser Basis von der Größe eines universitären Fachbereichs kaum weiter von der Wirklichkeit entfernt sein konnte. »Was ist mit Ihnen?« Es war ein Abwehrversuch, um das Gespräch von sich selbst wegzulenken, aber seine Neugier war echt. »Europa ist für die meisten weit genug draußen. Warum sind Sie von dort weggegangen?«

»Na, ist doch klar.« Mallory lachte. »Wenn schon feststeht, dass auf dem Jupiter und Saturn eigenständiges Leben entstehen kann, bekäme ich wohl kaum weiche Knie, wenn sich herausstellen sollte, dass es innerhalb dieser beiden Planetensysteme auch woanders entstanden ist.«

»Herrje.« Lucian verkniff sich ein stärkeres Wort. »Ich meine, es ist Leben. Meine Knie wären total verrenkt vom Purzelbaumschlagen, wenn noch mehr Welten in die Kategorie ›aktives Habitat‹ aufgenommen würden.«

»Wirklich?« Mallory runzelte die Stirn. »Also, mir geht es ganz anders. Viel lieber fände ich eine Erklärung für die Zähigkeit des Lebens im gesamten Kosmos, indem ich Welten erforsche, die mit immer geringerer Wahrscheinlichkeit welches beherbergen.«

»So wie hier?« Lucian richtete sich ein wenig auf. Er hatte zwar gewusst, dass sich die Xenobiologen allgemein für Pluto als weiteren eisreichen – vielleicht wasserreichen – Himmelskörper interessierten, aber dass der Zwergplanet die beiden führenden Persönlichkeiten des Fachgebiets anzog, war etwas anderes. »Warum?« Er stellte die Frage, die er schon am Vorabend hatte stellen wollen, als sie zum ersten Mal das Wort ergriffen hatte. »Warum Pluto? Was ist so besonders an ihm?«

»Warum nicht?«, konterte Mallory. »Im Leben der Europaer und Enceladaner spielt die Sonne keine Rolle, warum sollte das also hier draußen anders sein? Clavius Harbour hielt es jedenfalls für möglich.«

Hielt es. Imperfekt. Lucian hätte beinahe darauf hingewiesen, aber Gespräche über diesen Mann hier in seinem eigenen Reich hatten etwas von einem Sakrileg.

Stattdessen sagte er, während er das Vorherige noch verdaute: »Er hat Sie eingeladen hierherzukommen? Clavius Harbour?«

»Und Yolanda auch. Ich wage zu behaupten, dass die Aussicht, indigene Plutonier zu finden, Clavius in noch weitaus größere Erregung versetzt hat als uns beide – man könnte sagen, die Suche nach ihnen war eine seiner vorrangigen Freizeitbeschäftigungen. Aber« – sie senkte dramatisch die Stimme, was auf der leeren Plaza unnötig war – »wenn man den Gerüchten Glauben schenken will, hatte er sie vielleicht schon gefunden.«

Lucian hielt mitten in einem Schluck inne; Kaffee schoss ihm in die Nase.

»Was?«

»Gesundheit. Sie kennen die Geschichte von dem Unfall natürlich?«

»Bruchstückhaft. Auf jeder Nachrichtenseite stand etwas anderes.«

»Jeder wusste, dass Clavius nach Leben suchte. Er hatte sich dieser Aufgabe verschrieben. Ständig sprach er leidenschaftlich von … Wie war das noch gleich? Von unserer moralischen Pflicht, uns von der Abwesenheit des Lebens zu überzeugen, bevor wir an unberührten Gebieten herumpfuschen. Und davon, dass einheimisches Leben immer Vorrang haben müsse.«

Lucian nickte; das war allgemein bekannt. Es war einer der vielen Gründe, weshalb Kinder zu Hause beim Spielen in die Rolle von Harbour schlüpften – des Guten, der sich für die Kleinen einsetzte.

»Er befand sich immer auf irgendeiner Expedition. Selbst nachdem ich angekommen war, bestand er darauf, so oft zu uns zu kommen, wie es seine Zeit erlaubte. Und er war ein so beschäftigter Mann …«

»Bei solchen Arbeitstieren können wir einfach nicht mithalten.«

»Es war ein ganz üblicher Ausflug an einem Morgen im letzten Jahr. Wenn ich mich recht entsinne, war Clavius’ Tochter …«

»Nou?«

»Oh, dann haben Sie sie schon kennengelernt? Obwohl ›kennengelernt‹ vielleicht ein bisschen zu viel gesagt ist, da die Gespräche einseitig sind. Ja, Nou – damals ist sie noch eine richtige Plaudertasche gewesen. Ich habe gehört, wie sie an jenem Morgen behauptet hat, sie hätte Leben gefunden, keinen Steinwurf entfernt, und das wollte sie Edmund und Clavius zeigen. Und schon sind die drei zu einem netten kleinen Familienausflug unterwegs, und das Nächste, was jemand hört, ist ihr Hilferuf.«

»Glauben Sie, dass sie es gefunden haben? Leben?« Lucian hatte sich vorgebeugt. Zwischen seinen gewölbten Händen wurde der Kaffee lauwarm.

