Puppentod - Katharina Winter - E-Book

Puppentod E-Book

Katharina Winter

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Beschreibung

Nur der Tod tilgt alle Schuld

»Jeder Fehler kann das Leben kosten« — wie ein Mantra wiederholt Lisa diesen Satz, während sie ihren perfiden Plan in die Tat umsetzt: Geschickt hat sie die Begegnung mit dem jungen Unternehmer Michael Westphal eingefädelt, hat ihn glauben lassen, sie erwidere seine Gefühle. Doch nun wird ihr bewusst, dass dieser Mann ihr tatsächlich sehr viel bedeuten könnte, stünde nicht jene grausame Tat zwischen ihnen, die sich einst im Haus der Puppen ereignet hat und nach Rache schreit…

Raffiniert, fesselnd, abgründig.

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Seitenzahl: 402

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Inhaltsverzeichnis
KATHARINA WINTER ÜBER »PUPPENTOD«
ÜBER DIE AUTORIN
Titel
Widmung
PROLOG
ERSTER TEIL
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Copyright
KATHARINA WINTER ÜBER »PUPPENTOD«
Wie lange haben Sie in etwa gebraucht von der ersten Idee zu »Puppentod« bis zum letzten Satz?
Die Idee kam mir, als ich mit dem Auto in einer fremden Gegend unterwegs war. Ich hatte mich verfahren und stieß auf ein kleines, leer stehendes Haus. Zuerst fuhr ich einfach daran vorbei, dann aber drehte ich wieder um. Ich hatte das untrügliche Gefühl, das Haus wollte mir seine Geschichte erzählen. Drei Stunden später war die Idee geboren. Das Schreiben dauerte etwas länger - circa eineinhalb Jahre vom ersten bis zum letzten Satz.
Warum ein Krimi, was fasziniert Sie an diesem Genre?
Das Dunkle und Geheimnisvolle zieht mich magisch an. Liegt die Wahrheit nicht meist im Verborgenen? Deshalb möchte ich gemeinsam mit meinen Lesern einen Blick in die tiefen Abgründe wagen, in den dunklen Teil der menschlichen Natur.
Ihr Roman spielt unter anderem in der Dominikanischen Republik - gibt es dafür einen Grund?
In meiner Vorstellung war Lisa Kreolin. Sie sollte aus einem Land kommen, in dem die kreolische Religion - der Voodoo mit seinem Glauben an Zauber und Dämonen - allgegenwärtig ist. Damit bot sich die Dominikanische Republik als perfekter Schauplatz an. Auf der exotischen Ferieninsel konnten Lisa und Michael sich kennenlernen, während im angrenzenden Haiti Voodoo bis heute als offizielle Religion gilt.
ÜBER DIE AUTORIN
Katharina Winter, geboren in Sangerhausen im Südharz, verbrachte ihre Kindheit und Jugend in der ehemaligen DDR, bevor sie 1989 nach Westdeutschland ausreisen konnte. Nach verschiedenen beruflichen Stationen begann sie, ihren alten Traum vom Schreiben weiterzuverfolgen. »Puppentod« ist ihr erster Psychothriller. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in der Nähe von Offenburg.
Für Gerd, weil ich dich liebe
PROLOG
Sie stellte den Eimer ab und gab Reinigungsmittel ins Wasser. Ihre Hände brannten, und ihr Rücken schmerzte. Es war schon spät am Abend, doch vor ihr lagen mindestens noch zwei Stunden Arbeit. Die gesamte obere Büroetage musste noch gereinigt werden.
Normalerweise putzte sie hier oben gar nicht. Nur heute, als Vertretung für jemanden, der krank geworden war. Aber ihr sollte es recht sein. Je mehr sie arbeiten konnte, umso mehr Geld verdiente sie. Sie tat es für ihre Kinder. Damit die es im Leben einmal besser hatten.
Müde schob sie den Wagen mit den Reinigungsutensilien über den langen, spärlich beleuchteten Gang. Rechts und links davon lagen all die dunklen Büros, die sie noch sauber machen musste. Doch sie durfte nicht jammern. Sie sollte dankbar sein für diese Arbeit.
Sie steuerte auf das große Chefbüro zu und griff nach den Staubtüchern, als ihr auffiel, dass die Tür einen Spalt offen stand. Abrupt blieb sie stehen. In dem Büro brannte Licht, und sie hörte die Stimmen zweier Männer, die miteinander stritten. Das war unverkennbar, auch wenn sie die deutsche Sprache nicht gut verstand. Plötzlich gab es ein kurzes, dumpfes Geräusch. Durch die Türöffnung sah sie einen Mann im Smoking, der neben einem wuchtigen Schreibtisch stand und einen Revolver in seiner Hand hielt, während ein anderer Mann in einem hellblauen, blutbefleckten Pullover stöhnend vor ihm zusammenbrach.
Sie drückte sich die Staubtücher vor den Mund, um ihren eigenen Schrei zu ersticken. Für den Bruchteil einer Sekunde war sie wie gelähmt. Dann ließ sie den Putzwagen stehen und rannte davon - so schnell sie konnte.
ERSTER TEIL
1
Drei Meter noch bis zur Wasseroberfläche. Gleich hatten sie es geschafft.
Michael spürte den sanften Druck ihrer Hand. Alles in Ordnung, sollte das heißen. Ihr zweiter Atemregler sicherte seine Luftzufuhr. Es konnte ihm nichts passieren. Er musste ruhig bleiben. Das war das Wichtigste. Doch er hatte schreckliche Angst.
Entspann dich, dachte er. Bleib ruhig. Gleichmäßig atmen. Langsam aufsteigen. Zeitlupentempo. Nicht in Hektik verfallen.
Er spürte erneut ihre Hand. Lisa war ein Profi, sie schien seine Panik zu bemerken. Wie weit mochte es noch sein? Er wagte einen kurzen Blick nach oben und sah Schwärme bunter Tropenfische. Sie tummelten sich dort, wo das warme Sonnenlicht bereits das Wasser durchdrang. Einen halben Meter noch, höchstens.
Dann durchstießen ihre Köpfe ruckartig die glitzernde Wasseroberfläche. Der Himmel über ihnen erstrahlte in einem satten Türkisblau. Er war noch nie so froh gewesen, den Himmel zu sehen.
Sie ließ seine Hand los und schob sich die Taucherbrille über die Stirn.
