Puls der Arktis - Grethe Bøe - E-Book

Puls der Arktis E-Book

Grethe Bøe

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Beschreibung

Klirrende Kälte, erbarmungsloses Eis und eine Frau, die zwischen die Fronten der Weltmächte gerät

Nach einem missglückten Manöver muss NATO-Pilotin Ylva Nordahl mitten über der russischen Tundra aus ihrer Maschine abspringen. Zusammen mit ihrem verletzten Kollegen tritt sie den beschwerlichen Weg zurück durch die eisige Landschaft an. Es wird ein Kampf ums Überleben, gegen die Zeit und die unwirtliche Natur am Polarkreis. Nur das uralte Wissen ihrer samischen Verwandten, die in dieser Gegend mit ihren Rentieren leben, kann sie jetzt noch retten. Dann stellt Ylva fest, dass nicht nur das Eis hier draußen trügerisch sein kann. Jemand ist ihr auf den Fersen – jemand, der etwas mit dem Tod ihres Vaters zu tun hat. Ylva will um jeden Preis herausfinden, was damals geschah. Doch dafür muss sie ihrem Verfolger einen Schritt voraus sein …

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Seitenzahl: 393

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DASBUCH

Weit oben über den Wolken fühlt NATO-Pilotin Ylva Nordahl sich am wohlsten. Doch als sie und ihr Kollege John im Gebiet zwischen Norwegen und Russland von einer russischen Maschine bedrängt werden, überschreiten sie die Grenze, und ihr Jet wird abgeschossen. Nur durch ihre Schleudersitze können sie sich retten. John ist verletzt, und die beiden sehen sich einer unmöglichen Aufgabe gegenüber: Sie müssen die gefrorene Tundra zu Fuß durchqueren und so schnell wie möglich zurück nach Norwegen kommen. Ihre einzige Chance: Ylva kennt die Gegend und die Gesetze der Natur, denn nach dem Tod ihres Vaters hat sie hier als Kind bei ihren samischen Verwandten gelebt. Ihre Verfolger sind ihnen bereits dicht auf den Fersen. Dabei ahnt Ylva nicht, dass sie kurz davor ist herauszufinden, warum ihr Vater damals wirklich sterben musste …

DIEAUTORIN

Grethe Bøe ist eine norwegische Autorin und Filmemacherin, deren Leidenschaft schon immer dem hohen Norden galt. Sie hat bereits einige preisgekrönte Produktionen in der Arktis gedreht. Puls der Arktis ist ihr erster Thriller, und genau wie ihre Protagonistin Ylva Nordahl gehört sie zum indigenen Volk der Samen, die im Einklang mit der rauen Natur am Polarkreis leben.

GRETHE BØE

PULS

DER

ARKTIS

THRILLER

Aus dem Norwegischen

von Franziska Hüther

und Daniela Stilzebach

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe Mayday erschien erstmals 2021 bei Cappelen Damm AS, Oslo.

This translation has been published with the financial support of NORLA.

Diese Übersetzung wurde mit der finanziellen Unterstützung von NORLA veröffentlicht.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 01/2023

Copyright © 2021 by CAPPELENDAMMAS, Oslo

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Maike Dörries

Covergestaltung: www.buerosued.de

unter Verwendung von www.buerosued.de

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-28667-5V002

www.heyne.de

Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit.

Aischylos

PROLOG

Die Stille flirrte über der Wüste aus massivem Eis. Funkelnde Schneekristalle tanzten um die Frau, die dort alleine inmitten der Eisöde lag. Ihr Atem war ein kaum wahrnehmbares gequältes Pfeifen. Sie kämpfte, um nicht das Bewusstsein zu verlieren. So wie sie als Kind in Winternächten immer dagelegen und gelauscht hatte, so lauschte sie jetzt. War es möglich, den Schnee fallen zu hören?

Steif hob ihre Hand, um auf die Uhr zu sehen. Das Glas war zerbrochen, die Zeiger standen still und markierten den Augenblick, in dem alles explodiert war. Der Kompass jedoch hatte das Ganze auf unerklärliche Weise überstanden, die Nadel richtete sich nach Norden aus. Ylva sah kurz auf, sie musste nach Nordwesten, sie musste nach Hause, nach Norwegen.

Die Kälte biss sich in ihrem Rückgrat fest, jegliches Gefühl in Fingern und Zehen hatte sie vor langer Zeit verloren, sie zitterte unkontrolliert. Ihr Gesicht war von kleinen Erfrierungsflecken übersät. Anfangs hatten sie heftig gejuckt, jetzt aber spürte sie sie kaum noch, das Gesicht fühlte sich taub an, als sei es im Begriff, sich aufzulösen.

Ylva schloss die Augen, die weichen Flocken schmolzen auf ihren Lidern, das linderte ein wenig den Schmerz. Der Schlaf, gegen den sie viel zu lange angekämpft hatte, übermannte sie allmählich. Wie eine flauschige Decke und eine Tasse Kakao vor dem Kamin, wie nackte, sonnenwarme Körper, träge verschlungen auf windgeschützten Felsen. Salzwasser in den Haaren, Schweißperlen auf der Stirn, der Geruch von Sonnencreme und der Geschmack von salzigem Meer. Ylva lächelte, sonnenwarme Haut, sie konnte sie spüren, die Wärme, sie strahlte von innen nach außen, erfüllte alles. Sollte sie nachgeben? Sich diesem Delirium, dem Glühen, den Träumen einfach hingeben? Wenn sie jetzt losließ, würden die Schmerzen aufhören und der Albtraum ein Ende haben. Sie würde verschwinden und Frieden finden. Ihr Atem wurde flacher, die Wärme in ihrem Inneren schwand, und sie blieb leblos auf dem Eis liegen.

Dann wurde alles still.

»Wach auf!«

Eine scharfe Stimme durchschnitt die kalte Dunkelheit. Ylva schlug die Augen auf und starrte in die Frostlandschaft, aber dort war niemand. Niemand. Sie war allein.

»Wenn du jetzt einschläfst, wachst du nie wieder auf!«

Da war sie wieder, die Stimme. Er war es, es war die Stimme ihres Vaters, oder etwa nicht? Unmöglich, er war nicht mehr da, sie hatte ihn sterben sehen, er war tot, oder etwa nicht?

Ylva sah sich um, nur schneeweiße Flächen, so weit das Auge reichte, bis hin zum stummen Horizont.

Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte sie sich auf die Knie, sie sah Sterne und sie schwankte, als sie den eisenartigen Geschmack von Blut wahrnahm, ihrem Blut.

Herrgott, sie konnte nicht mehr. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und die trostlose Landschaft löste sich in blaue Aquarelle auf. Die Tränen brannten sich in die dünne Haut um die Augen, und der stechende Schmerz trieb sie in den Wahnsinn. Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und zwang sich, die Augen lange genug offen zu halten, um zu sehen, wie das dampfende Blut auf dem Boden von winzig kleinen Eiskristallen aufgesaugt wurde. Das war schön. Sie verspürte Übelkeit aufkommen, die verlockende Leere schlich sich wieder an sie heran, umgab sie, wie eine Umarmung, in der man ertrinken konnte.

Jetzt nicht aufgeben, du musst über die Grenze kommen, ermahnte sie sich selbst. Mit letzter Kraft rappelte sie sich auf und kroch los. Einen Meter, zwei Meter, die Grenze war meilenweit entfernt, drei Meter …

Ihr Körper zitterte, die Beine gaben unter ihr nach, sie spürte kaum die beißende Kälte an der Wange, als sie mit dem Gesicht auf den harschigen Schnee schlug. Sie fror nicht mehr, und sie wusste, was das bedeutete. Schmerz war das sicherste Zeichen für Leben, und Ylva spürte so gut wie keinen Schmerz mehr. Trockene Frostnadeln trieben über die Tundra und breiteten eine feine Decke aus kalten Kristallen über ihr aus.

