Queen of Blood - Jill Myles - E-Book
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Queen of Blood E-Book

Jill Myles

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Beschreibung

Seit Jahrzehnten wird das Volk der Vidari grausam von den Blutprinzen unterdrückt. Durch einen Zufall gelangt die junge Seri an den Hof der geheimnisvollen Herrscher, soll dort für den Widerstand der Vidari spionieren. Als sie den Blutprinzen Graeme kennenlernt, kommen Seri plötzlich Zweifel an ihrer Mission. Doch in dem heraufziehenden Krieg ist kein Platz für Zweifel oder Gefühle - und schon bald muss Seri sich entscheiden, ob sie ihr Volk oder ihre Liebe verraten soll ...

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Seitenzahl: 433

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INHALT

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumAm Anfang …EinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigFünfundzwanzigSechsundzwanzigSiebenundzwanzigAchtundzwanzigNeunundzwanzigDreissigEinunddreissigZweiunddreissigDreiundreissigVierunddreissigFünfunddreissigSechsunddreissigSiebenunddreissigAchtunddreissigNeununddreissigVierzigEinundvierzigZweiundvierzigDreiundvierzigVierundvierzigFünfundvierzigSechsundvierzigEpilog

Über das Buch

Seit Jahrzehnten wird das Volk der Vidari grausam von den Blutprinzen unterdrückt. Durch einen Zufall gelangt die junge Seri an den Hof der geheimnisvollen Herrscher, soll dort für den Widerstand der Vidari spionieren. Als sie den Blutprinzen Graeme kennenlernt, kommen Seri plötzlich Zweifel an ihrer Mission. Doch in dem heraufziehenden Krieg ist kein Platz für Zweifel oder Gefühle - und schon bald muss Seri sich entscheiden, ob sie ihr Volk oder ihre Liebe verraten soll …

Über die Autorin

Jessica Clare lebt mit ihrem Mann in Texas. Ihre freie Zeit verbringt sie mit Schreiben, Lesen, Schreiben, Videospielen und noch mehr Schreiben. Sie veröffentlicht Bücher in den unterschiedlichsten Genres unter drei verschiedenen Namen. Als Jessica Clare schreibt sie erotische Liebesgeschichten. Ihre Serie Perfect Passion erschien auf den Bestseller-Listen der New York Times, der USA Today und des Spiegel.

Mehr Information unter: www.jillmyles.com

Jessica Clare schreibt als

JILL MYLES

QUEENof BLOOD

DIE BESTIMMUNG

Aus dem amerikanischen Englisch von Frauke Meier

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Queen of Blood © 2015 by Jill Myles

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Queen of Blood«

This edition is made possible under a license arrangement originating with Amazon Publishing, www.apub.com, in collaboration with Agence Hoffman.

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Titelillustration: © Trevillion/Kylli Sparre; © fotostudiya_com/Thinkstock; Wavebreakmedia Ltd/Thinkstock; mayakova/Thinkstock; Stanislav Stasyuk/Thinkstock

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7325-5660-1

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Am Anfang …

Einst, vor langer Zeit, waren jene vom Blute normale Menschen. Sie aßen wie normale Menschen, lebten unter der Sonne wie normale Menschen und starben wie normale Menschen.

Dann jedoch, vor Tausenden von Jahren, als Athon kaum mehr war als ein Häufchen Schafhirten und das Land ein Flickwerk aus Dutzenden kleiner Königreiche, gab es einen unbarmherzigen Herrscher, der hatte eine Tochter, von der es hieß, sie sei die schönste Frau in den neun Ländern, und viele wünschten, sie zu ehelichen. Der Mann jedoch, der sie am meisten begehrte, war der König von Praava, ein grausamer und gefürchteter Regent. Der König von Athon war sehr daran interessiert, eine Ehe mit dem König von Praava zu arrangieren, doch seine Tochter weigerte sich. Sie bestand darauf, Priesterin zu werden und der Göttin zu dienen. Sie würde keinen Mann heiraten, vor allem aber nicht den König von Praava.

Dem König von Athon behagte dieser Gedanke nicht. Sollte seine Tochter ihr Leben dem Gebet widmen, war sie nutzlos für ihn, und er wünschte sich inständig eine strategische Allianz mit Praava. Da aber seine Tochter keine Vernunft annehmen wollte, sperrte er sie bis zum Abend der Hochzeit ein. Sie jedoch schmiedete Pläne, sich im Schutz der Nacht davonzuschleichen und im Tempel der Göttin Zuflucht zu suchen. Bis ihr Vater herausgefunden hätte, dass sie fort war, wäre es längst zu spät.

Doch ihr Vater bekam Wind von ihrem Vorhaben und war zutiefst erbost. Wie konnte seine undankbare Tochter es nur wagen, seine Pläne zu durchkreuzen? Ungeachtet dessen, dass der ihr zugedachte Gatte bereits drei seiner früheren Gemahlinnen getötet hatte, war der König blind für alles andere; das Einzige, was er noch sah, war der Treuebruch seiner Tochter. Als er sie vor dem Altar der Göttin kniend fand, erdolchte er sie mit seiner eigenen Klinge. Mit dieser blutigen Rache noch immer nicht zufrieden, befahl er dann zur Strafe für den Verrat die Exekution aller Priester und Priesterinnen.

Die Göttin zürnte, dass der König sich erdreistet hatte, jene zu vernichten, die sie als die Ihren beanspruchte, noch dazu in ihrem eigenen Haus. Sie verfluchte ihn und sein Geschlecht. Da er seine eigene Tochter getötet hatte, wollte sie ihm keine weitere zugestehen. Wenn seine Lenden zeugten, würden sie Söhne zeugen, die ebenso verflucht wären wie er selbst. Seine ganze Blutlinie sollte dazu verdammt sein, den Tag zu meiden und bei Nacht zu leben. Sie sollten gezwungen sein, das Blut anderer zu trinken, um zu überleben, von Kehle zu Kehle, von Geliebter zu Geliebter zu flattern und nie Befriedigung oder Linderung zu finden. Jeder warme Leib sollte rasch sein Aroma einbüßen und nicht mehr geeignet sein, sie zu nähren. Die Dynastie vom Blute sollte für immer verflucht sein, ewig hungrig und doch unfähig, ihren Durst zu stillen.

Aber die Göttin kannte Erbarmen.

Sollte sich erweisen, dass einer derer vom Blute anders war als der Rest seiner Blutlinie, weil er Empathie und Bedauern offenbarte, so würde sie ihm ein Geschenk machen: eine Eterna, eine ewige Braut für den Gemahl aus der Dynastie vom Blute. Er würde nie wieder von einer anderen trinken müssen, um seinen Durst zu stillen, denn sie sollte sein Ein und Alles sein.

Aber seit Beginn der Geschichtsschreibung hatte es nie eine Eterna gegeben, und die Dynasten setzten ihre endlose, verfluchte Existenz fort. Und während Athon immer mächtiger wird und all die anderen Königreiche mit Finsternis überzieht, fragt sich mancher, ob die Eterna nur ein Mythos ist, ein verblassendes Fanal der Hoffnung für ein mächtiges, aber verdammtes Geschlecht.

EINS

Von ihrem Thron auf dem zerklüfteten Felsen aus beobachtete Seri die Karawane, die sich knarrend ihren Weg über die Hauptstraße bahnte, und bemühte sich, ihre Angst im Zaum zu halten. Seit Tagen schon fielen die Kutschen in die Ländereien der Vidari ein, auf dem Weg zu dem großen Schloss in der Ferne. Sie musste die leuchtenden seidenen Banner und die schmuck gekleideten Passagiere gar nicht sehen, um genau zu wissen, wer die Neuankömmlinge waren.

Sie waren Athoniten, und sie waren Feinde.

Wie an jedem anderen Tag des vergangenen Siebentags zog sich die Karawane, so weit das Auge sehen konnte. Aber anders als zuvor schwärmten nun auch Soldaten um die Kutschen herum, schützten sie mit Speeren und metallenen Schilden. Hinter dem Wagenzug marschierten Regimenter geordneter Bataillone, deren rote Mäntel Farbe auf den Horizont brachten. Unmöglich zu übersehen.