»Alles in Ordnung?«, rief sie.
Michael nickte, obwohl davon keine Rede sein konnte. Den ersten Tauchgang im offenen Meer hatte er sich anders vorgestellt. Acht Meter unter Wasser hatte er plötzlich keine Luft mehr bekommen. Er wollte gar nicht darüber nachdenken, was passiert wäre, wenn Lisa, seine Tauchlehrerin, nicht sofort eingegriffen hätte.
»Geht es dir wirklich gut?«, fragte sie noch einmal nach.
Er zog langsam den Atemregler aus seinem Mund.
»Ja, danke, alles okay«, antwortete er. Dabei zitterte er am ganzen Körper. Der Schreck war ihm in die Glieder gefahren, und er musste sich richtig anstrengen, die kurze Strecke bis zum Boot zu schwimmen.
Er kletterte vor ihr die Leiter hinauf, vergaß aber, seine Flossen auszuziehen. Leider fiel ihm das erst auf, nachdem er oben angekommen war. Er sah bestimmt aus wie ein Volltrottel.
An Bord wurden sie von Julio empfangen. Er rief Lisa etwas auf Spanisch zu und schwenkte seinen breitkrempigen Strohhut durch die Luft. Mit seinen sechzehn Jahren war Julio wahrscheinlich der jüngste Bootsführer der ganzen Dominikanischen Republik, aber alles andere als unerfahren. Laut Lisa hatte er ein Boot gesteuert, noch bevor er laufen konnte.
Er schien sie zu fragen, warum sie so früh zurückkamen, und machte bei ihrer Antwort einen betroffenen Eindruck.
»Was hat er?«, wollte Michael wissen.
»Er macht sich Sorgen, dass deine Ausrüstung nicht in Ordnung war«, erwiderte Lisa. »Er hat sie heute Morgen gemeinsam mit Flavio überprüft, und die beiden sind darin normalerweise sehr genau. Ich denke jedoch nicht, dass es an der Ausrüstung lag.«
»Sondern?« Fragend schaute Michael sie an.
Sie zuckte mit den Achseln, setzte sich ihm gegenüber und strich ihr langes, mahagonibraunes Haar zurück. Es war nass und glänzte in der Sonne.
»Manchmal macht das offene Meer den Tauchschülern Angst«, erklärte sie. »Dann kommt es schnell zu einer Panikattacke, die zu Atemnot führt.«
Julio rief ihr etwas zu. Er hatte sich so weit über das Geländer des Bootes gelehnt, dass er aufpassen musste, nicht über Bord zu fallen.
»Die anderen kommen auch schon hoch«, sagte Lisa und fügte verwundert hinzu: »Dabei sollte Flavio mit ihnen doch mindestens fünfzehn Minuten unten bleiben.«
Als Flavio, der zweite Tauchlehrer, kurz darauf mit den vier anderen Tauchschülern an Bord kam, warf Lisa ihm einen ärgerlichen Blick zu.
Temperamentvoll verteidigte er sich. Er habe den Tauchgang abgebrochen, als er sie und Michael aufsteigen sah.
»Was war denn los?«, fragte er aufgeregt.
»Michael hatte ein kleines Luftproblem«, antwortete Lisa. »Aber es war nur halb so schlimm.«
»Alles wieder okay?«, wandte Flavio sich an Michael.
Michael nickte. »Alles okay.«
»Wir brechen für heute ab und fahren zurück zur Basisstation«, rief Lisa der Gruppe zu. Daraufhin gab sie Julio ein Zeichen, und er ließ den Motor des Bootes aufheulen.
Nachdem Michael sich von dem Schreck des ersten Tauchganges erholt hatte, ging er zum Büro der Tauchschule, das sich in einer kleinen Holzbaracke befand, nur wenige Meter vom Strand entfernt. Er klopfte an die angelehnte Tür, öffnete sie und steckte den Kopf in den Raum. Lisa, seine schöne Lebensretterin, saß hinter einem L-förmigen Schreibtisch am Computer.
»Komm herein«, rief sie.
Daraufhin trat er ein, wobei er sich den Kopf an einem Holzbalken stieß. Wie ungeschickt, fluchte er bei sich. Was sollte sie bloß von ihm denken?
Doch sie lachte nur und sagte: »Dieses Büro ist nicht für große Männer gebaut.«
Dann blickte sie ihn mit ihren großen, schwarzen Augen so unverhohlen an, dass er ganz nervös wurde.
»Ich habe meine Taucherausrüstung zurück ins Gerätehaus gebracht und dort auf die Bank gelegt«, sagte er und musste aufpassen, bei ihrem Anblick nicht ins Stottern zu geraten. Ihr Lächeln war einfach umwerfend.
»Geht es dir wieder besser?«, wollte sie wissen.
Er nickte. »Ich glaube, ich habe den Schock überwunden, und wollte mich noch einmal bei Ihnen … bei dir …«, verbesserte er sich. Menschen sofort zu duzen war für ihn ungewohnt, doch das war beim Tauchen so üblich. »Also, ich wollte mich auf jeden Fall noch einmal bedanken!«
Sie winkte ab. »Kein Problem, es ist ja alles gut gegangen.«
Gott sei Dank, dachte er, denn er hing an seinem Leben und hatte vor, über die erreichten dreiunddreißig Jahre hinauszukommen.
»Ich habe dir trotzdem ein Zertifikat ausgeschrieben«, sagte sie lächelnd und gab es ihm. »Da steht, dass Michael Westphal seinen Anfängerkurs erfolgreich absolviert hat. Und das stimmt auch! Bis auf die kleine Panikattacke hast du deine Sache sehr gut gemacht. Aber das kann beim ersten Tauchgang passieren. Ich hoffe, du wirst deswegen nicht mit dem Tauchen aufhören.«
Er lachte kurz auf. Kleine Panikattacke war eine nette Beschreibung für das, was er in acht Meter Tiefe empfunden hatte, als er keine Luft mehr bekam. Pure Todesangst hatte ihn in der Dunkelheit des Ozeans überfallen. Während Fischschwärme und seltsame Meeresbewohner stumm an ihm vorbeigezogen waren, hatte er mit seinem Leben bereits innerlich abgeschlossen. Tauchen war nicht seine Sache, das stand nach dem heutigen Tag für ihn fest. Er hatte sich nur aus Spaß zu diesem Tauchkurs angemeldet und weil ein Gutschein dafür auf seinem Hotelzimmer gelegen hatte. Das einzig Erfreuliche an dieser Geschichte war, dass ihn diese schöne Frau aus dem Karibischen Meer gerettet hatte, die sich nun - mit viel Glück - von ihm zum Essen einladen ließ.
