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»Die Straße nach Ombos ist mit schlechten Vorsätzen gepflastert!« Road to Ombos Seth, abtrünniger Gott des Chaos, findet sich unversehens im modernen Las Vegas wieder. Niemand fürchtet ihn, niemand huldigt ihm, und seine Kräfte gehorchen ihm nicht mehr. Glücklicherweise trifft er auf Tara, Billy und Fernando, eine Gruppe wohnungssuchender Außenseiter, die den gefallenen Gott in die Magie von Punk, Bikes und Bier einweihen. Doch Seth ist nicht der einzige Gott, den es in diese Zeit verschlagen hat, und nicht alle sind den Sterblichen so freundlich gesinnt. Sidetrack from Ombos In einer Großstadt kann man leicht verloren gehen. Niemand weiß das besser als Seth, Gott des Chaos und frischgebackener Punk. Faszination und Frustration begleiten ihn in seinem Kampf gegen automatische Türen, Kaffeemaschinen und Wasserhähne. Mit seinem Chopper und der Hilfe der Kriegsgöttin Sachmet sucht Seth seinen Platz in dieser neuen Welt. Eine brandneue Geschichte voller Humor, Musik und Hoffnung über einen Chaosgott und zweite Chancen. Eine rockiger Roadtrip durch die ägyptische Mythologie! Erweiterte Neuauflage
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Seitenzahl: 266
Veröffentlichungsjahr: 2025
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MELANIE VOGLTANZ
ROAD TO OMBOS
SETH IST GEFALLEN
Die Erstausgabe dieses Romans erschien 2020 im Art Skript Phantastik Verlag.
© erweiterte Fassung 2025: Melanie Volgtanz
© Verlagsrechte 2025:
Second Chances Verlag, Inh. Jeannette Bauroth, Hammergasse 7–9, 98587 Steinbach-Hallenberg
Bei Fragen zur Produktsicherheit wenden Sie sich an: [email protected]
Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Wiedergabe in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Alle handelnden Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Die Nutzung des Inhalts für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ist ausdrücklich verboten.
Umschlaggestaltung: Grit Richter
Lektorat: Isa Theobald
Schlussredaktion: Daniela Dreuth
Layout: Grit Richter
Satz: Second Chances Verlag
ISBN Taschenbuch: 978-3-98906-082-1
ISBN E-Book: 978-3-98906-081-4
Auch als Hörbuch erhältlich!
www.second-chances-verlag.de
Über das Buch
»Die Straße nach Ombos ist mit schlechten Vorsätzen gepflastert!«
Road to Ombos
Seth, abtrünniger Gott des Chaos, findet sich unversehens im moder- nen Las Vegas wieder. Niemand fürchtet ihn, niemand huldigt ihm, und seine Kräfte gehorchen ihm nicht mehr. Glücklicherweise trifft er auf Tara, Billy und Fernando, eine Gruppe wohnungssuchender Außenseiter, die den gefallenen Gott in die Magie von Punk, Bikes und Bier einweihen. Doch Seth ist nicht der einzige Gott, den es in diese Zeit verschlagen hat, und nicht alle sind den Sterblichen so freundlich gesinnt.
Sidetrack from Ombos
In einer Großstadt kann man leicht verloren gehen. Niemand weiß das besser als Seth, Gott des Chaos und frischgebackener Punk. Faszination und Frustration begleiten ihn in seinem Kampf gegen automatische Türen, Kaffeemaschinen und Wasserhähne. Mit seinem Chopper und der Hilfe der Kriegsgöttin Sachmet sucht Seth seinen Platz in die- ser neuen Welt. Eine brandneue Geschichte voller Humor, Musik und Hoffnung über einen Chaosgott und zweite Chancen.
Über die Autorin
Melanie Vogltanz wurde 1992 in Wien geboren und hat ihren Ma- gister in Deutscher Philologie, Anglistik und Lehrer:innenbildung an der Universität Wien gemacht. Sie hat als Lehrerin, Regaleinräume- rin, Spielzeugverkäuferin und Hundefutterträgerin gearbeitet. Aktuell ist sie selbstständige Lektorin und macht gute Worte mit großartigen Menschen und Verlagen.
