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Die langjährige Moskau-Korrespondentin Katja Gloger beschreibt die wahren Ursachen der gefährlichen Konfrontation zwischen Ost und West Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt. Mit der Ukrainekrise hat 25 Jahre nach dem Fall der Mauer ein neuer Ost-West-Konflikt begonnen. Katja Gloger begibt sich auf eine Expedition in das neue Russland, ein stolzes, gekränktes und zorniges Land. Sie hat den Aufstieg Wladimir Putins erlebt, als erste Journalistin aus dem Westen konnte sie ihn über Monate begleiten. Das »System Putin« Die renommierte Journalistin erklärt das »System Putin«, das komplizierte Machtgeflecht im Kreml, die Interessen der Oligarchen. Sie analysiert die imperiale Ideologie des »russischen Weges« und die strategischen Fehler des Westens. Sie beschreibt die verführerische Macht der Propaganda, das gefährliche Leben der Kremlkritiker und den mühsamen Alltag der Menschen, ihre Sicht auf Europa und den Westen. »Wer die Hintergründe des Konfliktes zwischen Russland und Europa verstehen will, muss dieses Buch lesen.« Wolfgang Ischinger, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz »So ein Buch kann man nur schreiben, wenn man Russland und die handelnden Akteure über Jahrzehnte beobachtet und analytisch einordnen kann. Ich habe bei der Lektüre viel gelernt.« Ruprecht Polenz, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde
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Für Georg. Für Hannah und Mara.
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Berlin Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2015
ISBN 978-3-8270-7854-4
© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015
Alle Rechte vorbehalten
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Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
»Die Guten gehn im gleichen Schritt. Ohne von ihnen zu wissen, tanzen die andern um sie die Tänze der Zeit.«
Franz Kafka, Oktavheft G (II,2)
Vorwort
Auch er versuchte wohl, Russland zu verstehen, Winston Churchill: »Es ist ein Rätsel innerhalb eines Geheimnisses, umgeben von einem Mysterium«, sagte er vor über 70Jahren. Merkwürdig aktuell seine Worte.
Russland – ein Rätsel, ein Geheimnis, ein Mysterium? Im Jahr 2015 jedenfalls scheint Russland ein Land, vereinsamt in der Welt, weder Ost noch West, einmal wieder außerhalb der Zeit stehend. Nach der Landnahme der Krim und der Anzettelung eines unerklärt-erklärten Krieges im Südosten der Ukraine ist die europäische Friedensordnung erschüttert. Europa, selbst zunehmend geschwächt und verunsichert, muss sich einer gefährlichen Herausforderung stellen: Denn dieses neue Russland – es ist Putins Russland – versteht sich als revisionistische Ordnungsmacht auf einem eigenen, eurasischen Kontinent, als moralischer und politischer Gegenpol mit eigener, zivilisatorischer Mission in Abkehr vom Westen. Unter russischer Revision die Charta von Paris, jene gemeinsame Verpflichtung, 1990 von Michail Gorbatschow unterzeichnet, mit der eine Ära des Friedens beginnen sollte: »Nun ist die Zeit gekommen, in der sich die jahrzehntelang gehegten Hoffnungen und Erwartungen unserer Völker erfüllen: unerschütterliches Bekenntnis zu einer auf Menschenrechten und Grundfreiheiten beruhenden Demokratie, Wohlstand durch wirtschaftliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit und gleiche Sicherheit für alle unsere Länder.«
Jetzt ist nichts mehr, wie es war.