Besorgt drehte sich Seri zu ihrem Begleiter um. »Vielleicht ist es ein Würdenträger, der gekommen ist, um sich in dem alten Schloss niederzulassen«, mutmaßte sie. »Deine Schwester sagte mir, der Athonitenprinz sei zurückgekehrt, um die ›Wilden‹ mit zivilisierter Hand zu führen.«

Da sie beide zu den sogenannten Wilden zählten, erwartete Seri, dass Rilen ihre Worte mit einem Lächeln quittierte. Jeder Athonitenlord hätte alle Hände voll zu tun, um die Vidari zu beschwichtigen, die auch nach hundert Jahren der Knechtschaft, in denen sie gezwungen waren, auf dem kargsten Ackerland des Königreichs zu leben, noch immer Verbitterung empfanden.

Stattdessen bedachte Rilen sie mit einem misstrauischen Blick. »Elen redet zu viel.«

Stirnrunzelnd studierte Seri Rilens Gesicht. »Du widersprichst nicht?«

»Warum sollten sie sonst hier sein?«, fragte er. »Warum sollten sie sonst das Schloss umbauen?«

Seri blickte hinauf zu dem riesigen Palast hoch oben auf den Klippen über der Stadt. Er hatte leer gestanden, solange irgendjemand sich erinnern konnte, ein alter, abschreckender Steinhaufen, ein Überbleibsel aus einer längst vergangenen Zeit. Dann, in der letzten Grünen Zeit, waren Hunderte von Zimmerleuten und Steinmetzen eingetroffen. Unter den Augen der Einheimischen hatten sie ein Dach auf die Ruine gesetzt, die brüchigen Mauern repariert und die steinernen Hallen restauriert. Und nun strömten schon seit zwei Mondzyklen Gardisten und Edelleute der Athoniten in einem steten Fluss zu dem Schloss.

»Sollen sie nur versuchen, uns ihre Gepflogenheiten aufzuzwingen.« Rilen warf einen Stein in Richtung der Karawane wie ein mürrischer Junge.

Auch wenn die Athonitensoldaten das unmöglich gesehen haben konnten, bekam Seri doch Herzklopfen. »Tu so etwas nicht, Rilen. Jeder, der mit einer Waffe erwischt wird …«

»Es war ein Stein«, entgegnete er verächtlich.

»Das ist egal. Sie haben schon Leute für weniger gehängt!«, stellte Seri klar.

Kopfschüttelnd kletterte er von dem Felsblock herab. »Du machst dir zu viele Sorgen.«

Und du machst dir nicht genug Sorgen, wollte sie ihn zurechtweisen, doch das war nutzlos. Selbst wenn er sich nicht an die Toten erinnern konnte, die an den Toren von Vidara-Stadt gehangen hatten, sie tat es. Es waren Menschen gewesen, die sie gekannt hatte. Menschen, die auch er gekannt hatte: Kraig, der Bauer, der sich geweigert hatte, sich auf der Straße vor einem Edelmann zu verbeugen; Selwyn, ein Weber, der es gewagt hatte, einen Gobelin zu wirken, auf dem der Niedergang der Athoniten dargestellt wurde; Lesten, der einen Soldaten bedrängt hatte, nachdem seine Tochter vom Feld verschwunden war. Aber Rilen hatte schon immer mehr Temperament als Verstand besessen. Und das gehörte zu den Dingen, die sie an ihm bewunderte – er hegte große Träume, während sie sich nur den Kopf darüber zerbrach, was sie am nächsten Tag als Abendessen auf den Tisch bringen konnte.

Ihre Gänseschar stob auseinander, als er davonstürmte. Sie eilte ihm nach. »Gehst du?«

»Ein paar der Männer treffen sich auf Jovis’ Hof. Ich habe ihm gesagt, ich werde dort sein.«

Seri legte die Stirn in Falten. Jovis war sogar noch hitzköpfiger als Rilen, und er verachtete alles und jeden, der nicht Vidari war. »Worum geht es bei dem Treffen?«

»Das weißt du, Seri«, sagte Rilen und bedachte sie mit einem gereizten Blick.

»Nein, das weiß ich nicht.« Seri achtete darauf, in lieblichem Ton zu sprechen, während sie eine Handvoll Maisgries für die Gänse hervorholte. Den letzten Maisgries, wie sie feststellte. Nur eine Sache mehr, über die sie sich Sorgen machen konnte. »Es ist verboten, sich zu versammeln«, ermahnte sie ihn. Das Einzige, was die Obrigkeit ihnen zugestand, waren religiöse Feste. »Und ich weiß, dass Jovis dich nicht zu einem Treffen einladen würde, denn das würde dich nur in Schwierigkeiten bringen. Und ich weiß, du würdest nicht losziehen und dich in Gefahr begeben, weil du weißt, dass ich dann traurig wäre.«

Rilen schnaubte und deutete auf die Straße. »Sei redlich, Seri. Schau dir diesen Wagenzug an, und sag mir, unsere Leute hätten es nicht verdient zu erfahren, was da vorgeht.«

»Unsere Leute haben Augen. Sie werden die Soldaten kommen sehen.«

»Ja, aber wenn diese Athonitenhunde denken, sie können unsere Leute beschwichtigen, nachdem sie uns gezwungen haben, ganze hundert Jahre lang von dem zu leben, was sie wegwerfen, dann haben sie einiges zu lernen!« Die Sehnen an seinem Hals traten hervor, so zornig war er.

Seri schüttelte den Kopf und schluckte ihre Enttäuschung hinunter. Darüber hatten sie in jüngster Zeit viel zu oft gestritten. »Du weißt, dass mir das nicht behagt, Rilen. Es ist gefährlich. Jovis bettelt um Ärger, indem er diese Treffen abhält. Was denkt er denn, was ihr tun könntet?«

Mit einem aufgeregten Funkeln in den Augen trat Rilen näher. »Rebellion, Seri. Die Männer reden über einen Aufstand.«

Ihr wurde das Herz schwer. »Rilen, nein …«

»Doch.« Er nahm ihre Hand und drückte sie, und der Maisgries war gefangen zwischen ihren Handflächen. »Würdest du nicht gern ohne das Athonitenjoch leben?«

»Ich würde auch gern in einem Haus voller exotischer Speisen leben und den ganzen Tag vertändeln, während jemand anderes meine Gänse hütet, aber das sind nur Träume«, gab sie zurück.

»Diese Träume könnten eines Tages wahr werden«, wandte er ein. »Einige von uns sind bereit, um das zu kämpfen, was wir wollen.«

Seri streute den Rest des Maisgrieses vor ihren schnatternden Gänsen aus und griff zu dem Hirtenstab, den sie am Fuß des Felsens zurückgelassen hatte. »Einige von uns haben gewichtigere Sorgen, wie beispielsweise Essen auf den Tisch zu bringen.«

»Komm mit mir«, drängte Rilen und deutete mit einem Nicken in die Richtung, in der Jovis’ Hof lag. »Schau selbst. Wenn du hörst, was die anderen zu sagen haben, wirst du deine Meinung ändern.«

»Ich kann bei so etwas nicht mitmachen, Rilen.« Schon der Gedanke versetzte sie in Angst und Schrecken. »Wenn die Soldaten mich an solch einem Ort schnappen, was wird dann aus meiner Schwester? Meinem Vater?«

»Du hast recht«, gab er mit beschämter Miene zu. »Es tut mir leid. Lass uns nicht streiten.« Er küsste ihre schwielige Handfläche. »Vergibst du mir?«

Sie legte ihre Hand über seine. »Natürlich. Versprichst du mir, nicht zu gehen?«

»Ich verspreche es«, tat er feierlich kund.

Das Zugeständnis war ein bisschen zu schnell erfolgt, um glaubwürdig zu sein, aber Seri hatte über Rilen genauso wenig Kontrolle wie über die Anzahl der Eier, die ihre Gänse legten. »Sei vorsichtig, mehr verlange ich nicht.«

»Immer.«

Rilen drückte ihr einen derben, hastigen Kuss auf die Lippen. »Ich kann das Frühlingsfest kaum erwarten.«

Mit einem breiten Lächeln erwiderte Seri seinen Kuss. »Das geht mir ebenso.« Bei diesem Fest sollten sie vor dem ganzen Vidaridorf ihre Handfeste besiegeln. Dann würde Rilen auf ihren kleinen Hof ziehen und ihr helfen, sich um Vater und Josdi zu kümmern, und sie würden sich gemeinsam ein Leben aufbauen.

