9,99 €
Ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen Raum und Zeit
Das Leben des Physikprofessors Jacob Kelley gerät völlig aus den Fugen, als eines Tages sein alter Freund Brian vor der Tür steht und behauptet, auf eine außerirdische Quantum-Intelligenz gestoßen zu sein. Als Brian auf Jacobs Frau schießt, verprügelt Jacob seinen alten Freund und wirft ihn aus dem Haus. Wenig später wird Jacob wegen Mordes an Brian verhaftet. Doch er kann Brian nicht getötet haben, schließlich war er zur Tatzeit zu Hause – wo er sich Brians Theorie über die Quantum-Intelligenz anhörte. Als Jacob versucht, das Rätsel zu lösen, stellt er fest, dass die Gesetze von Raum und Zeit nicht mehr gelten ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 402
Veröffentlichungsjahr: 2016
Das Buch
Der Physiker Jacob Kelley ist mit einer wundervollen Frau verheiratet, hat drei gesunde und intelligente Kinder, und er liebt seinen Job als Physikprofessor am Swathmore College. Sein geregeltes Leben ändert sich jedoch, als an einem verschneiten Dezemberabend sein ehemaliger Arbeitskollege und Freund Brian Vanderhall in Flip-Flops vor der Tür steht und behauptet, es sei ihm gelungen, Kontakt mit Quantenintelligenzen aufzunehmen, die ihm Superkräfte verliehen hätten. Als Jacob ihm nicht glaubt, bedroht Brian Jacobs Familie und wird relativ unsanft aus dem Haus der Kelleys geworfen. Nur wenige Stunden später ist Brian tot – ermordet in seinem eigenen Labor. Jacob wird der Tat überführt und verhaftet, die Beweislast gegen ihn ist erdrückend. Das Problem ist nur: Jacob Kelley kann den Mord nicht begangen haben, denn zur Tatzeit lag er schlafend in seinem Bett. Ist an Brains Gerede von den Quantenintelligenzen doch etwas dran? Gibt es möglicherweise Wesenheiten, die unsere Realität manipulieren können? Die Einzige, die Jacob glaubt, ist seine Kollegin, die Teilchenphysikerin Jean Massey, doch kann sie Brians Theorie und Jacobs Unschuld vor Gericht beweisen?
Der Autor
David Walton wurde 1975 geboren, und wenn er nicht gerade schreibt, arbeitet er als Ingenieur für den amerikanischen Raumfahrtkonzern Lockheed Martin. Er wurde für seine Romane und Kurzgeschichten bereits mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Philip K. Dick Award. David Walton lebt mit seiner Familie in der Nähe von Philadelphia.
Mehr über David Walton und seine Romane erfahren Sie auf:
DAVID WALTON
QUANTUM
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Norbert Stöbe
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der amerikanischen Originalausgabe
SUPERPOSITION
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
Deutsche Erstausgabe 08/2016
Redaktion: Ralf Dürr
Copyright © 2015 by David Walton
Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,
unter Verwendung eines Motivs von agsandrew/Shutterstock
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-18291-5V001
www.diezukunft.de
Für Miriam, denn zwei Mal ist besser
»Unsere Vorstellungskraft ist nicht deshalb so dehnbar,
damit wir wie in der Literatur Dinge imaginieren,
die es nicht gibt, sondern damit wir die Dinge verstehen,
die es gibt.«
Richard Feynman,
Nobelpreisträger für Physik
1
Up-Spin
Obwohl es schneite, tauchte Brian Vanderhall mit Flip-Flops, Wandershorts und einem alten MIT-T-Shirt an meiner Tür auf, sein Atem bildete weiße Dampfwolken. Ich hätte ihn nicht hereinlassen dürfen. Es hätte mir eine Menge Ärger erspart, wenn ich ihm ungeachtet der Kälte die Tür vor der Nase zugeschlagen hätte. Stattdessen machte ich ihm Platz und kam mir dabei vor wie ein Idiot.
Ich hatte im Keller am Sandsack trainiert, als es klingelte. Ein V-förmiger Schweißfleck auf der Brust verdunkelte mein graues ärmelloses T-Shirt, und meine Arme waren feucht von Schweiß.
»Jacob Kelley«, sagte er. »Du siehst aus wie ein Neandertaler, aber das ist ja nichts Neues.«
»Und du bist so charmant wie eh und je«, erwiderte ich. »Wo hast du deine Jacke gelassen?«
Er lächelte schwach. »Mach die Tür zu.«
Ich spähte nach draußen und sah nichts als Schnee und Dunkelheit. »Alles in Ordnung?«
»Mach sie einfach zu, wärst du so nett?«
Ich kannte Brian Vanderhall seit dem College. Während des Studiums und bei dem Drama um unsere Forschung am New Jersey Super Collider war er vermutlich mein bester Freund gewesen. Doch er war nicht immer der denkbar loyalste Freund gewesen, und es gab Gründe, weshalb ich zu ihm auf Abstand gegangen war. Als er unerwartet vor meiner Tür stand, glaubte ich, er wolle mich in irgendein neues persönliches oder finanzielles Chaos verwickeln, doch ich rechnete nicht mit einer Katastrophe. Das tun wir wohl nie.
Brian stampfte Schnee von seinen Flip-Flops und kickte sie in die Ecke. Ein Schwall kalter Luft mischte sich in die mollige Wärme des Kamins, als ich die Tür zuzog und absperrte. Sein Gesicht und seine Hände waren rissig und gerötet, und er hatte einen Mehrtagebart. Zuletzt hatte ich ihn vor zwei Jahren gesehen, und er hatte sich in der Zwischenzeit verändert, wenngleich ich mir nicht sicher war, worin die Veränderung bestand. Ich fand, dass er sein Haar etwas länger trug, und seine Brille war möglicherweise neu. Vielleicht war er einfach nur älter geworden.
Wir stiegen die drei Stufen von der Diele zum Wohnzimmer hoch, wo meine Tochter Claire am Kamin ihre Matheaufgaben machte, das blonde Haar wie ein Sonnenaufgang auf ihre Schultern gebreitet. Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn, dann bogen wir um die Ecke in die Küche.
Die Küche hatte es Elena und mir in diesem Haus angetan. Sie war geräumig und modern, mit langen Arbeitsflächen und einem Hackblock aus Massivholz. Bald saßen wir am Frühstückstisch, und Elena hatte uns heiße Becher hingestellt: Kaffee für sich und Brian und Tee für mich. Oben übte Alessandra Trompete.
Brian legte die Hände um seinen Becher und atmete den Dampf ein. »Danke«, sagte er. »Ehrlich, ich kann gar nicht sagen, wie dankbar ich bin.«
Elena und ich wechselten Blicke. Sie war klein, athletisch und trug Jeans und ein Trainings-Sweatshirt. Ich fand, sie sah jetzt noch besser aus als mit zweiundzwanzig, als sie beim Philadelphia-Marathon vor mir hergelaufen war und ich in Rekordzeit abgeschlossen hatte, weil ich sie nicht aus den Augen verlieren wollte.
»Wie läuft es so am NJSC?«, fragte sie.
»Ach, immer gleich«, antwortete Brian zerstreut. »Richardson ist ein Ekel wie eh und je.« Er sah mich an. »Seit du weg bist, läuft es nicht mehr rund.«
»Als ich noch da war, lief es auch nicht rund«, sagte ich. Der New Jersey Super Collider war der größte Teilchenbeschleuniger der Welt, errichtet unter den Pine Barrens bei Lakehurst, nicht weit von Princeton entfernt. Die Baukosten hatten den Kostenrahmen gesprengt, und viele bezeichneten ihn als die größte Geldverschwendung unserer Generation. Die Proteste der Umweltschützer richteten sich vor allem gegen die langfristige Wirkung der radioaktiven Strahlung auf die Ökologie des Pinienwaldes. Trotz aller Einwände hatte Richardson das Projekt unermüdlich vorangetrieben. Nach der Fertigstellung hatte der politische Proteststurm zugenommen, bloß ging es nicht mehr darum, ob der Teilchenbeschleuniger gebaut, sondern ob er in Betrieb genommen werden sollte. Einige Aspekte der Arbeit am NJSC fehlten mir. Andere überhaupt nicht.