Er betrachtete das Zertifikat und versuchte, ihre Unterschrift zu entziffern.
»Heißt das Lisa M. Elbert?«, fragte er.
Sie nickte.
»Wofür steht das M?«
»Für Marie.«
»Lisa Marie - das ist ein schöner Name«, meinte er und fragte: »Würde eine Frau mit einem so schönen Namen mit mir essen gehen?«
Leicht verdutzt sah sie ihn an, weshalb er schnell hinzufügte: »Als Dankeschön, sozusagen … weil ich froh bin, dass ich noch lebe.« Er begegnete ihrem Blick. Diese Augen brachten ihn vollkommen durcheinander. So sanft, wie sie zu lächeln schienen, so feurig funkelten sie ihn an.
»Nette Männer aus den Tiefen des Ozeans zu retten ist zwar mein Job«, sagte sie, »aber deine Einladung nehme ich trotzdem gern an.«
In einem weißen, leicht durchscheinenden Leinenkleid, unter dem sich die Silhouette ihres schlanken Körpers abzeichnete, kam sie um den Schreibtisch herum. Er konnte seine Augen nicht von ihr abwenden.
»Ganz in der Nähe, direkt am Strand, gibt es ein gutes Fischlokal«, sagte sie. »Es gehört Margerita, und dort gibt es den besten Fisch der ganzen Insel.«
»Ich liebe Fisch«, entgegnete er gut gelaunt.
Sie griff nach dem Büroschlüssel. »Dann lass uns gehen.«
Als sie die Tür abschloss, fiel ihm auf, dass sie barfuß war.
»Wir gehen unten am Strand entlang«, erklärte sie. »Das ist der kürzeste Weg.«
Also zog er seine Flip-Flops aus und krempelte seine Hose auf.
Es war ein schöner Abend. Ein kräftiges Orangerot überzog den Horizont, während am Himmel bereits der Vollmond aufstieg.
Durch den Sand stapften sie hinunter zum Wasser. Das Meer war ganz ruhig, und die auslaufenden Wellen umspülten ihre Füße.
Lisa zeigte strandaufwärts. »Siehst du die bunten Lichter da vorn? Sie gehören zum Lokal - es ist überhaupt nicht weit.« In diesem Augenblick jedoch schien sie etwas zu bemerken, was sie stutzig machte.
»Im Gerätehaus brennt Licht«, murmelte sie, »obwohl um diese Zeit dort niemand mehr sein sollte. Warte einen Moment, ich gehe schnell nachschauen.«
Sie lief eilig zum Gerätehaus zurück. Kurz darauf hörte Michael das Quietschen der Holztür.
Als sie wiederkam, fragte er besorgt: »Alles in Ordnung?«
»Alles in Ordnung«, antwortete sie. »Es hatte nur jemand vergessen, das Licht auszumachen.«
Margeritas Fisch- & Cocktailbar war eine kleine Attraktion. Die einfachen Holztische, die unter freiem Himmel mitten im Sand standen, wurden ausschließlich mit bunten Lampions oder Kerzen in hohen Windlichtern beleuchtet. Auf einer improvisierten Bühne, zusammengezimmert aus ein paar Holzbrettern, spielten drei Jungs mit Gitarren und Steeldrums heiße karibische Musik, und auf einem riesigen runden Grill brutzelte alles, was das Meer an Köstlichkeiten zu bieten hatte. Bei Margerita gab es nicht nur den besten Fisch der ganzen Insel, sondern auch die besten Meeresfrüchte, die buntesten Cocktails und die heißeste Musik. Dafür war das Lokal bekannt. So war es auch kein Wunder, dass alle Tische belegt waren. Fast alle. Ein einziger, vorn am Wasser, war noch frei.
»Der ist genau richtig für uns«, stellte Lisa fest und forderte Michael auf, sich zu setzen.
Er aber zögerte, denn ein Reserviert-Schild lehnte an den zwei Windlichtern.
»Sollten wir nicht erst jemanden fragen?«, gab er zu bedenken.
»Keine Sorge!« Sie lachte. »Dieser Tisch ist für mich reserviert, ich gehe jeden Abend hier essen.«
Er sah sich um. Es war sehr romantisch hier. Der nächtliche unendlich weite Sternenhimmel funkelte über ihnen, die Wellen schwappten leise an den Strand, und draußen auf dem Meer leuchteten die unzähligen Lichter der Fischerboote wie kleine Glühwürmchen. Eigentlich zu romantisch, um Abend für Abend hier allein zu sitzen. Oder kam sie gar nicht allein hierher?
Dieser Gedanke war ihm bisher noch nicht gekommen. Eine Frau wie Lisa hatte mit Sicherheit eine ganze Schar von Verehrern, wenn nicht sogar einen festen Freund. Oder Ehemann?
Er warf einen flüchtigen Blick auf ihre rechte Hand, entdeckte jedoch keinen Ring. Sie trug überhaupt keinen Schmuck, bis auf eine zarte Kette mit einem goldenen Kreuz. Verheiratet schien sie also nicht zu sein. Blieb nur noch die Frage, ob sie in festen Händen war.
Die Antwort darauf bekam er umgehend. Als hätte sie seine Gedanken erraten, sagte sie: »Mein Nachbar leistet mir oft Gesellschaft. Er ist ein komischer Kauz und leider nicht sehr gesprächig, aber eigentlich ist er sehr nett.«
Das klang nicht nach einer Liebesbeziehung.
Kurz darauf erschien Margerita, die Inhaberin des Lokals, eine fröhliche, temperamentvolle, korpulente Frau in einem langen, roten Leinenkleid. Passend dazu steckte eine rote Blüte in ihrer schwarzen, wallenden Haarpracht, und um den Hals trug sie eine Blumenkette, die ihr beim Gehen über den großen Busen hüpfte.
Sie stellte einen Krug Wasser mit Limettenscheiben und eine Platte mit Meeresfrüchten auf den Tisch. Dann beugte sie sich hinunter zu Lisa und gab ihr zwei Küsschen auf die Wangen. Auch Michael bekam welche. Sie kannte ihn zwar nicht, doch das schien kein Grund zu sein, ihn nicht zu küssen.