»Aber jetzt …« Rilen küsste sie noch einmal. »Jetzt muss ich gehen.«

Sie lachte, als er davonrannte und seine nackten Füße durch das braune Gras flogen. »Dann geh eben«, stichelte sie und winkte ihm mit ihrem Hirtenstock nach. »Wir sehen uns morgen.«

Lächelnd widmete sie sich wieder ihrer Gänseschar. Mit Zungenschnalzen und dem Versprechen, sie mit nicht existentem Maisgries zu versorgen, trieb sie die Tiere zusammen und zurück in den maroden Stall am Rande des Gehöfts ihrer Familie. Es sah nach Regen aus, und das Letzte, was sie zu tun wünschte, war, am Morgen Eier aus dem Schlamm zu angeln. Als die Gänse untergebracht waren, machte sie sich auf den Heimweg zu dem kleinen Bauernhaus am Rande der Felder.

Kurz bevor sie das Haus betrat, drehte sie sich um, um einen letzten Blick auf die ferne Straße zu werfen. Wenn sie genau hinsah, konnte sie immer noch die leuchtend roten Banner der Karawane erkennen. Wie Blut, dachte sie voller Unbehagen und ging schaudernd hinein.

ZWEI

Im Inneren des Zwei-Zimmer-Häuschens war es dunkel wie in einer Höhle. Jegliches Licht war von dem Moment an ausgesperrt, in dem Seri die Tür hinter sich geschlossen hatte.

»Seri, bist du das?« Josdis schwache Stimme klang besorgt. Auf ihrem Hocker vor dem Kamin zog sie die ausgefranste Decke fester um ihre Schultern. Sie hatte das Feuer wieder ausgehen lassen.

»Ja«, bestätigte Seri und griff kurz nach Josdis zarter Hand, ehe sie zu der schwelenden Asche ging. »Wie geht es Vater?« Sie stocherte in der Asche herum und legte neues Zunderholz auf die Torfbriketts, in der Hoffnung, sie damit zum Aufflammen zu bringen. Wenn die Sonne erst unterging, würde es kalt werden.

Josdis blicklose Augen folgten Seri. »Er hat nach dir gerufen«, gestand das Mädchen, und seine Finger krallten sich in die Säume eines Kissens. »Ich wollte dich suchen gehen …«

Seri trat zu ihr und berührte liebevoll Josdis Wange. »Schon gut. Ich bin draußen Rilen begegnet, und wir haben uns unterhalten, darum war ich etwas länger weg, als ich erwartet hatte. Aber du weißt, dass ich immer zu euch nach Hause komme.« Sie tätschelte Josdis Knie und betastete das neueste Werk ihrer Schwester. »Noch ein Kissen?«

Josdi nickte errötend. »Ich habe ein paar Reste von alten Kleidern genommen und die Kanten mit hübschen Knoten verziert, genau, wie Mutter es mir gezeigt hat. Wie sieht es aus?«

Seri strich mit der Hand über das weiche Gewebe der aufwendigen Handarbeit, die ihre Schwester vollbracht hatte, obwohl sie schon seit fünf Jahreszeiten blind war. »Es ist wunderschön, Josdi. Mutter wäre so stolz auf dich.« Ihre Mutter war gestorben, als Josdi noch ein junges Mädchen gewesen war; Seri vermisste sie immer noch. Sie dachte oft an sie, und sie wusste, ihr Vater und ihre Schwester trauerten ebenso sehr wie sie selbst.

»Da bin ich froh«, antwortete Josdi. »Ich freue mich, wenn ich nützlich sein kann.«

»Das bist du«, versicherte Seri ihr und drückte ihr liebevoll die Schulter. »Ich sehe schnell nach Vater.«

Er regte sich nicht, als sie die Tür öffnete und eintrat, aber seine Brust hob und senkte sich unter der Decke. Mit leisen Schritten trat sie an sein Bett und setzte sich auf den Rahmen. Seine Stirn fühlte sich heiß an unter ihrer Hand, und als Seri die Decke lüftete, drang ihr der Geruch von faulendem Fleisch in die Nase. Sie verzog das Gesicht und kontrollierte die Verbände. Sie waren schon wieder durchfeuchtet.

»Vater?«, wisperte Seri. »Wie fühlst du dich?«

Der Mann bewegte sich, erwachte aber nicht. Bekümmert seufzte sie. Der Heiler war bereits vorbeigekommen und hatte ihnen Gebete offeriert, und der örtliche Kräuterkundler hatte angeboten, einen Trunk anzurühren, doch der Preis war so hoch, sie könnte ihn nicht einmal bezahlen, wenn sie alle Gänse und die Eier einer ganzen Legezeit verkaufen würde.

Mit den Fingerspitzen strich sie über die Stirn ihres Vaters, ehe sie wieder aufstand, hinausging und die Tür hinter sich schloss. Müde kehrte sie zu Josdi zurück und setzte sich zu ihr.

»Ich habe sein Bein vorhin gewaschen, aber der Geruch ist heute schlimm.« Josdi unterbrach sich, als widerstrebe es ihr, weiterzureden. »Er hat nach Butter zu seinem Brot gefragt.«

Butter. Schon bei dem Gedanken lief Seri das Wasser im Munde zusammen. »Wir hätten alle gern Butter, nehme ich an.« Seit Monden hatten sie keine mehr gehabt. Nicht mehr seit der letzten Erntezeit, bevor ihr Vater von der zehrenden Krankheit befallen worden war und sein Bein nicht mehr hatte benutzen können. Nun war niemand mehr da, um die Ernte einzubringen, und die Felder lagen brach. Rilen kam und half ihr, wann immer er konnte, aber er musste sich auch um das Gehöft seines Vaters kümmern. Sein jüngerer Bruder würde an seine Stelle treten, wenn Rilen und Seri ihre Handfeste besiegelt hatten, aber bis dahin musste sie allein zurechtkommen.

»Ich fürchte, wir können von Glück reden, überhaupt Brot zu haben«, sagte Seri.

Der Bemerkung antwortete Stille, und Seri begriff voller Schrecken, dass auch das aufgebraucht war. »Kein Brot mehr? Ich dachte, wir hätten noch ein paar Kanten übrig.«

»Du hättest zum Müller gehen und mehr Mehl kaufen müssen«, entgegnete Josdi mit schwacher Stimme.

Ach ja. Das zu tun, hatte sie erst gestern versprochen, doch dann war sie von einem Fuchs abgelenkt worden, der in das Hühnerhaus eingedrungen war. Er hatte zwei Hennen und einen Hahn verspeist, ehe sie ihn verscheuchen und das Loch verschließen konnte, das er gebuddelt hatte. Und dann, heute, waren es Rilen und die Karawane gewesen. »Es tut mir leid«, sagte Seri, rieb sich das Gesicht und fühlte sich zutiefst erschöpft. Und dabei musste sie immer noch ein Abendessen kochen, Geschirr säubern und Stroh zu Ballen binden, ehe sie sich am Abend auf ihre jämmerliche Schlafstatt fallen lassen konnte.

»Es ist Ruhetag, nicht wahr?«, unterbrach Josdis hoffnungsvolle Stimme ihren Gedankengang.

Seri fixierte ihre Schwester. »So ist es. Warum fragst du?«

»Am Ruhetag findet auf dem Schloss ein Nachtmarkt statt. Damit haben sie erst im letzten Mond angefangen.« Josdi lächelte. »Rilen hat es erwähnt, als er hier war. Er sagte, die Händler würden Zelte aufbauen, und Kaufleute aus ganz Athon würden in Vidara-Stadt eintreffen.« Ihre Hände krallten sich in ihren Schal. »Meinst du, wir können etwas vom Markt holen?«

Oh Rilen. Seri seufzte. Wenn es darum ging, Josdis Kopf mit Unsinn zu füllen, konnte sie sich auf ihn verlassen. »Ein Markt bei Nacht, das klingt dumm.« Und gefährlich.

»Das liegt daran, dass die Athoniten das Tageslicht meiden. Das hat mir Elen erzählt. Und sie hat mir auch erzählt, dass sie sich am Fleisch gütlich tun und niemals altern.« Josdi schauderte.