»Ich verstehe nicht, weshalb du fortgegangen bist«, sagte Brian. »Das tut niemand. Du hast einen Doktortitel der Universität Princeton. Du hast als Physiker publiziert, spielst in der ersten Liga, bist vielleicht sogar der nächste Wheeler. Wie konntest du das bloß aufgeben, nur um …« Er deutete vage in der Küche umher.
»Ich unterrichte Physik am Swarthmore College«, sagte ich. »Es gefällt mir dort. Ich habe ein paar aufgeweckte Studenten. Und es gibt dort keine Politik, keinen Streit um Zeit für Experimente, keine Notwendigkeit, Fremden den Wert meiner Arbeit zu beweisen, um weitermachen zu können.«
Als die Darstellung unserer Forschung in der Öffentlichkeit wichtiger wurde als unsere eigentliche Arbeit, war das für mich der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Ein Multimilliardenprojekt brachte einen so großen Druck mit sich, neue Ergebnisse zu produzieren, dass die Qualität der Forschung gefährdet wurde. Seit der Kongress 1993 den Superconducting Super Collider in Texas begraben hatte, spielten die Vereinigten Staaten zum ersten Mal wieder in der ersten Liga der Teilchenforschung. Wir hätten die unselige amerikanische Kurzsichtigkeit auf dem Gebiet der Wissenschaft überwinden können. Stattdessen verwandten wir so viel Energie darauf, Steuerzahlern den Wert des NJSC zu beweisen, dass kaum ein Nutzen damit erzielt wurde.
»Du hättest wenigstens eine Professur in Princeton annehmen können«, sagte Brian. »Dort hätte man schon was für dich gefunden.«
»Ich wollte Schluss machen mit der Politik«, sagte ich.
Brian schüttelte den Kopf. »Du wärst etwas Besonderes gewesen. Du hättest Eingang in die Geschichtsbücher gefunden. Aber du hast das alles weggeworfen.«
Ich trank von meinem Tee, um das Zucken meiner Gesichtsmuskeln zu verbergen. »Nur weil jemand ein begabter Klavierspieler ist, heißt das nicht, dass er auch eine musikalische Laufbahn einschlagen muss«, sagte ich. »Nur weil ein Mädchen gut Schlittschuh läuft, muss es nicht gleich für Olympia trainieren.« Mir kam es so vor, als setzten wir eine Unterhaltung an der Stelle fort, wo wir sie vor zwei Jahren abgebrochen hatten. Ich war das Ganze jetzt schon leid.
Er trank einen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht. »Du vergeudest deinen brillanten Verstand, wenn du mittelmäßigen Studenten zu ein paar Leistungsnachweisen verhilfst.«
Ich richtete mich halb auf, die Hände auf die Tischplatte gestützt. Der Stuhl schrammte über den Fliesenboden. Elena legte mir rasch die Hand auf den Arm. »Hör zu«, sagte ich. »Bist du hergekommen, um mich zu beleidigen, oder gibt es einen besonderen Grund?«
»Tut mir leid, tut mir leid«, sagte er. »Ich weiß. Alte Gewohnheiten und so.« Er führte den Becher zum Mund, doch seine Hand zitterte, und etwas Kaffee schwappte über. Er knallte den Becher auf den Tisch, wobei noch mehr Kaffee überschwappte, fluchte leise und saugte an seiner Hand.
»Moment«, sagte Elena. Sie hielt eine Stoffserviette unter den laufenden Wasserhahn und reichte sie ihm. Er wickelte sie sich um die Hand, während ich mit einer zweiten Serviette den verschütteten Kaffee aufwischte.
Mir wurde bewusst, dass Brian sich stark verändert hatte. Er hatte Angst. Das war kein Stress – gestresst hatte ich ihn erlebt, wenn er Geldprobleme hatte oder wenn eine seiner Frauen herausfand, wie er es auch mit der anderen trieb. Hier ging es um etwas anderes. Er blickte verstohlen zum Fenster und schreckte bei Geräuschen zusammen. Er glich einem Eichhörnchen auf der Straße, das darauf vorbereitet ist, sich bei drohender Gefahr in Sicherheit zu bringen.
»Spuck’s aus«, sagte ich. »Was ist los?«
»Was meinst du?«
»Du hast noch nie im Leben einen Freundschaftsbesuch gemacht. Was willst du von uns?«
Er streifte sich eine Haarsträhne aus den Augen, die prompt wieder herabfiel. »Ich bin in Schwierigkeiten«, sagte er.
»Was für eine Überraschung. Geht’s um die Arbeit oder um Frauen?«
Brian lachte bitter auf. »Um beides, könnte man sagen.«
Ich trank meinen Teebecher leer und brachte ihn zur Spüle, wo ich ihn auswusch und auf das Abtropfgitter stellte. Auf der Arbeitsplatte brannte eine Kerze, die einen scharfen Tannennadelduft verströmte. »Red weiter.«
»Bist du auf dem Laufenden, was die Publikationen angeht?«, fragte Brian, doch ehe ich antworten konnte, ertönte ein lautes Geheul. Sean, mein Sohn, stürmte in den Raum und prallte gegen mich. Er war fünf und kannte nur Vollgas, und die einzige Möglichkeit, ihn zu stoppen, war ein Zusammenstoß.
»Immer schön langsam«, sagte ich. »Was ist los?«
»Alessandra lässt mich nicht spielen«, schluchzte er.
»Sie übt. Wieso nimmst du dir nicht deine Trompete?«
»Die ist kaputt. Und sie hat mich gehauen!«
»Alessandra hat dich gehauen?«
»Auf den Kopf! Mit ihrer Trompete!«
Ich besah mir die Stelle, und tatsächlich: In seinem kurz geschnittenen blonden Haar zeichnete sich eine halbmondförmige Schwellung ab. Ich seufzte. Ein weiteres Kapitel im Fortsetzungsdrama der Kelley-Kinder.
Im nächsten Moment kam Alessandra um die Ecke gestürmt. Sie hatte dunkles Haar wie ihre Mutter, doch es mangelte ihr an Elenas Gelassenheit. »Das war nicht meine Schuld«, sagte sie.
»Nicht deine Schuld?«, sagte ich. »Sieh dir mal die Schramme an! Du bist vierzehn, Alessandra, nicht sieben. Du solltest eigentlich so vernünftig sein, dass du aufs Hauen verzichten kannst.«
»Ich hab bloß gespielt. Er hat sich gestoßen.«
»Willst du ernsthaft behaupten, er sei gegen die Trompete gelaufen? Dass du geübt und dich um deinen eigenen Kram gekümmert hast, und dass er so fest gegen die Trompete geprallt ist, dass er eine Beule davon bekommen hat?«
Sie verschränkte die Arme und musterte mich übellaunig.
»Sieh mich nicht so an«, sagte ich. »Du musst lernen, dich zu mäßigen.«
»Du meinst, so wie du, als der Typ im Fitnessstudio Mom beleidigt hat?«, fragte Alessandra.
Ich wurde zornig. »Provozier mich nicht, junge Dame. Komm runter, und entschuldige dich bei deinem Bruder.«
Wieder legte Elena mir die Hand auf den Arm. »Wir haben einen Gast«, sagte sie. »Unterhalte du dich mit ihm, ich bring die Kinder hoch und regel das.« Sie wühlte im Kühlschrank, nahm eine Gelpackung mit Teddybäraufdruck heraus und drückte sie Sean auf die Stirn. »Rauf auf dein Zimmer, und zieh den Schlafanzug an«, sagte sie. Sie drehte Sean an den Schultern in die richtige Richtung.