In flüchtigen Bildern sah sie den Vater auf dem Kellerboden liegen. Er streckte die Arme wie kraftlose Tentakel nach ihr aus. Mit flachen, verzweifelten Stößen japste er nach Luft. Sie sah, wie sich seine Lippen bewegten, aber kein Laut drang hervor. Der rechte Mundwinkel war zu einer schiefen Grimasse verzogen, während er fauchend versuchte, etwas zu flüstern.

Ylva hatte nie herausgefunden, was.

Was wolltest du sagen, Papa?

Sie blickte über die funkelnde Ödnis, ihr war, als befände sie sich in der Schneekugel, die ihr der Vater an seinem letzten Weihnachtsfest geschenkt hatte. Wie ein nacktes, schutzloses Neugeborenes lag sie in der dünnen Glasblase, kurz bevor sie geschüttelt wurde.

So in Embryonalstellung zusammengerollt, apathisch vor sich hin starrend, nahm Ylva einen dunklen Schatten wahr, der über sie hinwegzog. Sie schaute zum Himmel, und dort, stumm in immer tieferen Kreisen durch die Luft gleitend, die wachsamen Augen auf sie gerichtet, sah sie einen riesigen Steinadler. Der Raubvogel war erschreckend schön, mit hellen Flecken im braunen Federkleid und einem weißen Schwanz, dessen hinteren Rand ein schwarzer Streifen zierte. Ylva lächelte. Die Flügel verdeckten den Himmel und warfen erneut einen dunklen Schatten über sie. Sie schloss die Augen.

Exakt in diesem Moment stürzte der Steinadler herab. Mit seinen fünf Zentimeter langen Krallen perforierte er den Pilotenanzug, ihren Pullover und ihre Haut. Mit einer schnellen Bewegung schlug er die Krallen tief in Ylvas Rücken. Sie spürte, wie er an ihren Rippen kratzte und drehte sich auf den Bauch, um ihn zu verscheuchen. Der Adler änderte den Winkel der Flügel, um sich mit der Beute in den Fängen in die Luft zu erheben. Sie spürte den Druck der kräftigen Flügelschläge, doch sie war zu schwer. Der Raubvogel ließ nicht locker, er war hungrig und musste fressen. Die Flügel zu einem zwei Meter breiten Fächer aufgespannt, starrte er auf sie herab. Ylva war nicht in der Lage, den Mund zu einem Schrei zu öffnen, Gesicht und Lippen waren zu einer weißen Maske erstarrt. Sie drehte den Kopf und sah direkt in die bernsteingelben Augen des Adlers.

Ylva hatte von Adlern gehört, die mit Rentierkälbern davongeflogen waren, und sie hatte mit eigenen Augen gesehen, wie auf der Hochebene krumme, scharfe Adlerschnäbel saftige Fleischstücke aus ihrer zappelnden Beute rissen. Die Krallen bohrten sich immer tiefer in ihren Rücken. Die Raubvogelaugen starrten auf sie herab, und sie stöhnte vor Schmerz. Dann hackte er zu.

1

EINE WOCHE ZUVOR

Ironischerweise war es vollkommen windstill, als der arktische Sturm losbrach. Mit 60.000 Soldaten fegte die Exercise Arctic Blizzard, die größte Winterübung der NATO aller Zeiten, mit einem massiven Druck über den nördlichsten Landstrich Norwegens. Obwohl die Soldaten während der eigentlichen Übung auf verschiedene Stützpunkte im gesamten Gebiet verteilt waren, waren viele von ihnen nach Bodø gekommen, um dem Auftakt beizuwohnen, weshalb die kleine Stadt derzeit völlig von Menschen überlaufen war.

Auf dem Militärflugplatz in Bodø sollten die Kampfpiloten der NATO eingewiesen werden, bevor die Übung am nächsten Tag startete. Ylva Nordahl sollte um 17 Uhr im größten Hangar des Flugplatzes erscheinen. Sie freute sich wie ein kleines Kind. Schon als sie sich dem Hangar näherte, hörte sie das Lachen zwischen den Betonwänden hallen, dort drinnen war die Wiedersehensfreude offenbar groß. Sie blieb in der Tür stehen und betrachtete die siebenunddreißig Kampfpiloten des ENJJPT von der Sheppard Air Force Base in Texas. Es fühlte sich seltsam an, alle Piloten in dem Hangar versammelt zu sehen, in dem sie als kleiner Wildfang herumgerannt war. Überhaupt war es seltsam, zurück in Bodø zu sein. Zum ersten Mal, seit sie den Pilotenschein gemacht hatte, war sie wieder an dem Ort, wo alles angefangen hatte. Und alles und nichts war wie früher.

Der Hangar wirkte jetzt kleiner, und die Zeit hatte ihre Spuren hinterlassen. Hier drinnen hatten Ylvas Vater und die anderen Kampfpiloten gesessen und die ständigen Umwälzungen in der Welt diskutiert, während im Hintergrund oben an der Wand der Fernseher flimmerte. Sie wusste, dass ihr Vater zusammen mit seinen Kollegen am Donnerstag, dem 9. November 1989, die Nachrichten verfolgt hatte, als die Berliner Mauer fiel und Ylva geboren wurde. Dieser Tag war, wenn nicht das Ende der Geschichte, so zumindest ein enormer Wendepunkt sowohl für ihn als auch für die Welt.

Von diesem Tag an brauchten die Regierungschefs beiderseits des Eisernen Vorhangs ihre Legitimität nicht mehr dadurch zu sichern, dass sie ihr Volk gegen einen gemeinsamen äußeren Feind vereinten. Jetzt standen sie alle auf derselben Seite. Die Demokratie und die unsichtbare Hand des freien Marktes hatten endgültig gesiegt. Wobei nur jemand, der noch nie als junge Frau an einem feuchtfröhlichen Abend teilgenommen hatte, unsichtbare Hände für etwas Gutes halten konnte.

Der graue Hangar war nach dem Ende des Kalten Krieges vernachlässigt worden, die Atmosphäre, der Geruch und die soliden grauen Wände aber hatten sich trotz des materiellen Verfalls nicht verändert, seit Ylva hier förmlich aufgewachsen war.

Als Majorin V. »Ajax« Armour den Hangar betrat, wurde es augenblicklich still. Als erste farbige Kampfpilotin der USA setzte sie einen hohen Standard, und ihre Vorlesungen an der Sheppard Air Force Base waren beliebt. Die Majorin ließ sich viel Zeit, damit alle zur Ruhe kamen, sie mochte den großen Auftritt.

»Piloten, willkommen in Bodø und zur Exercise Arctic Blizzard.«

Ihre Stimme füllte den Raum, und die Piloten schauten zu ihr auf.

»Viele von Ihnen haben ihren Pilotenschein in diesem Herbst beim ENJJPT erworben, und Sie kennen einander gut. Aber jetzt, jetzt geht es für Sie raus in die reale Welt, und hier wissen Sie überhaupt nichts!«

Die Erwartung, der Ernst und die Spannung unter den Piloten stiegen.

»Jeder bekommt seinen FWIT-anerkannten Fluglehrer zugeteilt, und Sie werden mindestens zwei Abgänge pro Tag fliegen.«

Ein zufriedenes Raunen ging durch den Raum, alle wollten sie hoch in die Lüfte.

Alle wollten sie fliegen.

