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Queer*Welten ist ein halbjährlich erscheinendes queerfeministisches Science-Fiction- und Fantasy-Magazin, das sich zum Ziel gesetzt hat, Kurzgeschichten, Gedichte, Illustrationen und Essaybeiträge zu veröffentlichen, die marginalisierte Erfahrungen und die Geschichten Marginalisierter in einem phantastischen Rahmen sichtbar machen. Außerdem beinhaltet es einen Queertalsbericht mit Rezensionen, Lesetipps, Veranstaltungshinweisen und mehr. In dieser Ausgabe: No Filter von Melanie Vogltanz (Kurzgeschichte) Brunnenlied von Eleanor Bardilac (Kurzgeschichte) Der Seelenpartnertest von Simon Klemp (Kurzgeschichte) Zwischentöne von Eva-Maria Obermann (Gedicht) Unterschied von Jol Rosenberg (Kurzgeschichte) Sarah von Clara Maj Dahlke (Kurzgeschichte) Auf Nimmerwiedersehen, Mittelerde von T. B. Persson (Essay) Zum Jubiläum: Ein Blick hinter die Kulissen von Queer*Welten von der Queer*Welten-Redaktion (Essay) Sonderausschreibung: Postkarten aus Queeren Welten Der Queertalsbericht 01/2023
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Seitenzahl: 135
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Herausgeber*innen: Judith Vogt, Lena Richter, Heike Knopp-Sullivan
1. Auflage
© 2023 Ach je Verlag
ein Imprint des Amrûn Verlag, Traunstein
Layout: Judith Vogt
Coverillustration: Ludwig Karrell
Umschlaggestaltung im Verlag
Queer*Welten Logo: Milan Dangol (https://milandangol.de)
Printed in the EU
ISBN 9783947720989
https://queerwelten.de
Tags und Inhaltshinweise
Ihr findet vor jeder Kurzgeschichte Inhaltshinweise und Tags.
Die Tags dienen dazu, euch einen Überblick über die Themen der Kurzgeschichte zu geben – sie sind an Fanfictionportale wie Archive of Our Own angelehnt und geben Handlungselemente, Motive und Genrekategorisierungen wieder, damit ihr einschätzen könnt, was euch in der Geschichte erwartet.
Bei den Inhaltshinweisen versuchen wir, Elemente der Geschichte zu sammeln, von denen wir wissen, dass manche Lesenden sie lieber vermeiden würden oder vorgewarnt wären.
Die Listen sind in Zusammenarbeit mit den Autor*innen entstanden, erheben aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Für Feedback und Wünsche zu Tags und Inhaltshinweisen sind wir immer offen.
Vorwort
Hallo liebe Leser*innen von Queer*Welten,
wir feiern Jubiläum! Wir wollen dazu hier auch gar nicht so viele Worte verlieren, denn das tun wir schon in unserem Werkstattbericht, den ihr am Ende dieses Hefts vor dem Queertalsbericht findet. Wir möchten euch darin einen kleinen Einblick in unsere Arbeit geben und vor allem davon erzählen, was 10 Ausgaben Queer*Welten für uns bedeuten. Danke, dass ihr das möglich gemacht habt!
Zu unserem Jubiläum haben wir außerdem dazu aufgerufen, uns Postkarten aus queeren Welten zu schicken. Das habt ihr getan, und wir haben alle, die ihr uns zugesandt habt, in dieses Heft aufgenommen. Bei allen Einsendenden bedanken wir uns ganz herzlich für eure persönlichen, fiktionalen, poetischen, witzigen, anrührenden Grüße.
Ihr findet in dieser Ausgabe außerdem fünf Kurzgeschichten: In No Filter entwirft Melanie Vogltanz eine toxisch-positive Zukunft, die keinen Raum für Trauer zulässt. Semele sucht ihn sich trotzdem – und findet ihn in Eris’ illegalem Kino, bei einem SF-Streifen aus den 1990ern.
Brunnenlied von Eleanor Bardilac ist eine poetische Solarpunk-Adaption der Iwein-Geschichte mit Kuppelstädten, Kunst, Wildnis und Sogwirkung.
In Simon Klemps Der Seelenpartnertest bietet ein Service in einer alternativen Realität an, Paare auf ihre Seelenverpartnerung zu überprüfen – angeblich funktioniert es bei queeren Paaren nicht, aber der Ich-Erzähler ist bis zur Besessenheit entschlossen, doch noch seinen Seelenpartner zu finden.
