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Marie verbringt die Semesterferien mit ihrer besten Freundin Sara am See, in Cafés oder in der Bibliothek. Dort trifft sie auf Robert, den sie über einige Tage hinweg beobachtet, bevor sie ihm ihre Handynummer in den Fahrradkorb legt. Robert meldet sich, doch über der sich entwickelnden Liebe liegt ein Schatten, der Marie durch die Straßen verfolgt, vorbeihuscht am See, von Baum zu Baum pirscht, kommt, um sie zu holen. Marie erzählt Robert von der vorangegangenen Beziehung zu K. und dem Übergriff. Wenn sie Robert küsst, kommt ihr K. in den Sinn. Und dann ist da noch jemand anwesend, anfangs geisterhaft, körperlos: ein Ich, das sich selbst als Erzählerin der Geschichte von Marie bekannt macht und den Verlauf der Liebesgeschichte des jungen Paares in protokollartigen Episoden schildert. Sie begleitet sie durch ihren Alltag, der zwischen spielerischer Leichtigkeit und destruktiver Unnahbarkeit schwankt, bis sie selbst ein Teil der Geschichte wird. In ihrem herausragenden Debütroman geht Anne Korth der Frage nach, ob ihre Protagonistin nach einer erlebten Gewalterfahrung wieder in die Gegenwart zurückfinden kann, in der die Liebe nicht mehr ein Ort der möglichen Bedrohung ist und ein Schatten eben nur dieser dunkle Bereich neben dem eigenen Körper, wenn er im Licht steht.
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Seitenzahl: 143
Anne Korth
PROTOKOLL EINER ANNÄHERUNG
Roman
Die Drucklegung dieses Buches wurde gefördert von:
www.omvs.at
ISBN 978-3-7013-1324-2
eISBN 978-3-7013-6324-7
© 2024 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Christine Rechberger
Gestaltung: wir sind artisten
Illustration: Katharina Lorenz
Druck und Bindung: FINIDR s.r.o. (Český Těšín)
Das bei der Produktion dieses Buches entstandene CO2
wurde durch die Finanzierung von Klimaschutzprojekten
kompensiert.
Anne Korth
Roman
Protokollkopf:
Ich habe nur mehr meine Augen.
Ach ja, die Hände, die Hände habe ich auch noch.
Ich schreibe:
Es geht um den Verlauf des Juli 2018 in der Stadt H.
Sie wacht auf, liegt eine Zeit lang mit offenen Augen. Als sie an der Bettkante steht, die Laken faltet, schaut sie auf das Aquarell an der Wand: Aus dem Körper wachsen Bäume und die Konturen seiner Haut zeigen Ansätze von Bergketten. Sie öffnet das Fenster. Durchs Blätterdach geht leise der Wind. Unten auf der Straße fällt eine Tür ins Schloss. Jemand tritt aus dem Wohnhaus ins Freie.
Ich durchgehe diese Räume.
Sie durchsucht ihre Wohnung nach dem Schlüssel. Küche, Schlafzimmer, Wohnzimmer, Bad, Balkon. Sie findet ihn neben dem Spiegel im Flur. Als sie auf ihren eigenen Blick trifft, zuckt sie überrascht zusammen.
Ich durchgehe diese Räume mit meinem inneren Auge. Ich durchgehe diese Stadt H., in der ich einmal gewesen bin.
Ich schreibe:
Über dem goldverzierten Gebäude der Bibliothek stehen tiefgraue Wolken.
Sie rennt die breiten Stufen hoch, drückt die schwere Tür mit ihrem Körpergewicht auf. Ihr Blick fällt im Vorbeigehen auf die Tafel der Schließ- und Öffnungszeiten:
Geöffnet
In der Eingangshalle glänzt der Marmor.
Zwischen Bestell- und Abholtheken kommt ihr ein Mann entgegen. Er geht mit weiten Schritten und erhobenem Kopf zum Ausgang. Kurz bevor sie aneinander vorbeigehen, schaut sie auf den braunen Linoleumboden. Draußen fängt es an zu regnen. Die Tropfen wehen durch das geöffnete Fenster auf die abholbereite Bücherreihe. Eine Bibliothekarin eilt, um es zu schließen. Jetzt blitzt und donnert es auch. Die Schwingtür des Lesesaals geht auf und wieder zu.
Im Lesesaal setzt sie sich an einen der freien Tische in der letzten Reihe. Sie holt ein Buch aus ihrer Tasche. Der Saalaufseher läuft, die Hände hinterm Rücken zusammengelegt, langsam an ihr vorbei.