Rilen hatte recht. Elen redete in der Tat zu viel. »Davon weiß ich nichts, Josdi.«

»Findest du nicht, dass das erstaunlich ist? Ein Nachtmarkt!«, flüsterte sie aufgeregt. »Du könntest die Gänsedaunen verkaufen, die wir gesammelt haben. Und meine Kissen. Ich weiß, dass sie bestimmt zumindest ein paar Rumma einbringen würden, und vielleicht können wir etwas Butter und Käse kaufen. Vielleicht können wir uns sogar eine Kuh leisten.«

Ihre alte, magere Kuh war in der letzten Grünen Zeit von Strauchdieben gestohlen worden, während Seri mit Rilen bei einem Scheunenbau geholfen hatte. Es war der letzte, an dem sie teilgenommen hatte. »Ach, komm, Josdi«, sagte sie matt. »Mit Kissen und Federn werden wir nicht genug einnehmen, um eine neue Kuh zu beschaffen.«

»Dann wenigstens Butter?« Hoffnung spiegelte sich in Josdis blinden Augen. »Und ein bisschen frisches Brot?«

Seri brachte es nicht über sich, ihre Schwester, die so wenige Freuden im Leben kannte, zu enttäuschen. »Ich werde versuchen, Brot zu besorgen. Vielleicht auch Butter, wenn ich feilschen kann.«

Ihre Gedanken kehrten zurück zu der Karawane, den Edelleuten auf ihrem Weg zu dem wiedererrichteten Schloss. Die hatten zweifellos genug Geld. Vielleicht waren sie bereit, Vidariwaren zu kaufen.

Ihr Vater stöhnte im anderen Zimmer, und Seri biss sich auf die Lippe. Womöglich gab es auf dem Markt einen Athonitenheiler, bei dem sie etwas finden könnte, um die Qualen ihres Vaters zu lindern. Damit war es entschieden. Gefährlich oder nicht, sie musste hingehen.

Während Josdi vergnügt schwatzend ihre kleinen, dekorativen Kissen einsammelte, ging Seri zu ihrem Altar. Vor dem hölzernen Gestell sank sie auf die Knie und erhob die Hände, um stumm ein traditionelles Gebet zu den vier Göttern zu sprechen. Kasla, Göttin des Lebens, schenke uns Regen und grünende Pflanzen. Hast, Gott der Jagd, schenke uns reichlich Wild. Naree, Göttin der Sonne, halte dein leuchtend Antlitz über uns, und schenke uns deinen Segen. Oren, Gott des Mondes, verschone uns vor dem Hieb deiner finsteren Hand. Sie dachte kurz nach und fügte dann hinzu: Helft mir, meiner Familie zu helfen. Ich tue alles, nur helft mir, für Josdi und Vater zu sorgen.

Sie schüttelte die letzten Körnchen Maisgries aus ihrer Tasche und legte sie auf dem Altar vor dem Symbol des Hast ab. Der erste Bissen Nahrung wurde stets dem Gott dargeboten, und wenn sie selbst auch noch kein Abendessen zu erwarten hatte, musste er doch seinen Anteil bekommen. Kurz berührte sie jedes der vier Symbole, ehe sie sich wieder erhob.

Als sie auf dem Weg zur Tür ihren Schal vom Tisch nahm, fiel ihr Blick auf das Holzmesser, das sie dazu benutzten, Fleisch zu schneiden. Sogleich umklammerte ihre Hand den geschnitzten Griff. Die Stadt war nicht sicher, und sie würde bei Nacht ganz allein hinausgehen. Doch dann schüttelte sie den Kopf. Ganz gleich, wie gefährlich die Straßen dort draußen waren – als Vidari eine Waffe zu tragen, kam einem Todesurteil gleich.

»Hier«, sagte Josdi atemlos und reichte ihr einen säuberlichen Stapel Kissen. »Ich habe sie in meinen Schal gewickelt. Hoffentlich bekommst du gutes Geld dafür.«

Seri gab ihrer Schwester einen Kuss auf die Wange. »Gib auf Vater acht und versuch, dann und wann das Feuer zu schüren. Ich bin bald zurück.«

»Sei vorsichtig«, mahnte Josdi. »Ich werde an meinem Altar beten, dass die Götter auf uns herablächeln mögen.«

Seri seufzte. So viele Gebete für einen einfachen Marktbesuch. Sie hoffte nur, dass es auch genug waren.

Das hochgewachsene Maultier, beladen mit Beuteln voller Gänsedaunen und Josdis Kissen, folgte Seri der Hauptstraße zur Stadt. Bedrohlich ragte das alte Schloss hoch oben auf der Klippe über den engen Gassen von Vidara-Stadt auf. Sie hatte einen Weg von gut zwei Stunden vor sich, und die Sonne ging bereits unter.

Seri wickelte sich den Schal fester um die Schultern, als sie neben einer Athonitenkutsche ritt. Auf ihrem beladenen Muli kam sie sich albern vor, und sie war die einzige Vidari, die dieselbe Richtung eingeschlagen hatte wie die Athoniten. Als sie spürte, dass die Leute sie anstarrten, nahm ihr Unbehagen noch weiter zu. Zwei Damen mit kunstvollen Frisuren und feinen Kleidern warfen durch das Fenster der Kutsche nur einen Blick auf sie und fingen an zu kichern. Eine andere wedelte mit ihrem Fächer und rümpfte hochmütig die Nase.

Seris Wangen glühten. Sie bremste das Muli, um die Kutsche passieren zu lassen.

Die nächsten zwei Längen vergingen recht friedlich, wenn auch langsam. Währenddessen erlosch das letzte Sonnenlicht um sie herum. Ihr Maultier, Bialla, war auf ihre alten Tage recht träge und steif geworden und fing auf dem Weg hangaufwärts bald an zu schnaufen. Seri beschloss, den Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen, glitt von dem Tier herab und führte es am Zügel, als hinter ihr ein Pfiff ertönte. Ruckartig blickte Seri auf.

Eine Gruppe Soldaten musterte sie auf der Straße mit lüsternen Blicken. Einer befingerte seinen Schritt. »Vidarimädchen«, rief er. »Auf dem Weg, im Schloss ein paar Münzen zu machen? Ich habe hier was, worauf du reiten kannst.« Unzüchtig zeigte er zwischen seine Beine. »Wie wäre es, wenn du deine langen Schenkel hier rüberschaffst?«

Seri zupfte an ihrem ausgewaschenen Kleid. Es reichte ihr nur bis zu den Knien – skandalös in der Welt der Athoniten, aber praktisch in der der Vidari. Mit geröteten Wangen ignorierte sie den Mann und wandte sich wieder dem Schloss zu.

Gelächter brach unter den Soldaten aus, und noch mehr von ihnen riefen aus der Dunkelheit nach ihr, brüllten ihr finstere, wollüstige Dinge zu. Seri ballte die Fäuste. Sie mochten denken, ihre Leute seien liederlich, weil sie die langen Haare offen trugen und sich anders kleideten, aber musste sie sich deswegen wie eine gewöhnliche Hure behandeln lassen? Sie zerrte an den Zügeln und ging etwas schneller, ohne auf die Gesteinssplitter zu achten, die sich in ihre Fußsohlen bohrten.

»Hey, Mädchen, komm her, und zeig mir ein bisschen mehr von deiner braunen Haut!«, blökte ein Mann mit einer Narbe, die sich von seiner Stirn bis zur Lippe zog. »Oder soll ich zu dir kommen?«

Seri schlug das Herz bis zum Hals. Geschichten von Vidarimädchen, die allein unterwegs gewesen waren, schossen ihr durch den Kopf. Mädchen, die tagelang verschwunden und dann geprügelt und voller Schrammen im Dorf aufgetaucht waren. Mädchen, die in Athonitenbordelle verschleppt worden waren. Oder Mädchen, die einfach nie wieder nach Hause zurückgekehrt waren.

Während sie Bialla den Hang hinaufführte, rutschte sie auf einem lockeren Stein aus, stolperte auf der ausgefahrenen Straße und prallte hart gegen die Tür einer der noblen Kutschen, die daraufhin abrupt anhielt. Die Pferde wieherten, und die Soldaten schienen kollektiv die Luft anzuhalten. Dann wurden die Vorhänge vor dem Fenster zurückgezogen, und Seri keuchte erschrocken auf.