»Ich bringe nur die Kinder ins Bett, bin gleich wieder da«, sagte Elena zu Brian. »Nimm dir noch Kaffee; in der Kanne ist noch genug.«
Ich bemerkte, dass Brian Seans kurzen Arm anstarrte. Das taten die meisten Erwachsenen, mal mehr, mal weniger verstohlen, doch sie stellten keine Fragen. Sean war so geboren worden, sein linker Arm hatte nur die halbe Länge, und am Ende saß ein winziges Händchen, mit dem er nicht gut greifen konnte.
Während sie nach oben gingen, beteuerte Alessandra unablässig ihre Unschuld. Brian kicherte. »Du warst schon immer ein Familienmensch, hab ich recht?«, sagte er. »Windeln und Rotznasen.« Die Windeln lagen schon mehrere Jahre hinter uns, doch ich verzichtete darauf, ihn zu korrigieren. Ich wunderte mich, dass er sich über meine Familie lustig machen konnte, obwohl er vor Angst zitterte.
»Okay«, sagte ich. »Lass hören.«
Brian hielt meinen Blick einen Moment lang fest. »Du bist vertraut mit dem Konzept, wonach die Natur ein Computer ist?«
»Klar. Du meinst die Vorstellung, das ganze Universum sei nichts weiter als ein großer Quantenrechner.«
»Sämtliche Informationen des Universums lassen sich demnach als riesige, aber endliche Abfolge von Bits darstellen, mit einigen wenigen Bits für jedes Teilchen, seinen Typ, Spin, Impuls und so weiter«, sagte Brian.
»Mir kam das immer tautologisch vor«, meinte ich. »Das Universum ist das Universum. Wenn man es als Computer bezeichnet, bringt das keine neuen Erkenntnisse mit sich.«
Brian wirkte ein wenig beleidigt. »O doch. Man kann jeden realen Teilchensatz mit einem Quantenrechner simulieren, der dieselbe Zahl von Teilchen beinhaltet, ganz gleich, wie viele es sind und wie komplex sie interagieren.«
Bis jetzt klang das nicht nach einem Mann, der mit Flip-Flops in den Schnee hinausgelaufen war. Eher klang es nach ominöser Metaphysik. »Ach ja? Also kann man einen Apfel mit einem Apfel simulieren. Und weiter?«
»Wenn man das Universum mit einem Quantenrechner simulieren kann, der die Größe des Universums hat, folgt daraus, dass das Universum von einem Quantenrechner ununterscheidbar ist. Praktisch ist es ein Quantencomputer.«
»Das heißt …« Allmählich dämmerte es mir.
»Das heißt, es ist ein Rechner, dessen Komplexität Pronskys Schwelle weit übersteigt.«
»Ausreichend, um Bewusstsein zu entwickeln«, sagte ich, ohne meine Skepsis zu verhehlen.
»Genau.«
Ich musste lachen. »Willst du mir etwa weismachen, das Universum verfüge über ein Eigenbewusstsein?«
»Teile davon.«
»Ist das dein Ernst?«
Brian saß stocksteif auf seinem Stuhl und blickte panisch zum Fenster. Er musste nichts sagen. Ich wusste, er meinte es ernst. Ich wusste bloß noch nicht, ob er tatsächlich verrückt geworden war.
In diesem Moment kam Claire in die Küche, nahm sich einen Schokokeks und goss sich ein Glas Milch ein. Sie war sechzehn und entschied selbst, wann sie zu Bett ging. Sie setzte sich an den Tisch, zerbrach den Keks und tunkte eine Hälfte in die Milch.
Ich war froh über die Ablenkung. »Claire, du erinnerst dich doch bestimmt an Mr. Vanderhall?«, sagte ich.
»Ja, dunkel«, antwortete sie. »Hallo.«
Brian wandte sich ihr zu und schüttelte ihr die Hand. »Ist mir ein Vergnügen.« Er betrachtete ihr Gesicht. »Du bist richtig erwachsen geworden, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe.«
Er hatte recht – in den vergangenen Jahren waren Claires niedliche Sommersprossen verschwunden, und sie hatte sich zu einer wahren Schönheit entwickelt. In Anbetracht von Brians Ruf war mir sein Interesse an meiner Tochter jedoch unangenehm. Außerdem war es nicht Claires Aussehen allein, das eine beeindruckende junge Frau aus ihr machte.
»Claire ist Klassenbeste«, sagte ich. »Beim Wettbewerb für das National Merit Stipendium war sie Halbfinalistin.«
Claire verdrehte die Augen. »Dad.«
Elena kam zurück. »Bitte geh nach oben«, sagte sie zu Claire.
»Ich hab meinen Keks noch nicht gegessen.«
»Nimm ihn mit. Wir möchten uns ungestört mit Mr. Vanderhall unterhalten.«
»Darf ich mir vor dem Schlafengehen noch den Stream anschauen?«
»Ist gut. Aber geh jetzt rauf.«
Sie gab mir einen Kuss, murmelte »Nacht, Daddy« und ging nach oben.
Elena setzte sich mit ihrem Kaffeebecher neben mich; der Kaffee war inzwischen kalt geworden. »Also, worum geht es?«
Ich rollte mit den Augen. »Brian hat mir gerade erzählt, es gäbe in den Zwischenräumen der Atome unsichtbare Feen«, sagte ich.
Er beugte sich vor. »Die gibt es wirklich, Jacob.«
»Was gibt es? Feen?«
»Bewusstsein. Wesen. Künstliche Intelligenz wie in einem Rechner, nur dass der Computer in diesem Fall das ganze Universum ist.«
»Hast du sie schon mal gesehen?«
»Nicht nur das. Sie haben zu mir gesprochen. Sie haben mich neue Dinge gelehrt.« Seine Miene war schwer zu deuten, ein Lächeln, durchsetzt von Unbehagen und Angst. »Es lässt sich einfacher erklären, wenn ich es euch zeige.« Er beugte sich vor und hob einen Kreisel vom Boden auf. Der gehörte Sean – überall ließ er seine Spielsachen herumliegen. Ich hatte ihm den Kreisel geschenkt, so wie das Mikroskop, den Chemie- und den Elektrobaukasten – alles Versuche, Sean für die Wissenschaft zu begeistern. Meinen Erklärungen zum Drehmoment hatte er nur wenig Beachtung geschenkt, doch er beobachtete gern, wie sich der Kreisel auf einem Draht oder einer Bleistiftspitze drehte und dabei in verrückte Schieflage geriet. Jedenfalls am ersten Tag. Jetzt war der Kreisel nur noch ein Gegenstand unter vielen. Sean hatte die Schnur verlegt und sich anderen Spielzeugen zugewandt.
Brian hielt den Kreisel hoch wie ein Magier eine Münze, die er verschwinden lassen will. Ich hatte ein seltsames Kribbeln im Bauch und fragte mich, was das zu bedeuten hatte. Neugier? Wollte ich wirklich wissen, was das alles sollte?
Er hielt den Kreisel auf der Tischplatte senkrecht. Ohne die Schnur war es jedoch nicht möglich, ihn in Drehung zu versetzen. Als Brian die Scheibe losließ, begann sie sich von allein zu drehen. Als er die Hand wegnahm, präzedierte sie mit leichtem Schwanken, blieb ansonsten aber stabil. Ich hielt sogleich Ausschau nach der Kraftquelle, weil ich glaubte, er habe den Kreisel mit einer genial versteckten Batterie und einem Motor in Drehung versetzt, doch so weit ich erkennen konnte, war es noch das gleiche Modell aus Stahl und Plastik, das ich gekauft hatte, simpel und billig gearbeitet. Da war kein Platz für einen Antrieb. Trotzdem drehte sich der Kreisel.