Sie liest: Es sei eine Performance gewesen, die die Lyrikerin zu dem Text inspiriert hätte. Darin habe jemand in unregelmäßigen Abständen auf eine ihre unbekannte Art von Trommel geschlagen. Zuerst habe sie den Sinn des immer wiederkehrenden, gleichen Tons nicht verstanden. Doch habe sie dann auf den Klang zwischen den Tönen geachtet. Dieses Nachschwingen habe sie an einen dunklen Ort geführt, ein diffuser Schmerz habe sich in ihrem Körper gezeigt. Und nach jedem neu angespielten Ton habe sich dieser Ort aktualisiert, niemals sei er abgeklungen. Es erschien der Lyrikerin damals so, als wollte jemand sagen: Schau, das hier ist ein dunkler Ort. Eigentlich möchte ich dir sagen, was sich dahinter verbirgt, aber ich kann nicht. Deswegen muss ich immer und immer wieder diesen Ton spielen.
Bleistiftstriche auf Papier.
Später im Park liegen Sträucher, Büsche, Gräser, auch Blätter vom Regen grün und schwer auf dem Boden. Vereinzelt tropft es noch. Ihre Schritte auf dem Asphalt, sonst ist es still. Sie dreht sich mehrmals über die Schulter nach hinten um, der Park ist leer. Hinter den Hausdächern ein letzter Streifen Sonne.
Mit dem Fahrrad durch eine noch leere Stadt zum See. Am Eingang des Parks wartet Sara. Sie fahren die stillen Wege entlang. Von Baum zu Baum das Aufflackern der Sonne.
Leichte Wellen fallen sachte ans Ufer. Sara hat ihre Beine von sich gestreckt, das Buch in den Händen im Schoß, den Rücken krumm gebeugt. Mit ihrem Bleistift unterstreicht sie immer wieder Sätze. Wie es denn gestern gewesen sei, fragt sie Sara. Es sei nichts gewesen, sagt Sara, albern sei er gewesen mit seiner Flasche Sekt, und wendet sich wieder dem Buch zu.
Sie schaut auf ihre nackte Haut. Rinde, Erde, Gras, hinterlassen feine Maserungen.
Später gehen sie in einigem Abstand über die trockene Wiese entlang der noch jungen Birken zurück zu ihren Fahrrädern.
Sie hört das Zirpen der Grillen. Sie sitzt auf einer der Bänke vor der Bibliothek, im Sonnenfleck schüttelt es sie vor Kälte. Der Unbekannte tritt aus dem Gebäude, streckt die Hände nach oben und drückt den Rücken durch. Sein Kopf ist im Licht.
Sie stolpert und die Absätze ihrer Sandalen hallen durch den Raum. Auf Zehenspitzen geht sie weiter durch den Lesesaal. Sie setzt sich an einen Tisch in der hintersten Ecke. Neben ihr sitzt eine Person, die die aufgeklappten Bücher außer Acht lässt und aufgeregt in ihr Handy tippt. Der anderen Person neben ihr wurde ein Wagen mit historischen Beständen bereitgestellt. Sie schaut in ihr Buch, sie bewegt ihren Kopf über eine Vielzahl von Zeilen, schaut auf, der Unbekannte ist nicht zu sehen. Sie hört das Auf- und Zuschwingen der Tür, die Scharniere in den Angeln, den Luftzug im Raum.
Als sie aus dem Haupteingang ins Freie tritt, kommt er ihr entgegen. Sie streifen einander im Türrahmen. Sie hält den Kopf gesenkt.
Am Abend steht sie auf dem Balkon. Kurz vor Sonnenuntergang verlassen die Schwalben ihre Nester in den leerstehenden Häusern. In Scharen beginnen sie über den Innenhof zu fliegen. Zunächst kreisen sie in einer Schnelligkeit, wechseln aber dann ohne erkennbare Ordnung ihre Flugrichtung. Gleiten allein, spiralförmig über die Dächerlinie. Wenn die Schwalben dicht über ihren Kopf fliegen, hört sie das leise Weichen der Luft.
Sie geht durch Kiefernwälder, dicht bewachsen, sie geht von Baum zu Baum, als suche sie in der Rinde nach etwas Verborgenem. An den Waldrand grenzt das Meer, sie steht da und sieht die meterhohe Welle auf sie zukommen. Dann lange Straßen, Kurven, wie Serpentinen, durch dunkle Wälder und durch weites Land.