Mit großen Worten und Gesten empfahl Margerita einen besonderen Fisch, und als sie sagte, Flavio habe auch einen feinen Hummer auf dem Grill, zwinkerte sie dazu verschwörerisch.
Hatte sie eben Flavio gesagt? Michael drehte sich um. Tatsächlich, dort stand der Tauchlehrer.
»Ist Grillmeister sein zweiter Beruf?«, fragte er, nachdem Margerita gegangen war.
»Genauso ist es«, antwortete Lisa. »Hier hat praktisch jeder einen zweiten Beruf. Sieh dir die Musiker an. Auch davon müsstest du einen kennen.«
Er sah zu den drei Jungen hinüber, von denen einer einen breitkrempigen Strohhut trug.
»Das ist doch Julio, unser Bootsführer!«, rief er erstaunt. »Sind Tauchschule und Fischlokal ein Familienbetrieb?«
»So ungefähr.« Sie spießte eine Garnele auf ihre Gabel und schob sie Michael in den Mund. »Köstlich, nicht wahr?«
Er nickte kauend, während Lisa erklärte: »Flavio legt sie für mehrere Stunden in eine süß-scharfe Soße. Das ist das ganze Geheimnis.«
»Wirklich lecker«, bestätigte er, obwohl die Zubereitung der Garnelen ihn im Moment nicht interessierte. Sein Herz bekam jedes Mal einen Aussetzer, wenn Lisa ihn mit ihren schwarzen Augen anfunkelte. Er wollte unbedingt mehr über sie erfahren. »Seit wann lebst du hier auf der Insel?«, fragte er.
»Noch gar nicht«, antwortete sie. »Eigentlich lebe ich zurzeit noch in München.«
»In München?«
»Ja.«
»Du lebst in München?«
»Ja. Was erstaunt dich daran so?«, wollte sie wissen.
»Weil ich ganz in der Nähe wohne«, antwortete er aufgeregt, »am Starnberger See. Wenn das kein Zufall ist!«
Sie lächelte.
Dieses Lächeln brachte ihn um den Verstand. Es gab keine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren, das spürte er. Er hatte Feuer gefangen. Noch nie hatte eine Frau sein Herz so zum Rasen gebracht und seinen Puls so beschleunigt. Nun stellte sich auch noch heraus, dass sie in München lebte. Was für ein Glück! Hier hatte das Schicksal seine Hand im Spiel, davon war er überzeugt.
»Wann kommst du zurück nach Deutschland?«, fragte er.
»Gar nicht«, antwortete sie. »Im Grunde ist Deutschland für mich schon Vergangenheit. Ich bin seit drei Monaten in der DomRep und fühle mich hier sehr wohl. Ich werde hierbleiben, das steht fest, zumal ich inzwischen den Job in der Tauchschule und eine kleine Wohnung gefunden habe.« Dann strich sie eine Strähne ihrer langen Haare aus der Stirn und fügte hinzu: »Ich fliege nur noch ein einziges Mal nach Deutschland, nächsten Freitag, um meine letzten Sachen zu holen, danach bin ich für immer weg.«
Erlaubte sich das Schicksal gerade einen schlechten Scherz?
»Das ist nicht dein Ernst!«, rief er und machte ein betretenes Gesicht.
Margerita kam mit zwei riesigen Tellern, auf denen der Fisch und der Hummer lagen, garniert mit gebackenen Kartoffeln und Gemüse.
Es schmeckte alles fantastisch - nur war ihm der Appetit vergangen.
»Ist es nicht toll, unter diesem Sternenhimmel zu sitzen und hinaus aufs Meer zu schauen?«, schwärmte Lisa. »Wie lange dauert dein Urlaub denn noch? Wann geht’s zurück nach Hause?«
»Morgen früh«, antwortete er und fand das in dem Moment überhaupt nicht lustig.
Sie wirkte überrascht. »Morgen schon?«
Hörte er da ein leises Bedauern in ihrer Stimme?
»Eigentlich wäre mein Urlaub noch gar nicht zu Ende«, erklärte er ihr. »Ich breche ihn ab, um ein wichtiges Meeting in der Firma nicht zu verpassen. Dieser Urlaub kam sehr überraschend; mein Freund Erik und ich haben ihn bei der Verlosung in einem Münchner Sportgeschäft gewonnen. Ich habe schon viele wichtige Termine abgesagt. Um wenigstens an diesem Meeting teilnehmen zu können, wollte ich eher nach Hause fliegen.«
»Schade«, erwiderte sie achselzuckend. »Es hätte dir am Salto del Limón bestimmt gefallen.«
»Wo?«
»Am Salto del Limón. Gerade wollte ich dich fragen, ob du morgen mit mir dorthin fahren möchtest.«
Verwirrt schaute er sie an.
»Sag bloß, du kennst den Salto del Limón nicht«, sagte sie daraufhin in leicht empörtem Tonfall.
»Nein«, gestand er kleinlaut, »davon habe ich noch nie gehört.«
»Das ist der schönste Wasserfall der Karibik«, erzählte sie. »Eigentlich darf man die Insel gar nicht verlassen, wenn man ihn nicht gesehen hat.«
»Ehrlich?«
Sie nickte und sagte mit ernstem Gesicht: »Du wirst morgen früh am Flughafen bestimmt ein Problem bekommen.«
Grübelnd zog er die Stirn in Falten. »Du meinst … sie werden mich nicht abreisen lassen?«
Entschieden schüttelte sie den Kopf, während es in ihren Augen kurz aufblitzte. »Ich wette, spätestens morgen Mittag stehst du wieder in meinem Büro und willst unbedingt mit mir zum Salto del Limón fahren. Wart’s nur ab, so wird es sein.«
Sie lächelte. Dann gab sie Julio ein Zeichen, woraufhin der begann, mit seiner Gitarre ein spanisches Lied zu spielen. Es hieß Hasta Mañana und war Lisas Lieblingslied . Michael meinte, eine Sternschnuppe ins Meer tauchen zu sehen, genau dort, wo der Lichtteppich des Mondes in den Horizont floss.
»Du meinst, ich sollte noch bleiben?«, fragte er leise.
»Du solltest es zumindest versuchen«, flüsterte sie.
Über das flackernde Kerzenlicht hinweg sah er sie an.
Hasta Mañana - bedeutete das nicht: Bis morgen? Und überhaupt, brachten Sternschnuppen nicht Glück?
