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Dieses eBook: "Pythagoras - Der Lebensroman (Komplettausgabe)" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Egmont Colerus von Geldern (1888 - 1939) war ein österreichischer Schriftsteller. Seine größten Erfolge hatte Colerus mit der romanhaften Gestaltung von Kulturgemälden vergangener Zeiten, die er oft um die Biographie bedeutender Persönlichkeiten aufbaute. Der Roman "Pythagoras" (1924) entführt die Leser ins antike Griechenland und erzählt anhand der Person des Pythagoras von der Geburt des Abendlandes. Pythagoras von Samos (um 570 v. Chr. - nach 510 v. Chr.) war ein antiker griechischer Philosoph (Vorsokratiker) und Gründer einer einflussreichen religiös-philosophischen Bewegung. Als Vierzigjähriger verließ er seine griechische Heimat und wanderte nach Süditalien aus. Dort gründete er eine Schule und betätigte sich auch politisch. Trotz intensiver Bemühungen der Forschung gehört er noch heute zu den rätselhaftesten Persönlichkeiten der Antike. Manche Historiker zählen ihn zu den Pionieren der beginnenden griechischen Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaft, andere meinen, er sei vorwiegend oder ausschließlich ein Verkünder religiöser Lehren gewesen.
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Seitenzahl: 558
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Das Vorgebirge Karmel ragte hoch und schwarz am Rande des Traumes. Langsam, in breiten Fronten, rollten von Untergang die Wogen heran und zerstäubten an seinem Fuße. Zwei Schiffe zerrten knarrend an ihren Tauen. Das eine bereit, nach Mitternacht zu rudern, das andre, das kyprische, den Mittag suchend.
Pythagoras streckte seine Hände nach den Schiffen aus und wollte sie halten, um der furchtbaren Wahl zu entkommen. Da riß ihn der Traum aufwärts. Er stand auf den Höhen von Karmel; auf dem äußersten Vorsprung des Gebirges. Und er wähnte zu schweben. Denn rechts und links von ihm und vor ihm lag in unausdenklicher Weite das Meer. Es schimmerte fahl und gelb wie eine unbegrenzte öligglatte Haut und an seinem Saume stak ein glanzloser blutroter Ball in streifigen Nebeln.
Sonderbares Murmeln und Schaukeln, Stöhnen und Pfeifen war um ihn.
Die Gegend zerfloß, Karmel versank, die Worte: »Wohin, Pythagoras?« standen einsam in der leeren Hohlkugel seines Traumes.
»Wohin, Pythagoras?« schrillte ein Sturmstoß und schleuderte ihn nach oben.
»Hier liegt der Erdkreis! Wähle!« Und eine Erztafel, sosehr schimmernd, daß all der Raum erglänzte, breitete sich unermeßlich zu seinen Füßen. Aus der Erztafel aber wuchsen die eingeritzten Zeichen körperhaft empor und wurden zu Städten und Flüssen, Hainen und Gebirgen. Und er war über ihnen und in den Erscheinungen. Und sie sprangen weiter aus der Tafel und zogen dahin, richteten sich auf und verwehten.
Zedernwälder, rauschend und dunkel, die Pfade über den Libanon beschattend. Der meergeborene Felsen von Tyros mit den schwindelhohen Mauern und den Häusern, die Türmen glichen. Das verwüstete Land der Hebräer und seine zerstörten, geschleiften Städte, in deren Trümmern klagende Hirten umherirrten. Plötzlich wieder das Meer. Aber anders als vorhin vom Berge Karmel. Ein fröhliches Meer in Mittagsglut, über das kühle Winde strichen und die zitternde Glut verjagten; das rosenfarben und hellblau mit weißem Gischte tanzte und an sanftsteigende Küsten schlug, die, graugrün von Olivenhainen, sich gegen den schwarzblauen Himmel rauchig abgrenzten; wo breite Duftwogen greller Rosengärten über die summenden Fluren strichen: Jonien! Samos! Milet!
Dann wieder Tempel, im Lichterglanz erstrahlend und in Schwaden Räucherwerks gehüllt. Dampfend von Opfern, erschüttert vom Murmeln der Gebete und Beschwörungen. Und in düsteren Nächten die Enthüllung phönikischer Mysterien: Die Enkel des uralten Mochos, der lebte, ehe Troja fiel, standen um ihn und deuteten ihm die Priesterbücher Sidons.
»Ich danke euch, ihr Priester! Aber es ist nicht der Gott, den ich suche!« »Was sprichst du, Sohn des Mnesarchos? Sollen wir dich dem Moloch vorwerfen?«
»Haltet ein, ihr Priester, ihr versteht mich nicht!« »Wir verstehen dich nicht, Pythagoras! Ziehe nach Karmel und blick ins Meer!«
Der Traum verwirrte sich. In sausender Folge rasten die Mysterien von Sidon, Byblos und Karmel an ihm vorüber. Glatt und blendend, so hell, daß das Auge sie nicht fassen konnte, lag wieder die Erztafel vor ihm, und eine Stimme, außerhalb des Traumes geboren, zu schwach jedoch, ihn zu erwecken, drang in das Wirrsal der Gesichte:
»Der Jüngling schläft. Er gleicht einem der Olympier! Sieh nur die Muskeln! Die werden schwere Arbeit leisten können!«
Ein Kreischen und Schwirren übertönte die weiteren Worte.
Da schwang sich der Traum des Pythagoras in andere Zonen. Sein Traum ward Rede, die unaufhaltsam in seinem Innern tönte:
»Von Jonien über die Inseln hinweg bis Olympia und Dodona; über Delphi und Thrakien und Athen und Korinth; über Ithaka und Kerkyra und Kroton und Syrakus; bis nach Massalia und bis zu den Säulen des Herakles liegt ein Land und erwartet Gott! Es hat Götter dieses Land, lachende, liebende, frevelnde Götter! Aber alle die sehnenden Menschen kennen nicht das letzte Wesen dieser Götter, die nach den Worten der Dichter als Menschen durch die Haine wandeln und mit den Sterblichen leiden und kämpfen. Das sind nicht die Götter, die ich suche.
Am Fuße des Vorgebirges Karmel lagen zwei Schiffe. Eines, ein Schiff Sidons, wollte mich nach Mitternacht tragen, zurück zu den Phönikern und von dort nach Samos: zu den alten Göttern! Das andere, das Schiff wagender Kyprioten, klein und gebrechlich, richtete seinen Bug nach Mittag und setzte Segel. Es versprach, zum Nil zu eilen, nach Naukratis, nach Memphis, zum hunderttorigen Theben! Dorthin, wo vielleicht Kunde schlummert vom Wesen des Göttlichen, von den neuen Göttern!
Weit ist der Weg, unermeßlich weit der Erdkreis, und am Rande des Okeanos lauern die Gefahren!
Habe ich gewählt? Wo ist Karmel?«
Und plötzlich sah er all das Land zugleich, das Gott erwartet. Und er sah es wechseln in den Folgen der Geschlechter. Und sah mit einem Sinne, der nicht mehr Sterblichen eignet, das Vorwärtsrollen des Geschehens. Er erblickte das Land, das Gott gefunden hat:
Völker und Länder, Städte und Werkzeuge schichteten sich aufeinander. Erkenntnisse wuchsen und stürmten kyklopengleich den Olymp, so fremd, so neu, so unaussprechlich, daß er schreiend aufsprang und, noch torkelnd, die Hände vors Antlitz schlug.
Da schwollen die Laute, die bisher schon, außerhalb seines Traumes, um ihn gewesen waren, zu greller Deutlichkeit an: Schiffstaue ächzten im Sausen des Windes, das Segel klatschte an den Mast, die Wogen krachten an die Planken und rieselten zerstäubend in tausend rauschenden Stimmlagen, und Menschenworte schwirrten durcheinander.
»Faßt ihn! Jetzt ist's gelegene Zeit, er ist schwach und schlaftrunken!«
»Wir werden einen hohen Preis für ihn erzielen. Vielleicht kauft ein Suffet Karthagos den Sklaven!«
»Still! Er zieht die Hände von den Augen, es wird einen harten Kampf kosten!«
»Ergib dich ohne Widerstand! Verstehst du?« brüllte eine rohe Stimme, ganz nahe am Antlitze des Pythagoras.
Da war er vollends erwacht und breitete die Arme. Und kaum einen Herzschlag währte es, bis er alles erblickt hatte.
Auf dem schwarzen Nachthimmel funkelten, nur wenig verdeckt von darüber jagenden grellweißen Wolkenfetzen, die Sternbilder in seltener Leuchtkraft; das Verdeck des Schiffes aber glühte im Glaste lodernder Pechpfannen, deren schwelende Flammen der böige pfeifende Wind waagrecht streckte. Das Segel blähte sich blaffend fast zum Bersten und die Taue starrten in ihrer Gespanntheit wie Stangen. Die Bootsleute aber, zehn oder zwölf, standen nahe vor ihm und funkelten vor lüsterner Gier nach der lebendigen Beute.
Pythagoras jedoch hatte das Bild des Traumes in der Seele und alle Wirklichkeit entglitt ihm ins Reich der Schatten. So rief er:
»Heil dem Schicksale! Der Bug des Schiffes steht gegen Mittag und ich erblicke die Männer aus Kypros. Entschieden sind die Zweifel, die ein dunkler Alp noch einmal in der Wehrlosigkeit des Schlafes in mir emportrieb. Heil dem Schicksale, ich habe gewählt! – Was seht ihr mich so lauernd an, ihr Männer aus Kypros?« Und er richtete seine athletische Jünglingsgestalt, die letzte Trunkenheit des Schlummers von sich schüttelnd, hoch auf.
Mißtönend lachte einer der Schiffsleute heraus und brüllte:
»Verstehst du uns nicht, Fremder? Hast du deine Ohren mit Wachs verpicht? Unser Sklave bist du! Unser Eigentum!« Und er wandte sich zu den andern. »Bringt Stricke! Feste, knorrige Taue!«
Keine Miene veränderte sich im Antlitze des Pythagoras.