Bereits um 17:43 Uhr war Ylva auf dem Weg zurück ins Hauptgebäude, wo sie ihren Mentor treffen sollte. Sie wusste sehr gut, wer er war, alle kannten Major John »Stone« Evans, und ihn zum Mentor zu bekommen, war zugleich eines jeden Piloten größter Traum und schlimmster Albtraum. Er galt als einer der legendärsten Kampfpiloten der NATO und wurde in allerhöchstem Maße bewundert. Alle wussten aber auch, dass er ein misanthropischer Teufel war, der am liebsten für sich blieb.

Auf dem Weg an der Rollbahn vorbei passierte Ylva eine Reihe F-35-Maschinen. Weiter entfernt standen mehrere F-16, Eurofighters und AWACS. Sie wollte am liebsten alle fliegen und fühlte sich in diesem Moment wie ein Kind im Spielzeugladen. Mit durchaus exklusivem Spielzeug, mit dem sie sich die Zeit vertreiben konnte. Die 52 neuen F-35, die Norwegen von den USA gekauft hatte, kosteten weit über 70 Milliarden Kronen, was im Vergleich zu den gut 1,6 Billionen Dollar, welche die Welt jedes Jahr für Militärausgaben aufwendete, fast lächerlich wirkte. Ylva fiel es schwer, sich die tatsächliche Dimension dieser Summe vorzustellen. Einer Berechnung zufolge, die sie in einer Sommernacht in Texas spaßeshalber vorgenommen hatte, könnte die Menschheit mit den Militärausgaben eines Jahres locker die gesamte Armut auf der Erde sowie die meisten tödlichen Krankheiten ausrotten. Mit den Ausgaben eines Jahres!

Als Ylva ins Vestibül kam, wartete er bereits auf sie. Sie war etwas enttäuscht. Die Legende John Evans sah aus wie ein ganz gewöhnlicher Mann mittleren Alters. Kurze Haare, etwa 1,85 Meter groß, drahtiger Körperbau und mit einem handelsüblichen Fliegeroverall bekleidet. Sie konnte nicht genau sagen, was sie erwartet hatte, aber es verwunderte sie, dass er nicht größer war. Das Einzige, was ihrer Ansicht nach darauf hindeutete, dass der Mann etwas zu bieten hatte, waren seine Kiefermuskeln. In dem schmalen, kantigen Gesicht wölbten sie sich beeindruckend unter der glatt rasierten gebräunten Haut. Bei näherem Hinsehen erinnerte er ein wenig an ein Reptil, einen Komodowaran.

Stoneface nannten ihn alle, und jetzt sah sie auch, warum. Mit seinen eisblauen Augen machte er seinem Spitznamen alle Ehre. Dass es ihr gelingen sollte, seinen Respekt zu gewinnen, war eher unwahrscheinlich, das Ziel bestand darin, von ihm akzeptiert zu werden. Obwohl ihr selbst diese Option fraglich schien. Er grüßte kurz angebunden.

»Major John Evans, ich bin während der Übung Ihr Mentor. Wir treffen uns morgen um 6 Uhr hier.«

Das war alles. Genug geredet.

Als er sich vorstellte, achtete Ylva aufmerksam auf seinen Blick. War er einer dieser Machos, die der Ansicht waren, sie verwässere unter den Alphamännchen der Luftstreitkräfte den Respekt vor der heiligen Bruderschaft? War das der Grund, dass er sie kaum ansah, als er seine beiden instruktiven Sätze überbrachte? Schwer zu sagen, wie er insgesamt schwer zu deuten war.

Aber wen kümmerte das? Ylva interessierte sich herzlich wenig für Major Evans’ Seelenleben. Mit einem der besten Kampfpiloten der U. S. Air Force zu fliegen, wog seine Defizite in Sachen Charme allemal auf. Sie hatte es auf seine Fähigkeiten abgesehen, eventuellen Respekt musste sie sich verdienen. So viel hatte sie begriffen. Schließlich war sie trotz allem die Tochter ihres Vaters.

2

Im Kulturhaus von Bodø wimmelte es von adrett gekleideten Politikern, uniformierten Generälen, hochbesoldeten Vertretern des militärisch-industriellen Sektors, Offizieren und zivilen Pseudosachkundigen. Das Presseaufgebot war relativ mager, allerdings registrierte Ylva, dass NRK, TV2 und ein paar internationale Zeitungen sich vor der Bühne postiert hatten. Die in Armani gekleidete Verteidigungsministerin Norwegens betrat das Podium. Auf ihre typische pointierte Art präsentierte sie die Begründung der NATO für die diesjährige Übung:

»Auf der Weltuntergangsuhr stehen die Zeiger auf eine Minute vor zwölf, und darin liegt unser Marschbefehl.«

Ylva hatte oft gehört, wie Politiker in sicherheitspolitischen Belangen Bezug auf dieses symbolische Ziffernblatt nahmen. Seit 1947 überwachten Forscher des Bulletin of the Atomic Scientists den Hang der Menschheit zur Selbstzerstörung, wobei die berühmte Weltuntergangsuhr als ein pädagogisches Instrument eingeführt worden war, um zu vermitteln, wie nah wir der metaphorischen Mitternacht waren – der totalen Selbstvernichtung. Anfangs hatte sich die Expertengruppe damit begnügt, die Gefahren eines Atomkriegs zu überwachen, nachdem aber die Bedrohungen durch den Klimawandel und Neuerungen innerhalb der Biowissenschaften auf ein lebensauslöschendes Niveau angestiegen waren, nahmen sie auch diese einzigartigen menschlichen Technologien der potenziellen kollektiven Selbstschädigung in ihre Prognosen mit auf. Der Verteidigungsministerin zufolge stand die Menschheit jetzt also 60 Sekunden vor dem Armageddon.

Ylva blieb sitzen und beobachtete die Leute im Saal, die in das blaue Licht der Bühne getaucht waren und mit ernsten Mienen der Rede der Verteidigungsministerin lauschten. Es waren Kenntnisse, über die sie bereits verfügten, die wieder und wieder bestätigt zu bekommen, jedoch beruhigte. Trotz allem war es diese Bedrohung, von der sie lebten. Die Bedrohung, von der Ylva lebte. Der Weg war bereitet, jetzt mussten der Feind eingeführt und der Auftrag definiert werden.

»Ein Drittel der bisher ungenutzten Öl- und Gasvorkommen der Welt sowie bedeutende Mengen wertvoller Mineralien befinden sich im arktischen Meeresboden. Jetzt, da die globale Erwärmung zu einem Abschmelzen der Tundra und des Meereises führt, werden diese Ressourcen zugänglich. Russland hat in den vergangenen Jahren mehrere Billionen Dollar in die militärische Aufrüstung in der Arktis investiert. Durch die diesjährige NATO-Übung werden wir wertvolle Kompetenzen zur Wahrnehmung unserer gemeinsamen Interessen in den nördlichen Gebieten erlangen.«

Die Verteidigungsministerin hielt inne, nahm einen kleinen Schluck Wasser und blickte über die Versammlung. Wie stumme, wissbegierige Kinder saßen sie da und warteten. Sie blätterte um.

Normalerweise hörte Ylva der Verteidigungsministerin gerne zu, diese Rede jedoch vermittelte ihr nichts Neues.

Sie stand auf, verließ diskret den Saal und setzte sich ins Foyer. Sie war zum ersten Mal in Bodøs neuem Prachtbau. Der Ausblick aus den großen Panoramafenstern mit dem Hafen auf der einen und dem mächtigen Horizont, wo das Meer auf das Gebirge traf, auf der anderen Seite, machte sie traurig. Es war kein Zufall, dass Ylva die Stadt verlassen hatte, in der sie aufgewachsen war, und dass sie nun hier stationiert wurde, hatte nicht sie selbst entschieden.