Mit einem eleganten Achselzucken hob Mallory die Schultern.

»Natürlich ist es möglich, dass sie gelogen hat. Mit Clavius Harbour als Vater – stellen Sie sich das vor! Vielleicht wollte sie einen normalen Familienausflug machen und hat einen Grund gefunden, dem er nicht widerstehen konnte. Wir wissen nur, dass seit jenem Tag einer nicht mehr gelächelt, eine nicht mehr gesprochen und der andere sich nicht mehr gerührt hat.«

»Er hat im Koma auf nichts mehr reagiert?«

Mallorys Antwort war ein langsames Nicken. Ihr schien das zu gefallen – ihn dabei zu beobachten, wie er sich die Dinge zusammenreimte. Obwohl er sie ungern enttäuschte, hob Lucian nur die Hände. Er war nicht überzeugt.

»Hat denn jemand daran gedacht, sie einfach zu fragen, was passiert ist?«

»Sicher. Es gibt natürlich eine offizielle Geschichte, aber man muss kein Enthüllungsjournalist sein, um die Löcher zu erkennen. Edmund hat kein Sterbenswörtchen darüber gesagt, was wirklich passiert ist, doch wenn das Mädchen sprechen könnte …« Beiläufig hob Mallory ihren Kaffee an die Lippen. »Es wäre überaus interessant zu hören, was sie zu sagen hätte.«

Die Tür zur Kantine glitt auf. Selbst über den halben Platz hinweg dauerte es nur wenige Sekunden, bis ihnen der Duft von warmem Brot und Zimt in die Nase stieg, und kaum eine weitere, bis ungemein starke Hungergefühle erwachten. Jetzt erschienen weitere Leute, allein, zu zweit oder zu dritt, und ihr Geplauder verdichtete sich zu einem schläfrigen, fröhlichen Stimmengewirr.

»Meine Kollegin, Yolanda.« Mallory blickte an Lucian vorbei, eine Hand zu einem Winken erhoben. »Ich habe versprochen, ihr beim Frühstück Gesellschaft zu leisten.«

Lucian drehte sich um: Da war die Frau mit der ernsten Miene, die sich am Vortag nicht an dem Gespräch beteiligt hatte, die andere führende Xenobiologin.

»In Ordnung. Tja, also dann.«

Er trank seinen Kaffee aus, unterdrückte dabei den Drang, ihn gleich wieder auszuspucken, als er merkte, dass er kalt war, und erhob sich zusammen mit Mallory. Sie reichte ihm nur knapp bis über die Schultern – das war exakt die Größe des Mädchens, bemerkte Lucian, in das er auf der Highschool damals so heimlich wie hoffnungslos verknallt gewesen war.

»Lucian.« Sie streckte ihm die Hand hin. »Danke, dass Sie Ihre Zeit mit mir verbracht haben.«

Lucian gab ihr ebenfalls die Hand, und ihre Handflächen trafen sich. Nach einem solchen Gespräch hatte diese Handlung – die Berührung – etwas Intimes.

»Danke, dass Sie mir einigen Stoff zum Nachdenken gegeben haben. Und für den Kaffee.«

»Ich bin jederzeit hier, wenn Sie über Verschwörungen sprechen möchten. Oh, und Lucian?«

Ihre Blicke trafen sich.

»Sie hatten recht.« Mallory hielt seine Hand noch immer fest. »Es war Euphorie. Bis bald.«

»Leben auf Pluto?«, sagten Halley und Stan im Chor, als Lucian ihnen bei einem Toast mit Limettenmarmelade von den Ereignissen des Morgens erzählte. Der eine klang so leichtgläubig wie die andere ungläubig.