Am frühen Morgen sitzt sie auf den Stufen zur Bibliothek und wartet, dass jemand öffnet. Es steht schon die Hitze. Verteilt auf den Stufen warten noch andere. Sie liest:
Schließzeiten
In der Bibliothek ist es kühl, sie sitzt in der letzten Reihe und schaut sich um. Sie sieht den Unbekannten in einem Buch unruhig blättern. Jetzt steht er auf. Seine Latschen machen Geräusche, wenn sie gegen die Fersen schlagen. Die Schritte sind weit.
Die Schwingtür geht auf und wieder zu.
Sie sieht ihn oben auf der Empore stehen, ein Buch auf das Geländer gelegt, lesend. Von irgendwo draußen, weit entfernt, tönen Sirenen. Sie steht auf. Sie nähert sich dem Tisch des Fremden. Darauf liegt ein dickes Buch, dessen Titel sie im Vorbeigehen nicht erkennen kann. Sie geht weiter in Richtung der Eingangshalle. Zwischen Bestell- und Abholtheken kommt er ihr entgegen. Beide schauen sich kurz in die Augen, blau, ohne dabei langsamer zu werden.
In der Eingangshalle dreht sie sich suchend nach allen Seiten um. Aus einer Ecke tritt ein Mann von der Saalaufsicht an sie heran und fragt, ob er ihr helfen könne. Sie geht automatisch mehrere Schritte zurück. Sie suche den Weg zur Empore. Der Mann weist mit dem Finger zur nach oben führenden Treppe aus schwerem Stein. Sie läuft die Treppe nach unten. In der Cafeteria riecht es nach Fett und abgestandenem Essen, langsam geht sie an der Auslage entlang. In den großen silbernen Schüsseln liegen mehrere Schnitzel übereinander, einzelne Stücke der Panade kleben am Metall. Daneben Kartoffeln, Rotkohl, außerdem eine Scheibe Brot mit Ei.
Im Essbereich sitzt der junge Mann und beißt in das Ende eines Croissants. An seinem rechten Ohr hängt ein goldener Ring.
Später hockt sie zwischen Bücherregalreihen auf dem Teppichboden, die Beine zu sich herangezogen, den Kopf seitlich abgelegt auf den Knien. Sie sieht aus den bodenlosen Fenstern ein einziges Auto auf einer mehrspurigen Straße. Auf der anderen Seite des Bücherregals sieht sie die Latschen des Fremden, auch die Fersen, auch die Zehen. Seine zweiten Zehen sind länger als die dicken Zehen.
– Entschuldigung, Entschuldigung, eine Bibliothekarin beugt sich tief zu ihr hinunter, suchen Sie etwas?
Noch später steht sie oben auf der Empore und blickt über den Lesesaal. Sie sieht den Unbekannten an seinen Tisch eilen.
Sie kann nicht aufhören zu lachen. Sie sitzt mit Bekannten von Sara in einer Bar. Sie beugt sich vor, um ihr Lachen zu verbergen. Die anderen schauen sie irritiert an, sie lacht noch, als sie vor die Tür tritt. Jetzt schreit sie vor Lachen. Sie setzt sich auf den Gehweg und wartet, bis das Zucken im Körper nachgelassen hat. Es ist dunkel, die Lichter der Geschäfte brennen noch. Irgendwo klirren Flaschen, ein Betrunkener grölt, im Winkel eines Hauseingangs sieht sie eine Person an einer Zigarette ziehen. Sie kehrt zurück in die Bar, kurz danach geht sie nach Hause.
Sie geht durch hohes Gras, hört das süß gewordene Rauschen der Halme, sie streckt sich auf Zehenspitzen. Hinter dem Gras steht der Unbekannte und winkt sie zu sich heran. Er sagt, hier ist mein Garten, der Winter ist vorbei. Hier stehen blühende Lilien, hinter ihnen liegt ein See. Sie tritt heran an die Balsambeete. Safran, Kalmus und Zimt. Dort ist ein Granatapfelbaum und unter seiner Zunge Honig und Milch.
Weil sich Haare aus Saras Pferdeschwanz gelöst haben, wehen sie ihr jetzt mit dem Wind ins Gesicht. Immer wieder, beiläufig, streift sie die einzelnen Strähnen von ihrer Wange. Am Ufer des Sees endet das Wasser in sachten Wellen. Am frühen Morgen ist es noch leer. Sie gehen nebeneinander, beide tragen ein Handtuch in den Händen. Die Birken stehen dicht an dicht auf der Wiese und sie gehen, jeweils für sich, Slalom durch die weißen Stämme.
Sara greift den Saum ihres Kleides, zieht es über die Schenkel, den Bauch, die Brust und legt sich in das taufeuchte Gras. Was sie jetzt in den Semesterferien mache, will Sara wissen, was ihre Pläne seien. Sie schaut Sara an und zuckt mit den Schultern.