2007 veröffentlichte sie ihr Romandebüt; weitere Veröffentlichungen im Bereich der Dunklen Phantastik folgten. 2016 wurde sie mit dem
»Encouragement Award« der European Science Fiction Society ausge- zeichnet. Ihr Roman »Shape Me« wurde für den Deutschen Science- Fiction-Preis und den Kurd-Laßwitz-Preis nominiert.
Mehr Informationen auf: www.melanie-vogltanz.net und www.lektorat- vogltanz.com
Alkoholkonsum
Alkoholismus (erwähnt)
Armut
Blut
Drogen (erwähnt)
Ertrinken
explizite Sprache
Flut und Flutschäden
Gewalt gegen Erwachsene und Tiere (explizit), Gewalt gegen Kinder (erwähnt)
Mord
Nacktheit
Obdachlosigkeit (explizit)
Polizeigewalt
Prügel
Queerfeindlichkeit, queerfeindliche Gewalt
Schusswaffen
Spielsucht (erwähnt)
Tabak
Tod wichtiger Figuren
toxische Familienverhältnisse (erwähnt)
Verstümmelung
Bitte achte beim Lesen auf dich und dein Wohlbefinden.
Ein Glossar befindet sich am Ende des Romans.
Inhaltsverzeichnis
Titel
Impressum
Über die Autorin
Playlist
Vorwort
Kapitel 1: Der Fall
1
2
3
Kapitel 2: Vegas, Baby!
1
2
3
Kapitel 3: Rinnsteinratten
1
2
3
Kapitel 4: Das Recht des Stärkeren
2
3
Kapitel 5: Die Ewigkeit ist eine zu lange Zeit
1
2
3
Kapitel 6: Es gibt mehr als einen Weg
1
2
3
Kapitel 7: Der Weh-Lan-Priester
1
2
3
Kapitel 8: Anfang und Ende
1
2
3
Kapitel 9: Sternenstaub
1
2
3
4
Glossar
Sidetrack from Ombos
Vorwort
Content Notes
Kapitel 1: Der Begrüßer
1
2
Kapitel 2: Wiedergutmachung
1
2
3
4
Kapitel 3: Sterne, Cash und das Orakel von Google
1
2
Kapitel 4: Das Krokodil und die Quelle
1
2
3
Kapitel 5: Trinkgeld und Manieren
1
2
3
Kapitel 6: Bei Valez
1
2
3
Kapitel 7: Ein Ort zum Bleiben
1
2
Kapitel 8: Alles ist Musik
1
2
Glossar
Nachwort und Danksagung
Weitere Bücher
Musik hat dieses Buch geprägt und trägt viel zu seiner Stimmung bei. Mit der Spotify-App kann dieser Strichcode gescannt werden und man gelangt direkt ins Heliopolis und zu Seths Playlist.
Vorwort
Seht Seth und wer dahinter steht!
Ein Vorwort von Katharina Fiona Bode
Was ist ein Gott? Nach christlichem Glauben dürften wir uns kein Bild davon machen, aber bei den alten Ägyptern sah das etwas anders aus.
Wer oder was ist also ein Gott? Was macht ihn eigentlich dazu? Und was genau ist dieses ominöse Es, das ihn wahrhaft göttlich macht?
Schöpft ein Gott die Kraft aus sich selbst? Ist es eine Art magischer Veranlagung oder etwa der reine Glaube anderer, wie der von uns Menschen, der ihn zu wahrer Göttlichkeit ermächtigt?
In der Literatur begegnet man oft der Kraft des Schöpfungsaktes als Zeichen eines göttlichen Funkens, was in der Vergangenheit eine Verknüpfung zwischen Göttern und Künstlergenies zuließ, die prompt auf dieselbe Stufe erhoben wurden.
Doch wie sieht das Ganze gegenwärtig aus? Was passiert, wenn man heute kreative Geister an die Seite einstiger Gottheiten stellt; Schriftsteller:innen Götter neu beleben lässt, die eigentlich zusammen mit der altägyptischen Kultur verschwanden … irgendwo in der Vergangenheit abhandenkamen, nur um nun in unsere Gegenwart zurückgezwungen zu werden? Göttliche Wesen, die den Geschmack von Angst und Ruhm gekostet haben, ein konfliktreiches historisches Erbe in sich tragen, während sie sich plötzlich auf der Reise in eine zukünftige Welt wiederfinden, die nicht mehr die ihre ist.