»Da draußen herrschen minus zweihundertsechzig Grad Celsius«, sagte Halley, während sie sich Brösel von den Fingern wischte. »Wisst ihr, was bei solchen Temperaturen mit Atomen passiert? Gar nichts.« Sie zog eine Linie durch die Luft, wie bei einem Diagramm mit Geschehnissen auf der y-Achse und Zeit auf der x-Achse. »In allen thermodynamisch relevanten Zeiträumen hören chemische Reaktionen auf zu existieren. Es würde unzählige Jahrmilliarden dauern, bevor man auch nur den kleinsten Hauch von Meiose sähe.«

»Was ist mit dem Wimmer-Scheuring-Effekt?«

Zwei Augenpaare fuhren zu Stan herum. Der junge Wissenschaftler zog merklich den Kopf ein, fuhr jedoch fort: »Ich habe gelesen, dass chemische Reaktionen bei ein paar Nano-Kelvin weitaus wirksamer ablaufen können als bei Zimmertemperatur.« Er errötete unter dem gemeinsamen Gewicht ihrer Blicke. »Newman und andere, letztes Jahr, wenn ihr nachsehen wollt.«

»Du verstehst etwas von Quantenstatistik?«

Nach Halleys hochgezogenen Augenbrauen zu urteilen, war die Professorin entweder skeptisch oder beeindruckt; es zu erkennen, war unmöglich.

»Nicht so wichtig.« Lucian beugte sich aufmerksam vor. »Sag mir, wieso du dir diese Quellenangaben so gut merken kannst. Wer hat dir das beigebracht? Und wie kann ich es lernen?«

»Ich weiß nicht, ob überhaupt jemand etwas davon versteht«, murmelte Stan um seinen Kaffeebecher herum. »Es ist einfach nur interessant.«

»Tja, mag sein, dass uns dieser Ort kälter vorkommt, als das entropisch möglich ist, aber wir sind noch etliche Grad Celsius über diesen Bereichen.« Halley wandte sich an Lucian. »Clavius Harbour ist ein Bauunternehmer. Wir Terraformer sind seine Architekten. Madoc und Moreno sind Gutachterinnen, die Ausschau nach Japanischem Staudenknöterich halten. Die beiden sind nur hier, um den Gerichtshof für Planetaren Schutz zufriedenzustellen, und das wissen sie auch ganz genau.«

»Ja.« Lucian verbarg seine Enttäuschung hinter einem emphatischen Nicken. »Ja, das ist … das habe ich mir auch schon gedacht.«

Doch während er seinen zweiten Satz Toasts mit Butter bestrich und zweien ihrer Laborkameraden Guten Morgen sagte, fragte er sich unwillkürlich: Wenn er Madoc und Moreno wäre, hätte er dann das Sonnensystem durchquert, sofern er dermaßen sicher wäre, dass es nichts nützte?

An diesem Abend fand in den Parkanlagen eine Zusammenkunft zur herzlichen Begrüßung der neuesten Bewohner statt. Lucian war in seinem Element. Dies war etwas ganz anderes als die schweigsame Mittagsmahlzeit, die sie zuvor mit ihrem Gästeführer Edmund eingenommen hatten; seine fehlerlose Etikette und sein kerzengerader Rücken hatten der Veranstaltung etwas Steifes und Förmliches verliehen. In den Parkanlagen gab es Musik – Fiedeln, Gitarren und eine Blechflöte –, man hörte laute Stimmen und hemmungsloses Gelächter. Binnen zehn Minuten war er in ein Gespräch mit einem Burschen namens Wassili über die Traubenmischung für ihren Apfelwein vertieft; und weitere zehn Minuten später – nachdem sich herausgestellt hatte, dass Wassili der Gitarrist der Band war – hatte er vermutlich sämtliche Musikerinnen und Musiker auf Pluto kennengelernt und war herzlich eingeladen worden, bei ihrer nächsten Probe mitzuspielen. Er lernte die Küchenchefin kennen und versprach ihr ein Abendessen mit traditionellen Gerichten von seiner Heimatwelt; er traf den Obergärtner und bekam einen Rundgang am frühen Morgen angeboten, wenn die fuchsiafarbenen Wachstumsleuchten am hellsten waren. Er sagte seine Teilnahme an so vielen Backwettbewerben, Laborbesichtigungen und Mannschaftssportabenden zu, dass er bezweifelte, jemals die Zeit dafür zu finden.

Als die schwächer werdende Beleuchtung erst die Wärme des Sonnenuntergangs und dann die Kälte der hereinbrechenden Nacht simulierte, versammelte Lucian die Kinder der Basis um sich und holte sein großartigstes wissenschaftliches Instrument hervor – und seinen spektakulärsten Partytrick. Die Stulpenhandschuhe waren seine Erfindung und zweifellos der Grund, weshalb Halley ihn statt jemanden mit eindrucksvolleren akademischen Qualifikationen für den Job ausgesucht hatte. Sie waren in zunehmendem Maße das wichtigste Werkzeug bei seinen Forschungen, aber auch ein Quell bezaubernder Schauspiele.