»Euer Sklave?« Und plötzlich wurden ihm früher gehörte Sätze greifbares Verständnis. »Euer Sklave?« wiederholte er langsam. »Ihr irrt, Kyprioten! Ich habe meine Herren schon gefunden, ehe ich euer elendes Schiff betrat. Aller Hellenen Sklave bin ich, aller Städte und Stämme Sklave, die von Jonien bis zu den Säulen des Herakles wohnen!«
»Holt die Stricke!« brüllte der vierschrötige Schiffsknecht noch wüster und machte Miene, sich auf den Jüngling zu stürzen.
»Ihr wollt mich an die Suffeten Karthagos verhandeln?« erwiderte Pythagoras mit klingender Stimme, während zwei Matrosen zu den Tauen schlichen. »Was soll das?«
»Schweig!« keuchte der Vierschrötige und ballte die Faust.
»Was soll das?« setzte Pythagoras mit gehobener Stimme fort. »Ich will es dir sagen! Zehn, fünfzehn Griechen aus Kypros werden im besten Falle um einige Minen, vielleicht Talente, reicher werden, das Geld wird in ihren Händen zerfließen; und alle Hellenen werden ärmer sein und die Götter werden zürnen!«
Der Vierschrötige wieherte auf. »Rede weiter, toller Fremdling, und erzähle uns, wodurch die Hellenen ärmer werden, wenn wir dich verkaufen!« Und er sah sich breit grinsend um.
Pythagoras aber war wieder in den Raum seiner Gesichte zurückgesunken und sah nicht mehr, was um ihn furchtbare Wirklichkeit war. So sprach er:
»Männer aus Kypros, Hellenen auch ihr, dürstend auch ihr nach neuen, nach älteren, nach endgültigeren Göttern! Wißt ihr nicht, ahnet ihr nicht, daß das Geschlecht, das auf den Schneekulmen des Olymps thront, das in den Ebenen Ilions die Heroen schirmte, nicht die Gottheit ist, die Anfang und Ende bedeutet? Seht ihr nicht, daß tiefere, grausigere Gewalten am Werke sind, den Erdkreis aufwühlend, das Chaos bannend, die Elemente bindend und lösend? Mich rief im Traume das Schicksal. Ihr kennt es, kennt die unerbittlichste Gottheit, gegen die alle Götter Staub sind. Laut rief es mich und befahl mir, vom Berge Karmel meine Fahrt mittagwärts zu lenken und die Spuren ehrwürdigster Götter zu suchen und sie euch, den anderen, allen Hellenen und ihren Enkeln zu bringen.
Männer aus Kypros! Die Schiffsleute, die die Taue holten, sind zurückgekehrt! Tut, was ihr wollt! Bindet mich, werft mich in den innersten Bauch des Schiffes, verhandelt mich den Karthagern um einen Scheffel Münzen! Und stemmt euch gegen die furchtbare Ananke, gegen den Schicksalszwang selbst, und werft das Volk der Hellenen um Äonen zurück und laßt es weiter in Sehnsucht darben.
Ihr zwölf Männer von Kypros! Ihr zwölf!«
Pythagoras hatte die letzten Worte klagend und anklagend, ins Leere scheinbar, hinausgerufen. Seine Augen leuchteten, den Strahl nach innen gekehrt, in mystischem Lichte und seine Gestalt schien mit jedem Tone zu wachsen.
Die Schiffsleute aber waren erbleicht. Starr hielten die beiden ihre Stricke vor sich hin und wagten nicht aufzusehen.
Einmal noch bäumte sich die gierige Frechheit des Vierschrötigen auf.
»Du bist vom Weine trunken, Fremdling! Ein paar Peitschenhiebe werden dich zur Besinnung bringen! Was faselst du von Träumen und vom Schicksale?« höhnte er.
Doch auch er erschauerte bereits unter dem Blicke des Jünglings, der ihn jetzt traf.
»Halt ein, lästere nicht! Siehst du nicht, daß er gleichsam in göttlichem Wahne spricht?« hastete ein Schiffer entsetzt hervor und schlug abergläubisch Beschwörungszeichen.
»Wie Odysseus wird er die Stürme auf uns loslassen und den Sack des Äolus losbinden: Euros zugleich und Notos und widrig wehender Zephyr werden sich auf unser armes Schiff stürzen!«
»Und er wird über Bord springen und inmitten ölglatter Wogen auf einem Delphin reiten und mit dem Horne Tritons alle Dämonen des Meeres zu unserer Vernichtung herbeirufen!« klagte ein dritter.
»Gebt den Weg frei!« herrschte da Pythagoras die erschütterten Seeleute an.
Und sie gehorchten schweigend. Er aber schritt zwischen ihnen durch und ging über die rotbestrahlten Planken, die unter dem tosenden Anpralle stets wilderer Wogen schwankten, zum Steuermann.
»Herr, das Schiff treibt ab! Arktos ist in Wolken gehüllt!« stammelte der Steuermann und stemmte sich mit aller Kraft gegen die knarrende Pinne des Steuers.
»Laß den großen Bären, Kypriote!« erwiderte Pythagoras. »Weißt du nicht, daß er kreist, gleich den anderen Sternbildern? Unbewegt ist nur einer im allnächtlichen Umschwunge des Gewölbes. Siehst du ihn dort oben im Schwanze des kleinen Bären? Richte den Kurs nach ihm und du wirst Mittag und Mitternacht in sicherer Linie durchfahren!«
Die anderen Schiffsleute waren ehrfürchtig und scheu nähergekommen.
»Wer bist du, Herr, daß du uralte Regeln der Schiffer umstoßest? Sind nicht unsere Väter und Vorväter stets dem großen Bären als Wegweiser gefolgt?« fragte einer schüchtern.
»Ihr hörtet, daß sich noch viel Größeres, viel Festerstehendes ändern soll als die Regeln der Steuerkunst. Wundert euch nicht! Die Kenntnis der Sterne aber lehrte mich Thales, der Weise Milets.«
»Wer bist du?« »Wer bist du?« klang es von allen Seiten. »Wer bist du, den Thales lehrte?«
»Ich bin Pythagoras, der Sohn des Mnesarchos aus Samos!«
»Pythagoras?« schrie ein älterer Kypriote auf. »Pythagoras, der große Schüler des größeren Thales und des erhabenen Pherekydes? Danket dem Schicksal, Freunde, das euch vor Frevel bewahrte! Er soll unser Herr sein, bis wir Ägyptens Boden betreten. Verzeihe uns, Jüngling, von dessen Ruhm heute schon die Küsten Joniens widerhallen!«
»Ihr werdet unsterblich sein, Schiffsleute, die ihr dem Werkzeuge des Schicksales helfet, die Spuren der Urgötter zu finden! – Jetzt aber zu den Tauen und Segeln, sonst erreichen wir niemals den Nil!«
Unheimlich grell lohten die Pechpfannen im Sausen des Windes und warfen lange rote Zungen hinaus auf die tobenden schwarzen Wasserwirbel. Die Planken stöhnten und krachten, das Segel knatterte und die Taue kreischten. Weißer Gischt tanzte in riesigen Flecken über die Schwärze der Fluten, und leuchtend lag hinter dem Schiffe das Phosphorband des Kielwassers.
Pythagoras aber stand einsam am Buge. Und während durch das tausendstimmige Tosen die wilden Seemannslieder der Kyprioten dröhnten, bot er sein Antlitz dem sprühenden Geriesel der emporspritzenden Bugwellen.
Und wieder lag Karmel vor ihm, stieg vor seinem inneren Gesichte wolkenhoch empor und er wußte, daß es in seinem Leben, mehr noch im Leben aller Hellenen den Punkt bedeutete, an dem ein großer Kampf sich entschieden hatte:
»Freut euch, olympische Götter, eure Voreltern sollen zu neuem Leben erstehen! Das Schicksal hat mich gerufen. Ich aber habe auf der Spitze des Vorgebirges das Schicksal erwählt, indem ich es erkannte!«
Das Schiff der Kyprioten aber bäumte sich noch einmal widerspenstig auf, dann erkannte auch das Holz der Planken die furchtbare Ananke und flog gefügig nach Mittag.
Nach dem kalten Schäumen der unerbittlichen See, nach dem Tosen des Sturmes, nach der Gier entfesselter Menschen, nach Schicksalszweifeln und wildem Gottsuchen plötzlich unfaßbare Ruhe, Glätte, Entrücktheit!
In welcher Region des Alls war dieser Wechsel der Dinge geboren?
War es der strahlende blaue Himmel, die satte Sonne, die alles ringsum in scharfe Sicht rückte?
Eintönig tauchten die Ruder der Kyprioten in die lauen Wasser des Nilarmes und kräuselten sie kaum, während das Schiff unmerklich stromauf rückte; schlaff hing das Segel, bis ein Mann das Ruder verließ, die Taue löste und die bauschige Leinwand aufs Verdeck herabholte.
Eine Art Thron hatten die Schiffsknechte auf dem Vorschiff errichtet, damit er, den sie verehrten, seitdem er sie bezwungen hatte, in ungehemmter Schau das Wunder des heiligen Landes Kemi erleben könne; des Landes, das die Hellenen Ägypten nannten.
So saß der Jüngling und konnte nicht fassen, warum plötzlich soviel Ruhe, Glätte und Entrücktheit um ihn war. Und er nahm die Bilder in sich auf, verwob sie mit bereits Gesehenem, suchte in der Erinnerung: Von Herzschlag zu Herzschlag wurde das Rätsel größer und die Umwelt bunter.