Von drinnen starrte der schönste Mann zu ihr heraus, den sie je gesehen hatte. Er hatte unergründlich dunkle Augen, ein starkes, kantiges Kinn, und seine Wangenknochen waren so maskulin wie aristokratisch. Er sah aus, wie sie sich den Gott des Mondes vorstellte – bleich und jenseitig –, wäre da nicht der angewiderte Ausdruck auf seinen Lippen. Tadelnd blickte er sie an, als wäre sie diejenige, die sich danebenbenahm, nicht die Soldaten um sie herum.

Seri errötete noch mehr als zuvor. Dies war ein Athonitenedelmann, so weit oberhalb des Standes einer Gänsehirtin der Vidari, dass er sie vermutlich schon dafür bestrafen könnte, dass sie seine Kutsche berührt hatte. Trotzdem musste sie ihn weiter anstarren, sie konnte einfach nicht anders. Sein zurückgekämmtes dunkles Haar schmiegte sich in gepflegten Wellen an seinen Kopf und kräuselte sich über den Ohren. Gewandet war er mit einer reich bestickten Tunika und einem dicken Mantel, der von zwei goldenen Schnallen an seinem Platz über seinen Schultern gehalten wurde.

»Vergebt mir, Herr.« Ihre Worte klangen grollend, sogar für ihre eigenen Ohren, und sie zuckte innerlich zusammen. Sie wusste von Vidari, die wegen weit geringerer Vergehen Prügel bezogen hatten. Jovis’ Schwester war öffentlich ausgepeitscht worden, weil sie den Umhang einer Adligen mit Schlamm bespritzt hatte. Verängstigt leckte sie sich die Lippen. »Ich bin gestolpert.«

Er kniff die Augen zusammen und musterte sie so lange, dass ihr unbehaglich zumute wurde. Dann glitt sein Blick weiter die Straße hinunter zu den Soldaten. Wie ein Mann verfielen sie in Schweigen und standen ernst und stocksteif da. »Hört auf, mit dem Mädchen zu spielen«, sagte er laut, und seine Stimme überbrückte mühelos die Distanz zu den Männern. »Wäre das Kind vom Glück geküsst, wäre es wohl nicht mit einem Muli, das schon auf dem Zahnfleisch geht, auf der Straße unterwegs. Ihr tätet gut daran, den Straßenschmutz zu ignorieren und euch zu erinnern, dass ihr stolze Soldaten des Athonitenheers seid.«

Dann fiel der Vorhang zu, und das Gesicht des Mannes verschwand.

Seri war regelrecht erstarrt. Zorn erblühte in ihrem Inneren und vertrieb die Furcht. Plötzlich verstand sie, warum Rilen an Jovis’ Treffen teilnahm. Diese arroganten, unausstehlichen Lords bildeten sich ein, sie könnten einfach in die Lande der Vidari einfallen und über ihr Volk gebieten. Das war unerträglich.

Dann brüllte Bialla, riss Seri aus ihren Gedanken und veranlasste die Soldaten hinter ihr, in schallendes Gelächter auszubrechen. Einer von ihnen krümmte sich vor Lachen. Sein Schwert glänzte in dem schwindenden Licht, und im Nu wusste Seri wieder, wo ihr Platz war und wie sie sich zu verhalten hatte. Dass sie still zu sein hatte. Dass sie nur zum Markt und zurück gehen sollte, gesund und mit Essen für Josdi und Medizin für Vater.

Nicht mehr und nicht weniger.

DREI

Die letzten Sonnenstrahlen schwanden dahin, und Graeme spürte, wie seine Kraft zurückkehrte. Zum ersten Mal seit Stunden fühlte er sich entspannt, als er sich an die Polster in der Kutsche lehnte.

Ihm gegenüber führte Lady Jinda Ia Santor ein besticktes Taschentuch an ihre Nase. »Wilde«, höhnte sie hochmütig. »Ich kann gar nicht glauben, dass Ihr sie habt davonkommen lassen, nachdem sie Eure Kutsche berührt hat, Prinz Graeme.«

Graeme musterte Lady Jinda kühlen Blicks. Der hohe Kragen ihres roten Samtgewands verbarg die Bissspuren ihrer früheren Freier, und sie hatte wenig Zweifel daran gelassen, dass sie als nächste Eroberung ihn im Auge hatte. Sie war schön und emotional erfreulich unabhängig und mit ihrem neckischen Lächeln und der endlosen Tratscherei geradezu der Inbegriff einer Hofschranze. Außerdem war sie gefährlich und hatte nicht nur eine Rivalin mit Dunkelwurz vergiftet … nicht, dass sie je dabei erwischt worden wäre. Aber er zweifelte nicht daran, dass die Gerüchte der Wahrheit entsprachen. Für eine Hofdame war Dunkelwurz die Waffe der Wahl, so wie das Schwert für einen Soldaten.

Graemes Blick wanderte weiter zu Lady Aynee, der stillen Frau mit den lieblichen Zügen, die neben ihm saß. Seit drei langen Monaten war sie seine Weggefährtin und Bettgenossin, und er hatte von ihrem wundervollen Hals getrunken. Doch büßte sie wie alle Sterblichen ihren Geschmack ein. Ihr gehaltreiches Blut lag sauer auf seiner Zunge, und seine Fangzähne waren nicht länger erpicht darauf, sich in ihre blasse Haut zu bohren. Bald würde er sich eine neue Geliebte suchen müssen.

Dies war die Lebensweise eines Prinzen vom Blute. Nie sollte er mit einer Gefährtin Erleichterung finden, es sei denn, er verbände sich mit der mythischen Eterna, der einzigen Frau, deren Blut der Sage nach für immer süß schmecken würde. Müde rieb sich Graeme die Stirn. Einhundert Jahre bei Hof, einhundert Jahre der Intrigen, des Austauschs von Gefälligkeiten und der Verleumdung. Einhundert Jahre des Wartens auf eine Eterna, die doch nie erschien. Er war das alles so göttinverdammt leid, und doch konnte er den Zyklus nicht brechen.

Und auch wenn Lady Jinda hochmütig und stolz war, so ganz anders als die süße Lady Aynee, war es nicht unwahrscheinlich, dass er sie als seine nächste Geliebte erwählte. Noch hatte er nicht von ihrer kühlen Kehle gekostet. Sie eignete sich so gut wie jede andere.

Wenn er sie doch nur dazu bringen könnte, ihren Mund zu halten.

»Habt Ihr den Geruch dieser Kreatur bemerkt? Widerwärtig.« Wieder führte Lady Jinda ihr Taschentuch an die Nase.

Graeme hatte das Mädchen kaum angesehen. Alles, was er wahrgenommen hatte, waren erschrockene Augen, braune Haut und wirre blonde Haare. Er hatte sich weitaus mehr für das unmanierliche Auftreten seiner Soldaten interessiert. »Eine Einheimische, nehme ich an«, sagte er.

»Eine Vidari«, murmelte Lady Aynee neben ihm.

Jinda fächelte sich Luft zu. »Streifen die immer noch in heidnischen Rudeln durch die Ebenen?«

»Nicht mehr, seit mein Vater sie vor hundert Jahren besiegt hat«, entgegnete Graeme trocken. Jindas Possen dienten ebenso wie ihre gestelzten Bemerkungen dazu, ein Gespräch in Gang zu bringen – aber er wollte sie zum Schweigen bringen, nicht ermutigen.

»Wart Ihr dabei?«, fragte Jinda mit leuchtenden Augen.

»Vor hundert Jahren war ich ein Baby an der Brustwarze meiner Mutter«, erwiderte Graeme. »Velair war an der Seite meines Vaters.«

Jinda beugte sich vor. »Machen diese Wilden Ärger? Zieht Ihr deswegen mit Eurem Hof in dieses schreckliche Land?«

Die Vidari sind keine Wilden, sondern Unterdrückte, hätte er gern geantwortet, aber er hielt sich zurück. Schließlich war sein Vater – der König der Athonitenländer – derjenige, der sichergehen wollte, dass die Vidari blieben, wie sie waren: verdrießlich, gebrochen und bedeutungslos. Und es war Graemes Aufgabe, dafür zu sorgen. Sein Vater hatte ihm dieses Land vermacht und ihm befohlen, sein Domizil in dieser Ruine eines Schlosses aufzuschlagen. Jüngst hatte es Berichte über Aufstände gegeben, und er war hier, um das Geschlecht derer vom Blute wieder an die vorderste Front im Bewusstsein der Vidari zu rücken, sie daran zu erinnern, wem sie Respekt schuldeten. Daran, die Blutdynasten, die Unsterblichen, die Gesegneten zu achten.