Jol Rosenberg bereitet eine große Space-Opera-Bühne im Kammerspiel Unterschied: Nach einem schrecklichen Krieg kann Kriegsveteran Mairo seine eigene Identität nicht mehr unabhängig von dem sehen, was im Krieg konstruiert wurde. Gehört er einer inhärent gewalttätigen Spezies an?
Sarah von Clara Maj Dahlke führt uns in einer schmerzhaft-zarten Geschichte ans Ende einer großen apokalyptischen Katastrophe. Ein Androide kümmert sich um eine Überlebende, die ihre große Liebe in ihm wiederzuerkennen glaubt.
Als Gedicht freuen wir uns diesmal über Zwischentöne – queeres Empowerment von Eva-Maria Obermann.
Der Essay Auf Nimmerwiedersehen, Mittelerde – Über queere Unterkünfte, tote „Südländer“ und die Macht des Unsichtbaren von T. B. Persson wirft einen queeren und rassismuskritischen Blick auf Mittelerde und schlägt damit einen schönen Bogen zu unserem allerersten Essay aus Ausgabe 1 und 2.
Pünktlich zum Jubiläum ist auch noch etwas sehr Tolles passiert, denn das Weltmuseum Wien ist letztes Jahr an unser herangetreten und hat uns gefragt, ob wir uns eine Kooperation im Rahmen ihrer Sonderausstellung Science Fiction(s) – Wenn es ein Morgengäbe vorstellen könnten. Die Ausstellung läuft aktuell und noch bis Januar 2024. Was genau euch dort erwartet, erfahrt ihr im Queertalsbericht – wir haben uns jedenfalls sehr darüber gefreut, dass die Kuratierenden auf uns zugekommen sind und dass es im Juni eine Lesung mehrerer Queer*Welten-Autorinnen im Weltmuseum Wien geben wird! Vielleicht ergeben sich noch mehr solcher Kooperationen in der Zukunft. Es würde uns freuen. Falls ihr selbst etwas plant, auf dem sich eine queerfeministische Phantastik-Komponente gut anbieten würde, schreibt uns an, wir vermitteln gern!
Und zu guter Letzt, damit wir noch oft Jubiläum feiern können: Abonniert Queer*Welten gern, wenn ihr könnt, um die neuste Ausgabe gleich bei Erscheinen zugeschickt zu bekommen. Abos sind, ebenso wie Vorbestellungen, überlebenswichtig und geben uns und dem Verlag ein wenig Planungssicherheit. Wenn ihr unsere Arbeit als Redaktion unterstützen wollt, könnt ihr uns außerdem einen Ko-Fi ausgeben. Der voreingestellte Betrag von € 5,00 entspricht den monatlichen Kosten für unseren Webspace, also Website und Mailkonten, die uns als Herausgeber*innen entstehen. Wenn mehr als der Jahresbetrag zusammenkommt, wird am Ende des Jahres das Geld an die drei Herausgeber*innen ausgekehrt, die ansonsten keine Bezahlung erhalten. Ihr findet unsere Seite unter ko-fi.com/queerwelten
Und auch das Weiterempfehlen im Freundeskreis, Rezensionen des Hefts und Posts über Queer*Welten auf Social Media helfen uns sehr, wenn ihr uns auf andere Weise als mit Geld unterstützen möchtet. Abonniert doch zum Beispiel unseren Newsletter, wenn ihr über jede neue Ausgabe informiert werden möchtet: queerwelten.de/newsletter
Danke an alle, die uns schon unterstützen und jetzt: Habt viel Spaß mit unserer 10. Ausgabe!
Eure Queer*Welten-Redaktion
Lena, Judith und Heike
No Filter
von Melanie Vogltanz
Inhaltshinweise
Zensur, Tod eines Familienmitglieds, Trauer/Verlust, Beerdigung und Einäscherung (erwähnt), Toxic Positivity, Tone Policing
Tags
Near Future, Filme und Kino, Popkultur-Nostalgie, Autismus, Transidentität, Freundschaft, Liebesgeschichte (f/f)
Semele
Es gibt Dinge, die man nicht sehen sollte.
Das ist die Prämisse, mit der wir aufwachsen – der manchmal, aber nicht immer stillschweigende Konsens, der zwischen uns herrscht.