Schlammbraun und grünlich und hellblau der Fluß. An den Ufern Schilf und dichte Papyrosstauden; verwirrt und verheddert und jeden Ausblick hemmend. Dann wieder niedere Ufer, über die man hinaussah in die Grenzenlosigkeit der Delta-Ebenen. Manchmal sogar schien der Lauf des Flusses höher zu stehen als die Weiten, die sich nach rechts und links erstreckten. Da dehnten sich stundenweite Felder, auf denen mannshohe Halme zitterten und die riesigen Ähren strotzend neigten. Grelle Weiden, deren Gras fast das gesprenkelte Vieh verbarg, das sich in unübersehbaren Herden zwischen den breiten Gräsern seinen Weg bahnte. Plätschernde Schöpfräder, niedere Hütten, weite Gemüsegärten.
Wieder andere Bilder: Dichte Ölbäume auf beiden Seiten des Flußarmes; Sandbänke, auf denen träge Krokodile mit aufgesperrten Rachen schliefen. Muntere Regenpfeifer, die in den Rachen der furchtbaren Panzerechsen hüpften und die Stechfliegen aus ihrem Zahnfleisch pickten.
Dann unwahrscheinlich weite Flächen voll von Blumen, daß die betäubenden Aromen über das Wasser strichen und den Atem beengten.
Und schließlich das heilige Reich selbst, die eigensten Werke seines Volkes und seiner Kraft: Steinerne abgeböschte Ufer, daß sich die süßen, blühenden Perseabäume in den glatten Gewässern spiegelten. Schleusen aus gewaltigen Quadern, auf denen die Bedienungsmänner standen, um das unterbrechungslose Gewimmel, den scheinbar unendlichen Zug tiefbeladener Barken durchzulassen und in das Wirrsal der schnurgeraden, sauberen Kanäle zu leiten. Jetzt eben, zu linker Hand, hohe Speicher, riesenhafte Schleusen, ein breites Fahrwasser, nach Aufgang von Masten bedeckt, soweit das Auge reichte: der große Kanal, hinüber zum anderen Meere!
Und alle Gebäude, die, aufs neue stets, aus den übersatten Hainen lugten; die zwischen gefiederten Palmen und blühenden Bäumen durchschimmerten? Warum ergriffen sie das Gemüt so sonderbar? Grau waren sie, poliert und spiegelnd; rötlich gleißten andere und tiefschwarz und gelb und braun. Und überall leuchteten aus der unfaßbaren Härte und Schärfe der Flächen die heiligen Bilder und Zeichen in Blau und Weiß, in Gelb und Rot und Grün; und schlossen sich mit den Kanten und Kapitalen, Pylonen und Monolithen, Obelisken und Sphinxen zur Einheit zusammen.
»Kosmos! Heilige Ordnung! Weltgefüge geschlossenster Wesenheit!« Das war die erste Erkenntnis, die Pythagoras gewann. Und diese Erkenntnis verschmolz ihm die ersten Eindrücke, die erste einzelhafte Schau von Tempeln und Speichern, Schleusen und Kanälen, Schiffen und Kasernen, Hornsignalen und übenden Kriegsvölkern, Wachen und Zollbeamten, Herden und Schöpfwerken zu einem Ganzen, zu der Ruhe, die er gefühlt hatte, ohne daß er sich hätte klarmachen können, woher sie stammte. Und so flog sein Wissen, seine Ahnung Tausende von Stadien weiter und er erblickte vor sich das ganze ungeheure Land, gelenkt von den rhythmischen Atemzügen äonenalter Ordnung.
Eine goldschimmernde Barke, schlank und geschmeidig, schoß am Schiffe der Kyprioten vorbei. Auch hier wieder dieselben Maße, dieselben Kanten und Verschneidungen, dieselben hieroglyphischen Zieraten. Und der Takt der lange durchgezogenen Ruderschläge, das gleitende Vorwärtsjagen des traumhaft prächtigen Bootes, die von Edelsteinen und Glasur funkelnden Thronsessel, auf denen hieroglyphengleich die Eigentümer des Reichtumes saßen und mit ihren dunklen Augen ruhig vor sich hinsahen, all das war Einheit: Eins mit der Landschaft, in der jetzt aufgescheuchte Pelikane und Reiher, Marabus und Ibisse flatterten, eins mit dem Strome, in dem eine Schildkröte sich wirbelnd kollerte – und eins mit den Ahnungen, die in Pythagoras dämmerten; mit den Ahnungen vom Geiste und den Göttern dieses Volkes.
Das Gewimmel der Schiffe wurde dichter. Mächtige Dämme begleiteten den Strom, der sich mit den anderen Mündungsarmen des Deltas vereinigte und in ungeheurer Breite dahinströmte. Landungsplätze und Zufahrtstraßen; Molenköpfe, an denen Barken, mit Steinblöcken beladen, vertäut lagen; das Hämmern von Steinmetzen; das Getrappel langer Kamelkarawanen, die weißbestaubt von den Natron-Seen kamen; das Vorbeiziehen eines Regimentes, das in Kähnen den Fluß übersetzte; schnelle Kriegswagen, die den Dämmen entlang rasten: alles deutete darauf hin, daß sich die Fahrt einem Mittelpunkte des Geschehens näherte.
Noch eine kurze Unterbrechung: Plötzlich standen, unwahrscheinlich groß und erhaben, bunt und geschlossen, die Tempel von Heliopolis zu linker Hand. Und ehrfürchtig schwieg an diesem Ufer auf lange Strecken das hastige Treiben, gleichsam, um die Stadt der Priester, das heilige Anu, in seinem gottnahen Treiben und Forschen nicht zu stören.
Versunken in die Majestät des Anblicks, gebannt auch hier wieder vom hehren Rhythmos der Formen, hatte Pythagoras für lange Zeit seine Augen auf dieses Wunder gerichtet, bis ihn endlich die stets zunehmende Mannigfaltigkeit des Getriebes und Geräusches erweckte.
Er sah vor sich hin, sein Herz stockte und seine Pulse huben an zu tosen:
Memphis! Memphis, die Stadt des Sonnensohnes, des Freundes der Wahrheit, des erhabenen Königs mit der rotweißen Doppelkrone; des Herrn im unaussprechlichen Kosmos dieses ältesten Landes.
Und er sah, duftig, zart und ferne, die beiden Randgebirge schimmern, sah die weiten Massen der Häuser und die ragende Burg mit den Palästen und Tempeln, sah die hochgemauerten Uferböschungen, die Haine und Heerstraßen, und sah am Untergangshorizonte, am Fuße der Gebirge, in glänzendem Glaste die unausdenkbare Reihe der Pyramiden.
Seine Gedanken und Gefühle begannen dithyrambisch zu rasen. Er rang nach Ausdruck. Eine leise, sonderbare Melodie hub an in ihm zu wogen, die das Klingen des Sistrums in vorbeigleitenden Lustbarken ausgelöst hatte. Was war das alles? Was suchte er? Was würde er finden? Sollte er umkehren, fliehen? Enteilen in die Schneeberge und Steppen der mitternächtlichen Zonen?
Was war diese Melodie? Was wollte sie ihm künden?
Näher rückte das Gewirr der Paläste, Tempel und Häuser. Und wieder sah er, wie alles dalag. Nicht nur das Einzelne, das ihm seine bisherige Fahrt gewiesen hatte, auch das Gehäufte, die Masse, trug das gleiche Kennzeichen.
War aber nicht auch Einheit und Ruhe über den Kunstwerken von Milet, der schimmernden Stadt mit den drei Häfen? Über den Prachtbauten von Ephesos, von Tyros, von Sidon? Über den Tempeln und Palästen seiner Vaterstadt Samos?
Was war es, das ihn hier sosehr ergriff und seinen Atem stocken machte?
Lauter und rauschender summte die Melodie in ihm.
»Unbekannter Gott dieses Weltalls, leihe mir für einen Herzschlag den letzten Ausläufer deiner jenseitigen Weisheit!« betete es fiebernd in seinem Herzen.
Nahe stand Memphis vor ihm, hell schimmerte der Riesentempel Ptahs, des heiligen Weltbildners.
Da fiel ein kleiner Funke in das Herz des Pythagoras und eine fremde Stimme flüsterte ihm fremde Worte zu, fremder und unverständlicher als die Hieroglyphen.
Doch er verstand sie; nur für einen Herzschlag zwar, nur nebelhaft und kaum geboren; doch er verstand sie.
Und er sah plötzlich, daß die schimmernden Werke der Hellenen dem Augenblicke dienten, der unwiederbringlichen Gegenwart, der Lust am Jetzt. Was aber hier um ihn emporstieg, diese glatten, schwindelhohen Flächen polierten Granites, diese ernsten Weiser längst versunkener Geschlechter, ruhte in anderen Zeitmaßen. Und ruhte daher in einem anderen Sinne, wuchtiger und endgültiger als der Kosmos der Hellenen. Hier stand alles für die Zukunft: Ewigkeit stand hier für die Ewigkeit! Für die Zeiten, die nie enden sollten für das heilige Kemi. Ein Volk wollte die Zeit überwinden und erst ruhen, wenn es sie besiegt hatte. Nicht wie die Hellenen, die Zeit verneinen und im Augenblicke ruhen.
Und noch etwas hörte er, als wieder die Melodie in ihm erklang: Er erfaßte das innerste Wesen der Harmonie und sah an den Bauwerken Kemis, daß der letzte Grund dieser Harmonie die Zahl sei. Nicht aber die Zahl im gewöhnlichen, schalen Sinne des Wortes, nein, im geläuterten Verstande des Verhältnisses, der Beziehung von Größen und Gestalten.
Doch das Brausen der ungeheuren Stadt erweckte den Jüngling aus seinem Traume.
Und zwischen dem Gewirre der Barken suchte das Schiff der Kyprioten den Weg zu den Landungsplätzen von Memphis. – –
Pythagoras hatte zum ersten Male das große Wunder des heiligen Landes Kemi erlebt.