Seit gut 25Jahren versuche ich, mich Russland und seinen Menschen zu nähern; wie dankbar ich für ihre Freundschaft bin. Viele Jahre war ich in Russland zuhause. Ich erlebte den Zusammenbruch der Sowjetunion, teilte Ängste, die Hoffnungen eines Aufbruchs. Ich durfte dieses weite Land bereisen, den Spuren seiner Geschichte folgen. Die Steinwüsten der ostsibirischen Kolyma, Ruinen der Todeslager des Archipel GULAG. Die Keller des KGB in der Moskauer Ljubjanka, letzte Zeugnisse der Opfer des Terrors, in Zehntausenden Pappordnern abgelegt. Die Veteraninnen des Großen Krieges, in winzigen Flugzeugen aus Sperrholz und Stoff flogen sie Angriffe gegen die Deutschen; den Heldengeschichten der Männer glaubten sie nie. Die archaische Schönheit entlang der Ufer der mächtigen Flüsse; Flieder, im Mondlicht leuchtend. Die Eisstürme des hohen Nordens; heißer, süßer Tee. Die ökologischen Katastrophenzonen der Industriegebiete mit ihren müde geschufteten Menschen, ihre Würde bewahrend. Präsident Michail Gorbatschow, wie dem Mann des Friedens die Macht entglitt. Die Tage des Putsches im August 1991, zum ersten Mal leisteten die Menschen demokratischen Widerstand. Im Kreml mit Präsident Boris Jelzin, ein trunkener Zar. Zuhause bei Präsident Wladimir Putin – Gespräche über Reformen und Demokratie mit diesem verkanteten, misstrauischen Mann, der nun die letzte Runde des Kalten Krieges neu ausfechten will. Glanz und Glamour seiner Politik der wirtschaftlichen Stabilisierung. Milliardäre, Oligarchen. Die Demonstrationen des »anderen Russland« 2011, weiße Schleifen an Winterjacken. Bürgerrechtler und Journalisten, der gefährlichen Suche nach Wahrheit verpflichtet. Und heute: Ein Land, das zur Festung wird, sich von inneren Feinden bedroht, von äußeren Feinden umzingelt wähnt. Ein Klima der Angst und unterdrückter Wut.
25Jahre. Es gab eine kurze Zeit des Aufbruchs, in der man glaubte, die Freiheit würde morgen anbrechen, allein auf Hoffnungen und Träumen gebaut. Doch zu groß die Wucht gesellschaftlicher Verwüstungen, zu kurz für viele die Zeit, um sich von der Last dieses schrecklichen russischen Mythos zu befreien: Dass nur Elend und Unglück, unsagbar große Opfer und übermenschliches Heldentum Russland groß und mächtig machen können.
Im Umgang mit Putins Russland gilt es mehr denn je, den Blick zu schärfen, sich von Wunschdenken und Illusionen zu verabschieden. Es gilt, die komplexen Entwicklungen zu beschreiben, die zur Zäsur des Jahres 2014 führten; die strategischen Interessen der Akteure in Ost und West, Missverständnisse, Widersprüche, realpolitische Sollbruchstellen. Dies betrifft etwa angeblich gebrochene Versprechen im Prozess der Wiedervereinigung Deutschlands sowie der Nato-Osterweiterung. Es betrifft auch die Geschichte eines wieder zu entdeckenden Landes mit brüchiger Identität, das nun zum Testfall für Europa wird: die Ukraine. Vor allem aber gilt es, ohne Dämonisierungen jenen entscheidenden Wandel in Russland selbst nachzuvollziehen, der spätestens 2012 mit der Wiederwahl Präsident Putins begann und sich als »Putinismus« manifestiert: ein zunehmend repressives autoritäres Herrschaftssystem, allein den Interessen eines kleinen Machtzirkels dienend. Die wesentliche Ursache für den Konflikt zwischen Russland und dem Westen ist im Legitimationsdefizit des Systems Putin zu suchen. Patriotische Euphorien über die »Heimkehr« der Krim und Russlands »Wiederauferstehung« können seine strukturellen Schwächen nur vorübergehend überdecken.
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit soll dieses Buch ein Beitrag zur kritischen Analyse und zur gebotenen rhetorischen Abrüstung sein. Es ist allerdings getragen von meiner Sympathie zu all den Menschen in Russland und in der Ukraine, die nationalistischem Furor und der scheinbar unabänderlichen Rechtlosigkeit ihrer Völker auf bewundernswerte Weise trotzen, voller Mut. Mit gutem Herzen tun sie das, was nötig ist. Sie mühen sich in den täglichen Katastrophen ihres Alltags. Sie sorgen sich um andere. Sie verkaufen ihre Seelen nicht. Erben eines blutigen Jahrhunderts der Revolutionen, der Kriege und des Terrors, möchten sie endlich in Frieden mit sich und ihren Nachbarn leben. Es ist Zuversicht, keine Gewissheit: dass sie da sein werden, wenn Wladimir Putin Geschichte geworden ist.