Sie schaute durch die Scheibe und sah eine gespenstische Gestalt, die ihren Blick stumm erwiderte – ihr Spiegelbild. Sie sah genau in dem Moment weg, als ein Schatten über die Glasfläche glitt.

»Ylva! Bist du das?«

Sie erkannte die Stimme und drehte sich um. Du lieber Himmel, dort stand er, der Mann, den Ylvas Vater als seinen engsten Freund betrachtet hatte. Er lächelte sie warmherzig an. Die Jahre waren auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen, dennoch war General George Rove noch immer der attraktive amerikanische Offizier, der die zehnjährige Ylva ins Cockpit hatte klettern und so tun lassen, als würde sie nach Texas fliegen. Das volle, kurz geschnittene Haar war ergraut und das Gesicht faltig, der kräftige Bariton jedoch strahlte noch immer dieselbe freundliche Autorität aus. Sie stand automatisch auf und grüßte ihn förmlich.

»Mr. Rove, Sir.«

Oder wie sollte sie ihn nennen? Als Kind hatte sie ihn Goggo genannt, aber vermutlich war es unpassend, General Rove jetzt mit seinem Spitznamen anzusprechen. Er nickte anerkennend.

»Kampfpilotin bei der norwegischen Luftwaffe.«

Ylva streckte den Rücken durch, der Stolz ließ sich schwerlich verbergen, was George Rove mit einem herzlichen, beinahe gerührten Lächeln quittierte.

»Geir wäre so stolz auf dich.«

Den Namen des Vaters zu hören, tat noch immer weh, selbst so viele Jahre nach seinem Tod. Rove betrachtete sie, er war einer von denen, die einem die volle Aufmerksamkeit zuteilwerden ließen, als sei man die wichtigste Person im Raum.

»Wow, das ist fast zwanzig Jahre her.«

Ylva nickte.

»Yes, Sir.«

Er lächelte und wedelte entwaffnend mit der Hand.

»George. Nenn mich George.«

Ylva erschien es am natürlichsten, ihn entweder Goggo, Sir oder General Rove zu nennen. Als George hatte sie ihn nie gekannt.

»Sind Sie noch immer bei der U. S. Air Force, Sir?«

Er lächelte.

»Nun, nach einer kurzen Phase als Bürohengst bei der Carlyle Group habe ich das operative Geschäft vermisst. Du weißt, wie das ist.«

Ylva lächelte, alle wussten, dass niemand, der draußen im Feld operativ tätig gewesen war, sich anschließend mit einem Leben im Innendienst anfreunden konnte.

»Nein, ich habe rechtzeitig den Absprung geschafft. Jetzt betreibe ich meine eigene Sicherheitsfirma und arbeite als strategischer Berater für die NATO.«

Wenn es einen Mann gab, der in Sachen Sicherheit und Militärstrategie Rat geben konnte, dann war es George Rove, so viel wusste Ylva. Ihn hier zu sehen, tat gleichzeitig weh und gut, weil er sie an ihren Vater und dessen klare Präsenz erinnerte. Nach seinem Tod war alles im Chaos versunken. Sie waren wie Brüder gewesen, Rove und ihr Vater, und keiner war stolzer als Ylvas Vater, als der Freund in den Dienstgraden aufstieg und General wurde, Dreisternegeneral. Er hatte Rove bewundert, das wusste sie, und sie verstand gut warum. Rove verfügte über ein enormes Charisma, und er besaß die Fähigkeit, gleichzeitig jovial wie auch autoritär zu sein. Das gelang nicht vielen.

Roves Blick ruhte auf Ylva, als würde er nach Antworten suchen, wie er es auch früher immer getan hatte.

»Wie geht es deiner Mutter?«

Selbstverständlich fragte er nach ihr. Was sollte Ylva antworten? Dass ihre Mutter die meiste Zeit auf dem Sofa lag und Pillen schluckte, während sie von einem Kanal zum nächsten zappte? Dass sie im pechschwarzen Labyrinth ihres Gehirns gefangen war und kaum noch das Haus verließ? Dass sie ebenso wenig wie Ylva daran glaubte, dass der Vater an einem Blutgerinnsel im Kopf gestorben war, sondern davon ausging, dass man ihn ermordet hatte?

Ylva lächelte unbekümmert.

»Gut so weit.«

Roves Blick ließ nicht von ihr ab, er wollte hören, was sie nicht sagen wollte, daher log sie.

»Sie ist die freundlichste und sensibelste Frau, der ich je begegnet bin«, sagte er.

Leider hat er recht, dachte Ylva. Und genau das war der Grund, dass sie zu einem in ihrem eigenen sensiblen Gemüt gefangenen Leben verdammt war. Ylva vermied bewusst jede Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, weil sie nicht deren unglückliches Schicksal erleiden wollte.

Rove bemerkte Ylvas Reaktion.

»Sie war am Boden zerstört, als dein Vater …«

Genug. Dieses Gespräch hatte sie in unterschiedlichen Versionen mit all jenen geführt, die ihren Vater gekannt, sich nach seiner Beerdigung aber nie mehr hatten blicken lassen. Sie alle wollten nur hören, dass ihre tapfere Mutter einen schweren Schlag erlitten, sich als die gute und loyale Ehefrau, die sie war, aber zusammengerissen hatte und wieder auf die Beine gekommen war.

Auf- und einstehen für Gott und Vaterland.

»Es geht ihr gut.«

Ylva lächelte mit unverändert ruhiger Miene. Sie hatte früh gelernt zu sagen, was die Leute hören wollten, und ihre Präsenz nach außen zu kontrollieren, bis hin zum Schwitzen, zur Atmung und der Herzfrequenz. Sie konnte, was sie können musste. Nach kurzem, unbeholfenem Schweigen, gefolgt von einem Lächeln und einem unergründlichen Blick, beendete Rove das Gespräch.

»Schön, dich zu sehen, Ylva.«

»Ganz meinerseits, Sir.«

Ylva nickte und lächelte. Lächelte und nickte. Wie immer. Während Rove zum großen Saal ging, ließ sie die Fassade fallen und ihr Herz so heftig schlagen, wie es wollte.

Zwanzig Jahre waren zwei Drittel ihres Lebens, plötzlich aber fühlte es sich an, als sei es gestern gewesen, dass sie mit ihrem Vater und Rove im Hangar des Militärflugplatzes gespielt hatte. Ylva schaute Rove hinterher, als dieser auf John Evans traf und gemeinsam mit ihm in den Saal ging. Zwei alte Helden der U. S. Air Force, topmotiviert und bereit, ein weiteres Mal die Welt zu retten. Aber wollte die Welt auch von ihnen gerettet werden?

3

Ylva fröstelte, als sie den Marktplatz überquerte. Draußen im Bodøfjord bäumten sich weiß schäumende Wellen auf, bevor sie wieder in sich zusammenfielen. Sie überlegte, wie ihr Leben aussähe, wenn ihr Vater noch am Leben wäre: Wer wäre sie dann? Sie kam nach ihm, wollte sein wie er.

»Wohin willst du?«

Ylva blieb stehen. Die Stimme gehörte dem einzigen Menschen, der ihr den Atem nahm. Die Energie, der Sog in der Magengegend löste ein Schwindelgefühl aus. Der Bodøer Marktplatz in seiner grauen Tristesse bot ihr keinen Halt. Sie drehte sich um, und dort, eingehüllt in wirbelnde Schneeflocken, die wie schläfrige Motten unter den Straßenlaternen tanzten, stand er und lächelte. Storm wusste, dass Ylva in der Öffentlichkeit nicht mit ihm gesehen werden wollte, jetzt aber stand er da und grinste, als sei alles nur ein Spiel.