Graeme unterdrückte ein erbittertes Lachen. Gesegnet. Eher verflucht. Der einzige Grund, warum die Göttin sie unsterblich gemacht hatte, war, ihr Leiden zu verlängern. Da sie in endlosem, sich ständig wiederholendem Überdruss lebten, litten die meisten der Dynasten unter quälender Langeweile. Wann immer sie seinen Vater befiel, ritt er hinaus und suchte sich ein Land, das er unterwerfen konnte. Wann immer sein Bruder diesen nagenden Schmerz verspürte, ersann er noch grausamere Spiele, initiierte kleinliche Rivalitäten und sah zu, wie Familien sich gegenseitig zerstörten. Graeme verkroch sich bloß in sich selbst und studierte die Karten von Ländern, die zu bereisen ihm noch bevorstand.

Er hegte den Wunsch, Zeit an der windumtosten Küste von Craelish zu verbringen oder die sattgrünen Hügel Praavas zu besuchen, aber stattdessen hatte sein Vater ihn hierhergeschickt, in die staubigen Lande von Vidara. Gewiss, die Reise war nicht so schlimm gewesen. Die Straßen waren zwar reine Schmutztrassen, doch das Wetter war ihnen gewogen. Und in Vidara befand er sich am äußersten Rand des Athonitenreichs. Westlich von hier gab es weiter nichts mehr als Berge und Eis, östlich nur ausgedehnte Wälder. Hier war er isoliert und hatte seine Ruhe. Zumindest hätte er die gehabt, wäre ihm nicht der Hof gefolgt.

»Ich habe den Hof nicht eingeladen, er hat sich selbst eingeladen. Aber wenn Ihr dieses Land so furchtbar findet, steht es Euch frei, jederzeit nach Athon zurückzukehren«, sagte Graeme zu guter Letzt.

Jindas Fächer bewegte sich schneller. »Auf keinen Fall! Dies ist ein aufregendes Abenteuer, mein Prinz.« Ihre schmalen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ich war nur neugierig, warum Ihr gerade jetzt herkommt.«

»Vielleicht steht ihm der Sinn nach einer Abwechslung«, warf Aynee auf ihre süße Art ein, ehe sie Graeme ein scheues Lächeln schenkte. »Ich jedenfalls genieße dieses Abenteuer.«

So lauteten ihre Worte. Doch die düstere Miene, die sie jeden Morgen aufsetzte, ehe sie in die goldene Kutsche stieg, erzählte eine andere Geschichte. Aber Graeme wusste so oder so, warum Jinda und Aynee ihm in die Wildnis folgten; warum sie nicht nach Athon zurückkehren würden, wo die Straßen gepflastert waren und der König alle vierzehn Tage einen Ball veranstaltete. In nur einem Siebentag würde Graeme seine sechste und letzte Verlöbniszeremonie begehen, den letzten seiner vielen fruchtlosen Versuche, seine Eterna zu finden. War diese Zeremonie erst wieder fehlgeschlagen, was zweifellos geschehen würde, konnte er mit der Erlaubnis seines Vaters die Bewerberin seiner Wahl ehelichen. Jede heiratswürdige Frau im ganzen Königreich der Athoniten und jede ehrgeizige Mutter einer solchen würde bei dem Ball zugegen sein und hoffen, dass die Göttin keine Eterna für Graeme gewählt hatte, er sich jedoch für eine der Damen als Braut entscheiden würde. Alle warteten atemlos auf sein Wort.

Und Graeme wusste, was passieren würde. Es würde keine Eterna geben, und es war im Grunde egal, wen er zur Braut nahm. Auch die Frau, die er heiratete, würde für ihn schon bald langweilig und geschmacklos sein. Und während er für alle Zeiten seine ewige Jugend behalten würde, würde sie altern und sterben, und dann würde der alte, nervtötende Kreislauf von vorn beginnen. Er würde sich eine neue Frau suchen und ihr Söhne schenken, die ebenso verflucht waren wie er selbst.

Jinda hob erneut zu sprechen an, was Graeme mit einem ärgerlichen Blick quittierte, der sie einschüchtern und zum Schweigen bringen sollte. Was natürlich auch funktionierte. Niemand würde es wagen, einen Prinzen vom Blute zu erzürnen. Niemand, so schien es zumindest, mit Ausnahme der aufständischen Vidari, die zu unterjochen sein Vater fest entschlossen war.

VIER

Als Seri endlich die Tore des Schlosses Vidara erreicht hatte, nahmen ihre düsteren Vorahnungen weiter zu. Überall waren Athonitentruppen, angetan mit roten Insignien und Mänteln, die sie als Männer der Garde auswiesen. Alle Soldaten trugen Kürasse und Dolche in Gürtelscheiden, was Seri an das Holzmesser erinnerte, das sie zu Hause gelassen hatte. Solch ein Instrument gegen deren stählerne Klingen zu erheben wäre, als würde ein Kätzchen gegen einen Drachen aufbegehren.

»Seri«, rief jemand hinter ihr.

Verwundert, ihren Namen zu hören, drehte sie sich um und sah Rilen mit sorgenvoller Miene am Straßenrand reiten. Er kam näher, zügelte seine Stute neben ihrem kleinen Muli und stieg ab.

»Was machst du hier, Seri?« Er strich ihr eine Locke aus dem Gesicht und musterte sie mit besitzergreifendem Blick. »Du solltest nicht allein bei Nacht hier draußen sein.«

»Du hast Josdi mit den Geschichten über den Nachtmarkt verrückt gemacht, und nun bin ich hier, um Abendessen zu besorgen.« Sie lächelte, um ihren Worten etwas von der Schärfe zu nehmen.

»Oh Seri.« Rilen zog die alte Bialla mit starker Hand weiter, während er mit der anderen sein Pferd führte. »Du hättest mit mir kommen sollen, dann hätte ich dich begleiten können.«

»Du hattest ein Treffen«, wandte sie ein und bemühte sich, ihre Besorgnis darüber zu unterdrücken, dass er offenbar direkt von dem Treffen zum Schloss gezogen war, zum Feind. »Und wir haben kein Essen im Haus.«

»Hier«, sagte er und gab ihr Biallas Zügel. Als sie sie nahm, griff er in seine Tasche. »Nimm meinen Lohn.«

»Nein, Rilen. Das gehört dir.« Eine Mischung aus Dankbarkeit und Scham ergriff Besitz von ihr. Sie war dankbar dafür, dass Rilen ihr gewogen genug war, ihr helfen zu wollen, damit sie für ihre Familie sorgen konnte, aber auch beschämt, Almosen anzunehmen.

»Nimm es«, forderte er sie auf und beäugte die Truppen, die langsam vorüberzogen. »Lass uns hier nicht streiten, einverstanden?«

Sie nickte, nahm den kleinen Beutel Münzen entgegen und ließ ihn in ihre Tasche gleiten, als sie sich wieder dem Schloss zuwandten. Das Tor bestand aus einem mächtigen Fallgatter aus Metallstreben und Dornen, die im Fackelschein schimmerten. Es sah nicht aus wie der Eingang zu einem friedvollen Schloss, eher wie die erste Verteidigungslinie eines Guts, das sich auf einen Krieg vorbereitete. Auf einer Seite des Tores hing etwas von einer sonderbaren Form, bei dessen Anblick Seri aufkeuchte.

Rilen zog sie an sich. »Sieh nicht hin, Seri.«

Sie schluckte einen Aufschrei hinunter. Es war zu spät, den Schrecken ungesehen zu machen. »Das ist … das ist …«

»Kasmar, ich weiß.« Rilen drückte sie fest an seinen Körper. »Die Soldaten haben ihn im letzten Siebentag geholt. Sie haben gesagt, er hätte gestohlen.«

»Das kann nicht sein.« Furcht breitete sich in ihrem Inneren aus. Kasmars Familie war die reichste in ihrer ganzen Gemeinde. Kasmar selbst war derjenige, der ihnen ihre letzte Kuh verkauft hatte. Er hatte keinen Grund, irgendetwas zu stehlen.