Strotzender waren alle Früchte geworden, Ernte war auf Ernte gefolgt. Feste waren vorbeigebraust, an denen das unübersehbare Volk von Memphis die Stadt mit Blüten und Düften überschüttete und grelle Wimpel flattern ließ. Tausendstimmiger Gesang hatte morgens und abends in der Luft gezittert, und Sistren und Pauken, Flöten und Harfen hatten ihre Klänge von den weißen Mauern der Königsburg bis zu den wimmelnden Barken am Nil gesandt. Dann wieder strahlte die Stadt des Gottes Ptah in den hellen Nächten von Fackeln und Lampen, daß lange flirrende Zungen in die Wasser hinausstachen und auf den Wellen torkelten.
Heißer hatte die Luft geglüht, bis eines Tages plötzlich der blaue Himmel fahl ward und die Sonne in weißem, mattem Glanze starrte. Ängstlich und scheu, verstört und reizbar war das Volk in die Häuser geflüchtet.
»Der furchtbare Schemem, der die Herzen der Menschen verwandelt!« tönte es durch die Straßen; bis der Himmel gelb wurde und mit gräßlichem Pfeifen der erste Stoß des Sturmes daherraste. Und es heulte und peitschte, fegte und fauchte durch die Finsternis, die das Auge des Sonnengottes nur mehr zornfunkelnd und glutrot durchbrach.
Auch die Zeit der Stürme war vorübergeglitten, und blau und unveränderlich blickte die ehrwürdige Halbkugel des Himmelsgewölbes auf Kemi.
Doch neue Unrast, neues Harren schien die Gemüter des Volkes ergriffen zu haben: Trockener wurde von Tag zu Tag der Boden, leise Winde wirbelten Staubwolken empor, Gräser und Halme knackten vor Dürre, das Schilf raschelte gläsern und die munteren Bäume ließen schlaff ihre Blätter hängen. Der heilige Hapi, der Nilstrom, dessen Geschenk das Land Ägypten ist, sank von Tag zu Tag, daß allenthalben Sand-und Schlammbänke aus seiner trägen Oberfläche ragten.
Das Volk aber zitterte und betete.
Da sausten plötzlich, vorgeneigten Hauptes, die Geißeln schwingend, auf ihren Streitwagen Eilboten in die Stadt und schrien nach rechts und links, bis ihre Stimme heiser ward. Und jubelnd gab das Volk die Rufe weiter und Menschenmassen stauten sich, Kopf an Kopf, in den Straßen.
»Der Nil schwillt an!« »Der Pegel auf Elephantine zeigt zwei Ellen!« »In wenigen Tagen ist die Flut hier!« »Das wird ein gutes Jahr!« »Dank und Preis den Göttern!«
Die ehernen Flügel der Tempel sprangen auf, und jauchzend, dankerfüllt wogte die Masse in die riesenhaften Vorhöfe und betete und opferte.
Und das jährliche Wunder geschah: Rauschend, schäumend wälzten sich die Wassermassen von Pilak und Syene über Theben talab, bis sie nach Memphis kamen. Der Nil stieg und stieg; und stieg weiter, als er schon den Rand des Ufers erreicht hatte. Da ergoß er sich gurgelnd, vorwärtsschießend, nach allen Seiten auf das dürstende Land. Das Land aber hatte seinen Befruchter sehnend erwartet.
Einem einzigen unermeßlichen See glich Kemi, als es von Bergkette zu Bergkette, die ganze Breite des Tales, von den rötlichen Wassern bedeckt war. Einsam, gleich Inseln, ragten allenthalben Dörfer und Flecken, Tempel und Gehöfte, Palmengruppen und Wasserwerke auf ihren hohen Sockeln aus der ungeheuren Fläche und dünn wie Fäden zog sich das Maschenwerk der Dämme und Dammstraßen zwischen den Inseln hin. Die bunten Obelisken und Pylonen spiegelten sich in den Wassern und an den Ufern säumten die gelben Randberge die feuchte Unendlichkeit.
Freude war überall. Unter dem Drucke leichter Brisen glitten Tausende von Barken mit bunten Segeln umher, in langen Grundnetzen zappelten silbrige Fische und das gesprenkelte Vieh brüllte ängstlich in seinen hohen Ställen.
Dann schwammen wieder gigantische Flöße herab von den Steinbrüchen Syenes und bahnten sich unbekümmert ihren stolzen Weg durch das Getümmel der Zwerge. Auf ihren Plattformen aber ruhten, kantig und glatt, die grünlichen, roten und grauen Steinblöcke, die Obelisken und Kolosse, die Säulentrommeln und Kapitale. Andere Flöße kamen aus den Brüchen der Kalkberge und brachten gelbes Gestein in fünfmal mannslangen Quadern. Und Eisenfrachten und Flöße mit Vieh und Zeug beladen und Flöße mit abgelösten Regimentern, fern aus den Grundfestungen im elenden Lande Kasch, suchten ihren Weg auf dem Rücken des heiligen Stromes.
So begann das große Wunder des Landes Kemi und wurde nach einigen Mondwechseln verdrängt vom Wunder des unerhörten neuen Wachstums.
Wie wache Träume zog das Werden und Verändern an Pythagoras vorbei. Doch auch seine Pulse hämmerten in banger Erwartung und Ungeduld. Keinen Tag, keinen Herzschlag hatte er versäumt, den Urgöttern näherzukommen. Doch der Weg zu ihnen war länger als der Lauf des Nils von Elephantine bis zum Meere. Die riesigen Tempel, die das Geheimnis bargen, standen groß und nahe vor ihm. Vor den Pylonen starrte er, den Kopf ins Genick gepreßt, hinauf zu den leuchtenden Reliefs, zu den Gestalten, die betend die Handflächen den tierköpfigen Göttern entgegenstreckten; auf deren Haupt ein Stern, eine Doppelkrone, ein Sonnenball gleißte. Er sah die Opferschale in der Hand der Betenden dampfen, sah ringsum die undurchdringlichen Zeichen der Hieroglyphen, die selbst noch nicht das Geheimnis bargen, da sie ja vor allem Volke dastanden. Die Tempel aber schlossen vor ihm, dem Fremden, dem Unreinen, ihre äußersten Pforten.
So mengte er sich unter das Volk und lernte mit zähem Eifer die Sprache des Landes und die gewöhnliche Schrift, die im täglichen Leben gebraucht wurde. Gastfreunde und Landsleute hatte er genug gefunden. Saßen doch die jonischen und karischen Söldner oben in der Burgstadt als Leibwache des Sohnes der Sonne, des erhabenen Hüters der Gerechtigkeit, des Zweikönigs Amasis, des Herrn von Ober-und Unterägypten.
Die Hellenen aber verlachten ihn, als sie seine Pläne hörten. Und weit mehr noch lächelten seine neuen Freunde aus dem Lande Kemi. War es ihnen selbst doch verwehrt, in die tieferen Geheimnisse der uralten Priesterwissenschaft einzudringen. Sie suchten indessen, den sonderbaren Fremden, der so viel Liebe und Verehrung für ihr geliebtes Heimatland zeigte, zu entschädigen, so gut sie es vermochten: Sagen und Märchen, ruhmvolle Taten, durch die Jahrtausende reichend. Wundergeschichten, Orakel und Vorzeichen, Göttermythen und Volksglaube, all das tönte und schwirrte um die Sinne des Pythagoras und vermehrte noch seine Pein. Denn größer und ehrwürdiger, weiser und erhabener, unfaßbarer und erkenntnisschwangerer stieg von Tag zu Tag der Kosmos dieses Zauberlandes vor ihm empor.
Bis er sich, fiebernd von Ungeduld und Willensanspannung, zu einem Schritte entschloß, dessen Aussichtslosigkeit zwar sein Verstand einsah, dessen endgültigen Erfolg jedoch sein Herz bangend hoffte: Wohlgesetzte Zeilen grub er in wächserne Täfelchen, ein Gesuch an den Herrscher seiner Vaterstadt, den großen Polykrates, der der Freund und Bundesgenosse des Sohnes der Sonne war. Und er erbat seine Verzeihung, daß er einst bei Nacht gegen den Willen des Tyrannen sein Vaterland fliehend verlassen hatte. Und schrieb weitere Briefe an seinen Vater, den angesehenen Großkaufmann Mnesarchos, und an seine Verwandten und Freunde, die bei Polykrates Rang und Einfluß besaßen. Ein Schiff trug die Briefe gegen Mitternacht. Die Antwort aber blieb aus, sosehr er wartete und sosehr seine Pulse hämmerten.
Neues Wachstum sproßte allenthalben aus dem fetten Boden des Tales. Längst hatten sich die Wasser zurückgezogen, längst war jenes neue Wunder vorbei, daß feiner Schlamm das ganze Land bedeckte und auf dem Schlamme Myriaden von Fischen, Schlangen und Fröschen zappelten, über die sich scharenweise die Marabus und Ibisse stürzten und so viel verschlangen, daß sie fast barsten. Längst war auch die Zeit verronnen, da die Feldmesser mit Pflock und Leine zu Hunderten in den Schlamm hinauswateten, um, wie alljährlich, jedem wieder sein Grundstück zuzuteilen.
Da erschien plötzlich ein Hauptmann der samischen Söldner aus Naukratis und überbrachte dem Pythagoras zwei wächserne Tafeln, die das Siegel des Königs Polykrates verschloß. Die eine sollte er nach der Weisung, die außen zu lesen war, selbst eröffnen.
Er beschenkte den Söldnerführer und zollte ihm heißen Dank; doch beherrschte er sich trotz seiner furchtbaren Erregung und gewann es über sich, den Boten noch zu bewirten, bevor er ihn entließ. Erst dann zog er sich ins innerste Gemach des Hauses zurück und eröffnete fiebernd das Siegel.