Wer verleiht dann wem Macht? Müssen die Götter uns gerecht werden, oder dienen sie nur sich selbst?
In diesem Spannungsfeld siedelten Verlegerin Grit Richter und ich als Herausgeberinnen die Anthologie »Kemet – Die Götter Ägyptens« an, für die wir uns abenteuerlustige Autoren und Autorinnen wünschten, die sich zusammen mit den Göttern auf die Suche nach Antworten begeben würden, auch wenn das hieße, sich auf verborgenen Pfaden durch staubigen Wüstensand zu graben. Denn die mythologischen Wurzeln sollten unverkennbar bleiben und Grundstein oder Reibungspotenzial für die Götter bei ihrem Streben bieten, sich einen Platz in der »neuen« Welt zu verschaffen.
Zwar mögen wir den initialisierenden Funken gespendet haben, aber angefacht wurde das Feuer unseres Erzählkosmos’ durch die belebende Vorstellungskraft der Autorinnen wie Melanie Vogltanz, die eine jener Wagemutigen gewesen ist, welche sich auf diese Mission begeben und Seth in ihrer Geschichte »Highway to Heliopolis« eine Stimme verliehen hat. Eine Stimme, die offenbar so gewaltig war, dass sie nach mehr geschrien hat.
Und so können wir als Leser:innen uns allesamt glücklich schätzen, dass wir mit »Road to Ombos« in die Gesellschaft dieser betörend vielschichtigen und äußerst ambivalenten Figur zurückkehren dürfen.
Wir lechzten nach Magie, Crime & God ’n’ Roll, und Melanie hat mit Seth geantwortet.
Nun, liebe Leser:innen, wird es Zeit, dass ihr am eigenen Leib erfahrt, wie.
Die Straße nach Ombos ist mit schlechten Vorsätzen gepflastert.
Als Seth in die Welt der Sterblichen trat, geschah es in Dunkelheit und Kälte. Er ruderte mit den Armen und Beinen, aber um ihn war kein Halt. Wie ein herabgefallener Stern trieb er inmitten der eisigen, schwerelosen Finsternis. Da bemerkte er, dass er keine Luft zum Atmen und keine Stimme zum Schreien hatte. Die Kälte machte seine Glieder bleischwer, raubte ihm die Kraft zu kämpfen – und er wusste ohnehin nicht, wogegen er überhaupt kämpfte.
Ist dies das Ende?, fragte er sich in vollem Ernst und ohne jede Reue.
Doch es war der Anfang.
Da spürte Seth, wie Hände ihn packten – an den Armen und um die Brust. Plötzlich war da wieder ein Oben und ein Unten, und so begriff er, dass er von etwas oder jemandem hinaufgezogen wurde. Sekunden später durchstieß sein Kopf die Oberfläche der eisigen Schwärze. Prustend und spuckend rang er nach Atem.
»Alles gut, Kumpel«, hörte er eine Stimme neben sich, die weder der ewigen Sprache der Götter noch der Gemeinsprache des einfachen Volkes ähnelte. Er verstand sie dennoch, denn er war ein Gott, und Götter mussten jedes Wort verstehen, das an sie gerichtet wird. »Wir haben dich. Alles gut. Du bist jetzt sicher.«
Seine Augen waren nicht länger blind – waren es tatsächlich nie gewesen. Seth wurde klar, dass die schwerelose Kälte nichts anderes gewesen war als die Tiefen eines dunklen Flusses. Über ihm erstreckte sich ein wie von schwacher Glut diffus leuchtender, sternenloser Himmel.
Und rechts und links von ihm traten zwei triefende Sterbliche Wasser, die fast ebenso schwer atmeten wie er selbst. Bevor er sich so weit sammeln konnte, um angemessene Worte an die beiden Menschen zu richten, hatten sie ihn mit vereinten Kräften ans Ufer gezerrt.
Dort erwartete sie ein schmächtiger Junge, der mit mehreren Decken bereitstand. Zu seinen Füßen saß ein großer, struppiger Hund, der Seth misstrauisch beäugte.