Elena wollte etwas sagen, doch Brian hob die Hand, und wir schauten weiter zu. Zwei Minuten verstrichen, ohne dass der Kreisel langsamer wurde. Nicht einmal ein schnurangetriebener Kreisel hielt so lange durch, ohne an Drehmoment zu verlieren. Drei Minuten verstrichen. Vier.
Schließlich langte Elena nach dem Kreisel und brachte ihn zum Stillstand. Sie atmete schwer und durchbohrte Brian mit ihrem Blick.
»Vielleicht solltest du uns besser erklären, was los ist«, sagte sie.
2
Down-Spin
»Erheben Sie sich!«
Der Gerichtsdiener brüllte den Satz, wie er es vermutlich sein ganzes Berufsleben lang getan hatte. »Verhandlung das Volk gegen Jacob Kelley, Richterin Ann Roswell führt den Vorsitz.«
Das Bundesgericht in Philadelphia war ein eindrucksvolles Gebäude mit Reliefs und Pilastern, das von den funktionalen Büroanbauten an der Rückseite kaum beeinträchtigt wurde. Eine ähnliche Mischung aus Altem und Neuem herrschte auch im Inneren mit seinen Marmortreppen und den behindertengerechten Aufzügen vor. Der Sitzungsraum Nummer fünf, in den die Gerichtsordner mich geleitet und wo sie mir anschließend die Handschellen abgenommen hatten, war ein Raum mit hoher holzgetäfelter Decke, hohen Fenstern und Ölgemälden an den Wänden. Nach dem monatelangen Hickhack der Anwälte beider Seiten sollte der Prozess um die Ermordung Brian Vanderhalls endlich beginnen.
Elena fehlte mir. Meine Kinder fehlten mir. Ich wünschte mir, es gäbe jemanden auf den Besucherrängen, der auf meiner Seite stand. Außerdem war ich das Warten leid und deshalb erleichtert, dass es bald vorbei sein würde, mit welchem Ausgang auch immer. Es war vier Monate her, dass Brian mit Flip-Flops an meiner Haustür erschienen war und mein Leben ruiniert hatte. Jetzt endlich würde sich erweisen, wie die Geschworenenjury meine Geschichte aufnehmen würde.
Terry Sheppard, mein Verteidiger, saß neben mir am Anwaltstisch. Er hatte einen Zwirbelbart und trug Lederstiefel. Er machte den Eindruck, als brächte er mehr Zeit im Pferdesattel als im Gerichtssaal zu, und ich hatte keine Ahnung, ob er gut war oder nicht. Ich hatte ihn ausgewählt, weil er aus der Masse der aalglatten Bügelfaltenhaie, die im Besuchsraum des Gefängnisses ihre Aktenkoffer und maßgeschneiderten Anzüge präsentierten, herausgestochen hatte. Er hatte nicht versucht, mich mit seiner Vita oder seinem Harvard-Abschluss zu beeindrucken. Er war kein Blender. Ich vertraute ihm.
Richterin Roswell war in den Sechzigern, hatte ein freundliches Gesicht und angenehme Umgangsformen. Ich war geneigt, das als gutes Zeichen zu nehmen, blieb aber skeptisch. Terry meinte, Roswell gelte als streng und bringe der Verteidigung als ehemalige Staatsanwältin wenig Sympathie entgegen. Fast eine Stunde lang sprach sie über ihre Verantwortung, stellte die Vertreter von Anklage und Verteidigung vor und erklärte, dass nur das, was von vereidigten Zeugen zu Protokoll gegeben werde, als Beweis gewertet werden würde. Sie war redegewandt und einnehmend, warnte die Geschworenen aber auch eindringlich davor, während der Verhandlung dieses Falls, der auf reges öffentliches Interesse stoße, Kontakt mit den Medien aufzunehmen.
Schließlich wandte sie sich an den Staatsanwalt. »Mr. Haviland«, sagte sie. »Bitte beginnen Sie mit dem Eröffnungsplädoyer.«
David Haviland erhob sich und wandte sich der Jury zu. Dicht über ihm schwebten Kamerafliegen, und ich fragte mich, weshalb er sie nicht einfach beiseitewischte. Er war adrett gekleidet, fühlte sich wohl in seinem Anzug und hatte die Stimme eines Nachrichtensprechers. Schlimmer noch, er machte den Eindruck eines Mannes mit Prinzipien, eines Mannes, der als Verteidiger hätte Karriere machen können, sich aber bewusst für den Beruf des Anklägers entschieden hatte. Hätte er es nicht darauf angelegt gehabt, mich lebenslang ins Gefängnis zu stecken, wäre auch ich von ihm beeindruckt gewesen.
»Meine Damen und Herren«, sagte er, drehte sich und hob die Hände. »Hier geht es um Mord.« Der Gerichtssaal war voll besetzt mit Journalisten und Schaulustigen, doch Haviland wandte sich an die Geschworenen, nicht ans Publikum. Ich musterte sie – sechs Männer und sechs Frauen verschiedener Altersstufen und unterschiedlicher Herkunft – und versuchte zu beurteilen, ob sie Mitgefühl mit mir hatten oder nicht. Das war schwierig zu erkennen.
»Schlicht und einfach Mord«, fuhr Haviland fort. »Darum, dass einem anderen Menschen das Leben genommen wurde. Sie haben Brian Vanderhall nie kennengelernt und werden auch keine Gelegenheit mehr dazu haben, doch wir sollten uns vergegenwärtigen, dass er ein vollkommen realer Mensch war. So real wie Ihr Ehemann, Ihr Vater oder Ihr Sohn. Hatte er Fehler? Mag sein. Haben wir die nicht alle? Das bedeutet jedoch nicht, dass er es verdient hatte, mit achtunddreißig Jahren sein Leben zu verlieren.
Mr. Sheppard wird uns einreden wollen, es gehe bei diesem Fall um Technologie. Er wird uns mit Begriffen wie ›Quarks‹ und ›Leptonen‹ traktieren, bis uns der Kopf schwirrt, und mithilfe von Expertengutachten, die nur wenige Menschen auf der ganzen Welt verstehen können, die Fakten verdrehen. Das sind Taschenspielertricks, die Sie von den Beweisen ablenken sollen. Und die Beweise, meine Damen und Herren, sind vollkommen eindeutig. Die Fakten werden ergeben, dass Mr. Jacob Kelley Brian Vanderhall kaltblütig ermordet hat.« Er deutete anklagend mit dem Zeigefinger auf mich. Ich hätte gern gewusst, wer ihm das auf der Uni beigebracht hatte. Vielleicht hatte er es sich auch im Kino abgeschaut.
»Ihre Aufgabe, meine Damen und Herren, wird es sein, die Wahrheit herauszufinden. In unserem großartigen Land glauben wir nicht, dass die Gebildeten oder Reichen besser dafür geeignet als Sie. Wahrheit ist etwas, das wir alle erkennen und begreifen können. Deshalb haben wir uns entschieden, die Sicherheit unserer Häuser und unserer Nachbarschaft in Ihre Hände zu legen. Wir vertrauen darauf, dass Sie den Mut haben werden, Mr. Kelley …« – abermals zeigte er auf mich – »… zu verurteilen, denn er hat sich eines abscheulichen Verbrechens schuldig gemacht.«
Einer der Geschworenen runzelte leicht die Stirn, vielleicht weil er den Eindruck hatte, Haviland sei mit dem Begriff »abscheulich« zu weit gegangen. Wenn er sich als Mann des Volkes geben wollte, würde er seine Ausdrucksweise mäßigen müssen.