»Sie wollten einfach nur ein Exempel statuieren«, erklärte Rilen mit erbitterter Miene.

»Hatte er etwas mit der Rebellion zu tun? Rilen …«

»Still, Seri. Wir reden später.« Er drückte sie noch fester und nickte einem Soldaten zu, als sie direkt unter Kasmars geschundenem Leichnam durch das Tor gingen.

Der Innenhof des Schlosses war weitaus einladender, als es von außen ausgesehen hatte. Trotz der düsteren, bedrohlichen Wehrtürme, die über ihnen aufragten, wirkte der Markt festlich und aufregend. Gestreifte Zelte und mit Laternen erhellte Stände säumten jede der vier Wände. Überall wurden Waren verhökert und erworben. Ein Mann in Narrenkleidung schwenkte eine Stange, an der Einbackzöpfe baumelten. Kleine, gähnende Knaben trugen Laternen und spendeten Licht, wo immer es gebraucht wurde. An einem Stand in der Nähe wurden Marionetten feilgeboten, und der Händler ließ eine davon für ein lachendes Kind tanzen. Aus der Ferne konnte Seri eine Schilfflöte und noch mehr Gelächter hören. In der Tat ein Nachtmarkt, dessen Stimmung sie beinahe den Anblick von Kasmars Leichnam vergessen ließ.

Beinahe.

Rilen reichte ihr ihren Beutel mit Gütern. »Geh deine Federn verkaufen und Essen besorgen, Seri. Ich muss mit jemandem reden. Du bist hier sicher. Überall sind Soldaten, schau.« Er deutete auf die Soldaten in den roten Mänteln, die zwischen den Ständen patrouillierten. Aber das konnte ihre Furcht nicht lindern. Wenn überhaupt, dann wurde sie nur schlimmer. Aber Rilens Miene bat um ihr Verständnis, flehte sie an, keine Fragen zu stellen.

Leise seufzend nickte sie. »Ich werde Maester Grimalds Zelt suchen. Du findest mich in seiner Nähe.«

»Ich bin bald zurück«, versprach er, gab ihr einen raschen Kuss und zog eilig sein Pferd durch die geschäftige Menge.

Rilens Münzen klimperten in ihrer Tasche, während Seri vorsichtig ihr Muli an den Zelten vorbei und durch die Menschentrauben führte und nach Schildern Ausschau hielt. Das kleine Zelt der Kräuterkundigen erkannte sie am Geruch von Fäulnis und feuchter Erde.

»Hallo«, rief sie, während sie das Maultier an einem Pfosten vor dem Eingang festband. »Verkaufst du auch Tränke für Kranke?«

Die blasse Frau an dem Stand hatte dunkle Haare. Tiefe Furchen gingen von ihren geschürzten Lippen aus, und sie trug ein langes Kleid mit hohem Kragen. Also eine Athonitin. »Ja, ich verkaufe Tränke.«

Seri trat einen Schritt näher und begutachtete die Auslage leuchtend bunter Pülverchen und verschrumpelter Wurzeln, die auf dem Tisch arrangiert waren. »Ich brauche etwas für einen kranken Mann, der an der Zehre leidet und Fieber hat.«

Die Kräuterfrau reckte das Kinn vor und sagte: »Ein Dru.«

Seri stockte der Atem. Ein Dru? Damit könnte sie ihren ganzen Hof ein Jahr lang mit Nahrung versorgen. Der Kräuterkundige der Vidari hatte ihr nur ein fettes Huhn berechnet. »Ich habe keinen Dru.«

Ein harter Ausdruck trat in die Augen der Frau. »Dann nimm dein Muli und verschwinde.«

»Gibt es denn gar nichts, was du mir geben kannst? Er ist sehr krank.« Seri umklammerte den Münzbeutel in ihrer Tasche. »Bitte, hilf mir.«

»Ich kann«, erwiderte die Frau herrisch. »Für einen Dru.«

Wütend zeigte Seri auf das Tablett mit den Kräutertees. »Wie viel willst du für einen von denen?«

Die Frau musterte Seri aus zusammengekniffenen Augen. »Zwei Dru für Vidari.«

So war das also, ja? Tee kostete nur Pennys. Allenfalls ein paar Rumma. »Ich verstehe«, würgte Seri hervor, machte auf dem Absatz kehrt und ging. Ihre Hände zitterten vor Zorn, als sie die Zügel des Mulis von dem Pfosten wickelte und es wegführte. Die Frau wollte ihr mehr berechnen, weil sie eine Vidari war? Widerliches Weib. Für einen kurzen Moment wünschte sie sich, die Vidari wären in der Tat so wild und kriegerisch, wie die Athoniten glaubten. Dann hätte sie nur mit einem Messer vor der Nase der Frau wedeln und sich nehmen können, was immer sie brauchte.

Natürlich hätte sie dann am Tor neben Kasmars Leichnam geendet. Seri führte ihr Maultier davon, bahnte sich einen Weg zwischen den Ständen hindurch, bis sie den Schneider in seinem Stoffzelt gefunden hatte, von dessen Dach Laternen herabbaumelten.

»Seri, wie schön, dich zu sehen«, begrüßte Maester Grimald sie warmherzig. Er war ein alter Freund ihres Vaters und wohnte in Vidara-Stadt, reiste aber von einem Bauerndorf zum nächsten und bot alles von zarter Seide bis hin zu der derben Wolle, die Seri trug, feil.

»Gleichfalls«, sagte sie lächelnd.

Er rieb sich die Hände. »Was führt dich zu mir?«

Sie schlug Josdis Schal auf und zeigte ihm ihre Ware.

»Ich kann dir nicht mehr als sechs Rumma für alle drei Federbeutel geben, Seri«, beschied er ihr bedauernd.

»Sechs Rumma?«, fragte sie niedergeschlagen. »Kannst du mir nicht wenigstens acht geben?« Gänsefedern waren so entsetzlich gewöhnlich, und Seri schämte sich, dass sie wegen des Preises feilschen musste, aber von sechs Rumma konnte sie kaum einen Sack Mehl erstehen.

»Das ist alles, was ich dir geben kann, mein Kind«, sagte er und tätschelte ihren Arm. »Hast du von den Aufständen im Norden gehört?«

Sie schüttelte den Kopf. Erst Rilens Gerede über die Rebellion, dann Kasmars Tod und nun auch noch Kämpfe im Norden? Waren denn alle verrückt geworden?

Ein harter Zug zeigte sich um Grimalds Mund. »Die Athoniten versuchen, die rebellischen Splittergruppen auszumerzen, indem sie bei allen Vidariwaren das Dreifache der üblichen Steuer einfordern. Sie denken, wenn wir zu sehr mit unserem Überleben beschäftigt sind, haben wir keine Zeit zu rebellieren.«

»Aber das ist irrwitzig.« Sie dachte an die unverschämte Kräuterfrau und ihre unerhörten Preise. War das jetzt normal? »Wie sollen wir das durchhalten?«

»Ich weiß es nicht«, sagte er in einem düsteren Ton. »Alles, was ich weiß, ist, dass so das Gesetz lautet und ich mich fügen muss, wenn ich mein Geschäft behalten möchte.«

Seri blinzelte gegen die Tränen an, als sie nickte und die Hand nach den Münzen ausstreckte. »Was immer du mir geben kannst, werde ich nehmen, Maester Grimald. Sei bedankt.«

Maester Grimald schaute noch einmal in Josdis Schal und zog eines der Kissen hervor. »Ich gebe dir auch sechs Rumma für diese kleinen Kissen.«

Sechs Rumma mehr würden es ihr immerhin ermöglichen, ein paar anständige Vorräte zu kaufen. Erleichtert stimmte Seri zu, obgleich sie etwas verwundert war. »Ich hätte nicht gedacht, dass es einen größeren Markt für Kissen als für Bettfedern gibt.«