Storm wirkte immer wie einer, der nichts zu verlieren hatte. Und soweit ihr bekannt war, hatte er das auch nicht. Nach einer Nacht zwischen warmen Laken hatte sie ihm vorgehalten, besorgniserregend vertrauensselig zu sein, wenn man bedachte, dass er in der Sondereinheit der CYFOR arbeitete.

»Entspann dich, ich bin extrem paranoid«, hatte er sie beruhigt und war der darin mitschwingenden Frage mit Humor ausgewichen.

Storm hatte immer mehrdeutige Antworten parat, die sie ganz nach eigenem Gutdünken auslegen konnte.

Ylva setzte ihren Weg über den Marktplatz fort.

»Ich will zu meiner Mutter.«

»Ich kann dich fahren.

»Das brauchst du nicht.«

»Nein, das brauche ich nicht, aber ich möchte es gern.«

Sie blieb stehen und sah ihn an. Er lächelte galant.

»Your wish is my command, Ma’am.«

Würde er dasselbe sagen, wenn Ylvas Wünsche seinen eigenen widersprächen?

Kaum. Entschlossen ging sie weiter.

»All work and no play makes Storm a dull boy«, erwiderte Ylva.

Storm überhörte die Abweisung einfach.

»Dann müssen wir mehr spielen …«

Ylva blieb stehen, drehte sich erneut um und sah zu ihm hoch. Er war der größte Kerl, den sie kannte. Die anthropometrischen Beschränkungen der Luftwaffe sorgten dafür, dass niemand über 1,93 Meter Kampfpilot werden konnte, weshalb es in ihrem Umfeld keine Männer von fast zwei Meter Größe gab. Abgesehen davon, dass ein Typ wie Storm sowieso nicht in die Luftwaffe gepasst hätte. Kein Kampfpilot würde mit Dreitagebart und den dunklen, nachlässig über den Rücken hängenden Haaren zum Dienst erscheinen. Zudem würde kein Kampfpilot den Einfältigen mimen, um einen IQ zu verbergen, der sich proportional zu seiner beachtlichen Körpermasse verhielt. Vorsichtig wischte er eine Flocke weg, die auf ihrer Wange gelandet war und zog sie an sich. Ylva nahm umgehend den puren maskulinen Geruch und die seinem Körper innewohnende Glut wahr. Es war so unfassbar schön, ihm nahe zu sein, und sie hasste es.

»Okay, ich fahre dich zu deiner Mutter, anschließend kommst du zum Spielen mit zu mir.«

Die Wärme seiner Hand strahlte in Ylvas Kreuzbein aus und verursachte tief in der Magengegend ein angenehmes intensives Kribbeln. Man konnte über Storm Bure sagen, was man wollte, aber ein »dull boy« war er streng genommen nicht.

4

Gestank schlug Ylva entgegen, als sie die Tür öffnete. Das Chaos, die Dunkelheit und der stickige Mief verrieten ihr alles, was sie wissen musste: Ihre Mutter hatte mal wieder eine schlechte Phase. Ylva holte tief Luft, bevor sie den Flur betrat.

Nicht denken, wenn sie jetzt zu viel nachdachte, brachte sie es nicht fertig, hineinzugehen und die Tochter zu sein, die sie sein wollte. Doch der Gestank und der Blick in den Flur beschworen noch immer Erinnerungen herauf, die sich nicht ignorieren ließen.

Ylva schaute zur Treppe, die in den ersten Stock führte. Wachsam blieb sie stehen und lauschte; aus dem Wohnzimmer drang gedämpftes Murmeln, doch die Stille aus dem oberen Stockwerk waberte herunter und hüllte sie ein. Der Nachhall der Geräusche, die sie vor zwanzig Jahren geweckt hatten, saß noch immer in den Wänden.

Sie erinnerte sich an die grauenvolle Nacht, als wäre es gestern gewesen. Sie hatte mit dem Buch Die Brüder Löwenherz auf der Brust im Bett gelegen und geschlafen, als Stimmen sie aus dem Traum rissen. Ängstlich hatte sie sich aufgesetzt und mit pochendem Herzen gelauscht. War da jemand vor dem Haus? Sie spähte aus dem Fenster. Die Stille wurde durch den Schnee verstärkt, der im Schein der Straßenlaternen vom Wind aufgewirbelt wurde. Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte 15:30.

Benommen wollte sie wieder zurück unter die warme Decke kriechen, da hörte sie erneut gedämpfte Laute. Sie kamen aus dem Keller. Mit angehaltenem Atem hörte sie jemanden flüstern. Gefolgt von einem leisen Rascheln, das Geräusch eines Menschen, der nicht hier sein sollte, von jemandem, der nicht gehört werden wollte.

Sie schlich hinaus in den Flur. Die Tür zum Schlafzimmer der Eltern war angelehnt. Sie hörte die schweren Atemzüge ihrer Mutter, und im Lichtstreifen, der vom Flur hineinfiel, sah sie die unzähligen Pillendöschen auf dem Nachttisch. Die Mutter schlief tief und traumlos, doch ihr Vater war nicht in seinem Bett. Wo war er?

Barfuß tappte Ylva über den Linoleumboden und so leise sie konnte die Treppe hinunter. Die Kellertür stand einen Spaltbreit offen, das Licht war nicht eingeschaltet, doch jetzt vernahm sie das Flüstern deutlicher. Sie schlich weiter. Ein feuchter Luftzug strömte ihr aus der Dunkelheit entgegen. Der Vater stöhnte. Dann wurde es still.

Ylva konnte gerade noch hinter die Tür huschen, als eine Gestalt die Kellertreppe hochhastete. Ein Windzug ließ die Gardinen in der Küche flattern, als die Tür zur Straße geöffnet wurde, der Schatten glitt in die Nacht hinaus und verschwand. Die Tür fiel lautlos ins Schloss. Mit einem Mal herrschte eine andere Art von Stille, eiskalt und bedrohlich. Es war, als hielte das alte Holzhaus den Atem an.

Die Stille aus dem Keller sandte Schauer über ihre Haut. In ihrem blauen Schlafanzug mit den aufgedruckten Planeten schlich sie die Treppe hinunter. Dort, im Lichtstreifen, der durchs Kellerfenster fiel, sah sie ihn. Mit aufgerissenen Augen lag er auf dem nackten Boden, starrte mit leerem Blick in die Luft. Sein Atem ging in keuchenden Stößen, der Körper wurde von Krämpfen geschüttelt. Ängstlich näherte sie sich ihrem Vater und sah auf ihn hinab. Er kam ihr vor wie ein Fremder, wie ein krankes Tier. Er versuchte, etwas zu flüstern, und sie beugte sich vor, hielt ihr Ohr dicht an seinen Mund.

Sein Atem streifte warm ihre Wange, doch aus seiner Kehle drang nur ein heiseres Röcheln. Die Kälte kroch in sie hinein, und sie spürte, wie sich die Härchen auf ihren Armen aufstellten. Sie wollte weglaufen, aber die Hand ihres Vaters ergriff ihren dünnen Arm, seine Lippen bewegten sich, doch kein Laut kam heraus. Ylva riss sich los und wich zurück, zu erschrocken, um zu schreien. Er streckte die Hand nach ihr aus, seine Lippen formten weiter lautlose Worte. Was wollte er ihr sagen? Oberst Geir Nordahl sah seine Tochter an. Das zierliche, widerspenstige Mädchen starrte voller Angst und Verwirrung zurück, der Blick tränenverschleiert.