»Sie alle kennen den Ausdruck ›ohne begründeten Zweifel‹«, fuhr Haviland fort, schritt ein wenig auf und ab und rieb sich das Kinn. »Ich möchte Ihnen erklären, was das bedeutet. Bisweilen haben die Geschworenen die Vorstellung, sie könnten einen Angeklagten nur dann verurteilen, wenn völlig ausgeschlossen ist, dass er unschuldig ist. Das ist nicht richtig. Das Wort ›begründet‹ ist entscheidend: Gibt es Gründe zu glauben, Jacob Kelley sei unschuldig? Würden die Beweise, die wir Ihnen vorlegen werden, ausreichen, um Sie davon zu überzeugen, in einer wichtigen Angelegenheit Ihres persönlichen Lebens tätig zu werden? Das bedeutet das Gesetz, und Richterin Roswell wird Ihnen das Gleiche erklären. Selbst Mr. …«
»Verzeihung, Herr Staatsanwalt«, unterbrach die Richterin. »Sie haben bei Ihrem Eröffnungsplädoyer einen großen Ermessensspielraum, aber ich möchte Sie bitten, von einer Auslegung meiner Ansichten Abstand zu nehmen, denn darin haben Sie keinen Einblick.«
Haviland gab sich zerknirscht. »Ich bitte um Verzeihung, Euer Ehren.«
»Geschworene«, fuhr die Richterin fort. »Ich möchte Sie daran erinnern, dass die Eröffnungsplädoyers weder Beweise noch Gesetz sind. Sie geben den Rechtsvertretern Gelegenheit, Ihnen den Fall vorzustellen, aber Sie sollten ihnen keinerlei Gewicht bei der Beurteilung des Falles beimessen. Die Zeugen, die sie aufrufen, werden die Beweise liefern, und das Gesetz werde ich erklären.« Sie nickte Haviland zu. »Bitte fahren Sie fort.«
»Danke, Euer Ehren«, sagte Haviland, erweckte aber den Eindruck, er habe etwas Übelschmeckendes verschluckt.
Er machte auf die gleiche Art weiter, doch ihm war der Wind aus den Segeln genommen. Ich musste mich beherrschen, um meine ernste Miene beizubehalten. Der neben mir sitzende Terry hatte jedoch keine Skrupel und lehnte sich mit breitem Grinsen zurück.
»Begründeter Zweifel«, sagte Haviland. »Überlegen wir mal, was das in diesem Fall heißt. Jacob Kelley hat die Waffe in der Hand gehalten. Das können wir beweisen. Er war zornig auf Mr. Vanderhall und wollte Rache. Auch das können wir beweisen. Sie werden erfahren, dass Mr. Vanderhall Mr. Kelleys Frau angegriffen hat. Sie werden von Mr. Kelleys gewalttätiger Vorgeschichte und seiner leichten Erregbarkeit erfahren, zumal wenn es darum geht, dass seine Liebsten bedroht werden. Und schließlich werden Sie erfahren, wie Mr. Kelley seinem Opfer in einen unterirdischen Bunker gefolgt ist und ihn dort erschossen hat. Ich sage Ihnen, dass ich keinen begründeten Zweifel habe und dass auch Sie keinen haben werden, dass Jacob Kelley …« – wieder zeigte er auf mich – »… bei voller Zurechnungsfähigkeit einem Menschen vorsätzlich das Leben genommen hat.«
Haviland setzte sich und nickte selbstzufrieden. Auf mich wirkte die Geste einstudiert, und ich hoffte, dass auch die Geschworenen das so sehen würden.
»Ich danke Ihnen, Mr. Haviland«, sagte die Richterin. »Mr. Sheppard?«
Terry erhob sich schwerfällig, als hätte er Gelenkschmerzen. »Streichen Sie sich diesen Tag in Ihrem Kalender an«, sagte er. Auf einmal hatte er einen texanischen Akzent, der mir bis jetzt noch nicht aufgefallen war. »Dies ist der Tag, da ein Verteidiger mit der Anklage konform geht. Alles, was Mr. Haviland gesagt hat, war zutreffend.«
Er knickte in der Hüfte ein, als wollte er sich setzen. Ungeachtet meines Vorsatzes, im Gerichtssaal keine Gefühle zu zeigen, fiel mir buchstäblich die Kinnlade herunter, denn einen Moment lang glaubte ich, er habe schon alles gesagt. Dann straffte er sich und fuhr mit einem Augenzwinkern fort: »Na ja, fast alles. Dass mein Klient Mr. Vanderhall getötet hat, ist nicht richtig, aber damit befassen wir uns gleich. Was den Rest betrifft, hat Mr. Haviland die Wahrheit recht gut getroffen. Bei den Aussagen meiner Zeugen wird tatsächlich eine Menge Wissenschaft im Spiel sein, und da wird es möglicherweise ein wenig kompliziert. Anders als Mr. Haviland traue ich Ihnen allerdings zu, dass Sie damit zurechtkommen.
Mr. Haviland scheint zu glauben, Sie wären nicht intelligent genug, um Wissenschaft zu verstehen. Er möchte Ihnen die Wahrheit in kleinen Dosen verabreichen, von denen er glaubt, dass Sie sie schlucken können. Ich persönlich finde diese Haltung etwas überheblich, aber es ist natürlich sein gutes Recht, die Dinge so zu sehen. Allerdings hat er nicht das Recht zu entscheiden, welche Fakten man Ihnen zumuten kann und welche nicht.
Mr. Haviland glaubt anscheinend, die Menschen ließen sich in zwei Gruppen einteilen: in diejenigen, die richtig schwierige Sachverhalte verstehen können, und in solche, die das nicht können. Und er hat bereits entschieden, Sie der zweiten Kategorie zuzuordnen. Nun, ich glaube, Sie sind in der Lage, die Beweise zu würdigen. Ich werde sie Ihnen vollständig vorlegen, nicht nur in kleinen, leicht verdaulichen Häppchen, wie Mr. Haviland es für angeraten hält.
Ich glaube, am Ende des Tages werden Sie mir beipflichten, dass es nicht nur einen begründeten Zweifel daran gibt, dass mein Klient für Mr. Vanderhalls Tod verantwortlich ist, sondern dass es gute Gründe für die Annahme gibt, er habe rein gar nichts damit zu tun.«
3
Up-Spin
Elena hielt den Kreisel in der Hand und starrte Brian nieder. Mir fiel keine wissenschaftliche Erklärung für Brians Demonstration ein. Ein Kreisel hält sich wegen des Drehmoments aufrecht. Im Idealfall würde er nie umfallen, denn das Drehmoment, das die Schwerkraft beisteuert, reicht nicht aus, um seine gyroskopische Trägheit zu überwinden. In der Praxis aber wird die Rotation durch Reibung allmählich abgebremst, und der Kreisel präzediert, bis die Rotation sich abschwächt und die Schwerkraft schließlich überwiegt.
Somit gab es zwei mögliche Erklärungen. Entweder hatte Brian es geschafft, jegliche Reibung auf der Tischplatte auszuschalten – vom Luftwiderstand ganz zu schweigen –, oder er führte dem System Energie zu, ohne den Kreisel zu berühren, und kompensierte auf diese Weise die Reibung. Beides konnte ich mir nicht vorstellen.
»Okay, ich gebe mich geschlagen«, sagte ich. »Wie hast du das angestellt?«
Brian schaute mich ernst an. »Sie haben mir das gezeigt. Die Quantenintelligenzen.«
»Ich verstehe. Die kleinen Feen versetzen den Kreisel in Rotation?« Ich wollte nicht zynisch klingen, doch es fiel mir schwer.
»Natürlich nicht!«, fauchte er. »Das ist Nullpunktenergie. Die Energie des Spins eines einzelnen Teilchens. Die erschöpft sich nicht. Das ist eine unerschöpfliche Energiequelle.«
Ich zögerte, denn es fiel mir schwer, das zu glauben, doch das Verhalten des Kreisels konnte ich nicht so einfach abtun. »Dann hast du also eine Eigenschaft der Quantenwelt auf die Makrowelt übertragen«, sagte ich.