2
Es war stockfinster. Eine dicke Wolke hatte sich vor den Vollmond geschoben und verhinderte genau zum richtigen Zeitpunkt, dass sein helles Licht den Strand ausleuchtete. Der Himmel schien ihr beizustehen, denn sie brauchte den Schutz der Dunkelheit.
Sie stellte die schwere Tasche ab und öffnete leise die Tür des Gerätehauses. Nur einen Spaltbreit, nicht zu weit, damit sie nicht quietschte.
Dann schob sie die Tasche durch die schmale Öffnung und huschte selbst hindurch. Im schwachen Licht ihrer Taschenlampe erkannte sie Michaels Ausrüstung auf der Bank. Davor stand die von ihm benutzte Druckluftflasche.
Sie kniete sich auf die Holzdielen, zog den Reißverschluss der Tasche auf und nahm die darin liegende Druckluftflasche heraus.
Plötzlich hielt sie inne. Hatte sie nicht eben etwas gehört? Wie ein Luchs spitzte sie die Ohren. Da war es wieder: ein kurzes, knackendes Geräusch. Kam jemand?
Reflexartig rollte sie sich unter die Bank, zog blitzschnell die leere Tasche hinterher und hielt die Luft an. Doch nichts geschah. Es war vielleicht nur ein Tier gewesen.
Sie kroch wieder hervor, verstaute Michaels Druckluftflasche in der Tasche, stellte die andere auf genau den gleichen Platz und verschwand so lautlos, wie sie gekommen war.
3
Michael blickte zur Uhr. Zwanzig Minuten telefonierte er nun schon mit einer Angestellten der Fluggesellschaft, um seinen morgigen Flug zu stornieren und einen neuen zu buchen. Es schien alles voll zu sein, und sie hatte Mühe, ihn in einer anderen Maschine unterzubringen. Dabei war ihm völlig gleichgültig, ob er Business Class oder Economy flog. Er würde auch First Class buchen oder zur Not in einem Ballon nach Deutschland zurückkehren, nur bitte nicht morgen früh. Wenigstens einen einzigen Tag wollte er gewinnen. Einen einzigen Tag mehr mit Lisa!
»Verstehen Sie doch«, versuchte er der Angestellten der Fluggesellschaft zu erklären, »ich habe die aufregendste Frau der Welt getroffen und kenne diesen verdammten Wasserfall nicht. Ich kann unmöglich morgen nach Hause fliegen. Das sehen Sie doch ein, oder?«
Die Frau in der Leitung zeigte Verständnis. Wenigstens eine Menschenseele, die mit mir fühlt, dachte Michael, denn sein Vater würde ihn einen Kopf kürzer machen, sobald er von der Verlängerung seines Urlaubs erfuhr. Aber das musste er in Kauf nehmen.
Er sank in einen der eleganten Sessel seines Hotelzimmers und dachte an Lisa. Vor seinem geistigen Auge sah er sich mit ihr am Meer entlangfahren, in einem schnittigen Cabriolet, bis zu diesem Wasserfall. Wenn das Wasser vor ihnen herabstürzte, würde er sie in die Arme schließen und sie leidenschaftlich küssen.
Seine Umbuchung wurde bestätigt. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Das wäre also geklärt. Er legte auf und wischte sich mit der flachen Hand die Schweißperlen von der Stirn.
Er schwitzte, obwohl die Klimaanlage auf Hochtouren lief. Es war die Angst, die er empfand, nun, da er seinen Vater anrufen und ihm sagen musste, dass er bei dem Meeting mit Mr Ming nicht dabei sein würde.
Erneut hob er den Telefonhörer ab. Wie spät war es jetzt eigentlich in Deutschland? Mitten in der Nacht! Sofort legte er wieder auf. Er nahm sich vor, gleich morgen früh Frau Meierhöfer anzurufen. Die würde, diplomatisch wie sie war, seinem Vater von einem Unwetter in der Karibik erzählen, aufgrund dessen alle Flüge storniert wurden, und den darauffolgenden Tobsuchtsanfall nicht allzu ernst nehmen. Dazu war sie schon viel zu lange seine Sekretärin.
Michaels spontaner Urlaub war seinem Vater von Anfang an ein Dorn im Auge gewesen. Solch einen Luxus leistete sich ein hart arbeitender Mensch nicht. Erst recht nicht einer, der Westphal hieß.
Michael stand auf und nahm ein frisches Hemd aus dem Schrank, während er an den letzten Streit mit seinem Vater dachte. Worte wie Verantwortungslosigkeit und Disziplinlosigkeit klangen noch deutlich in seinen Ohren. Und das alles wegen eines Urlaubs, der zehn Tage dauern sollte und der erste seit drei Jahren war.
Doch nun wollte er nicht mehr an seinen Vater und die Firma denken, er hatte Wichtigeres im Kopf. Die schöne Lisa zum Beispiel, mit ihrem zauberhaften Lächeln. Außerdem wartete sein Freund Erik an der Bar, dem er einiges zu erzählen hatte.
Wie es anders nicht sein konnte, amüsierte sich Erik bereits mit den zwei Blondinen, die er am Abend zuvor kennengelernt hatte. Er hatte die eine rechts und die andere links im Arm, und der Champagner floss in Strömen. Getreu dem Motto, was kostet die Welt! Typisch Erik. Und genauso typisch war dieser schreckliche Schlag auf die Schulter, mit dem er jeden begrüßte, wenn er etwas getrunken hatte.
»Da bist du ja endlich, alter Junge«, rief Erik. »Wo warst du denn nur? Du wirst schon sehnsüchtig von unseren zwei Nixen erwartet.«
Die Mädels kicherten. Sie kamen aus Frankfurt und machten keinen Hehl daraus, dass sie auf der Suche nach gut situierten Männern waren, die Bereitschaft zum Heiraten zeigten. Zwar war Erik alles andere als heiratswillig, doch das schienen sie noch nicht erkannt zu haben. Erik war Scheidungsanwalt, und die Ehe gab es für ihn nur, damit Anwälte daran Geld verdienten. Sich einem solchen Martyrium auszusetzen stand für ihn vollkommen außer Frage.
»Wir dachten schon, du wärst beim Tauchen ertrunken«, hauchte eine der Blondinen, die mit den rosa angemalten Lippen, ihm zu.
»Wäre ich auch fast«, entgegnete Michael höflich.
Sie lächelte, mit gekonnt verführerischem Blick.