Hinter der Kreuzung bleibt sie plötzlich stehen. My heart, die Musik kommt aus einem geöffneten Fenster im zweiten Stock. Is in the highlands, klingt der leitende Gesang, my heart is not here. Das Cello setzt ein, sie läuft weiter.
Die Stadt H. vor meinem inneren Auge funktioniert anders als die reale Stadt. Die Situationen, Momente und Augenblicke, die ich dort erlebte, zeigen sich mir in Form von Bildern. Die Bilder zeigen nicht nacheinander, was in der realen Stadt H. passiert ist, sie sind durcheinander. So ist auch die eigentliche Ordnung der Stadt verschwunden. Die Bibliothek zum Beispiel liegt direkt neben dem See, wenn ich nicht aufpasse, führt die Schwingtür des Lesesaals aus dem Sommer 2018 direkt in das Schlafzimmer von 2016. Der Raum, der mich zu sich zieht und von dem die größte Gefahr ausgeht; der Raum, der sich vor mich stellt und alles andere zum Verschwinden bringt. Ich muss die Ordnung der Dinge halten.
Sie geht durch die langen Reihen der Bücherregale, auf der Suche nach der Nummer GM1001-02. Nach einiger Zeit fällt ihr auf, dass sie im Bereich von GN sucht. Schließlich findet sie das Buch an seinem richtigen Platz.
Über der Empore auf der rechten Seite des Lesesaals ist ein Bild an die Wand gemalt: Ein Kind sitzt auf dem Schoß seiner Mutter, die ein rotes, majestätisches Gewand trägt. Es berührt sanft ihre Wange. Sie sitzen auf einem Felsvorsprung, aus dem quellendes Wasser in ein ovales Becken fließt. Dort am Beckenrand spielen zwei Kinder mit einem Ball, neben ihnen hält eine Frau den Stiel einer Rose ins Wasser. Eine andere schaut versunken ins Quellbecken hinein, die Beine zu sich herangezogen. An ihr vorbei geht eine Frau, in einen goldenen Seidenrock gekleidet, in ihrer Hand ein Bouquet Blumen. Daneben grasen zwei Ochsen. Im Hintergrund des Bildes liegen ringförmig Felsen, von denen fünf Wasserfälle hinunter ins Tal fließen. Über ihnen das Zeltdach des Himmels, an dem kreisrunde Wolken stehen.
Sie schreibt: 01538193482 Marie. Sie packt ihre Sachen zusammen und folgt den Fluren Richtung Ausgang. Sie dreht sich nicht um. Draußen, am Fuß der Treppe, bleibt sie stehen. Dann knüllt sie den Zettel zusammen und wirft ihn, im Vorbeigehen, in seinen Fahrradkorb. Am Ende der Straße steht Sara, wartend, und lacht.
In der Nacht dringt ein Schatten in die Wohnung ein. Er zieht sie an den Haaren aus dem Bett, schleift sie zur Tür, ihr Körper ist taub, sie kann sich nicht bewegen. Dann wacht sie auf. Sie geht in die Küche, füllt Milch in ein Glas, das sie mit ihrem Ellenbogen umstößt, als sie die Flasche wieder in den Kühlschrank stellen will. Die Milch tropft auf den Küchenboden. Im Bett fängt ihr Kopf stark an zu jucken, sie kratzt so lange, bis unter ihren Fingernägeln Blut zu sehen ist. Auch später schläft sie nicht wieder ein.
Am Morgen steht sie vor dem Spiegel, fährt mit einer kleinen Bürste über die Wimpern, trägt Rouge auf und Lippenstift. Sie nimmt die großen, goldenen Ohrringe, schaut in ihr buntes Gesicht. Dann wäscht sie alles wieder ab. Sie zieht sich etwas über, kocht Kaffee, trinkt ihn am Küchenfenster. Sie schaltet das Radio an, stellt die Lautstärke so ein, dass nur ein Flüstern zu hören ist. Viel zu früh verlässt sie das Haus.
Sie steigt auf ihr Fahrrad, dreht sich um, als rufe jemand ihren Namen.
Sie fährt die Straße hinunter in die Innenstadt, über Gehwege fahren Kehrmaschinen, die Müllabfuhr leert die Tonnen, LKW haben vor den Geschäften ihre Ladefläche geöffnet. Im Park vor der Universität geht sie drei Runden um die größere Wiese, ohne etwas zu sehen.