»Heilige Scheiße, ist das kalt«, bemerkte einer der Menschen – eine junge Frau – zähneklappernd und wickelte sich eilig in die gereichte Decke. »Da hast du dir echt nicht den besten Zeitpunkt zum Baden ausgesucht, Kumpel.«
»Ich bin Seth«, verkündete Seth. »Herr von Ombos, Sohn von Nut, Herrscher über das Rote Land, Gebieter über das Chaos und Verschlinger von Seelen.«
Seine Worte erzielten nicht den erwarteten Effekt. Anstatt sich vor ihm in den Staub zu werfen und ihn um Gnade anzuflehen, glotzten die drei Sterblichen ihn lediglich an.
»Billy«, stellte einer der nassen Menschen sich vor.
»Tara«, ergänzte die Frau. »Und das sind Fernando«, sie deutete auf den schmächtigen Burschen, dann auf den Hund, »und Cupcake. Und was auch immer du eingeworfen hast, muss ordentlich reinhauen. Im Übrigen bist du splitternackt.«
Da er selbst keine Anstalten machte, nach der Decke zu greifen, die der Junge – Fernando – ihm anbot, nahm die Sterbliche namens Tara das in die Hand und legte sie ihm kurzerhand um die Schultern. »Komm, wir bringen dich in unser Lager. Ist nicht weit von hier. Dort kannst du dich aufwärmen, und vielleicht haben wir noch ein paar Sachen zum Anziehen für dich.« Sie schüttelte den Kopf. »Du hattest echt verdammtes Glück, dass wir zufällig in der Nähe waren. Hier ist es nachts oft ziemlich einsam. Du hättest absaufen können.«
Seth fühlte sich von der Reaktion der Sterblichen so vor den Kopf gestoßen, dass er einfach willenlos hinter ihnen hertrottete. Nach wenigen Metern erreichten sie eine Brücke, die sich über jenen Fluss spannte, aus dem sie ihn soeben gezogen hatten. Ein wohliges Feuer prasselte in einer kindshohen Tonne. Erst, als er den Flammen nahekam, spürte Seth, wie stark er fror. Er stellte sich vor die Tonne, um sich daran zu wärmen, und zog fröstelnd die Decke enger um seine Schultern.
»Wir haben leider keine zusätzlichen Schlafsäcke mehr«, erklärte Billy, während Tara ihre nassen Klamotten ablegte. »Aber mit ein paar Decken ist es aushaltbar.«
»Mach mal halblang, Billyboy!«, rief Tara über die Schulter. »Niemand hat behauptet, dass der Kerl hier übernachten darf. Die Rede war vom Aufwärmen, nicht davon, dass er sich hier häuslich einrichtet. Das ist ein völlig Fremder. Könnte genauso gut ein gesuchter Sexualstraftätet sein, bei allem, was wir über ihn wissen!«
»Tara, nun sei doch nicht so!«
Sie verzog missbilligend die Lippen. In ihrer neuen, trockenen Kleidung trat sie vor Seth und musterte ihn von oben bis unten. So hatte noch kein Sterblicher gewagt, ihn anzusehen. Ihre triefend nassen Haare, die sie mit einer beispiellosen Kunstfertigkeit zu zahlreichen dünnen Zöpfen geflochten hatte, die meisten davon schwarz, einzelne dazwischen grellrot, waren unter einer weiteren Decke verschwunden. »Das hier ist vielleicht nur ’ne Brücke, aber es ist verdammt nochmal ’ne saubere Brücke, und darauf legen wir großen Wert, klar? Wenn du hierbleiben willst, musst du clean sein. Also, auf was bist du drauf? Acid? Angel Dust? Crystal? E, H, K?«
»Sollten mir diese Buchstaben irgendetwas sagen?«, erwiderte Seth.
»Punktionsstellen scheinst du schon mal nicht zu haben, also bist du wohl kein Hardcore-Junkie. Ich nehm an, das kann man zu deinen Gunsten verbuchen.«
»Tara meint es nicht so«, schaltete Billy sich ein. »Sie will nur nicht, dass du uns Ärger ins Lager schleppst, wie unangenehme Typen oder Kredithaie und so’n Scheiß. Und das wirst du doch nicht, richtig?«
Seth ließ sich diese Frage genau durch den Kopf gehen. Obwohl er jedes der Worte dieser kuriosen Menschen in Isolation verstand, fiel es ihm erstaunlich schwer, ihren Sinn in seiner Gesamtheit zu erfassen. Schließlich antwortete er mit einem kurz angebundenen: »Wohl kaum.« Er sah nach unten, wo der struppige Hund begonnen hatte, vorsichtig seine nackten Füße zu beschnuppern. Als ihn Seths Blick traf, zog er den Schwanz ein, duckte sich und versteckte sich hinter dem Jungen, der bisher noch keinen Ton von sich gegeben hatte.