Ylva sah, wie der Körper ihres Vaters zu Boden sackte. Die Krämpfe verebbten, während sich unter ihm eine Lache aus Urin ausbreitete und der Tod in seine Muskeln kroch.

Polizei und Rettungsdienst kamen. Der Vater wurde auf eine Trage gehoben und weggebracht, die Mutter weinte hysterisch.

Ylva atmete erneut tief durch, schüttelte das Unbehagen ab und ging ins Wohnzimmer.

Der Fernseher lief und spuckte geistloses Infotainment in Form von grellen Logos und billigen Werbemelodien aus. Ylvas Mutter lag auf dem Sofa und schlief. Mit ihrem nachtblauen Kimono und den langen grauen Haaren, die ihr Gesicht einrahmten, glich sie einer gealterten Proserpina. Wer Proserpina war, wusste die Kulturbanausin Ylva nur, weil ihre Mutter sie ihre gesamte Kindheit und Jugend hindurch in jede Kunstausstellung geschleppt hatte, die sich finden ließ. Ylva hasste die Geschichte von Hades, dem Gott der Unterwelt, der sich in die schöne Proserpina verliebte. Aber statt ihr den Hof zu machen, höflich um ihre Hand anzuhalten und seiner Angebeteten eine Wahl zu lassen, entführte Hades – klischeehafter ging es kaum – die junge Frau und zwang sie, ihn zu heiraten. Ob Hades ein glückliches Leben mit der traumatisierten, ihm hilflos ausgelieferten Proserpina führte, die bei seinem Anblick blanken Hass empfand, hatte Ylva nicht mitbekommen, da sie den weitschweifigen Ausführungen ihrer Mutter selten lange zuhörte.

Sie war nie richtig schlau geworden aus ihrer Mutter und konnte noch immer nicht nachvollziehen, dass diese sich weder mit dem Leben als Pilotenfrau abgefunden, noch Verantwortung übernommen und ihren eigenen Bereich gestaltet hatte, unabhängig von der Lebensweise, die mit der Arbeit ihres Mannes einherging. Stattdessen unterdrückte die Mutter ihr wahres Selbst, bevorzugt unter Zuhilfenahme von Pharmazeutika, und lebte passiv in einem beständigen Vakuum zwischen den Erwartungen anderer und ihrer eigenen Persönlichkeit. In Ylvas Augen war das die schlechteste aller Lösungen, weil es ihre Mutter darauf reduzierte, ihr Dasein wie die in der Unterwelt gefangene Proserpina zu fristen.

Die Militärstützpunkte, auf denen Ylva aufgewachsen war, glichen sich auf surreale Weise. Egal, wo in der Welt die Familie lebte, war es, als befänden sie sich stets am selben Ort. Krieg, Frieden und Geschäfte wurden in der Welt der Männer verhandelt, während den Frauen ein Dasein als dekorative, perspektivlose Heimchen bestimmt war.

Morgen für Morgen hatte Ylva die Mutter dabei beobachtet, wie sie sich in die langweiligsten Sachen kleidete, die sie finden konnte, ehe sie ihre Haare zu einem strengen Knoten hochsteckte und in die Welt hinausging. Sie nahm sich zurück, machte sich hässlich und verbarg ihre Persönlichkeit, um nicht die Eifersucht der anderen Frauen, die Verurteilung der Spießbürger oder das peinliche Begehren der Männer zu erregen.

Doch in ihrem Elend hatte die Mutter Ylva zumindest zwei nützliche Maximen eingetrichtert. Zum einen sollte sie stets darauf hinarbeiten, sich allein versorgen zu können. Nicht wie die Mutter, die finanziell von Ylvas Vater abhängig und diesem daher vollkommen ausgeliefert war. Die niemals wagte, auszubrechen und ihren eigenen Wünschen zu folgen. Niemand, der vom Geld anderer lebt, ist jemals frei. Der zweite Lehrsatz der Mutter lautete, dass sie sich niemals kleinmachen solle, um Männern zu gefallen. Denn, so die Mutter, selbst wenn Männer starke, ungezähmte Frauen hassen, sind sie ihnen vollkommen verfallen. Sie heiraten Mauerblümchen und begehren Wildkatzen.

Ylva stand auf der Türschwelle und betrachtete ihre Mutter, wie sie auf dem Sofa schnarchte. Der Kimono war fleckig, die Seide zerknittert und ausgeblichen. Das flimmernde Licht des Fernsehers warf einen grellblauen Schein ins Zimmer. Der russische Außenminister sprach in die Kamera; er verurteilte die NATO-Übung und erachtete sie als offenkundige Provokation. Die norwegische Verteidigungsministerin indessen versicherte den Reportern, dass die Militärübung rechtzeitig und ordnungsgemäß angekündigt worden sei.

Ylva hatte genug gehört, sie ging in die Küche. Im Kühlschrank standen die Fertiggerichte, die sie vor fünf Tagen gekauft hatte, ungeöffnet und sorgfältig aufgereiht in den Fächern, so wie sie sie dort zurückgelassen hatte. Auf jede Packung hatte sie Post-its geklebt, die mit Montag, Dienstag, Mittwoch usw. beschriftet waren. Nichts davon hatte die Mutter angerührt.

Ylva ging zurück ins Wohnzimmer. Auf dem Couchtisch lagen mehrere Pillendöschen.

»Mama.«

Sie reagierte nicht. Ylva rüttelte sie sachte.

»Mama.«

Noch immer keine Reaktion. Ylva rüttelte etwas fester.

»Mama!«

Das Geleier der Nachrichtensendung ging ihr auf die Nerven, und sie suchte auf dem Sofa zwischen Büchern, schmutzigen Kleidern und Essensresten nach der Fernbedienung. Erst jetzt wurde die Mutter wach. Halsketten und Armreife klimperten, als sie sich erschrocken aufsetzte und Ylva anstarrte wie eine vollkommen Fremde.

Ylva fand die Fernbedienung, die unter der Mutter lag, und schaltete die Kiste aus.

»Hallo, Mama.«

Die Mutter schien verwirrt, verängstigt.

»Ich wollte nur schnell ein paar Sachen holen.«

Die Mutter nickte wortlos, nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher wieder ein, und erneut wurde das Zimmer von blauem Licht und schnatternden Stimmen erfüllt.

Wie ein dürres, zerzaustes Vogeljunges hockte sie auf dem Sofa und starre apathisch auf die Mattscheibe. Ylva ging in die Küche und wärmte eines der Fertiggerichte in der Mikrowelle auf. Sie musste die Mutter dazu bringen, ein paar Happen zu essen, doch die schob den Teller weg, als Ylva ihn ihr reichte.

»Du musst was essen, Mama.«

Ihre Mutter nickte stumm, starrte jedoch weiter wie hypnotisiert auf das flackernde Licht, das ihr entgegenströmte. Ylva seufzte und blickte resigniert auf das Durcheinander, die Bücher, die Essensreste und den ganzen Dreck. Die Mutter hatte das Wohnzimmer in ein Abbild ihres inneren Chaos verwandelt, und Ylvas Eingeweide krampften sich zusammen vor Wut, nein, vor Abscheu.

»Mama, ich bin während der Manöverübung weg, aber sobald ich zurück bin, mache ich hier sauber, ja?«

Die Mutter schien sie nicht zu hören. Ylva sah traurig auf die Pillendöschen. Wie viele Psychopharmaka warf dieses unglückliche Häufchen Elend eigentlich ein?

Wie es schien, unendliche Mengen.

»Brauchst du irgendwas?«

Keine Antwort.

Ylva ging.