»Erstaunlich, nicht wahr?«, sagte Brian ruhig. »Das könnte die Welt verändern.«
»Wenn das stimmt, wäre so eine Technologie Billionen Dollar wert«, stellte ich fest. »Bist du deshalb hier? Wirst du von Leuten verfolgt, die dir das abjagen wollen?«
»Sie jagen mich«, sagte er, »aber sie sind keine Menschen.«
Ich hob die Hände. »Jetzt mal ernsthaft.«
»Also gut, ein Beispiel«, sagte er. Er langte unter den Tisch und hielt auf einmal eine Glock 46 in der Hand, mit der er auf Elena zielte. Elena blickte regungslos in die Mündung und atmete ganz flach. »Tu das nicht«, flüsterte sie.
»Sie wird dich nicht verletzen«, sagte Brian. »Die Kugel wird um dich herum abgelenkt.«
»Du redest Blödsinn«, sagte ich. »Sieh mich an.« Er rührte sich nicht. »Sieh mich an!«, rief ich. Er tat es. »Das ist eine Kugel, kein Elektron«, sagte ich. »Wenn du abdrückst, tötest du sie. Das willst du nicht.«
Er stand auf. »Du glaubst mir erst, wenn ich es dir beweise.«
Ich rückte am Tisch entlang auf ihn zu. »Ich glaube dir ja«, sagte ich. »Aber bitte setz dich wieder hin, und dann erzählst du uns alles.«
»Nein, du glaubst mir nicht. Du nennst sie Feen und machst dich über mich lustig. Ich will es dir nur beweisen, Jacob. Ich werde niemanden verletzen. Ich will es dir einfach nur beweisen.«
»Dann ziel woanders hin«, sagte ich. »Ziel auf mich.«
»Die Kugel wird sie nicht verletzen«, sagte er und drückte ab.
Ich bin in South Philadelphia aufgewachsen und mit Gewalt vertraut. Mein Vater war ein kleiner Gauner und Trunkenbold, der im Gefängnis starb, bevor ich zwei wurde. Ich hatte zwei Onkel, die Brüder meiner Mutter, die sich meiner annahmen. Sie waren Boxer von der illegalen Sorte und kämpften mit harten Bandagen, und sie brachten mir das Kämpfen bei. Ich war ein rothaariger, sommersprossiger Junge und wuchs in einer Gegend auf, die überwiegend von Italienern bewohnt war. Ich war gut in der Schule, versuchte es aber zu verbergen. Ich lernte früh, dass Intelligenz auf der Straße nicht weiterhilft. Ich war nur so gut wie meine Fäuste.
Außerdem machte es Spaß zu kämpfen. Ich war ständig zornig, zornig auf meine Mutter, weil sie trank, anstatt zu arbeiten, zornig auf die Männer, die sie nach Hause brachte, zornig auf meinen Vater, weil er gestorben war, zornig auf meine Lehrer, weil sie mir ständig erzählten, dass ich etwas aus mir machen könnte, wenn ich nur wollte. Mit den Fäusten auszuteilen baute etwas von dem Druck ab und gab mir Kontrolle über mein Leben. Niemand konnte Onkel Sean und Onkel Colin Vorschriften machen, und ich wollte sein wie sie.
Mit dreizehn boxte ich in der Jugendliga, doch das war nur ein Sport mit Handschuhen und Regeln. Ich war damals größer als die meisten Jungs in meinem Alter und wurde ständig angemacht, weil ich zu früh oder zu spät reagierte oder auf den falschen Körperteil schlug. Das waren nicht die erbitterten Kämpfe, die sich meine Onkel mit ihren Gegnern lieferten, wo die Luft geschwängert war von Zigarettenrauch und dem Geruch des Blutes.
In dem Alter wusste ich bereits, dass meine Onkel nicht frei in ihren Entscheidungen waren. Sie waren hoch verschuldet bei den Bossen in Anzügen, die im Hintergrund die Bücher führten und die Spiele manipulierten. Sie konnten nicht aufhören zu kämpfen, wenn sie am Leben bleiben wollten. Ich wusste, dass mir das Gleiche bevorstand. Das Boxen war das einzige Fach von Bedeutung, in dem ich gut war. Eines Tages würde auch ich den Bossen gehören, und ich würde niemals von ihnen loskommen.
Als ich fünfzehn war, kam Onkel Sean ums Leben, und alles veränderte sich. Ein Gegner trat ihm, als er am Boden lag, so lange gegen den Kopf, bis der Gehirnstamm durch die Schädelbasis gedrückt wurde. Onkel Sean starb kotzend in den Sägespänen im Ring. Nicht mal ein Krankenwagen wurde bestellt. Dis Bosse entsorgten still und leise seinen Leichnam; ich weiß nicht, wie sie das anstellten. In diesem Monat alterte ich um zehn Jahre, und plötzlich war mir die Vorstellung, in South Philadelphia und in diesem Leben auszuharren, unerträglich.
Ich hörte auf zu boxen und konzentrierte mich auf die Schule. Ich wusste nicht viel über das Leben außerhalb von South Philly, doch ich wusste, dass die einzige Möglichkeit, aus der Gegend wegzukommen, darin bestand, aufs College zu gehen und dass ich dazu ein Stipendium brauchte. Ich hatte schon immer wie ein Magnet an Ideen festgehalten, doch bisher hatte das keine Auswirkungen gehabt. Jetzt ging es um alles.
Drei Jahre lang arbeitete ich härter als je zuvor, nicht weil ich die Schule mochte, sondern weil sie der einzige Ausweg war. Ich war zorniger denn je, doch ich hatte gelernt, meinen Zorn zu beherrschen – mit zu vielen Kämpfen auf der Highschool hätte ich mir alles versaut. Jeden Abend bearbeitete ich im Keller den Punchingball, bis mir die Hände bluteten.
Die Physik war eine große Überraschung für mich. Sie war einfach und wunderschön. Sie erklärte die Welt in klaren Zusammenhängen von Kraft, Bewegung und Geschwindigkeit. Es war nicht die darin verborgene Gewalttätigkeit, die mich anzog; es war die Eindeutigkeit der Formeln. Mein Leben war meistens kompliziert. Die Physik war einfach. So sollte die Welt beschaffen sein.
Wir erfuhren von Einstein, einem Niemand auf dem Gebiet der Wissenschaft, der neben seiner Arbeit im Patentamt vier Artikel verfasste, die die Welt auf den Kopf stellten. Ich dachte, wenn er das konnte, müsste es mir wenigstens gelingen, aus Philadelphia wegzukommen. Im Frühjahr, als für mich das Junior College begann, bewarb ich mich in Princeton, Berkeley und am MIT. Zu meinem Glück passte ich perfekt in die politische akademische Landschaft, die es als wünschenswert betrachtete, Bewerber aus armen Gegenden zu fördern. Ich wurde an allen drei Universitäten angenommen und bekam ein volles Stipendium.
Damals saß mein Onkel Colin im Gefängnis, und meine Mutter wusste wenig mehr von mir, als dass ich am Leben war. Ich ließ sie zurück, ohne mich umzusehen, packte meine Habseligkeiten in einen alten Koffer meines Vaters und fuhr mit dem Bus nach Boston, Massachusetts.
Das MIT entsprach in etwa meinen Erwartungen – offenbar waren alle, die ich kennenlernte, reiche amerikanische Kids aus den Hamptons mit einem Chalet in den Alpen oder gehätschelte Söhne einer koreanischen, chinesischen oder vietnamesischen Familie mit politischen Beziehungen. Keiner hatte einen ähnlichen Hintergrund wie ich, und es fiel mir schwer, Freundschaften zu schließen. Aber die Physik! Da gab es alles, was mir lieb und teuer war, kodifiziert in vollkommenen, prägnanten Symbolen. Drehmoment und Trägheit, lineare Bewegung und Winkelverschiebung, Kraft gleich Masse mal Beschleunigung, das Wechselwirkungsprinzip. Das machte Sinn. Es bedeutete, dass die Welt Sinn machte.