Wenigstens das Tier wusste, wie man einen Gott zu behandeln hatte.
Sein Herr, der schweigsame Sterbliche namens Fernando, hatte unterdessen in einem der zahlreichen Säcke gewühlt, die unter der Brücke verteilt standen. Offenbar war er fündig geworden, denn nun kam er mit einem Satz Kleidung zurück und hielt sie Seth mit einem ermutigenden Lächeln entgegen.
»Ich glaube, Fernando hat etwas gefunden, das dir passen könnte«, erklärte Billy.
»Was ist mit dir?«, fragte Seth den schweigsamen Sterblichen. »Hast du deine Zunge verloren?« Er nahm die Kleider entgegen. Noch nie hatte er so fein gewebten Stoff in Händen gehalten. Mit einem Hauch von Bewunderung strich er darüber, betastete die Nähte mit den Fingern.
Fernando presste die Lippen zusammen, zog die Mundwinkel nach oben und hob die Schultern.
»Er hat sie nie gehabt«, antwortete Tara für ihn. Sie hatte sich mit untergeschlagenen Beinen auf ihrem Schlafsack niedergelassen. »Er wurde gehörlos geboren. Aber das heißt nicht, dass er nichts mitbekommt. Er kann ziemlich gut Lippen lesen.«
»Er spricht also nicht.«
»Natürlich spricht er!« Tara wirkte empört. Etwas leiser fügte sie hinzu: »Allerdings in Gebärdensprache. Und die können wir nicht.«
Fernando zuckte erneut mit den Schultern, als wollte er sagen: Was soll man machen?
Seth begann sich anzukleiden. Zwar hatte Tara ihnen den Rücken zugewandt, als sie sich umgezogen hatte, doch er hatte dabei eine ungefähre Vorstellung davon bekommen, wie er diese fremdartige Kleidung anlegen musste. Dennoch brauchte er eine ganze Weile, ehe das schnürlose Hemd mit dem engen Kragen und die Hose aus dem robusten, blauen Stoff an seinem Körper saßen. Sein knapp schulterlanges, schwarzes Haar, in dem noch immer ein großer Teil Flusswasser hing, hatte das Hemd innerhalb kurzer Zeit vollgesogen. Als er an sich herabblickte, stellte er fest, dass sich auf dem schwarzen Obergewand eine Rune befand, die eine ähnlich klingende, wenn auch nicht identische kryptische Buchstabenkombination darstellte wie jene, welche die Sterbliche Tara ihm zuvor dargelegt hatte wie eine magische Formel: ACDC. Auch wenn Seth die phonetische Bedeutung der fremden Runen ebenso mühelos verstand wie die zungen- und lippenrundende Sprache dieser Sterblichen, blieb ihm auch in diesem Fall der tiefere Sinn dahinter verschlossen. Er konnte nur hoffen, dass sie ihn nicht mit einem Bann belegt hatten.
Doch welcher irdische Bann wäre schon mächtig genug, ihn zu knechten? Der bloße Gedanke war absurd.
Er folgte dem Beispiel der Sterblichen und ließ sich vor dem wohlig prasselnden Feuer nieder.
Billy reichte einige Flaschen reihum. Auch Seth ließ er nicht aus.
»Also Prost. Darauf, dass keiner von uns heute abgesoffen ist.«
Die drei tranken.
Seth schnupperte unterdessen misstrauisch an der Öffnung seiner eigenen Flasche. »Wie nennt ihr diesen Trank?«
»Budweiser«, sagte Billy.
Seth machte einen zögerlichen Schluck. Er schmeckte Alkohol, Hopfen, Malz – ein Gemisch von erstaunlicher Reinheit ohne jeglichen Bodensatz. »Schmeckt nach Bier«, bemerkte er.