Ihre Bemühungen waren allerdings umsonst, denn Schickimicki-Mädels interessierten ihn nicht. Er bevorzugte natürliche Frauen, die über das gewisse Etwas verfügten und ihm nicht zu Füßen lagen, nur weil er von Haus aus finanziell gut gestellt war.
»Tauchst du eigentlich auch?«, erkundigte die andere sich inzwischen bei Erik.
»Bist du verrückt!«, fuhr der entsetzt auf. »Ich spiele Golf, da ist die Gefahr zu ersaufen ziemlich gering. Und ganz nebenbei gewinnt man noch Karibikreisen, was, Alter?« Wieder schlug er Michael auf die Schulter.
»Habt ihr den Urlaub bei einem Preisausschreiben gewonnen?«, fragten die zwei begeistert.
»Bei einer Verlosung«, antwortete Erik grinsend. Ein gut aussehender Animateur entführte die zwei Blondinen auf die Tanzfläche.
»Sind sie nicht süß?«, wandte Erik sich an Michael. »Eine davon vernasche ich heute noch, wirst schon sehen.«
Daran zweifelte Michael keine Sekunde. Er bestellte beim Barmann ein Bier.
»Wie sieht’s denn mit dir aus, alter Junge? Die eine ist doch total scharf auf dich. Das ist deine letzte karibische Nacht.«
»Meine vorletzte«, entgegnete Michael.
»Häh?« Verwirrt starrte Erik ihn an. »Wolltest du nicht morgen nach Hause fliegen?«
Michael schmunzelte. »Wollte ich auch, doch jetzt habe ich es mir anders überlegt und vor fünf Minuten meinen Flug umgebucht.«
»Das muss aber einen triftigen Grund haben.« Eriks alles durchdringender Anwaltsblick bohrte sich in Michaels Augen. »Da steckt doch eine Frau dahinter. Stimmt’s oder hab ich recht?«
In diesem Punkt war Erik nicht zu schlagen. Man konnte einfach nichts vor ihm geheim halten, das war schon im Sandkasten so gewesen. Erik wusste immer sofort, wer seine Schippe kaputt gemacht oder seinen Eimer geklaut hatte.
»Muss ja ein heißer Feger sein, wenn du dafür deinen Flug sausen lässt«, fuhr er fort. »Da wird dein Alter dir aber kräftig die Leviten lesen. Wo ist die Lady denn? Willst du sie mir nicht vorstellen?«
»Nein, will ich nicht«, erwiderte Michael. »Und sie ist kein heißer Feger, sondern die aufregendste Frau der Welt.«
»Das sind sie in solchen Augenblicken alle«, seufzte Erik.
Die Mädels kehrten zurück. Kreischend tänzelten sie in Eriks ausgestreckte Arme, schütteten einen großen Schluck Champagner hinunter und zogen ihn auf die Tanzfläche. Michael hingegen wehrte sich erfolgreich und verzog sich danach schleunigst auf sein Zimmer. Er wollte morgen fit sein und hatte sowieso keine Lust, den Abend mit diesen Püppchen zu verbringen.
Michael wartete nicht bis zum Mittag - wie Lisa es vorhergesagt hatte −, sondern erschien bereits sehr früh im Büro der Tauchschule.
»Guten Morgen«, begrüßte er sie gut gelaunt.
Sie saß am Schreibtisch, über einen Stapel Papiere gebeugt. Als sie ihn sah, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht.
»Sie haben mich tatsächlich am Flughafen zurückgeschickt«, erklärte er ihr. »Sie lassen wirklich keinen weg, der diesen Wasserfall nicht kennt.«
Sie nickte verständnisvoll und sagte: »Ich habe dich gewarnt.«
»Nun müssen wir also doch dorthin fahren. Ist es denn weit?«, fragte er und verzog dabei das Gesicht, so als sei dieser Ausflug nur ein notwendiges Übel.
Sie spielte das Spiel mit. »Ein Stück ist es schon. Wir werden bestimmt den ganzen Tag unterwegs sein.«
»Ich habe Zeit«, erwiderte er. »Mein Flug jedenfalls ist auf morgen verschoben.«
Sie kam um den Schreibtisch herum und musterte ihn kritisch von oben nach unten. Beim Anblick seiner Flip-Flops legte sie die Stirn in Falten. »Mit diesen Schlappen ist das aber vollkommen unmöglich. Du brauchst in den Bergen festes Schuhwerk.«
»In den Bergen?«, rief er erstaunt.
»Na klar. Wo soll ein Wasserfall denn sonst sein?«, entgegnete sie lachend und ging zu einem kleinen Büroschrank. Sie selbst trug eine olivgrüne Hose, eine langärmelige Hemdbluse über einem weißen T-Shirt und richtige Wanderschuhe. Sie sah aus wie ein Urlauber in Tirol.
»Hier, probier mal die.« Sie gab ihm ein Paar feste Männerschuhe. »Die könnten passen. Sie gehören Flavio, aber sie sind ganz neu. Er hat sie noch nie getragen. Durch den Regenwald zu laufen gehört nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen.«
Michael zog die Schuhe an. Sie passten tatsächlich.
»Und ich dachte, wir fahren in einem schnittigen Cabriolet romantisch am Meer entlang«, scherzte er.
Sie lachte erneut. Ihr Lachen war unglaublich schön und natürlich. »Da, wo wir hin wollen, kommen wir mit einem schnittigen Cabriolet nicht weit. Aber mit einem offenen Auto kann ich trotzdem dienen, zumindest für die ersten Kilometer.« Sie schnappte sich einen graugrünen Rucksack und schob Michael sanft zur Tür hinaus.
Hinter dem Haus stand ein klappriger roter Jeep. Das Dach fehlte, und somit war er notgedrungen zu einem Cabriolet geworden. Immerhin aber verfügte er noch über alle vier Räder und auch über ein Lenkrad, und nach mehreren Versuchen startete sogar der Motor.
»An sehr warmen Tagen will er manchmal nicht«, erklärte Lisa.
Blieb zu hoffen, dass es heute nicht allzu heiß wurde.
Sie fuhren über die Insel und ließen sich den warmen Wind ins Gesicht wehen. In den kleinen Ortschaften hupte Lisa immer wieder den Leuten am Straßenrand zu, die freudig zurückwinkten. Das schien hier so üblich zu sein, denn nach drei Monaten konnte sie unmöglich alle Inselbewohner kennen.