5

John Evans schauderte in der Kälte. Dass so weit im Norden noch freiwillig Menschen lebten, war ihm ein Rätsel. Seine ewigen Rückenschmerzen, an die er sich inzwischen schon fast gewöhnt hatte, verschlimmerten sich bei den eisigen Temperaturen und strahlten in die Glieder aus. John wusste, dass die NATO-Übung gezielt in den Zeitraum der verhassten Polarnacht während der arktischen Wintermonate gelegt worden war, damit die Soldaten lernten, permanente Dunkelheit und beißende Kälte zu ertragen. Er konnte sich nicht entscheiden, was nervenzehrender war: die Schneestürme und fortwährende Finsternis oder der blutrote Ghibli-Wind in der Wüste Libyens.

Beim Treffen mit seinem neuen ambitionierten Schützling, Leutnant Nordahl, hatte er seine Erschöpfung gespürt. Diese verdammten Jungspunde, die vor Tatendrang und Selbstbewusstsein nur so strotzten. Was veranlasste eine hübsche junge Frau wie Ylva Nordahl dazu, ein Leben als Kriegerin zu wählen? Für John war es unbegreiflich, dass sie die Möglichkeit ausschlug, beschützt zu werden, durchs Leben getragen zu werden von Männern, die mit Freuden für sie in den Tod gehen würden. Männern wie ihm. Wofür zur Hölle zogen sie dann noch in den Krieg, wenn Frauen meinten, besser zu kämpfen als die stärksten, kühnsten und diszipliniertesten Männer?

Das Militärsystem war nicht für Frauen geschaffen. Es war geschaffen, um aus aggressiven Alphamännchen, den blutrünstigsten Killermaschinen des Planeten, zielgerichtete Krieger zu machen, die im Dienste der Gemeinschaft kämpften. John respektierte Frauen. Er liebte Frauen. Als Mütter, Geliebte, Freundinnen und als Gegengewicht zur Aggression der Männer. Wenn Frauen partout die Welt retten wollten, dachte John, sollten sie dafür sorgen, der männlichen Rohheit etwas entgegenzusetzen und ihre Weiblichkeit kultivieren.

John blieb stehen und blinzelte zu den Umrissen des nordöstlich vom Rollfeld aufragenden Steigtind. Die Polarlichter zuckten über den Himmel. Ein Stück der Ewigkeit leuchtete auf, und für den Bruchteil einer Sekunde spürte er nichts anderes.

»Danke, dass Sie sich die Zeit für ein Treffen genommen haben, John.«

George Rove war lautlos hinter ihn getreten. Natürlich war er auf die Minute pünktlich.

Rove war einer derjenigen gewesen, die am hartnäckigsten dafür gekämpft hatten, dass U. S. Airforce und NATO die Verantwortung übernahmen, John aus Libyen zu holen, wo er als Geisel gefangen gehalten wurde. Obwohl sie sich nie zuvor persönlich begegnet waren, hatte Rove alles dafür getan, Johns Rettung voranzutreiben. John hatte den Bericht gelesen und kannte George Roves Devise »Einer für alle, alle für einen«. Rove hatte Stärke bewiesen. »Leave no man behind«, war für ihn mehr als nur ein schöner Spruch aus den Rekrutierungsbroschüren.

»Wie läuft es als Mentor für die neuen Piloten?«

John antwortete nicht, er blickte unverwandt zu den über den Bergen tanzenden Polarlichtern.

»Das ist ein wichtiger Job, Evans.«

George Rove wusste, dass John nach der Sache in Libyen kämpfen musste, um seinen Posten in der Luftwaffe zu behalten. Die Stelle als Mentor für neue Piloten war ein unbeholfener Versuch zu verbergen, dass der große Held als »beschädigte Ware« galt.

»Gratulation zum Distinguished Flying Cross. Libyen, richtig?«

Johns heisere Stimme war leise und hart.

»Afghanistan.«

Rove nickte.

»Natürlich. Wohlverdient.«

John antwortete nicht, er dachte an die Dunkelheit.

Die astronomische Dunkelheit, wie man sie nur weit entfernt von der menschengemachten Lichtverschmutzung erlebt. Er hatte sich nach dieser befreienden Abwesenheit von Licht gesehnt und gehofft, sie hier oben im Norden zu finden. Wie sich jedoch herausgestellt hatte, war die gefürchtete Polarnacht alles andere als dunkel. Um die Mittagszeit gab die Sonne, die direkt unter dem Horizont stand, für einen kurzen Zeitraum ein malerisches, beinahe magisches Winterlicht ab. Kollegen hatten ihm von dem arktischen Licht erzählt, aber er hätte sich nie den Wirkungsgrad der weichen Pastelltöne vorstellen können, die sich in diesen Stunden über die Landschaft ergossen. Tagsüber wurde es zwar niemals richtig hell, aber auch nicht vollkommen dunkel. Die Wirkung der hypnotisierenden Polarlichter, die die Nacht erleuchteten, hatte er sich ebenso wenig vorstellen können. Er hatte früher schon Polarlichter gesehen – Himmel, wer hatte das nicht? – , doch niemals in dieser Art.

Rove musterte John.

»Evans, ich habe gehört, was passiert ist … mit Ihrer Familie. Üble Sache. Tut mir leid.«

Bald würde das letzte bisschen Dunkelheit von der Erde verschwinden, dachte John. Wie weit nach Norden musste man gehen, um einen Ort zu finden, an dem die Nacht nicht vom künstlichen Licht der Menschen verschmutzt war? Wo hatte die Dunkelheit noch eine reelle Chance gegen das Licht?

»Viel zu viele von unseren Leuten haben das durchgemacht. Zivilisten verstehen das nicht. Es ist hart.«

General Rove holte Luft und beugte sich vertraulich zu John vor.

»Ich weiß, wovon ich rede.«

John sah Rove ausdruckslos an.

»Ah ja?«

Rove nickte betrübt.

»Ja, leider. Ich bin nicht damit klargekommen. Solange ich im Krieg war, habe ich von nichts anderem geträumt als von einem Leben als Zivilist. Ein guter Job, ein anständiges Gehalt, Zeit für die Familie. Mehr wollte ich nicht. Ein vorhersehbares Leben unter friedlichen Bürgern, Zeit für Hobbys und Freunde.« Rove lächelte schief. »Und ich fand es schrecklich.«

John nickte schweigend. Er wusste, was Rove meinte.

»Ehre und bequeme Bürojobs können niemals den Verlust der Kameradschaft ersetzen, alles, was Sie geopfert haben, Evans.«

John holte tief Luft, sein Rücken schmerzte, und er bewegte sich unruhig.

»Wir wissen, was Sie geopfert haben«, wiederholte Rove.

Die letzten dünnen Zungen des Nordlichts zuckten über dem Steigen-Fjell, flackernd wie Flammen, wie Geister, ehe sie sich auflösten und verschwanden.

»Ich habe nur meine Arbeit gemacht.«

Johns Stimme klang hohl und matt.

»Sie sind einer unserer tapfersten Männer, und das Land sollte Ihnen für Ihre Dienste mit weit mehr als nur Medaillen danken.«

John musterte den General skeptisch. Was wollte er von ihm? Warum stand er hier in der eisigen Winternacht und sagte all die Dinge, die John so gern hören wollte?

Warum hatte Rove John um ein Treffen unter vier Augen hier draußen in der Eiseskälte gebeten?

Rove folgte Johns Blick zu dem schwarzen Nachthimmel, den die Polarlichter zurückgelassen hatten.

»Die Arktis wird der neue Nahe Osten.«

John warf dem General einen kurzen Blick zu, doch Rove hatte es ohne jede Dramatik gesagt, wie eine vollendete Tatsache.