Manches ist zu hässlich, erschreckend, verstörend oder beunruhigend, um sich damit zu befassen. Es ist besser, man überlässt das denen, die in der Lage sind, damit umzugehen, und belastet sich selbst nicht damit. Wir haben es doch gut. Mehr Raum für das Schöne im Leben, die Sonnenseiten. Was hässlich ist, das soll im Schatten bleiben, wo es nicht stört. Unsichtbar. Fast nicht mehr wirklich.
Wenn im Wald ein Baum abstirbt und niemand sieht es – ist er dann tot?
Noch vor ein paar Monaten hätte ich mich mit solchen Fragen gar nicht auseinandergesetzt. Doch dann haben sie den Leichnam meiner Mutter mitgenommen. Schon, als es ihr schlechter gegangen war, hatte man mich nicht mehr zu ihr gelassen. Sie in Erinnerung behalten, wie sie war – das war es, was die Behandelnden mir rieten. Tun Sie sich das nicht an. Glauben Sie uns. Es ist besser so.
Ich konnte mich nicht von ihr verabschieden, und sie sich nicht von mir.
Aber sie haben wohl recht. Es ist vermutlich besser so.
Herzlichen Dank für Ihren Beitrag zum digitalen Kondolenzbuch.
…
Ihr Beitrag zum digitalen Kondolenzbuch überschreitet die vorgegebene Sprechzeit.
Beitrag ÄNDERN/LÖSCHEN?
…
Sie haben Ihren Beitrag erfolgreich gelöscht.
Eris
„Jetzt komm schon rein, du holst dir ja den Tod! Scheiße, was für ein Sauwetter, was? Wie wär’s mit Kaffee? Ich hab da eine echt geile Hafermilch entdeckt, die schäumt schon, wenn man sie bloß schräg ansieht. Und schmeckt einfach Hammer.“
Mein Gast starrte mich aus großen Augen an und wagte sich kaum in meine Wohnung. Verschüchtert wie ein Welpe, und obendrein von oben bis unten klatschnass, spähte sie an mir vorbei ins Wohnzimmer, als fürchtete sie, ich könnte hinter meinem Rücken eine ganze Armee verstecken. Ganz so breit ist er jetzt aber auch wieder nicht.
„Du bist doch Sem, oder?“, bohrte ich vorsichtig nach. „Wir haben geschrieben.“
„Ich hatte gar nicht vor, lange zu bleiben“, erwiderte sie. Es waren die ersten Worte, die sie sprach, und das wertete ich als kleinen Fortschritt. „Ich will Ihnen wirklich keine Umstände machen.“
„Bullshit, tust du nicht! Bleib wenigstens, bis das stärkste Pissen aufgehört hat. Ich bring dir mal eben ein Handtuch. Mach’s dir irgendwo bequem. Aber tropf nicht auf den teuren Läufer!“, fügte ich hinzu.
Mitten im Schritt erstarrte sie. Ihr Blick wurde besorgt und richtete sich auf ihre schlammigen Turnschuhe, unter denen sich jedoch nur leidlich gefegter Linoleumboden befand.
„Das war ein Witz“, beruhigte ich sie. Innerlich verfluchte ich mich dafür, dass ich meine große Klappe nicht besser im Zaum hatte. Als wäre mein Gast nicht schon verunsichert genug.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sie vorsorglich ihre Schuhe abstreifte und im Hausflur zurückließ, bevor sie mir auf Socken folgte.
Als ich mit dem versprochenen Handtuch und einer Kanne Kaffee zurückkam, hatte sie sich noch immer nicht getraut, Platz auf der Couch zu nehmen. Sie trocknete sich die langen, gelockten Haare, während ich noch mal zurück in meine Miniküche ging, um Tassen und die versprochene Hafermilch zu holen.
Als ich mich setzte, spiegelte sie meine Bewegung.
„Ich hab sie alle hier“, kündigte sie an und umklammerte die Tüte in ihrem Schoß etwas fester. „Wie besprochen. Alle in einem guten Zustand. Sie können sie gern prüfen, wenn Sie wollen.“ Auffordernd streckte sie mir ihre Tüte hin, obwohl ich gerade mit Einschenken beschäftigt war und gar keine Hand freigehabt hätte, um sie zu nehmen.
Ich musste lachen. „Tritt mal auf die Bremse, Sem.“
Sie presste die Lippen zusammen. „Verhalte ich mich so ungeschickt?“
„Was? Nein. Sorry, ich … ich wollte dich nicht beleidigen oder so. Du bist nicht ungeschickt. Eher …“ Ich suchte nach einem anderen Wort als niedlich, um sie nicht noch mehr vor den Kopf zu stoßen. Doch mir fiel keines ein.