Wie bei allen Briefen, die Schicksalsbedeutung haben, starrte er zuerst aufs Ganze, um durch vollen Überblick mit einem Schlage alles zu erfahren. Was ihm da aber sofort entgegensprang, spannte sein erregtes Gemüt ab und setzte ihn in die Lage, nunmehr Satz für Satz die Botschaft in sich aufzunehmen. Und in seiner Seele erbrauste ein heller Jubel: Denn er las da von Gunst und Vergebung, Lob und Hilfsbereitschaft, Verständnis seines ernsten Strebens und von dem harten Willen eines großen Königs, Ungewöhnlichstes zu erzwingen. Und der zweite Brief war das Schreiben an den Sohn der Sonne, bestimmt, ihn für den Plan zu gewinnen. Und sollte von Pythagoras eigenhändig überreicht werden, damit der Herr der Gerechtigkeit auf Grund eigenen Augenscheins die Person des Bittstellers beurteilen könne.
Dankbar und bewegt, ergriffen von der Größe seines Erfolges, streckte Pythagoras die Arme zur Höhe, und der Rhythmos seiner Seele wogte ein Dankgebet jenem unbekannten Gotte entgegen, der ihn jetzt schon so reich begnadete. Nicht Worte waren es, die seinem Herzen entströmten; es waren Wogen von Liebe, Sehnsucht und Demut, hinausdrängend ins Unerforschte.
Und er vergaß in seiner Freude, daß noch zwei Willenspforten zu entriegeln waren, die geschlossen ihn von seinem Ziele trennten: Die Ansicht des Sonnensohnes und die Gesetze und Meinungen der strengsten Priester aller Zeiten.
Das erste Hindernis überwand er wie im Schlafe wandelnd. Amasis, der damals zufällig für längere Zeit in Memphis weilte und voraussichtlich erst das nächste Jahr in seine eigentliche Residenz Sais zurückkehrte, empfing ihn sogleich, als er gehört hatte, der Samier hätte eine Botschaft des großen, glücklichen Polykrates zu überbringen.
So war es gekommen: Überirdische Pracht, strahlende Paläste mit ihren wuchtigen Reihen bunter Säulen und ihren weiten Höfen. Dann die Hoheit einer Versammlung, die ihn fast zum Fußfall vor dem Erhabenen bewog. Die Größe und Leutseligkeit, die Offenheit und das schlichte Wesen des Zweikönigs, der seinen Fußfall verhinderte und ihm, dem Hellenen, lächelnd die Hand zum Gruße reichte; und ihn durch flinke Dolmetscher anhörte, Zeit hatte zu hören, bis er alles erfuhr, und ihm schließlich ein Empfehlungsschreiben an die Priesterschule von Heliopolis einhändigen ließ.
»Hier endet die Macht des Sohnes der Sonne. Hier muß ich selbst bitten!« hatte er lächelnd gesagt. »Denn ich weise dich an die ersten Diener des Sonnengottes selbst. Sprich mit ihnen so wahr und einfach, wie du mit mir sprachst, und sie werden dich anhören. Denn die Klugheit einer Rede ist mehr wert als die Floskeln eines Geschwätzes!«
Huldvoll war er entlassen worden. Man hatte ihm noch beim Abschiede bedeutet, er solle am nächsten Morgen den Besuch eines Würdenträgers gewärtigen, der ihn in das streng gehütete Heliopolis geleiten würde.
Wenn auch die zwei ersten Erfolge anfänglich den Mut des Pythagoras stärkten, so bäumte sich trotzdem plötzlich die Furcht auf, da noch der letzte Schritt vor ihm lag. Wie gütige Väter, wie wohlwollende Freunde erschienen ihm die beiden Könige, wie finstere, abgekehrte Dämonen dagegen die Priester. Er konnte es sich selbst nicht erklären, warum sich plötzlich fast Feindschaft gegen die Hüter aller Geheimnisse, um die es ihm ging, in ihm entwickelte. Vielleicht war es eine ins Gegenteil verwandelte Liebe, vielleicht bloß Angst, die er sich nicht eingestehen wollte.
Der Schlaf floh von seinem Lager und der Beamte des Königs traf ihn fertig zur Abreise an. Wie ein unheilvolles Vorzeichen erschien dem Pythagoras die düstere Miene seines Begleiters.
Eine prunkvolle Sänfte brachte sie an den Strom und bald schoß ein königliches Boot durch die glasige Glätte des Wassers flußabwärts.
Pythagoras ertrug das Schweigen seines Begleiters nicht lange. Nach einigem Zögern richtete er eine gleichgültige Frage an ihn. Dieser jedoch sah ihn starr an und schwieg. Da konnte Pythagoras nicht weiter an sich halten und sagte geradeheraus:
»Ist es dir lästig, mich zu den Priestern zu führen?«
»Der Sohn der Sonne, der erhabene Herr und Bringer der Gerechtigkeit, hat es befohlen!« erwiderte kalt der Ägypter.
»Das weiß ich!« versuchte Pythagoras zu scherzen. »Doch ich frage nicht nach dem Willen des Sonnensohnes, sondern nach deiner Ansicht!«
»Ich fürchte, dich fruchtlos zu begleiten! Versteh mich nicht falsch, Fremdling! Der Wille des Königs ist mir so heilig, daß meine Ansicht eine Ansicht ist, weiter nichts. Aber ich selbst bin aus dem Stande der Priester und denke, wie eben wir Priester denken!« Der Ägypter senkte den Blick. Dann sah er dem Pythagoras gerade in die Augen und sagte scharf: »Alles fast habt ihr uns schon genommen, ihr Volk von den Inseln! Deshalb müssen wir das Letzte, das Heiligste, doppelt und zehnfach vor euch verschließen!«
Pythagoras erwiderte nichts. Er begriff nach dem, was er über die jüngsten Äonen Kemis bisher gehört hatte, nur zu gut das abgrundtiefe Mißtrauen der Einheimischen gegen die Hellenen. Hatte doch erst Psamtik, der Ahnherr der Saitischen Dynastie, seine Herrschaft mit hellenischen Söldnern erkämpft. Sonderbarerweise auf Veranlassung derselben Priester, die jetzt die Hellenen beargwöhnten. Vielleicht war der Argwohn eben daher entsprungen: Vielleicht fiel es einmal einem Sonnensohne bei, mit griechischen Söldnern den Einfluß der Priester zu zermalmen? Vielleicht war er selbst der Kundschafter des Königs gegen die Priester, er, der als Fremder sich nicht mit Gewissensqualen belud, wenn er Geheimnisse der Götter Kemis preisgab und Eide den fremden Göttern brach? Ja, er begriff die Priester! Aber was half dieses Verständnis gegen seine Angst?
»Von mir habt ihr nichts zu fürchten!« sagte er halblaut vor sich hin. »Ich suche die wahren Urgötter, demütig und sehnend. Und hoffte, sie bei euch zu finden. Euer Wille aber ist es, einen Bittenden zu verstoßen oder ihn aufzunehmen! Diese Entscheidung werde ich ohne Widerrede achten, Männer von Kemi!«
»Ich glaube dir, Fremder!« erwiderte der Ägypter plötzlich milde. »Es handelt sich aber nicht um dich allein. Auf dem Spiele steht ein Gesetz, eine Regel. Und, einmal durchbrochen, wird eine Regel dehnbar wie ein Gewebe aus Baumwolle. Vielleicht würden wir dich, den Sehnenden, freudig als Bruder begrüßen und dein Herz durch die wahre Lehre läutern, wenn deine Landsleute nicht wie die Stechfliegen in Naukratis, in Bubastis, in Sais, auf der Burg von Memphis säßen! Mehr darf ich dir nicht sagen. Habe ich doch schon durch meine Bedenken die schuldige Ehrfurcht vor dem Sohne der Sonne verletzt!«
Pythagoras aber wußte genug, um für sein Ziel zu zittern.
Als Heliopolis kurz danach zu ihrer Rechten auftauchte, schloß er die Augen und entpreßte seinem Geiste ein wildes, heißes Gebet.
Das Boot legte an den langen Stromtreppen an und wurde von Tempeldienern niederen Ranges in Empfang genommen und vertäut. Durch eine Reihe von Wächtern mußten Pythagoras und sein Begleiter hindurch, zehnmal wurden sie um Herkunft und Anliegen gefragt, zehnmal wies der Hofbeamte seine Beglaubigung vor, bis sie endlich durch einen Palmenhain auf den weiten Platz hinaustraten, auf dem eine lange Doppelreihe von Löwen-Sphinxen den schnurgeraden Weg zu der überwältigenden Pylonenfront des Sonnentempels wies. Scharf umrissen von dunklen Schatten leuchteten die grellen Hohlreliefs, und die doppelt geflügelte Sonnenscheibe mit den regenbogenartig abgetönten Fiederflächen prangte unterhalb des Kehlgesimses des Mittelpylonen.
Pythagoras setzte pochenden Herzens einen Schritt vor den anderen. Würde das kleine Wort der Entscheidung zu seinen Gunsten ausfallen und ihm die hohen ehernen Tempeltüren öffnen? Und den Weg freimachen zu all dem Unerforschten und Unerforschlichen?
Der bunte Traum, der ihn umgab, die Ruhe des Tempelbezirkes, stärkte seine Hoffnung. Eine Ahnung ward lebendig, daß er zum Ziele gelangen würde.
Die beiden erreichten die Pylonen und der Ägypter wandte sich nach links, wo, anschließend an den Tempelbau, ein fünfmal mannshohes Palisadenwerk den weiten Umkreis des Heiligtums jeder Sicht entzog. Nach einigen hundert Schritten standen sie vor einer kleinen Pforte, die sich auf das Pochen des Begleiters öffnete. Ein Priester fragte um Anlaß und Herkunft. Der Würdenträger des Königs händigte dem öffnenden das Schreiben des Sonnensohnes ein. Stumm verneigte sich der Priester, schloß die Türe und verschwand.
»Wir müssen hier warten! Ein Ungeweihter darf den Tempelbezirk nicht betreten!« erklärte der Ägypter und forderte Pythagoras auf, sich auf einer der langen Steinbänke, die hier unter den Palmen standen, niederzulassen.