»Falls die Arktis der neue Nahe Osten wird, werden Leute wie Sie wohl sehr mächtig«, murmelte John zurück. »Und sehr reich«, fügte er hinzu.

Rove lächelte.

»Nicht falls, sondern wenn. Glauben Sie mir, dies ist der Ort, an dem die großen Jungs in Zukunft ihr Geld verdienen werden.«

John sah ihn ausdruckslos an, jeder Dreisternegeneral, der die Bruderschaft des Militärs für einen zivilen Spitzenjob verließ, weckte Widerwillen in ihm. Zivilisten im Allgemeinen und Großunternehmer im Besonderen waren opportunistische Ratten. So einfach war das.

Rove schien Johns Gedanken zu lesen, er lächelte nachdenklich.

»Wir beschützen Menschen, und sie belohnen uns dafür.«

John lachte bitter.

»Ihr seid Söldner, nichts weiter.«

Rove zog den Mantel enger um sich. John sah, dass der stolze General fror.

»Ja, da haben Sie recht, aber Sicherheitsunternehmen wie unseres werden beauftragt, um Hilfsorganisationen, Botschafter und Geschäftsleute zu beschützen, wo das Militär keine Beteiligung wünscht oder wagt.«

John kannte die Regel.

»Oder wo das Militär aus politischen Gründen nicht involviert werden will?«

George Rove nickte.

»Auch das. Wir beschützen Zivilisten in gesetzlosen Gebieten, in die sich keine Armee hineinbegeben möchte.«

Der General schwieg einen Moment, dann lachte er verlegen und hob mit einer entwaffnenden Geste die Hände.

»Und wir verdienen ein Schweinegeld damit, ich geb’s ja zu.«

John musste schmunzeln.

»Guter Sales Pitch.«

»Wir beschützen unsere Klienten. Das ist alles.«

John sah Rove kalt an.

»Gegen Geld.«

Rove lächelte freundlich.

»Arbeiten Sie gratis, Major Evans?«

Johns Geldsorgen waren allgemein bekannt, und wie die meisten Leute arbeitete auch er, um Zahlen im Cyberspace zu akkumulieren.

»Sicherheit ist eine mathematische Aufgabe, bei der die Kenntnis der Gefahrenlage gegen die Effektivität verschiedener Gegenmaßnahmen abgewogen wird. Aber sich sicher zu fühlen, das ist etwas völlig anderes.«

John zog eine Braue hoch.

»Was meinen Sie?«

»Ob die Leute sich sicher fühlen, basiert nicht auf Wahrscheinlichkeiten oder mathematischen Berechnungen, sondern auf psychologischer Überzeugung. Den Bürgern faktisch Sicherheit zu gewährleisten, kostet Geld, es kostet langfristige Anstrengungen, Spezialtraining, Flexibilität, Ausrüstung sowie Kompetenz und Visionen. Aber die Politiker verkaufen den Bürgern keine Sicherheit, dafür haben sie weder die Mittel noch den zeitlichen Horizont, sie verkaufen ihnen das Gefühl von Sicherheit, von Schutz. Und die Leute wollen Gefühle, keine Fakten.«

John holte tief Luft, die Kälte brannte in seiner Brust.

»Die Leute haben viel größere Angst vor Terrorismus als vor Wespen, dabei sterben jedes Jahr weit mehr Menschen an Wespenstichen als bei Terroranschlägen.«

John lächelte, Rove wusste für seine Sache zu sprechen.

»Die Politiker verkaufen den Leuten ein Gefühl von Schutz, während wir damit reich werden, den Politikern Sicherheit zu verkaufen – die sind ja nicht blöd, diese Politiker.«

John war sich im Klaren darüber, dass Rove besser als jeder andere wusste, wovon er redete. Der Mann war trotz allem der Kriegsheld, der nach einer Zeit als hohes Tier in Washington das größte Sicherheitsunternehmen der USA gegründet hatte. Und jetzt, dachte John, jetzt hatte er den Blick gen Norden gerichtet.

6

Ylva lag wach und lauschte Storms tiefen, gleichmäßigen Atemzügen. Sie schlief immer allein, egal, mit wem sie ins Bett ging, das war am sichersten und bequemsten. Sie starrte in die Dunkelheit, nur ein Schimmer fahlen Mondlichts fiel durch das große Nordostfenster ins Zimmer. Ihre erste gemeinsame Nacht lag bald einen Monat zurück, und eigentlich hätte es bei dieser einen Nacht bleiben sollen. Es war anders gekommen.

Wenn er so dalag, ungeschützt und selig schlummernd, spürte sie seine Wärme und Kraft. Sie spürte seinen nackten Körper, der sie umschlungen hielt. Sie fror. Er war warm. Sie hatten einen gefährlichen Punkt erreicht.

Storm hatte lächelnd akzeptiert, dass Ylva nicht bei ihm übernachten wollte, dass sie unter keinen Umständen am nächsten Morgen neben ihm aufwachen wollte, um im Anschluss gemeinsam zu frühstücken. Sie wollte keine Pläne für den Tag schmieden, für die Woche, den Monat oder ein Leben zu zweit. Sie suchte keine Geborgenheit, brauchte keine Bestätigung. Im Gegenteil, sie wollte unabhängig und frei sein. Er sagte, dass er eben das am meisten an ihr mochte.

Dieselben Eigenschaften hatten wohl auch anziehend auf Ylva gewirkt, als sie Storm zum ersten Mal begegnet war; er schien unabhängig und wunderbar unkompliziert zu sein.

Ylva hatte ihn in einer Samstagnacht um 02.17 Uhr in der Nordlændingen-Bar in Bodø ins Visier genommen. Er überragte die restliche, eher abgerissene Klientel des Etablissements um einen Kopf.

Sie war zusammen mit einem Pilotenkumpel in der Bar gelandet, der sich unters gemeine Volk mischen wollte, um ein paar heiße Schnitten aufzureißen. Aber Storm war weder heiß noch Schnitte mit seinem Rauschebart, dem ausgewaschenen schwarzen T-Shirt mit dem sich über die breite Brust spannenden Totenschädel und dem in roten und weißen Lettern geschriebenen Text MCMANIAC. Die derben Knastmuskeln und der auf den Rücken gedruckte Spruch Don’t let your tongue get your teeth knocked out! verschafften ihr Gewissheit. Er musste Mitglied der Hells Angels oder einer ähnlichen pseudomaskulinen Bruderschaft sein. Wäre sie nicht betrunken gewesen, hätte sie vermutlich schnell bemerkt, dass der Bart sorgfältig getrimmt, das Deo eine teure Angelegenheit und die großen Hände gepflegt und weich waren. Doch Ylva war ziemlich angetrunken und scharf auf einen Nervenkitzel, und der zwei Meter große Bösewicht schien diesbezüglich vielversprechend.

Als Ylva Bodø vor vier Jahren verlassen hatte, hatte sie nichts zu verlieren und alles zu beweisen gehabt. Dass sie nun als fertig ausgebildete Kampfpilotin in die kleine graue Stadt zurückkehrte, um an dem größten NATO-Wintermanöver aller Zeiten teilzunehmen, war eine süße Rache an dem Ort, der ihren Vater getötet und ihre Mutter zerbrochen hatte. Ylva brannte so begierig darauf, endlich mit der Übung loszulegen, dass sie ein Ventil für ihre überschüssige Energie benötigte. Der breitbeinig dastehende Typ, der sich mit geschlossenen Augen zu Metallica wiegte, schien der perfekte Blitzableiter, bevor das Abenteuer losbrach. Seine Lippen bewegten sich zu Nothing Else Matters.