In einem Dorf namens Limón hielten sie vor einem Bauernhof an. Als sie ausstiegen, kamen zwei Esel angetrottet, und einer davon machte vor Michael halt.
»Den Wagen müssen wir jetzt stehen lassen. Von nun an kommen wir nur noch zu Fuß oder zu Pferd voran«, sagte Lisa, während sie sich den Rucksack über die Schulter warf.
»Aber ich kann nicht reiten«, erklärte Michael entsetzt.
Sie war überrascht. »Du kannst nicht reiten?«
»Nein.«
»Dann nimmst du eben den Esel«, sagte sie augenzwinkernd. »Auf einem Esel ist es völlig ungefährlich.«
Ungläubig sah er sie an. Das konnte nicht ihr Ernst sein. Auf einem Esel über die Karibikinsel? Das hatte er sich romantischer vorgestellt.
In diesem Moment kam ein älterer Mann mit zwei gesattelten Pferden auf sie zu, und Michael ahnte Böses.
»Keine Angst«, beruhigte ihn Lisa. »José gibt dir einen zahmen Gaul. Der ist Leute gewohnt, die nicht reiten können, und weiß von allein, was er tun muss.«
Er rang sich ein Lächeln ab und bestieg mithilfe des Mannes das Pferd. Als Kind hatte er einmal ein paar Reitstunden gehabt, aber dabei war es auch geblieben.
Lisa verstaute zwei Flaschen Wasser in den Satteltaschen ihrer braunen Stute, und Josés Frau brachte ihr einen Korb voller Früchte, die sie in den Rucksack packte.
Dann ging es los. Der Gaul gewöhnte sich schneller an Michael als er sich an ihn. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten jedoch verstanden sie sich prächtig, und Michael ritt gemächlich neben Lisa her, mitten hinein in die Berge und den Regenwald. Den Wirrwarr von Hängepflanzen, den zeitweise dichten Nebel und die vielen fremden Geräusche fand er unheimlich. Doch Lisa schien jeden Meter zu kennen, und das beruhigte ihn.
Der Ritt dauerte fast zwei Stunden und war am Schluss recht anstrengend, weil es nur noch bergauf ging. Als der dichte Wald aber den Blick auf den Wasserfall freigab, war Michael für alle Strapazen entschädigt, so faszinierend, wild und gigantisch präsentierte sich das Naturschauspiel.
Aus dem Felsen gegenüber, der trotz der tiefen Schlucht zum Greifen nah erschien, traten gewaltige Wassermassen aus und stürzten über eine grüne, von Farnen bewachsene Bergwand in die Tiefe. Dort sammelte sich das Wasser in einem natürlichen Becken und war so kristallklar, dass man bis auf den Grund schauen konnte.
Lisa band die Pferde an einen Baum, während Michael sich leicht nach vorn beugte und in die Tiefe sah. Er erschrak. Es ging so furchtbar steil bergab, dass ihm schwindelig wurde. Wollte sie mit ihm dort hinunterklettern?
»Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht«, sagte sie. Das beruhigte ihn keineswegs, doch das wollte er nicht zugeben, sonst meinte sie am Ende noch, er sei ein Feigling.
Der Weg nach unten war kein Spaziergang, und trotzdem behielt Lisa recht. Es machte Michael richtig Spaß und war sehr abenteuerlich. Er stieg über wuchernde Baumwurzeln und hielt sich, wie Tarzan, an den Hängelianen fest. Es war lange nicht so anstrengend, wie er es sich vorgestellt hatte.
»Sei vorsichtig! Manchmal kommen die Schlangen aus dem Dickicht«, rief Lisa.
»Kein Problem«, entgegnete Michael, bemüht, nach außen hin gelassen zu wirken. Insgeheim aber schickte er ein kurzes Stoßgebet gen Himmel. Einer Schlange wollte er nicht begegnen, bei aller Liebe zur Natur.
Unten angekommen, sah der Salto del Limón noch viel gewaltiger aus. Tosend fiel das Wasser herab.
Sie setzten sich auf ein großes Tuch, das Lisa mitgebracht hatte, und bestaunten minutenlang schweigend den Wasserfall. Plötzlich sprang Lisa auf, zog Hemd, Schuhe und Hose aus und sprang in Slip und T-Shirt in das kristallklare Nass. Verdutzt sah Michael ihr nach.
Sie schwamm ein paar Meter, drehte sich dann zu ihm um und winkte ihm zu. »Komm rein. Es ist herrlich.«
Das wollte er gerne tun, doch er hatte keine Sachen zum Wechseln dabei. Da aber außer ihnen kein Mensch da war, entledigte er sich ebenfalls der Klamotten und sprang in der Unterhose kopfüber ins Wasser. Es war angenehm frisch, fast kühl, und glasklar.
Sie schwammen an den Wasserfall heran, wobei er Mühe hatte, Lisa zu folgen. Sie war eine gute Schwimmerin, vollführte ruhige und kraftvolle Bewegungen. Ihr Körper war muskulös und wirkte doch auch zart.
Als sie wieder aus dem Wasser stiegen, konnte Michael kaum seinen Blick von ihr wenden. Ihr weißes, durchnässtes T-Shirt klebte an ihrer Haut, und darunter zeichneten sich ihre kleinen Brüste ab.
Sie setzte sich auf einen großen Stein, um sich von der Sonne trocknen zu lassen. Nervös ließ er sich neben ihr nieder.
»Was hältst du von einem Picknick?«, fragte sie nach einer Weile und holte die Früchte aus dem Rucksack. »Mangos, Ananas, Papayas. Es ist alles da. Sogar ein Messer hat Lucia uns eingepackt.«
Sie setzte sich wieder neben ihn, und dieses Mal so nah, dass er fast schon ihre Haut spürte. Das Wasser perlte auf ihren Armen und glitzerte in der Mittagssonne. Am liebsten hätte er ihr jede einzelne Wasserperle von ihren wunderschönen vollen Lippen, von ihren süßen kleinen Brüsten, ihrem Bauch und ihrem Bauchnabel geküsst. Bei diesem Gedanken wurde ihm innerlich ganz heiß. Und als ihre schwarzen Augen ihn wieder einmal so herausfordernd anfunkelten, war er kurz davor, sie wild an sich zu reißen. Doch er hielt an sich und nahm stattdessen ein Stück Ananas, das sie ihm mit einem Lächeln reichte.