„Sie machen das wohl sehr oft“, vermutete sie, stellte die Tüte zu ihren Füßen ab und nahm die gefüllte Kaffeetasse entgegen. Behutsam nippte sie daran.
„Ich verdiene meine Brötchen damit. Sind zwar klein, aber ich backe sie gern.“ Um Sem nicht weiter auf die Folter zu spannen, griff ich nach der Tüte und blickte hinein. Sie hatte die DVD-Hüllen säuberlich hineingelegt – mit der Kante nach oben, und jedes Frontcover zeigte in dieselbe Richtung. Ich zog einen der Filme heraus, der mir sofort ins Auge stach.
„Oh, Fuck! Du hast ihn wirklich! Den suche ich seit Jahren!“ Ich klappte die Kopie von Das Fünfte Element auf, die angenehm nach Kunststoff duftete. Es befand sich auch die korrekte Disk in der Hülle, sogar mit einem farbigen Aufdruck, der dem Cover nachempfunden war. Zwar unterstellte ich Sem keine unlauteren Absichten, aber in vielen Fällen wussten die Verkaufenden selbst nicht, was sie mir brachten. Sie stolperten auf irgendwelchen verstaubten Dachböden darüber, in Kellern oder der Unterwäscheschublade ihrer ins Heim abgeschobenen Großeltern, und hatten keine Ahnung, welche Schätze sie in Händen hielten. Selbst wenn in den Haushalten noch alte Abspielgeräte existierten und sie damit umgehen konnten, funktionierten sie oft gar nicht mehr.
Auch die anderen Exemplare in der Tüte erfüllten meine Erwartungen oder übertrafen sie sogar noch.
„Deal!“, versicherte ich ihr begeistert. „Todsicheres Geschäft. Darf ich fragen, wo du den geilen Kram herhast?“
Damit schien ich einen Nerv getroffen zu haben. Unbehaglich wich Sem meinem Blick aus und knetete das feuchte Handtuch zwischen ihren Fingern.
„Wenn die Frage zu persönlich ist, vergiss es. Ich war nur neugierig“, schob ich nach. „Es geht mich gar nichts an.“
„Die haben meiner Mutter gehört“, sagte sie sehr leise.
Die Vergangenheitsform entging mir nicht, ebenso wenig wie die Art, wie sich ihre Augen bei diesem Satz vor Trauer verdunkelten. „Mein Beileid“, antwortete ich behutsam.
Sie schien mich gar nicht gehört zu haben. „Ich wusste erst gar nicht, wozu die gut sind. Eine Kollegin hat mir erzählt, dass es einen Markt für so was gibt. Für … ungefilterten Content.“
„Hallo, ich bin der Markt. Freut mich, dich kennenzulernen.“ Ich grinste breit, auch um die Spannung ein wenig zu entschärfen, die in der Luft lag.
Doch Sem ließ sich davon nicht erweichen. „Ist das … illegal, was wir hier machen? Ich meine … es gibt einen Grund, warum diese Filme nicht mehr hergestellt werden, oder?“
Ich hatte mit der Frage gerechnet und unterdrückte ein Seufzen. Um etwas Zeit zu gewinnen, widmete ich mich ebenfalls meiner Kaffeetasse, die bis zum Rand mit flaumig geschlagener Hafermilch gefüllt war. „Es ist nicht illegal, sie zu besitzen“, erklärte ich wahrheitsgemäß. „Du machst dich hier nicht strafbar, Sem.“
„Und du?“ Sie sah mich direkt an – nahm zum ersten Mal, seit sie angekommen war, Blickkontakt mit mir auf. Ich glaubte nicht, dass ihr auffiel, dass sie zum Du gewechselt hatte.
Ich hob betont beiläufig die Schultern. „Soll nicht deine Sorge sein. Auf dich kann das jedenfalls nicht zurückfallen, das versichere ich dir. Hast du sonst noch Fragen?“
„Zwei“, sagte sie. „Wo kann man sich diese Filme ansehen?“
Wieder zögerte ich mit der Antwort. Miss Schüchtern entpuppte sich allmählich als richtige Schnüfflerin, und ich war noch nicht sicher, ob mir das gefiel. Doch schließlich kam ich zu dem Entschluss, dass sie harmlos war und ich nichts riskierte, wenn ich ihr ein wenig mehr erzählte – abgesehen vielleicht vom Gewinn einer neuen Kundin. Und die konnte ich immer brauchen. Bislang hatte sich mein Bauchgefühl immer als zuverlässig erwiesen.