DAS SYSTEM
Putin verstehen
Solange es Putin gibt, gibt es auch Russland. Ohne Putin – kein Russland.
Wjatscheslaw Wolodin, Erster Stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung, 20141
Abb. 1: Er spricht. Internationales Wirtschaftsforum Sankt Petersburg, Juni 2015
Vielleicht war es das Protokoll, das zeremonielle Gehabe, dieses Gefühl, immer unter Beobachtung zu stehen. Vielleicht war es die pompöse Leere dieser Residenz, seine Welt, viel zu gewaltig, um ein Zuhause zu sein. Vielleicht waren es aber auch nur die gelernten Verhaltensmuster eines Geheimdienstoffiziers. Stets blieb er leise, auf merkwürdige Weise gebremst, so verkantet freundlich. Seine Zurückhaltung schien etwas Lauerndes zu haben. Er wirkte misstrauisch, dabei war er durchaus selbstbewusst. »Er musste lange an sich arbeiten, um unbefangen zu wirken«, hatte seine damalige Frau einmal gesagt.
Wir waren zu Besuch bei Wladimir Putin, dem Präsidenten Russlands, der renommierte Kanzler-Fotograf Konrad R. Müller und ich, langjährige Moskau-Korrespondentin des Stern. Eine Reportage über sein Leben und seine Arbeit sollte es werden, für die wir den Präsidenten über Monate begleiteten. Nach langem Hin und Her hatte er sich Anfang 2002 schließlich überzeugen lassen. Wahrscheinlich hatte sein Einverständnis auch einen politischen Hintergrund: Im Herbst 2001 war Wladimir Putin im Deutschen Bundestag zu Gast. Er war der erste russische Präsident, der vor den deutschen Abgeordneten sprechen durfte. Es ging um Zusammenarbeit und Sicherheit, eine gemeinsame Zukunft in Europa. Als Zeichen seines Respekts vor dem Land Goethes und Schillers hielt er seine Rede auf Deutsch. Er sprach von der Freiheit der russischen Bürger. »Von unserer Seite aus existiert die Berliner Mauer nicht mehr«, sagte er. »Russland ist ein freundliches europäisches Land. Der Kalte Krieg ist vorbei.« Im allgemeinen Wohlwollen gingen seine Mahnungen unter. Schärfer wurde sein Ton, als er über die USA und die Nato sprach: »In Wirklichkeit haben wir aber immer noch nicht gelernt, einander zu vertrauen.«2
Vielleicht war seine Zusage an die deutschen Journalisten das: ein Vertrauensversuch.
Im Laufe der Monate trafen wir uns immer wieder, mal in seinem Amtszimmer im Kreml, mal bei ihm zu Hause in seiner Residenz Nowo-Ogarjowo an der Rubljow-Chaussee vor den Toren Moskaus. Zwei mächtige, beigefarbene Ziegelbauten mit hochgeschwungenem Dach, Anklänge an Türme und Zinnen, an der Terrasse wachten große, steinerne Löwen. Darum der makellos gepflegte Park entlang des Moskwa-Flusses, darin asphaltierte Spazierwege. Ein angemessener Ort für den Präsidenten einer Großmacht, vergleichsweise bescheiden gar im Vergleich zu den anderen Anwesen der Gegend hier, den Villen der Oligarchen. Es hieß, wir könnten seine Frau Ljudmilla kennenlernen, aber nie bekamen wir sie zu Gesicht. Dafür durften wir seiner Tochter Marija beim Klavierspiel zuhören. Wir hatten dem Präsidenten beim frühmorgendlichen einsamen Schwimmen zugesehen, beim einsamen Ritt auf dem eigens angelegten Reitweg, auch beim Judo-Training. Sein Gegner war Gewinner der russischen Meisterschaft, eigens aus Sankt Petersburg herbeigebeten. Schweigend gingen sie einander an, zwei Männer in einem leeren Saal, zu hören allein ihr angestrengtes Atmen.3