»Schaut nach oben, schaut nach oben!« Lucians Stimme war gedämpft und eindringlich.

Er streckte die Arme vor sich aus. Die spinnennetzfeinen Metallstrukturen der Handschuhe reichten ihm bis zu den Ellbogen.

Die Kinder gehorchten, manche mit zusammengekniffenen, übermüdeten Augen, andere mit flüchtigen, zwischen gespielter Gleichgültigkeit und Befangenheit changierenden Blicken, die meisten mit großäugigem, verblüfftem Staunen. Kein Wunder: Unmittelbar über ihren Köpfen hing eine sanft rotierende Wolke aus leuchtendem Staub, die das Licht einfing wie der Glitzer in einer Schneekugel. Obwohl sie sich kaum über die Gruppe der unter ihr zusammengescharten, im Schneidersitz dahockenden Kinder hinaus erstreckte, hätte diese leuchtende Wolke in Wirklichkeit in jeder Richtung Lichtjahre umspannt.

Lucian spürte, wie die vertraute, erwartungsvolle Vorfreude seine Hände in die richtige Position dirigierte.

»Seht ihr dieses Leuchten, diese große, staubige Dunstwolke über euch?«

Geflüsterte Jas, Hände, die nach oben langten, um sie zu berühren, aber zum größten Teil herrschte gebannte Stille.

»Das sind wir.« Lucian brauchte die Ehrfurcht in seinen Worten nicht vorzutäuschen; die verdunkelte Kuppel, die Sterne, die über ihr brannten, der Lichtschein der Simulation – wie die Funken eines Lagerfeuers –, all das übte auch auf ihn seinen Zauber aus. »So hat es mit uns angefangen. Diese Wolke aus Staub und Gas ist gerade dabei, sich zusammenzuballen und unser Sonnensystem zu erschaffen. Seht …«

Die dreidimensionale Projektion war ziemlich schlicht: Sie war nicht real und konnte sie nicht berühren, aber sie sah unzweifelhaft so aus, als könnte sie es. Das Schauspiel ähnelte dem immersiven Erlebnis in einem Planetarium. Die Macht der Handschuhe beruhte dabei auf ihrer Fähigkeit, jedes winzige Detail der Simulation zu steuern. Eine Fingerbewegung: Der Staub begann sich spiralförmig zu einer Scheibe zu formen. Sich schließende Hände: Die Scheibe kollabierte. Immer schneller, während seine Hände sich immer weiter schlossen, bis sie zu Fäusten geballt waren, bis die gesprenkelte Wolke gleißend hell glühte, bis ein Ascheklumpen in ihrem Zentrum wuchs und diese Asche sich mit einem Blitz entzündete …

Die Kinder schnappten alle gleichzeitig nach Luft. Ihre Schatten hinter ihnen waren lang und strahlenförmig.

»Und jetzt haben wir eine Sonne.« Lucian grinste. Dies war sein Lieblingsteil. Die beleuchteten Gesichter starrten zu der von Kräuselungen überlaufenen, brüllenden und gewaltigen Bestie ihrer fernen Sonne hinauf. Vielleicht bekamen sie sie zum ersten Mal so detailreich und machtvoll zu Gesicht. »Aber Vorsicht mit den Augen, seht nicht zu genau hin«, warnte er sie. »Wenn ihr anfangt, violette und grüne Flecken zu erkennen, dann schaut weg. Vielleicht seid ihr ja die Ersten, die den anderen einen neuen Planeten zeigen können.«

Natürlich war damit die Jagd eröffnet, jedes Gesicht drehte sich hierhin und dorthin, Augen funkelten in der Dunkelheit auf der Suche nach dem ersten kleinsten übrig gebliebenen Pünktchen.

Jedes Gesicht, sah Lucian, bis auf eines. In Nou Harbours Augen loderte noch immer das Licht der Sonne. Sie blinzelte nicht und saß da wie in Trance. Ihr Blick folgte den verbrannten Sonnenflecken, den zornigen Eruptionen, den hoch aufschießenden Magnetbögen. In ihrer Miene zeichneten sich Ehrfurcht und Entsetzen ab.

Geht mir genauso, Kleine.