Ich zog mein Smartphone aus der Hosentasche, aktivierte es per Daumenabdruck und zeigte ihr meine Webseite.
„No Filter – Bibliothek und Café“, las sie.
„Das ist nur, damit der Upload-Assistent nicht flippt. Mein Laden ist zwar all das – aber in erster Linie ist er ein Kino. Es gibt jeden Mittwochabend eine Vorstellung. Im Veranstaltungskalender läuft das unter Oldschool-Lesung. Jede Veranstaltung hat eine Codenummer, und die entspricht einem klassischen Film auf dem Index und dessen Reihenfolge.“ Ich verstummte abrupt. Scheiße, hatte ich jetzt zu viel gesagt? Ihr nachdenklicher Blick war für mich nur schwer zu deuten. Ihre Miene ließ für mich keine Interpretation zu. Die Frau wäre eine hervorragende Pokerspielerin gewesen.
„Und die Leute wollen so was wirklich sehen?“, wollte sie schließlich wissen. „Passieren in diesen Filmen nicht schreckliche Dinge?“
Ich hob die Schultern. „In manchen davon. Willst du denn mal einen sehen?“
Sie betrachtete das Exemplar von Das Fünfte Element, das im Stapel in meinem Schoß an oberster Stelle lag. Dann nickte sie – ein knappes, fast unmerkliches Senken des Kopfes, mehr wie die Bewegung eines Astes, der sich unter der Last von zu viel Schnee beugte, als eine willentliche Geste.
„Dann solltest du mal vorbeikommen.“ Ich legte die DVDs beiseite und begann in meiner Gesäßhosentasche nach meiner Brieftasche zu kramen. Dann hielt ich in der Bewegung inne. „Oh. Du sagtest, du hast zwei Fragen. Was ist die andere?“
Zum ersten Mal tauchte die Spur eines Lächelns auf ihren Lippen auf. „Wo bekomme ich diese Hafermilch?“
Semele
Seit über drei Stunden saß ich inmitten einer Ansammlung von staubigen Besitztümern und dachte über das Leben nach. Zuerst hatte ich noch versucht, sie zu sortieren, doch auch das hatte ich längst aufgegeben. Ich starrte die Kleider, Küchengeräte und Dekogegenstände nur noch an, als würden sie vor Scham von allein aufstehen und die Wohnung verlassen, wenn ich sie nur lange und feindselig genug fixierte.
An jedem dieser Gegenstände haftete ein Stück Erinnerung an sie.
Das Vibrieren meines Smartphones riss mich aus meinen Gedanken. Eine Nachricht von Olivia – eine Kollegin, die ich an guten Tagen auch als so etwas wie eine Freundin bezeichnet hätte.
Wie kommst du voran?
Überhaupt nicht, antwortete ich aufrichtig.
Vielleicht willst du die Sachen gar nicht loswerden, vermutete Olivia. Irgendwie ist das, als würdest du deine Mutter loswerden wollen, und das ist kein schönes Gefühl. Aber irgendwann muss es weitergehen. Schließ damit ab.
Ich schnaubte abfällig und unterdrückte nur mit Mühe den Impuls, das Gerät quer durch den Raum zu schleudern.
Direkt nach dem Tod meiner Mutter war Olivia, wie die meisten anderen, noch verständnisvoll gewesen. Doch das hatte rasch abgenommen. Der mir gesetzlich zustehende Urlaub, die sogenannten Erinnerungstage, war beinahe vorüber. Alle waren der Meinung, ich müsse doch langsam mal wieder in die Spur zurückfinden – müsse mein Lächeln wiederfinden. Das Leben geht schließlich weiter.
Aber nicht für alle von uns.
Es ist einfach nur eine so elende Scheiße, tippte ich. Der Upload-Assistent aktivierte sich prompt, nahm das letzte Wort und machte es unkenntlich, ersetzte es durch die Animation einer Gewitterwolke, die meinen Gefühlen nicht im Geringsten angemessen war.
Kein Grund, gleich ausfällig zu werden, Semele. Du musst das positiv sehen, behauptete Olivia.
Musste ich das? Es sah ganz so aus, doch ich hatte keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte.
Ich stopfte das Handy zurück in meine Hosentasche, ohne geantwortet zu haben.