»Die ist schön süß. So etwas Leckeres bekommt man nur hier«, sagte sie und schnitt gleich noch ein weiteres Stück für ihn ab.
»Warst du in Deutschland auch Tauchlehrerin?«, wollte Michael wissen.
»Ich war Yogalehrerin und habe Privatunterricht gegeben«, antwortete sie, während sie begann, die Mango zu schälen.
Er schaute sie fragend an.
Sie lachte. »Klingt komisch, nicht wahr? War es auch. Ich wurde von reichen Frauen engagiert, die mir lieber von den Erektionsproblemen ihrer Männer erzählten, statt Yoga zu machen. Das war vielleicht ein toller Job! Darauf hatte ich bald keine Lust mehr. Ich suchte nach etwas anderem und stieß im Internet auf die Stellenanzeige einer Tauchschule in der Dominikanischen Republik.«
»Und da bist du einfach so losgezogen?«
»Nicht einfach so. Ich bin als Tauchlehrerin ausgebildet und spreche gut Spanisch, weil ich im Sommer in Spanien oft Tauchstunden gegeben habe. Es war kein Risiko dabei. Warum also nicht, dachte ich mir.«
»Willst du wirklich für immer hierbleiben?«, fragte er.
Ihre Antwort kam spontan. »Ja, für immer. Ich gehe nicht mehr zurück nach Deutschland. Würdest du nicht auch bleiben, wenn du könntest?« Wieder sah sie ihn mit diesem ganz bestimmten Blick an.
Hinter ihnen kreischte ein Vogel, ein bunter Papagei, der sich, auf einem Baumstamm sitzend, sein Gefieder putzte.
Was hatte sie gerade gefragt? Ob er hierbleiben wollte? Diese Frage stellte sich nicht. Er war seiner Familie und der Firma verpflichtet.
»Probier die Papaya«, sagte sie und schob ihm ein Stück in den Mund. Dabei berührten ihre Finger sanft seine Lippen. Ein heftiger Stromschlag durchfuhr ihn. Dann zog sie ihre Hand schnell zurück, und der Zauber des Augenblicks war vorbei.
Zum Abendessen hatten sie sich wieder bei Margerita verabredet. Michael saß schon an dem Tisch vorn am Wasser, als Lisa in einem kurzen, roten Kleid auf ihn zukam, das ihre schlanken Beine und ihre schmalen, wippenden Hüften betonte. Sie sah hinreißend aus.
»Wartest du schon lange?« Sie setzte sich ihm gegenüber und strich durch ihr welliges, dunkles Haar, während Margerita zwei orangerote Drinks brachte. In seinem steckte ein Schirmchen, in Lisas nicht. Das Getränk schmeckte süß und gleichzeitig etwas bitter.
»Wann genau kommst du nach Deutschland?«, wollte er wissen.
»Nächsten Freitag. Aber nur für eine Woche.«
»Werden wir uns dann sehen?« Vorsichtig berührte er ihre Hand und sah ihr in die Augen. Das Mondlicht spiegelte sich darin.
»Es ist besser, wenn wir uns nicht sehen«, sagte sie leise und mit einem Augenaufschlag, der ihn verwirrte.
Er hätte sie jetzt am liebsten geküsst, fand aber wieder nicht den Mut dazu.
So verging der Abend wie im Flug, und es gelang ihm lediglich, den Arm um ihre Schultern zu legen, während er sie nach Hause brachte.
Ihr gemietetes Zimmer befand sich nur wenige Schritte von Margeritas Lokal entfernt, im ersten Stock eines Holzhauses, das keinen sehr komfortablen Eindruck machte.
»Das täuscht, es ist wirklich sehr luxuriös«, sagte Lisa und erzählte mit einem Augenzwinkern, dass es sogar ein richtiges Badezimmer gab. Allerdings mit einer kleinen Einschränkung, denn sie musste es sich mit ihrem Nachbarn teilen.
Der Nachbar bewohnte die andere Seite des oberen Stockwerks, und Michael lernte ihn auch sofort kennen. Er kam gerade aus seiner Wohnung.
»Guten Abend, Yoshitoki«, rief Lisa ihm zu und knipste die spärliche Beleuchtung an. Eine Glühbirne, die an einem Draht baumelte. Der kleine Asiate lief flink die Treppe herunter, machte vor Lisa eine kurze Verbeugung und ebenso vor Michael. Danach trippelte er mit einer Schüssel unterm Arm eilig davon.
»Er holt sich bei Margerita seinen Fisch«, erklärte Lisa.
»Um diese Zeit isst er erst zu Abend?«, fragte Michael erstaunt.
Sie lachte. »Er holt sich sein Frühstück. Er ist Japaner.«
Michael runzelte die Stirn. Mit diesem Herrn Yoshitoki, der zum Frühstück Fisch aß, teilte sich Lisa das Badezimmer? Dieser Gedanke gefiel ihm ganz und gar nicht.
»Mach’s gut«, sagte sie plötzlich und ging ein paar Schritte rückwärts in Richtung Treppe. Der Augenblick des Abschieds war gekommen.
»Gib mir wenigstens deine Telefonnummer«, rief Michael verzweifelt. »Hast du ein Handy? Kann ich dich irgendwie erreichen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Aber ich will dich anrufen. Und wenn du nach Deutschland kommst, will ich dich wiedersehen …«
Sie schüttelte erneut den Kopf und stieg wortlos die Stufen hinauf. Nur ein einziges Mal drehte sie sich noch um. In dem matten Lichtschein sah er ihr Gesicht. Ein Träger ihres Kleides war verrutscht. Sie schob ihn langsam wieder nach oben, hauchte ihm über ihre Hand hinweg einen Kuss zu und verschwand in ihrem Zimmer.
4
Michael konnte Lisa einfach nicht vergessen. Unentwegt schwirrte sie ihm im Kopf herum, lief in ihrem kurzen, roten Kleid barfuß durch den Sand, stieg im nassen T-Shirt aus dem Wasser und hauchte ihm, auf der Treppe stehend, einen Kuss zu.
Dieser Kuss beschäftigte ihn rund um die Uhr und brachte ihn fast um den Verstand.
Sie hatte sich auch in ihn verliebt, dessen war er sich ganz sicher. Aber warum wollte sie ihn nicht wiedersehen? Aus Vernunftgründen? Weil sie in die Karibik auswandern wollte?
Originalausgabe 10/2010
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