Pythagoras ergab sich und zwang sich zur Geduld. Und er achtete der Hitze nicht, die trotz der schattenspendenden Palmen auf sie niederbrannte, er ertrug still das schillernde Flirren der tanzenden Sonnenstrahlen und verscheuchte nur müde und fast ohne Gedanken die summenden Stechfliegen.
Wie lange er gewartet hatte, wußte er nicht. Er sah nur plötzlich, daß sein Begleiter aufsprang und mit allen Zeichen besonderer Ehrfurcht den hohen Greis begrüßte, der, von zwei anderen Priestern geleitet, auf sie zutrat. Unwillkürlich folgte Pythagoras dem Würdenträger in der Form des Grußes und erhob sich ebenfalls von seinem Sitze.
Der Greis aber überreichte feierlich eine Papyrosrolle an den Ägypter und sagte in leicht wehmütigem Tone zu Pythagoras:
»Du sollst sogleich erfahren, Fremder, was der Rat unserer Priesterschaft beschloß.
Verspotte den Bittenden nicht, – hat einer unserer Weisen geschrieben – wäre es doch ärger, als wenn du seinen Körper schlügest. Schreie ihn nicht an; was ihm wehe tun muß, das sage ihm mild und freundlich.
Daher sage ich dir, Fremder, zuerst, was dich schmerzen wird. Deine Bitte können wir nicht erfüllen! Trösten möge dich der Gedanke, daß selbst Söhne Kemis, die nicht priesterlichem Stande entstammen, kaum je Eintritt in die Priesterschule fanden. Ein Fremder aber, – zürne nicht über das, was ich sagen werde! – ein nach unserem Gesetze Unreiner, ein Unbeschnittener, ist seit den Zeiten, als der große Osiris, der auf Pilak ruht, über Kemi herrschte, nie und nimmermehr mit seinem Fuße in die inneren Tempelbezirke getreten.
Da wir aber die jüngste Priesterschaft Kemis sind, wollen wir dir nicht alle Hoffnung rauben. Wir trugen in dem Briefe, den dein Geleiter in Händen hält, der älteren Priesterschaft von Memphis dein Anliegen vor, ohne ihr vorzugreifen. Vielleicht ist sie auf Grund ihrer älteren Weisheit imstande, unsre Bedenken zu belächeln und dir das zu gewähren, was wir dir, dem Guten, Sehnenden, Suchenden gerne böten, – wenn wir dürften. Unser Herz hat leider nein gesagt. Und vor dem Totenrichter wird unser Herz gewogen werden, das zuerst den Göttern gehört, dann erst dem Mitleide!«
Pythagoras stand starr und wie verständnislos da. Er wollte die Hände heben, wollte sprechen. Vergeblich: Keinen Ton entpreßte er seiner Kehle.
»Hast du mich verstanden?« fragte freundlich der Greis. »Sei mutig und verfolge hartnäckig dein Ziel. Vielleicht sind andre weiser als wir und wissen heiliges Gesetz mit Duldsamkeit besser zu vereinen als wir Diener des erhabenen Rā des Herrn alles Lichtes! Hast du mich verstanden?«
»Ja!« hauchte Pythagoras; dann schlug er die Hände vor die schmerzenden Augen.
Als er aber endlich seine Arme schlaff sinken ließ, war der Greis mit den Priestern verschwunden. Der Würdenträger blickte ihn mitleidig an. Endlich sagte er fest:
»Was zögerst du? Der Beschluß ist unwiderruflich! Er selbst war es, der zu dir sprach, der höchste Priester des erhabenen Rā!« Dann setzte er leise fort: »Ich wußte das Ende, bevor wir abfuhren. Komm, Fremder, sei frohen Herzens, Kemi hat auch außer seinen Geheimnissen noch viel des Erfreulichen und Erhabenen!«
Da sagte Pythagoras kopfschüttelnd und wehmütig:
»Das Erfreuliche und Erhabene kann ich überall finden. Den wahren Sinn der Götter aber nur dort, wo er seit ältesten Zeiten überliefert ward.« Und wie zu sich selbst murmelte er: »Was werden die Priester in Memphis sagen?«
»Das gleiche!« antwortete der Ägypter starr und steinern und wandte sich zum Gehen.
Pythagoras aber folgte ihm in düsterem Sinnen. –
Die zitternde Erwartung wollte kein Ende nehmen. Die Beamten des Sonnensohnes hatten einige Tage verstreichen lassen, bevor sie den Versuch bei der Priesterschaft des Weltbildners, im Tempelbezirke des Ptah zu Memphis, wiederholten. Dem Pythagoras wurde schonend mitgeteilt, daß die Priester ihn überhaupt nicht von Angesicht zu sehen wünschten, da eine alte Regel ihnen verbiete, sich in Fragen von entscheidender Bedeutung durch den Anblick der Person beeinflussen zu lassen. Man würde das Gesuch einer reiflichen Prüfung unterziehen, da ja der heimische und der verbündete König es unterstützten; doch müsse schon jetzt darauf hingewiesen werden, daß sich nach dem ersten Eindruck nicht so leicht ein Ausweg werde finden lassen, der sowohl den Absichten des Gesuchstellers als den unbeugsamen Gesetzen der Religion entspreche.
Da seit diesen keineswegs ermutigenden Andeutungen schon viele Tage vergangen waren, festigte sich bei Pythagoras die Überzeugung, daß man überhaupt nur noch aus Höflichkeit gegen den König mit der Ablehnung zögerte. Ja, er war schon nahe daran, sein Gesuch selbst zurückzuziehen, da er fürchtete, durch eine neue Enttäuschung vollends um sein Selbstvertrauen und um seinen heißen Glauben an die Urgötter zu kommen.
So saß er wieder einmal unter den schattenden Säulengalerien seines Wohnhauses und blickte gedankenleer auf die leuchtenden Blumenbeete in der Mitte des Vorhofes, als ihm ein Bote gemeldet wurde.
Er brachte, ohne sich über den Grund Rechenschaft zu geben, die Ankunft des einheimischen Jünglings sofort mit der Erledigung seines Gesuches in innere Verbindung. Eine namenlose Erregung überkam ihn und er mußte das Äußerste seines Willens aufbieten, um vor dem Fremden das nötige Maß an Haltung zu bewahren.
Die Erscheinung des Jünglings, der sich grüßend vor ihm verneigte, entzückte und verwunderte ihn zu gleicher Zeit; denn obwohl der Gesichtsschnitt, die dunkle, rötlichbraune Hautfarbe und die schmalen, tiefschwarzen Augen unverkennbar den bodenständigen Ägypter kennzeichneten, war doch in seiner Kleidung, in seinem Auftreten und im ganzen Rhythmos seiner Bewegung vieles, was von der stilisierten, hieroglyphischen Ruhe der anderen Ägypter bedeutend abwich. Vielleicht lag es nur an der großen Jugend des Boten, die das Knabenalter kaum wesentlich übertraf.
Dieser äußere Eindruck des Ankömmlings wurde durch ein Ereignis von weit erstaunlicherer Bedeutung abgelöst: Der Knabe hub plötzlich an, in reinster hellenischer Zunge zu sprechen!
Pythagoras war so benommen, daß er erst nach geraumer Weile die Worte seiner Muttersprache aufzufassen begann. Doch nur, um aufs neue in tiefste Ratlosigkeit zu versinken. Was wollte man von ihm? Wie kam dieser Knabe dazu, ihn von Memphis fortzulocken, damit er Näheres über die Priester und das Schicksal seines Gesuches erführe?
»Wer sendet dich?« fragte er scharf, um der Sache auf den Grund zu kommen.
»Herr, es ist mir verboten worden, dir darüber eine Auskunft zu erteilen. Es mag dir genug sein, wenn ich dir bei Zeus und bei Osiris schwöre, daß du es nicht zu bereuen haben wirst, dem Rufe meiner Auftraggeber zu folgen!«
»Kannst du mir wenigstens sagen, ob die Priester von deinem Auftrage wissen?« Und Pythagoras sah ihn strenge an, da er geheime Ränke zu ahnen glaubte.
»Du fragst mich mehr, als ich weiß!« erwiderte der Knabe schlicht. Dann setzte er nach einiger Überlegung fort: »Du wirst viel Schönes erblicken, viel auch aus Ägyptens Vergangenheit hören, wenn du mir folgst.« Und er richtete seine Augen kindlich fragend auf Pythagoras. Als dieser aber nichts antwortete, flüsterte er traurig: »Soll ich hingehen und melden, man möge dir klügere Boten senden?«
Der letzte Ausbruch echten, ungeheuchelten Schmerzes rührte Pythagoras. Warum sollte er dem Rufe nicht nachkommen? Wenn man ihn verderben wollte, hätte man einfachere Wege finden können. Schließlich stand er unter dem Schutze des Herrn der Gerechtigkeit, und das wußte der geheimnisvolle Auftraggeber sicherlich ebensogut, wie er von dem Gesuche an die Priester wußte.
So lächelte Pythagoras dem angstvollen Knaben zu und sagte: »Ich gehe mit dir! Ist unser Weg weit?«
»Wir werden in einem goldenen Boote einige Stunden flußaufwärts fahren. Morgen wirst du wieder hier sein!«
Und der Bote wandte sich zum Gehen, während Pythagoras dem Hausgesinde noch einige Anweisungen gab.
Als er auf der Straße stand und sich dem Flusse zukehren wollte, sagte der Knabe:
»Nicht zum Nil! Wir fahren auf dem Kanale!«
So schritten die beiden in die entgegengesetzte Richtung und gelangten bald an die Böschungen der glatten, breiten Wasserstraße.
Pythagoras war über die Pracht der goldenen Barke erstaunt, die sie bestiegen. War sie doch weitaus kostbarer als das Boot des Königs, das ihn vor nicht allzulanger Zeit nach Heliopolis gebracht hatte.