Die Professoren behandelten uns, als wären wir die Crème de la Crème der neuen Generation. Am MIT herrschte eine angeregte Atmosphäre, ganz gleich, woher man kam. Wir hatten das Gefühl, uns im Zentrum der wissenschaftlichen Welt zu befinden, eine auserwählte Elite, der es ermöglicht wurde, mit den Besten des Fachs zu studieren. Für mich war das neu, und ich genoss es. Ich liebte die Physik von Tag zu Tag mehr.
Der Zorn trat in den Hintergrund, bis er einem im Schatten angeketteten Pitbull glich. Ich arbeitete in der Turnhalle noch immer am Punchingball, redete aber nicht viel über meine Vergangenheit. Die wollte ich hinter mir lassen. Ich war jetzt ein Wissenschaftler, der an die inhärente Ordnung des Universums glaubte. Das Chaos lag hinter mir.
Die Waffe knallte ohrenbetäubend laut. Der Kaffeebecher in Elenas Hand zerschellte. Ich dachte nicht, sondern reagierte bloß. Ich beugte mich Brian entgegen, drehte mich in der Hüfte und legte meine ganze Kraft in den Cross. Brian wurde zurückgeschleudert und landete auf dem Rücken. Ich sah Elena an.
Sie saß noch immer am Tisch, die Augen geweitet und den Mund leicht geöffnet. Sie war kreidebleich geworden. Vor ihr lagen die Scherben des Bechers in einer Kaffeelache.
» Elena! Bist du verletzt? « Mir klangen die Ohren; ich hörte kaum meine eigene Stimme. Ich stürzte zu ihr. Sie saß noch immer auf dem Stuhl, benommen, aber offensichtlich unverletzt. Ich konnte es nicht fassen. Zunächst glaubte ich, die Kugel wäre vom Kaffeebecher abgelenkt worden, aber nein – in der Gipskartonwand war ein Loch, unmittelbar hinter ihrer Brust. Die Kugel war durch sie hindurchgegangen.
»Wähl den Notruf«, sagte ich.
Sie rührte sich nicht.
»Elena!«
Sie zuckte zusammen, als hätte ich sie aufgeweckt, und nahm das Handy aus der Hosentasche. Brian lag noch am Boden. Er atmete, doch der Schlag hatte ihn benommen gemacht.
»Ja«, sagte Elena ins Handy. »Jemand … ein … Mann hat gerade eben auf mich geschossen.«
Brian regte sich und sah Elena an. Plötzlich stellte sich sein Blick scharf, und er schüttelte den Kopf. »Was machst du da? Rufst du die Polizei? Tu das nicht.« Er sah mich an. »Schau sie dir an – sie ist unverletzt! Die Kugel wurde um sie herumgelenkt, wie ich es dir gesagt habe! Ich wollte das nur demonstrieren.« Er richtete sich schwankend auf.
»Wir sind in der Küche«, sagte Elena. »Bitte, beeilen Sie sich.«
»Bitte leg das Handy weg«, sagte Brian.
Ich trat zwischen sie. »Verschwinde aus meinem Haus.«
»Jacob«, flehte er. »Ich brauche deine Hilfe.«
Ich näherte mich ihm mit erhobenen Fäusten, ohne die Waffe in seiner Hand zu beachten. Er drehte sich um und zerrte an der Klinke der Tür, die in den Garten führte. Die Tür ging nicht auf. Er hantierte am Schloss. Ich half ihm nicht. Sonst hätte ich ihn geschlagen. Schließlich schaffte er es, den Schlüssel herumzudrehen, und riss die Tür auf. Mit einem vorwurfsvollen Blick über die Schulter lief er barfuß in den Schnee hinaus.
Polternde Schritte näherten sich über die Treppe, dann platzten Claire, Alessandra und Sean in die Küche. Alle redeten gleichzeitig.
»Was war das für ein Lärm?«, fragte Claire.
»Hat er auf dich geschossen?«, fragte Sean mit großen Augen.
»Alles in Ordnung«, sagte ich. »Er ist weg. Los, zieht euch an. Die Polizei kommt, und ich nehme an, die wollen auch mit euch sprechen.«
Elena zitterte. Ich nahm sie in die Arme, und sie klammerte sich an mich. Ich spürte ihren schlanken Hals und ihre zarten Knochen, streichelte ihr das Haar und stellte mir vor, was hätte geschehen können, stellte mir mein Leben vor, wenn sie tot wäre. Ich spürte die Anwesenheit des Pitbulls, der an seiner Kette zerrte und sich losreißen wollte. Ich wollte jemandem wehtun. Im Moment hatte ich mich noch unter Kontrolle, doch ich wusste, damit wäre es vorbei, wenn Brian noch einmal bei uns auftauchen sollte.
Elena ließ mich nicht los, und ich hielt sie fest, und so warteten wir, bis die Polizei eintraf.
4
Down-Spin
Der erste Zeuge der Anklage war Officer Richard Peyton, ein großer Mann mit dickem Hals, roten Gesichtsflecken und so kurz geschnittenem blondem Haar, dass seine Geheimratsecken fast nicht zu sehen waren. Er stieg das Treppchen zum Zeugenstand hoch, bekleidet mit einer frisch gereinigten und gebügelten Uniform. Die Mütze, die er in der Hand hielt, legte er neben sich aufs Geländer.
Der Gerichtsdiener hielt ihm die Bibel hin, und Peyton legte die Hand darauf. »Schwören Sie, die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, so wahr Ihnen Gott helfe?« Der Mann ratterte die Eidesformel herunter wie ein einziges vielsilbiges Wort.
»Ich schöre.«
Haviland trat vor. »Officer Peyton, welchen Beruf üben Sie aus?«
»Ich bin Officer beim Media Police Department.«
»Wie viele Jahre sind Sie schon bei der Polizei?«
»Seit ungefähr acht Jahren.«
Neben mir lümmelte sich Terry Sheppard, augenscheinlich von Peyton gelangweilt, und spielte mit dem Ende seines Zwirbelbarts. Ich nahm an, dass es eine Pose war, mit der er den Geschworenen seine Verachtung für den Zeugen kundtun wollte, war mir aber nicht sicher. Er wirkte ständig gelangweilt.
»Erinnern Sie sich, wo Sie am Abend des zweiten Dezember waren?«
»Ja. Ich war im Media District auf Streife, als ich von der Zentrale in die Woodview Lane beordert wurde, wo es augenscheinlich zu einem bewaffneten Angriff gekommen war.«
»Und Sie fuhren wie angewiesen zum Ort des Geschehens?«
»Ja, das tat ich.«
»Und Sie waren allein?«
»Nein, mein Partner, Officer Jimenez, war bei mir im Wagen, und fünf Minuten nach unserem Eintreffen kamen Officer Esposito und Officer Ashford mit ihrem Wagen hinzu.«
»Und was haben Sie im Haus vorgefunden?«
»Mr. und Mrs. Kelley waren da, die Besitzer des Hauses, und ihre drei Kinder. Mr. Kelley erklärte, Brian Vanderhall habe mit einer Pistole auf seine Frau geschossen.«
»Gab es dafür Belege?«
»Ja, Sir. In der Küchenwand war ein Einschussloch, und etwa anderthalb Meter davon entfernt lagen Scherben eines Kaffeebechers mit Schmauchspuren.«
»Können Sie Mr. Kelley identifizieren? Befindet er sich im Gerichtssaal?«
»Natürlich.« Peyton zeigte auf mich. Da war er heute nicht der Erste. »Das ist er.«
»Wir wollen zu den Akten nehmen, dass der Zeuge Richard Peyton Jacob Kelley identifiziert hat«, sagte Haviland. »Ich danke Ihnen, Officer. Welchen Eindruck hat Mr. Kelley auf Sie gemacht?«
»Verzeihung?«
»In welcher Gemütsverfassung war er?«, fragte Haviland. »War er glücklich, traurig, zornig, verärgert, belustigt?«
»Einspruch!«, rief Terry. Er betonte die erste Silbe, als hätte er schon zwanzig Mal Einspruch erhoben und wäre die Spielchen des Anklägers allmählich leid. »Was hat diese Frage mit der Mordanklage zu tun?«
»Ich versuche, ein Motiv zu konstruieren«, sagte Haviland. »Der Vorfall ereignete sich am Vortag der Tat, und es ist wichtig, festzustellen, in welcher Gemütsverfassung der Angeklagte sich befand.«
»Einspruch abgelehnt«, sagte Richterin Roswell. »Sie dürfen die Befragung von Officer Peyton fortsetzen.«
»Er war aufgebracht«, sagte Peyton. »Rasend vor Zorn. Jemand hatte gerade auf seine Frau geschossen. Da würde ich auch wütend werden.«
»Wütend genug, um zu töten?«, fragte Haviland.