»All die Adelsfrauen in der Stadt geben ihr Geld für nutzlose Dinge aus, und das mit vollen Händen«, klärte Maester Grimald sie auf, und sein Widerwille schlug sich auf seine Stimme nieder. »Die werden sie kaufen, sobald ich sie feilbiete, warte es nur ab.« Er tätschelte ihr die Schulter und zwinkerte ihr wohlwollend zu. »Josdis letzte Lieferung hat sich gut verkauft. Sag deiner Schwester, ich werde ihr alles abkaufen, was sie fertigt.«

Dankbar für seine Güte schenkte Seri dem älteren Mann ein Lächeln. »Das wird sie freuen. Sie gibt sich große Mühe.«

»Sie hat eine Gabe«, lobte Maester Grimald und reichte ihr einen Beutel mit Stoffresten für Josdi. Dann, nach einem kurzen Zögern, beugte er sich zu ihr. »Ist Rilen mit dir gekommen?«

Sie nickte. »Soll ich ihm eine Nachricht zukommen lassen?«

Maester Grimald schaute sich kurz zu den Gardisten vor dem Zelt um, ehe er seinen Blick wieder auf sie richtete. »Nein, nein«, antwortete er etwas zu unbeschwert. »Wenn er vorbeikommt, kann ich später noch mit ihm reden.« Wieder sah er hinaus zu den Gardisten. »Also, sag mir, wie geht es deinem Vater?«

»Nicht gut.«

Grimald nickte geistesabwesend und wickelte einen Stoffballen wieder auf. Seris Magen verkrampfte sich, während sie dem nervösen Händler zuschaute. Doch ehe sie ihn fragen konnte, ob auch er etwas mit der Rebellion zu tun hatte, wandte sich Maester Grimald ab, räusperte sich und verschwand hinter seinem Verkaufstisch. In ihrem Kopf überschlug sich alles, als sie die kleine Börse mit den Münzen in ihrem Gürtel verstaute, den Beutel mit den Stoffresten an sich nahm und zur Vorderseite des Zelts ging.

Auf dem Weg hinaus hielt sie an einem Tisch mit Stoffen inne, betastete einen grünen Brokat und überlegte, ob sie wohl in der Lage wäre, ein hübsches Kleid für ihre Handfeste anzufertigen. Wenn es so weiterging, war das wenig wahrscheinlich, aber vielleicht konnte sie Rilens Geld dazu verwenden, etwas Stoff zu erstehen, und Josdi könnte ihr helfen, ihn zu besticken.

»Das ist ein ziemlich kostspieliges Tuch für jemanden wie dich, liebes Mädchen.«

Seri drehte sich zu der fremden Stimme um.

Eine wunderschöne Frau stand auf der anderen Seite des Zelts, dicht hinter ihr eine finster blickende Magd. Eine Krone aus Goldgeflecht zierte ihre Stirn über den dunklen Zöpfen, die kunstvoll um ihren Kopf geschlungen waren. Ihre Haut war so weiß wie Milch, und ihre Augen schimmerten in einem katzenhaften Grün. Ein Seidenkleid in dem hochgeschlossenen Athonitenstil – eng an Brust und Taille, doch mit weitem, fließendem Rock und bestickten Säumen – kennzeichnete sie als eine der zu Gast weilenden Aristokratinnen.

Die Frau hob ihre Röcke, als sie vortrat und Seri musterte. »Interessant. Ein bisschen dunkelhäutig und ungehobelt, aber doch recht typisch für euch wildes Volk, nehme ich an.« Sie kam noch näher und berührte eine Locke von Seris dunkelblondem Haar. »Mit der passenden Kleidung könnte das recht faszinierend wirken …« Gedankenverloren summte die Frau vor sich hin und griff nach Seris Hand, drehte sie um und betrachtete die Schwielen in ihrer Handfläche.

Seri riss sich von der Fremden los. »Was wollt Ihr von mir?«

Die Frau gab ein tadelndes Geräusch von sich und entblößte lächelnd die weißen Zähne. »Weißt du, wer ich bin, Mädchen?« Als Seri nicht antwortete, lachte sie. »Mein Name ist Mila de Vray, Herrin von Goldental, Tochter des Lords de Vray, der einer der wichtigsten Berater des Königs ist.«

Als Seri keinerlei Erkennen zeigte, sackten Milas Mundwinkel herab. »Der Prinz wird noch während des nächsten Siebentags eine Verlöbniszeremonie abhalten, und ich gehöre zu den aussichtsreichsten Kandidatinnen für die Wahl seiner Gefährtin.« Hoheitsvoll warf sie den Kopf zurück.

Angesichts ihrer bildschönen Kleider zweifelte Seri nicht an ihren Worten, was ihre Verwirrung jedoch nicht zu lindern vermochte. »Was hat das mit mir zu tun?«

Lady Mila beäugte sie mit einem halb amüsierten, halb gereizten Lächeln. »Für eine aus dem wilden Volk bist du recht ansehnlich – wie nennt ihr euch gleich?«

»Vidari«, sagte Seri angespannt. An ihrem Volk hatte es seit Generationen nichts »Wildes« gegeben, doch derlei Dinge schienen den Athoniten nicht aufzufallen. »Wir sind genauso normale Menschen wie die Athoniten.«

»Nicht mit diesen Händen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie deine Füße aussehen müssen.«

Seris Zehen bohrten sich in den festgestampften Erdboden. »Wir sind keine Wilden.«

»Nicht?«, fragte sie geziert und maß Seri mit einem langen, forschenden Blick. »Dann muss ich wohl falschliegen.«

»Das tut Ihr. Nun lasst mich gehen.« Seri machte Anstalten, um sie herumzugehen.

Die Frau verstellte ihr den Weg. »Möchtest du nicht hören, was ich zu sagen habe, wildes Mädchen?«

»Warum sollte ich irgendetwas hören wollen, das Ihr zu sagen habt? Es steht Euch ins Gesicht geschrieben, was Ihr von mir und den Meinen haltet.« Seri wusste, dass sie dabei war, eine Grenze zu überschreiten, aber nach der Begegnung mit der Kräuterfrau und dem, was Grimald über die Steuern erzählt hatte, hatte sie einfach genug.

Die Lady wackelte mit ihren juwelengeschmückten Fingern. »Habe ich deine Gefühle verletzt? Das war nicht meine Absicht. Du bist genau das, was ich brauche. Schau, Mädchen, ich suche etwas Erquickendes und ein bisschen Skandalöses, um bei der Zeremonie die Aufmerksamkeit des Prinzen zu wecken.« Ihre Augen schimmerten im Lichtschein der Laterne. »Was könnte besser geeignet sein als ein wildes Mädchen, das mich als meine Dienerin begleitet?«

Seri schaffte es, ihr mit gelassener Miene zu antworten. »Ich bin nicht interessiert.«

»Ich werde dich gut entlohnen. Drei Dru für den Siebentag, vorausgesetzt, du kommst schon morgen her, damit wir …« Sie schnupperte. »… dich ein bisschen säubern und in den Grundlagen der Dienstbarkeit unterweisen können.«

Seri drückte den Rücken durch. Drei Dru? Das war mehr, als ihre Familie in einem ganzen Jahr verdiente. Ein Dru allein würde reichen, um eine Kuh zu kaufen. Zwei waren unerhörter Luxus. Drei? Das war Wahnsinn. Sie könnte ein Heilmittel für ihren Vater kaufen und hätte immer noch genug übrig für eine Kuh und andere wichtige Dinge.

Aber waren drei Dru auch ein akzeptabler Grund, sich vor dem Athonitenadel zu erniedrigen und ihre Leute zum Gespött zu machen?

»Ich bin nicht interessiert«, wiederholte sie und bedachte die Aristokratin mit finsterem Blick. Sie würde sich nicht kaufen lassen. Oh, aber drei Dru … Sie hätte heulen können.

»Schade.« Lady Mila schnalzte mit der Zunge. »Nun, solltest du es dir anders überlegen, frag am Tor zum inneren Hof des Schlosses nach mir.«

»Das werde ich nicht«, versprach Seri und rauschte aus dem Schneiderzelt, so würdevoll es einem barfüßigen Vidarimädchen eben möglich war.

FÜNF

Als Seri schließlich Bialla mit ihren spärlichen Anschaffungen belud, war auch Rilen wieder da. Sein Freund Timmar war bei ihm und rieb einen Apfel an seiner fleckigen Baumwolltunika ab. »Ah, meine süße Seri. Hast du dein Geld bekommen?«