Sechs Ruderer peitschten in ehernem Takte das Wasser. Er selbst saß auf einem edelsteinübersäten Sessel, der allenthalben mit Mosaiken aus Ebenholz und Elfenbein eingelegt war. Der Knabe aber hatte sich zu seinen Füßen niedergekauert, daß sein durchsichtiges weißes Schleiergewand sich bauschig im Fahrtwinde blähte.
Bald lag Memphis hinter ihnen und sie glitten nahe an der steilen, niedergangwärts gelegenen Bergkette dahin, aus deren Felsen ab und zu die Eingänge von Grabmälern, mit Säulen, Statuen und Hieroglyphen verziert, hervorstachen.
Die Frische des Spätnachmittags, die Kühle des Wassers, nicht zuletzt aber das Geheimnisvolle des Unternehmens begannen das Gemüt des Pythagoras sosehr zu erfrischen, daß er von Ruderschlag zu Ruderschlag heiterer wurde und mit dem dienstfertigen Knaben zu plaudern anhub. Dieser versäumte auch nicht, ihn auf alles nur halbwegs Sehenswerte hinzuweisen. Plötzlich schlug er sich auf die Stirne, glitt zum Vorschiff und bot nach kurzer Zeit dem Pythagoras eine goldene Schüssel dar, auf der in herrlicher Farbenharmonie Feigen, Weintrauben, Granatäpfel und Datteln aufgehäuft lagen.
Das Boot machte indessen eine scharfe Wendung nach rechts. Pythagoras blickte auf. Da sah er, wie sich in der Wand der gelben Randberge mit einem Schlage ein schmales Tal öffnete, in das die Abzweigung des Kanales, auf der sie jetzt ruderten, hineinführte.
Eine schwarze Pyramide auf hohem Sockel ragte zu rechter Hand. Steil stiegen die Felswände empor. Plötzlich änderte sich das Bild: Die Gebirge flohen nach beiden Seiten zurück und ein weiter, unübersehbarer Talkessel lag vor ihnen, auf dessen jenseitigem Rande, fern und duftig, die Schroffen im Lichte der tiefstehenden Sonne flimmerten. Dichtestes, üppigstes Wachstum, soweit das Auge reichte. Bäume und Felder, Blüten und Palmen. Und zur Rechten erhob sich, nach einer kleinen Biegung des Kanales, auf mächtigen Grundmauern ein Wunder, wie es Menschenaugen anderswo noch nicht geschaut hatten. Gut tausend Fuß lang, klotzig und wuchtig, schwindelnd hoch. Dabei über und über mit Reliefs und Hieroglyphen bunt verziert: Das Labyrinth!
Pythagoras sprang empor und staunte. Und der Knabe wies ihm mit leiser, scheuer Stimme die Einzelheiten, erzählte von den verwirrenden dreitausend Gemächern, den Säulenhallen und Standbildern dieses Riesenbauwerkes sondergleichen. Und dahinter ragte die Pyramide des großen Bauherrn, des dritten Amenemhat, des Königs mit dem Beinamen eines Herrn der Überschwemmungen.
Ungeheure Schleusen und Brücken aus Quadersteinen sperrten in naher Sicht den Kanal, als das Boot gegen links wandte und in eine bisher verborgene, ganz schmale Wasserader einlief, deren Böschungen den Spiegel sosehr überhöhten, daß für die Bootsinsassen jeder weitere Ausblick benommen war.
Die Barke folgte aber nicht allzulange diesem Seitenpfade. Nach einigen tausend Ellen legte sie an einer kunstvollen Treppe an, auf der bereits eine Schar prächtiger Diener und Sklavinnen der Ankunft des Fahrzeuges harrte.
Leichtfüßig sprang der Knabe auf die Stufen und reichte Pythagoras lächelnd die Hand, als dieser sich erhob, um auszusteigen.
Als sie, geleitet von den Sklaven, die oberste Treppenstufe erreicht hatten, schwoll ihnen ein schwerer weicher Duft entgegen; Pythagoras blickte erstaunt nach beiden Seiten: doch nirgends konnte sein Auge weiter als wenige Schritte in die leuchtenden Wände von Rosen und Lilien eindringen. Zu Häupten aber gabelten sich die bastumbüschelten Schäfte brauner Palmen in die zartgrüne Fiederung gewölbter Blätter. Der Weg, der schnurgerade lief, war mit einem Mosaik schwarzer und weißer Platten belegt.
Nach kurzem Schreiten standen sie vor der buntgemalten Fassade eines palastähnlichen Hauses, zu dessen Flügeltore neuerlich breite Treppen hinanführten.
Die Türen öffneten sich und ein Hof, schimmernd von Säulen, Alabastertafeln, Blumenbeeten und zierlichen Standbildern folgte, bis zur Linken eine Türe die beiden durchließ und in einen kurzen, halbdunklen Flur führte. Eine schmale Treppe stieg hier aufwärts, an deren oberster Kante ein Viereck des freien Himmels in schrägem Strahlenbündel das Licht herabsandte; so daß die untersten Treppenstufen in schwarzem Dunkel lagen.
Die Diener waren im Hofe geblieben. Der Knabe aber sagte leise:
»Steige diese Treppe hinan! Bald wird man dich gebührend empfangen! So lautet mein Auftrag!«
Damit verschwand er durch eine niedere Seitentüre.
Pythagoras überlegte einen Herzschlag lang, was dieses sonderbare Gehaben bedeuten sollte. Und ein merkwürdiges Gefühl nahm von ihm Besitz. Die Möglichkeit, in wenigen Augenblicken vielleicht rätselhaften Gefahren, Anschlägen oder Erfüllungen gegenüberzustehen, brachte sein Gemüt in Wallung. Hatte sich doch das Geheimnisvolle, das gewollt Mystische aller Begleitumstände immer mehr gehäuft.
Er stieg langsam die Treppe hinan. Um seinen Willen zu erproben, senkte er den Blick und hob ihn erst, als er vollends den Stiegenschacht verlassen hatte.
Da aber entfuhr ihm ein erstickter Laut des höchsten Entzückens: Im Leeren gleichsam wähnte er zu schweben, und das Licht, das von allen Seiten auf ihn eindrang, blendete ihn einen Herzschlag lang. Plötzlich aber sah er, sah alles zu gleicher Zeit: Vor sich die unausdenkbar große Fläche des Moeris-Sees, so glatt, so unbewegt wie ein farbloses Gewebe aus Äther. Nur weiter draußen, wo die gelben Randberge das Becken säumten, lagen Flecken und Streifen in zartestem Rosenrot und blitzendem Silber.
Die ganze Luft aber war mit still dahinziehenden Vögeln erfüllt. Mit Reihern, mit schwarzen Riesenseglern, deren Flügelspitzen weiß leuchteten, mit buntem goldigen Getier, mit hellroten Flamingos, mit bläulichen Schwalben. Und auf der Fläche des Sees zogen Schwärme schillernder Wildgänse, und breite Inseln aus Seerosen und Lotos schwammen an den Ufern. Die Sonne stand tief über den Randbergen. In ihren geneigten Strahlen leuchteten zur Rechten, aus Gärten und Hainen hervorlugend, die Paläste und Tempel von Krokodeilonpolis, stolz ragten in der Mitte des Seebeckens zwei dunkle Pyramiden auf mächtigen Sockeln, und der wuchtige Bau des Labyrinths hob sich vom Hintergrunde des Eingangstales. Der Spiegel des Sees aber lag, eingefaßt von unausdenkbar breiten Staudämmen, höher als die Umgebung.
Auf dem höchsten Punkte dieses Hunderte von Ellen breiten Dammgürtels jedoch stand der Palast, über dessen blumenbestreute Dachfliesen Pythagoras vorwärtstrat, bis er zu seinen Füßen die Wasser des Sees an steinerne, polierte Freitreppen sich anschmiegen sah: Wo breite, bunte Barken vertäut waren und trotz der Glätte des Sees in leichten Dünungsfalten sich wie atmend hoben und senkten.
Versunken in die Schau, erfüllt von der elysischen Ruhe dieses Ortes, vergaß er sich selbst und die Umgebung und verlor sich in das Abbild aller Schönheit, die ihn anströmte.
Plötzlich standen Worte im Raume, dunkle, wohllautende Worte, in deren holdem Klang ein leiser Hauch des Fremden bebte. Und sie wiederholten sich, schärfer und heischender:
»Sei gegrüßt, Pythagoras aus Samos!«
Seine Hingabe verflog. Das Band, das ihn mit der Umwelt hatte eins werden lassen, zerriß. Er fuhr herum.
Doch neue Schönheit, neue Wunder aus anderen Zonen der Schöpfung, warfen ihn in den Zustand entrückten Träumens zurück: Wenige Schritte vor ihm stand die süße Erscheinung eines herrlichen Mädchens. Schlank und hoheitsvoll. Und über das straffe Unterkleid, das den Busen, die zarte Linie der schmalen Hüften und der herrlichen Beine scharf umriß, lag wie ein Hauch das schleierdünne, vielfaltige Übergewand, dessen Saum nicht ganz bis zu den edelsteinblinkenden Spangen der Knöchel und zu den goldenen Sandalen reichte. Die Strähne der tiefschwarzen Haare aber umfaßten das dunkle Antlitz. Und die schmalen, unergründlich tiefen Augen blickten forschend auf den Gast. Und Geschmeide und Halsketten und die bunte Harmonie des halbmondförmigen Halskragens wurden bei weitem von dem flimmernden Reifen überhöht, der die Haare oberhalb der Stirne umgriff; aus dessen Mitte sich die Uräusschlange hervorbäumte und mit den Edelsteinaugen funkelte.
Zu beiden Seiten aber knieten Dienerinnen, die der Gebieterin mit Pfauenfächern Kühlung zuwedelten.
Pythagoras zwang sich zur Fassung.
»Sei gegrüßt, unbekannte Herrin!« sagte er und trat einen Schritt näher. Jetzt erst kam es ihm voll zum Bewußtsein, daß auch die Ägypterin hellenisch gesprochen hatte, als ihn ihr Gruß aus seiner Schau weckte.