»Einspruch!«, sagte Terry.
Haviland aber winkte ab. »Ich ziehe die Frage zurück«, sagte er.
Ich hatte Mühe, still sitzen zu bleiben und mir das alles anzuhören. Meine Muskeln spannten sich immer wieder an, so wie früher, wenn ich einem Wissenschaftler zuhören musste, der ein konkurrierendes Experiment heruntermachte, um seine eigene Forschung besser aussehen zu lassen. Ich fühlte mich ohnmächtig; durfte nichts erklären, durfte nicht sprechen, war zur Tatenlosigkeit verdammt. Mein Leben lang hatte ich das Gefühl der Hilflosigkeit und Verletzlichkeit verabscheut. Ich war mir nicht sicher, ob ich es über Tage hinweg ertragen würde.
»Um welche Uhrzeit sind Sie ins Haus gekommen?«, fragte Haviland.
»Um acht Uhr fünfundzwanzig abends.«
»Woher wissen Sie das so genau?«
»Den Zeitpunkt habe ich in meinem Bericht angegeben, und ich habe nachgeschaut, bevor ich hierhergekommen bin.«
Haviland langte unter den Tisch und zog eine große interaktive Weißwandtafel hervor, auf der eine Zeitachse dargestellt war. In der rechten unteren Ecke erschien ein Rechteck mit der Beschriftung »Weiter«, und als Haviland darauftippte, wurde der Zeitpunkt 20.25 Uhr angezeigt mit dem Zusatz »Polizei trifft in Kelleys Haus ein«.
»Ist die Zeitangabe korrekt?«, fragte Haviland.
»Ja, das ist sie«, antwortete Peyton.
Haviland zeigte die Tafel kurz der Jury und dem Publikum, dann lehnte er sie an den Tisch. »Dann sind Sie also ins Haus gekommen und haben Hinweise auf Schusswaffengebrauch und einen sehr zornigen Jacob Kelley vorgefunden«, sagte er. »Was haben Sie als Nächstes getan?«
»Ich hab’s durchgegeben, und dann wurde die Suche nach Brian Vanderhall eingeleitet. Wir haben eine Fahndung nach seinem Wagen rausgegeben und die Nachbarschaft durchkämmt, konnten ihn aber nicht finden«, sagte Peyton.
»Sie haben ihn nicht gefunden? Wurde die Suche halbherzig durchgeführt?«
»Nein, Sir. Wir gingen von Haus zu Haus, mehrere Straßenblocks weit in jede Richtung, und haben an den Türen geklopft und die Gärten abgesucht. Wir haben die umliegenden Polizeiwachen alarmiert und auch die New Jersey State Police. Niemand hat ihn gesehen.«
»Wie lange dauerte die Suche?«
»Bis sein Leichnam gefunden wurde.«
»Hat Mr. Kelley Ihnen gegenüber erwähnt, dass es einen unterirdischen Geheimbunker gibt, in dem er mit Mr. Vanderhall wissenschaftliche Experimente durchgeführt hat?«
»Nein, das hat er nicht.«
»Er hat nicht darauf hingewiesen, dass Mr. Vanderhall sich möglicherweise dort versteckt haben könnte?«
»Nein, Sir«, sagte Peyton.
»Welchen Grund könnte er dafür gehabt haben?«
»Einspruch«, sagte Terry. »Er versucht, den Zeugen zu Mutmaßungen zu bewegen.«
»Stattgegeben«, sagte Roswell.
Haviland zuckte mit den Achseln. »Eine letzte Frage. Um welche Uhrzeit hat die Polizei an dem Abend Mr. Kelleys Haus verlassen?«
»Um fünf vor elf«, antwortete Peyton.
Haviland nahm die Tafel in die Hand und tippte auf das Weiter-Feld. Ein neuer Kasten mit dem Eintrag »Polizei verlässt Kelleys Haus« wurde an der Position »22.55 Uhr« angezeigt.
»Ist das so richtig?«, fragte er.
»Ja, ist es.«
»Keine weiteren Fragen, Euer Ehren.«
Haviland setzte sich. Terry sprang auf, rannte praktisch zum Stehpult und klatschte seine Notizen darauf. Seine gelangweilte Pose hatte sich verflüchtigt. Er warf mir einen Blick zu; seine Augen funkelten.
»Mr. Peyton«, sagte er in dem schneidenden Ton, mit dem ich meine Kinder zur Ordnung rief, wenn sie etwas angestellt hatten.
»Officer«, verbesserte ihn Peyton.
»Ah, ja. Ein Hüter des Gesetzes. Bewahrer der Wahrheit. Mr. Peyton, wie oft wurden Sie in den acht Jahren Ihres Berufslebens an den Ort eines Gewaltverbrechens gerufen?«
Peyton schnaubte. »Das weiß ich nicht. Hunderte Male.«
Terry hielt einen Stapel Papiere hoch. »Den Polizeiakten zufolge über fünfhundert Mal.«
»Das kann sein, aber ich zähle nicht mit«, sagte Peyton.
»Und wie häufig haben Sie bei diesen Einsätzen eine oder mehrere zornige Personen angetroffen?«
Peyton musterte ihn seltsam. »Verzeihung?«
»Ich bitte Sie, Mr. Peyton. Bei wie vielen dieser Einsätze haben Sie dort eine Person angetroffen, die, ich erlaube mir, Sie zu zitieren, ›rasend vor Zorn‹ war?«
»Bei den meisten, würde ich sagen.«
»Und wie viele dieser Vorfälle haben einen tödlichen Ausgang genommen?«
»Nicht viele.«
Terry hielt die Papiere hoch. »Fünfzehn?«
Peyton wurde allmählich ungehalten. »Das könnte stimmen. Die genaue Zahl weiß ich nicht.«
»Dann lässt sich aufgrund Ihrer Erfahrung daraus, dass jemand rasend vor Zorn ist, nicht unbedingt schließen, dass er auch jemanden umbringt?«
»Richtig.«
»Mr. Peyton, wenn Sie jemandem begegnen, von dem Sie glauben, dass er eine Gefahr für sich oder andere Personen darstellt, was tun Sie dann?«
»Ich nehme ihn in Gewahrsam.«
»Würden Sie im Bericht aufführen, dass Sie damit gerechnet haben, dass der Betreffende anderen Gewalt antun würde?«
»Ja.«
»Haben Sie Jacob Kelley an diesem Abend in Gewahrsam genommen?«
»Nein.«
»Haben Sie in Ihrem Bericht erwähnt, es gebe Anlass zu der Sorge, er könne zur Gefahr für andere werden?«
»Nein.«
»Weshalb nicht?«