Lucian kannte die unerträgliche, unvorstellbare Macht der Sonne besser als die meisten. Fünfzehn Millionen Grad, die neunundneunzigfache Masse des gesamten restlichen Sonnensystems, fähig, einem über hundert Millionen Kilometer hinweg die Haut zu verbrennen. Und die Menschen von Pluto sollten sich lieber an sie gewöhnen, weil sie ihre Macht bald zu spüren bekämen. Deshalb war er hier.

Eine kurze, verstohlene Bewegung mit einem Finger, und ein Proto-Planet schoss auf Nou zu. Sie zuckte zusammen, als er ihr Blickfeld durchquerte, und blickte ihm dann nach, während er auf seiner Umlaufbahn weiterhin Staub aufsaugte. Lucian sprach über Magmameere und Atmosphären aus verdampftem Gestein, als die kleine Welt zwischen ihnen beiden hindurchzog – der Mann war an einen Baum gelehnt, die erhobenen, von Handschuhen überzogenen Arme wirkten nahezu reglos, das Mädchen blieb am Rand des Nests im Schneidersitz dahockender Kinder, fast verborgen hinter der herabhängenden Sonnenkugel.

Ihre Blicke trafen sich. Nou sah zwischen ihm und dem Staubfleck hin und her und wandte die Augen dann genauso schnell wieder ab. Schließlich sah sie ihn bewusst von Neuem an.

Lucian hielt ihren Blick einen Moment lang fest. Er sprach gerade über die ersten festen Oberflächen: die ersten Orte, die ersten Ebenen, die ersten Meere …

»Die ersten Habitate«, erklärte er. Über ihnen kreisten nun vollständig ausgeformte Planeten in uhrwerkartiger Perfektion um ihre Sonne. »Trotzdem wird es noch ganz schön brenzlig werden – da fliegen noch eine Menge Steinbrocken herum, die in unsere neuen Welten einschlagen könnten –, aber zum größten Teil ist dies der richtige Zeitpunkt. Jetzt, genau jetzt entstehen und vergehen merkwürdige chemische Verbindungen an den Rändern kleiner Tümpel, die von den Meeren auf der Erde überspült werden. Genau jetzt lernen winzig kleine Geschöpfe auf dem Grund von Europas Ozean, wie lecker die vulkanischen Gase dort sind. Es gibt sie auch auf Enceladus, und vielleicht auf dem Mars und noch an anderen Orten. Jetzt haben sie gelernt, Kopien von sich herzustellen. Jetzt lernen sie zu wachsen. Jetzt lernen sie, sich auszubreiten und den Meeresgrund mit einem klebrigen grünen Rasen zu überziehen …«

Die Planeten kreisten weiterhin langsam auf ihren Umlaufbahnen, achtlos und gleichgültig, während Arten entstanden, sich entwickelten, untergingen und wieder von vorn begannen. Unter der Flamme der Sonne waren Nous Augen auf ihn gerichtet.

»Bis schließlich so etwas wie wir erscheint.« Lucian breitete die Hände weit aus, und die Simulation erblühte, wurde viermal so groß und stieg in die vergitterten Höhen der Kuppel empor. »Viereinhalbtausend Millionen Jahre«, sagte er, »um einen Menschen zu erschaffen. So lange hat es gedauert, bis wir auf der Bildfläche erschienen sind. Ich frage mich … Ich sehe mir diese gewaltigen Räume an, all diese Orte, und ich frage mich unwillkürlich – was ist in dieser ganzen Zeit sonst noch passiert?«

Er sah es, weil er danach Ausschau hielt: Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie Nou Harbour den Blick abwandte. Und das, fand Lucian, war interessant.

Er klatschte in die Hände, und wie bei einem platzenden Ballon verwandelte sich sein Modell des Sonnensystems in einen Funkenschauer, der zu entzücktem Geschrei von der Decke herabrieselte.

Halley hatte ihn als Romantiker bezeichnet. Als guten Wissenschaftler – einen der besten seiner Generation –, aber von der schrecklichen Krankheit der Fantasie befallen. Des Optimismus.

Wieso sollte es auf Pluto kein Leben geben können, dachte er, während er zusah, wie sich die Kinder des Planeten zerstreuten. Einige kamen zu ihm, um sich zu bedanken, Fragen zu stellen oder ihm auf ihren Handgelenkskonsolen naturwissenschaftliche Schulprojekte zu zeigen. Zugegeben, hier draußen gab es keine Sonne – keine Wärme, kein flüssiges Wasser, keine offensichtliche Energiequelle. Aber das hatte die menschlichen Plutonier nicht aufgehalten.

Und nichtmenschliche vielleicht auch nicht.