Sie lächelte leise und winkte den Dienerinnen. Sofort standen, nahe dem Rande der Dachfläche, prächtige Prunksessel.
»Laß dich nieder, Pythagoras, und höre mich!« begann sie mit leiser Stimme. »Ich weiß, daß du über die Art, in der ich dich hieherlockte, verwundert bist. Mit vollem Rechte! Du wirst mir aber verzeihen, wenn ich dir sage, daß ich alles tat, um dich die Schönheit dieses Platzes voller würdigen zu lassen. Wer nicht zum erstenmal allein und in geheimnisumwehter Stimmung dieses Dach betritt, sieht nicht alle Wunder des Gaues Piom!«
»Dein Plan ist geglückt!« lächelte Pythagoras. »Und ich danke dir doppelt, da du mich kurz nach dem ersten Wunder ein zweites schauen ließest!«
»Wozu Schmeicheleien!« wies sie die Höflichkeit des Pythagoras ab und ihr Antlitz wurde hart und herb. »Wenn anders du es nicht ein Wunder nennst, daß ich noch leben darf!«
Er sah sie fragend an, da er nicht durch ein gesprochenes Wort ihre Abwehr verstärken wollte.
»Du wirst mich verstehen,« setzte sie nach kurzer Pause hoheitsvoll fort, »wenn ich dir sage, wer ich bin. – Und weshalb ich dich rief!«
Pythagoras, der so schnell vor der Enthüllung aller Geheimnisse der letzten Stunden stand, wurde durch diese Ankündigung gleichwohl nicht freudig gestimmt. Fast hätte er gewünscht, jetzt, auf der Stelle, forteilen und das Rätsel und die Erinnerung an die überirdische Schönheit des Geschauten zeitlebens in sich bergen zu dürfen. So schwieg er.
Da lachte die Ägypterin leise auf: »Ihr Hellenen seid ein sonderbares Volk. Man nennt euch geschwätzig, wir dagegen tragen den Ruf der Schweigsamkeit durch die Jahrtausende. Solltet ihr plötzlich von uns und wir von euch gelernt haben?«
»Die Zeit möge kommen, da alle Völker voneinander lernen!« antwortete Pythagoras kühl. »Geschwätzigkeit aber soll bei allen Völkern vertilgt werden. Auch bei uns Hellenen.«
»Habe ich dich gekränkt?« und sie neigte sich vor und sah ihm mit einem dunklen Blick in die Augen. »Ich wollte doch nur mich selbst verspotten. Und deine Verzeihung dafür erlangen, daß ich soviel schwatzte. Trotzdem muß ich dir vieles noch sagen!«
»Ich bin gekommen, dich, die ich nicht kannte, zu hören!« Und Pythagoras erwartete unbewegt ihre Antwort.
»Gut denn!« Und wieder schien sich ihre Gestalt in Würde zu erhöhen. »Ich sagte dir, es sei ein Wunder, daß ich lebe. Denn ich bin Bertreri, die Tochter des Sonnensohnes Uahabra, den ihr Apries nanntet. Staunst du jetzt noch über meine Worte?«
Pythagoras mußte seine ganze Kraft aufbieten, um durch keine noch so kleine Geste seine Erschütterung sichtbar werden zu lassen. Was wollte die Tochter des unglückseligsten Königs von ihm? In welche Ränke zog man ihn? Wie, – und das war die wichtigste Frage – wie hing das alles mit den Priestern zusammen?
Trotz seiner Beherrschung aber hatte Bertreri seine Bewegung bemerkt und richtig gedeutet. So sprach sie weiter:
»Fürchte nichts, Pythagoras! Ich bin die Tochter eines Königs, der seine Freundschaft zu euch Hellenen mit dem Leben bezahlte! So leitet mich auch nur Liebe zu deinem Volke, eurer Kunst und Dichtung, wenn ich dich hieher entbot, um dich zu warnen. Hüte dich vor den Priestern Kemis, Pythagoras! Alles, alles Unglück, das über Kemi hereinbrach, haben die Priester verschuldet!«
»Was weißt du von den Priestern?« hastete Pythagoras gegen seinen Willen hervor. »Woher weißt du, daß ich –«
»Die Tochter des rechtmäßigen Königs, die Urenkelin Tafnachths, hat noch mehr getreue Freunde in Kemi, als der stolze Amasis ahnt!« fiel ihm Bertreri, spöttisch lächelnd, in die Rede. »Doch wozu davon sprechen?« setzte sie abweisend fort. »Ich weiß nun einmal, daß dich die Diener Rās in Heliopolis nach Memphis wiesen. Dort wird man dich – das werden die nächsten Tage zeigen – auch in irgendeiner Form, die Amasis nicht verletzt, hinhalten oder dir ein endgültiges, verdecktes und überschminktes Nein sagen. Doch auch das ist gleichgültig! Es handelt sich um Tieferes, Persönlicheres, was ich dich fragen will. Was suchst du bei diesen – diesen Priestern?«
»Mein Verstand kann es dir nicht künden. Eine Ahnung ist in mir, ein Drang, der Befehl einer höheren Macht. Und ihr Zwang trieb mich von Samos nach Milet, von Milet nach Sidon und Tyros und Byblos und von dort nach Karmel. Auf dem Vorgebirge aber entschied sich mein Geschick und führte mich hieher. Vielleicht wird es mich weiter und weiter jagen bis an den Rand des Erdkreises!« Pythagoras blickte versunken vor sich hin, denn übermächtig hoben sich aus den Dämmerungen seiner Seele die scharfumrissenen Bilder seines Traumes.
Bertreri horchte wie ungläubig auf. Dann sagte sie in nachlässigem Tone: »Ich kann dem Wirrsal von Ahnungen und Träumen nicht folgen. Ich frage noch einmal, schärfer und klarer: Was erwartest du bei den Priestern Kemis zu lernen, zu erfahren, zu gewinnen?«
»Sie sollen mir entdecken, was der tiefste Sinn der Gottheit ist!« erwiderte er schnell.
»Das also hoffst du?« Und sie lächelte einen Herzschlag lang höhnisch vor sich hin. Dann trat ein fast hassender Ausdruck in ihre dunklen Augen. »Das also hoffst du?« wiederholte sie tonlos. »Du kennst die Priester nicht, du verkennst mein Volk! Vor tausend Jahren – vielleicht! Jetzt? Nein, jetzt ist das, was du suchst, längst gestorben, verweht, vergessen. Auch in mir, Pythagoras! Auch in mir!«
Pythagoras senkte den Blick. Seine Gedanken liefen durcheinander und kreuzten sich. Ein tiefer Schatten von Niedergeschlagenheit hatte sich auf sein Gemüt gelegt.
Bertreri aber sprach plötzlich ruhig weiter, so ruhig, daß ihn Schauder faßte:
»Höre von den Priestern, Pythagoras, bevor ich von den Göttern rede. Als Kind schon vernahm ich ihre Worte, ihr Geflüster war um mich und sie ahnten nicht, daß das Kind sie verstand, wenn sie den Vater verlockten. Von Gott hörte ich sie nie erzählen, wohl aber von Gold und Kriegen und Ränken, von Rechtssprüchen und Regierungsgeschäften. Kanntest du den Sohn der Sonne, den gütigen, tapferen Apries, der neunzehn Jahre lang den Feind bekämpfte, um das Reich des großen Ramses wiederzugewinnen? Der Kypros eroberte, die stolze Flotte Sidons versenkte? Und dessen Ansturm erst unter den Mauern Jerusalems zerschellte, weil dort der furchtbare Same keimte, den die Priester gesät?
Doch das kannst du nicht verstehen, wenn ich nicht noch weiter zurücksteige in die Kette meiner Vorväter.
Als das befreite Volk die Fremdherren in das elende Land Kasch zurückgejagt hatte, als endlich allem Schrecken, den einst ehrgeizige Priester über Kemi gebracht, ein Ziel gesetzt war, da herrschten die zwölf Könige in brüderlicher Eintracht. Doch die Priester wollten es anders und erzeugten Wunder und ließen betrügerische Vorzeichen eintreffen, bis sie Psamtik mit Hilfe hellenischer Söldner zum Alleinherrscher gemacht hatten. Einfältig und dankbar erinnerten sich Psamtik und seine Enkel der Hilfe der Hellenen, gaben ihnen Vorrechte, bis die Priester für ihre Macht zitterten.
Kemi hat im Laufe der Zeit viele Fremdvölker beherbergt. Ich schwöre dir, daß kein Mensch im Lande die Gefährten, die in den Schlachten an der Seite der Ägypter für unsere Heimat bluteten, um die kleinen Vorrechte beneidet hätte. Nur die Priester fürchteten euch Hellenen. So wurde dem Volke Haß und Neid eingeredet, bis durch Zwietracht und Eifersucht zwischen hellenischen und ägyptischen Truppen der Siegeslauf meines Vaters vor Jerusalem endete. Da ließ sich Apries endlich von den Priestern verleiten, ein rein ägyptisches Heer gegen die Kyrenaika zu senden. Das Heer wurde geschlagen. Und jetzt kam neues Unheil. Jetzt behaupteten die Ägypter, man habe sie absichtlich ohne hellenische Unterstützung gelassen.
Was weiter folgte, dürftest du wissen. Amasis, der Feldherr meines Vaters, wurde vom Heere zum Könige ausgerufen und mein Vater von den Aufständischen geschlagen und gefangen. Amasis war kein Mörder. Er hielt Apries in ehrenvoller Haft. Die Priester aber hatten es anders beschlossen. Volkshaufe über Volkshaufe zog vor den Palast in Sais, bis die Priester, höre, Pythagoras, dieselben Priester, die das Volk verhetzten, meinen gutgläubigen Vater zur Flucht verlockten und mitten in die empörten Rotten hineinführten. Dort wurde er schändlich erdrosselt! Er, der große, tapfere Sohn der Sonne, der letzte männliche Nachkomme Tafnachths.