Er schien besessen von Sport, von einem Bild versammelter Kraft und Stärke, einer, nun ja, breitbeinigen Männlichkeit. So wollte er das Gesicht eines neuen Russlands werden – ganz anders als sein alkoholkranker Vorgänger Boris Jelzin. Einmal hatte er US-Präsident Bill Clinton zu Besuch in Moskau. Clinton war am Ende seiner zweiten Amtszeit auf Abschiedstour. Putin führte seinen Gast durch den Kreml, zeigte ihm das moderne Fitnessstudio, das er einrichten ließ. »Hier verbringe ich viel Zeit«, sagte er. Dann führte er ihn in einen anderen Raum, ein Krankenbett darin, ein Beatmungsgerät. »Und hier verbrachte der letzte Präsident viel Zeit.«4
Wie alle hatten auch wir in den Vorzimmern auf ihn gewartet. Wir lümmelten in Sesseln mit viel zu weichen Polstern, wir warteten, wie alle, manchmal stundenlang. Immer kam er zu spät. Warum? Niemand wusste es genau. Weil er es sich leisten konnte, alle warten zu lassen. Weil sich die russische Welt – und nicht nur die – um ihn drehte, nur um ihn. Längst arbeiteten die »Putinisierer« an seinem Image. Es ging dabei von Anfang an um die großen, historischen Linien: Wladmir Putin wollte – und sollte – zum Gründer einer neuen russischen Staatlichkeit werden. Der »Putinomanija« schien das ganze Land zu verfallen: Nach zaristischer Tradition wurde zwei neuen Glocken in einem berühmten Kloster sein Name eingraviert. Zu seinem 50. Geburtstag am 7.Oktober 2002 schenkte man ihm die Kopie einer Zarenkrone, benannte ein Kavallerieregiment nach ihm. Selbst dem Moskauer Maler Dmitrij Wrubel, ein in der Sowjetunion verfolgter Untergrundkünstler, erschien Putin als »Pop-Ikone«, »unser erster echter Superstar«, wie er sagte: »Wir haben doch jahrzehntelang wider besseres Wissen auf einen guten Helden gewartet. Und jetzt ist er da!«5
Das war Wladimir Putin bereits im dritten Jahr seiner ersten Amtszeit: Feldherr eines sich erhebenden Landes, eines neuen Russland. Ein Mann, dem alles glücken sollte, auf fast surreale Weise.
Einmal nahm er uns zu einem Angelausflug mit nach Astrachan, in die staubige Stadt im Süden des russischen Reiches. Hinter Astrachan wälzt sich die Wolga in einem verwunschenen Delta ins Kaspische Meer. Zum Angelausflug starteten zwei Hubschrauber. Sechs Leibwächter begleiteten den Präsidenten, zwei Kommunikationsspezialisten und zwei Offiziere der nuklearen Streitkräfte, verantwortlich für den Atomkoffer. Zwei Ärzte sowie sein persönlicher Adjutant waren dabei, daneben der Pressechef mit drei Mitarbeitern, auch ein Team des russischen Staatsfernsehens. Natürlich war dieser spontane Besuch auf einer abgelegenen »Erholungsbasis« des mächtigen Gaskonzerns Gazprom über Wochen vorbereitet worden. Man hatte einen zweiten Hubschrauberlandeplatz in der Sumpflandschaft angelegt, Sicherheitsoffiziere abkommandiert, Boote herbeigeschafft, auch Freizeitkleidung mit militärischem Tarnmotiv bereitgestellt.
Die Möwen schrien, Schwalben zwitscherten, zartblau gepinselt war der Himmel, ein perfekter Tag. Wladimir Putin schlenderte in freizeitlicher Tarnkleidung umher, 15Männer verfolgten jeden Schritt. Er besuchte den Pferdestall, streichelte Nüstern und fütterte Zucker, später ritt er ein paar Runden im engen Gatter, 15Männer warteten. Er sprang aus dem Stand über den menschenhohen Metallzaun, 15Männer schauten schweigend zu.
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