Später sitzt sie auf den Stufen des Instituts. Sara klingelt, als sie mit dem Fahrrad vor ihr stehen bleibt. Dann setzen sie sich in einen Arbeitsraum und lesen schweigend Texte. Immer wieder, in Dauerschleife, schauen sie sich ein Video auf YouTube an: Wie eine Stute vom Halfter gelassen wird und mit den anderen Pferden rennt und rennt und rennt. Durch hohe Wiesen und durch weites Land. Am Ende des Videos steht die Stute prustend und mit aufgeblähten Nüstern am Gatter.
Sara fragt, ob er sich denn noch nicht gemeldet hätte. Sie verneint. Dann steht sie auf, um zum Kopierer zu gehen. Sara kommt ihr kurze Zeit später schreiend hinterher und zeigt auf ihr iPhone.
hey, willst du dich treffen? robert.
– Was für ein dämlicher Name, sagt Sara.
Sie nimmt Sara schweigend das Handy aus der Hand und legt sich damit unter den Tisch im Seminarraum. Ihr Gesicht verbirgt sie in den Händen. Sara sagt, sie müsse rauskommen und antworten. Sie bleibt liegen, Sara macht Fotos mit der Handykamera von ihr und lacht.
Im Wald verfährt sie sich. Gewöhnlich weiß sie den Weg zum See, nur findet sie ihn heute nicht. Sie steht mitten im Wald auf einem kleinen Trampelpfad und schaut in alle Richtungen, um sie herum nur Bäume. Im Gebüsch knackt es, sie dreht sich ruckartig um. Auf den trockenen Zweigen eines Buschs springen die Amseln.
– Ich habe Angst vor Amseln, sagt sie.
Später schwimmt sie im kalten Wasser Bahnen am Ufer entlang. Dann steht sie vor dem See, ein Handtuch um den Körper gelegt, und tippt in ihr iPhone:
morgen im m.-park um 8?
bei den bänken?
Es vibriert noch in ihrer Hand.
bis dann
Ich durchgehe diese Stadt H. mit meinem inneren Auge zum letzten Mal. Ich durchgehe diese Stadt H., um Abschied zu nehmen. Die geschwungenen Linien der Wörter, Wege, Kurven, Kreuzungen, Schlaufen, Abzweigungen, Plätze, zeigen meinen zurückgelegten Weg.
Mitten in der Nacht wacht sie auf. Sie sucht zwischen den Laken, sie sucht, aber sie findet nicht. Sie geht aus dem Haus, die Straßen sind dunkel und leer. Die Nacht ist kühl, sie flüstert seinen Namen. Er tritt von hinten an sie heran. Sie sagt: Komm, gehen wir über die Felder, gehen wir zu den fernen Gärten. Sie dreht sich nach ihm um. Der Schatten greift nach ihrem Haar.
Ich schreibe:
Das ist die Geschichte eines Aufbruchs.
Marie.
Ich nenne sie Marie.
Sie sieht ihn schon aus der Ferne. Sie fährt mit dem Fahrrad langsam heran, er sitzt mit dem Rücken zu ihr. Er dreht den Kopf, schaut nach links auf den Parkweg. Sie sieht ihn warten. Sie macht eine plötzliche Kehrtwende und fährt in die Richtung, aus der sie gekommen ist. An der nächsten Straßenkreuzung dreht sie wieder um, schließt ihr Fahrrad neben seinem ab, schaut in den Fahrradkorb, in dem kein Zettel mehr liegt.
In einigem Abstand setzt sie sich neben ihn auf die Bank. Die Augen sind blau. Ein Schwarm Tauben landet vor ihnen auf dem Asphalt. Die Tauben gehen in alle Richtungen.
– Ich bin Marie, sagt sie endlich.
– Ich bin Robert, sagt er leise.
Kurz trifft sie seinen Blick. Plötzliche Flügelschläge, die Tauben fliegen auf, zur Dächerlinie.
– Du bist ja aus der gleichen Richtung …, sagt er vorsichtig.
– Ich wohne da hinten, und sie zeigt mit dem Finger hinter ihren Rücken. Da auf der Hauptstraße.
– Ich auch, sagt er.
Sie schaut ihn an, sie lächeln sich zu, ihre Blicke fallen auf den Boden.
– Und wo genau, fragt er.
– Ganz hinten, noch hinter der Kreuzung, und du?
– In der Mitte. Gegenüber vom Café Romeo.
– Ja, das kenn ich.
– Unangenehmer Name, sagt er.
– Was?
– Das Café.
Sie lacht.
– Vor ein paar Tagen, sagt er mit einem vorsichtigen Blick zu ihr, habe ich dich auf der Empore stehen sehen.
– Ja, fragt sie.
– Ich dachte, du hättest das Bild gesehen, das da an der Wand …