»Hey, er wird wieder klarer!«, jubilierte Billy. »Ich sag’s doch immer wieder: Ein kühles Blondes hat noch jedes Leiden kuriert!«
»Also, Seth«, begann die junge Frau namens Tara, nachdem sie an ihrem Bier genippt hatte. »Was ist deine Geschichte?« Sie sprach seinen Namen falsch aus, mit einem kurzen »E« und einem Zischlaut am Ende, bei dem sie die Zunge zwischen die Vorderzähne nahm. Im Schein des Lagerfeuers fiel ihm auf, dass ihr Teint dem seinen noch am nächsten kam. Die beiden männlichen Sterblichen dagegen waren merkwürdig bleich, besonders der junge Mann namens Billy. Er sah fast so aus, als hätte jemand seiner Haut mit Salzlauge alle Farbe entzogen. Für Seth stand fest, dass Tara das Kommando innehatte. Er betrachtete die Ringe, die in ihrer Nase, ihren Ohren und ihrer Unterlippe steckten. War sie eine Priesterin? Eine nubische Königin? Doch wieso sollte sie dann mit ihrer Dienerschaft unter freiem Himmel schlafen?
»Hey, Kumpel. Weilst du noch unter uns?« Sie wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum. »Jetzt erzähl schon! Wie bist du splitternackt im Wash gelandet?«
»Ich … entsinne mich nicht«, musste Seth zugeben.
»Bis oben hin zugedröhnt«, raunte Billy.
»Du erinnerst dich an gar nichts?«, hakte Tara nach.
Seth ignorierte ihre Frage. Stattdessen blickte er erneut in den rötlich glimmenden Himmel. So fahl und sternenlos der Himmel geworden war, die Erde leuchtete dafür umso mehr. Unzählige Lichter funkelten in der Ferne, erbrachen ihren Schein in die Stratosphäre und verschluckten alles andere. So viele Lichter hatte Seth noch nie in seiner Äonen andauernden Existenz gesehen, und wenn er die Augen schloss, tanzten sie immer noch in der Finsternis seiner geschlossenen Lider auf seinen Netzhäuten. »Wie nennt sich dieser Ort?«
Tara, Billy und Fernando warfen sich stumme Blicke zu. Dann sagte Billy mit einem breiten Grinsen: »Willkommen in Vegas, Baby!«
Die Sterblichen redeten eine ganze Weile – über die Stadt, in der sie lebten, die Menschen darin (ein Volk, das Billy als geizige Flachwichser bezeichnete) und über sich selbst. Seth versuchte, all die verwirrenden Informationen zu erfassen, die mit jedem Redeschwall auf ihn einstürmten, aber mit jeder Frage, die sich ihm beantwortete, eröffneten sich ihm zehn neue.
Während des Gesprächs wurde in Papier gewickeltes Räucherwerk entzündet. Mit den Worten »Auch ’ne Fluppe?«, bot Billy ihm diese Opfergabe dar. Seth erwies ihm seine Gunst und nahm sie an. Nach Vorbild der Sterblichen inhalierte er den Rauch, der dabei entstand, und genoss das Gefühl der Wärme, das sich durch das Feuer vor und das Feuer in ihm ausbreitete.
»Ich glaube nicht, dass ihr begreift«, ergriff er schließlich das Wort. »Ich bin ein Gott. Ich weiß nicht, wie ich in dieses Land geraten bin, in dem man meinen Namen nicht kennt und nicht fürchtet, doch ihr tätet gut daran, mir mit Respekt zu begegnen.«
»Schon klar, Mann.« Billy klopfte ihm auf die Schulter.
Seths Blick, den er ihm daraufhin zuwarf, fiel so vernichtend aus, dass der junge Sterbliche seine Hand so hastig wieder zurückzog, als fürchtete er, sie könnte ihm abgebissen werden. »Sorry«, nuschelte er.
»Wenn du so mächtig bist«, wandte Tara ein, »wie kommt es dann, dass wir dich aus dem Wash fischen mussten?«
»Götter sind weder unbesiegbar noch unverwundbar. Sie sind vergänglich und von Makeln besetzt.«
»Das ist ja bequem«, bemerkte Billy.
Seth musterte ihn brüskiert. »Nein. Es ist überaus mühselig. Aber so ist der Lauf der Dinge.«
»Dann zeig uns doch mal was von deiner Götterpower!«, verlangte Billy.
Fernando nickte eifrig.
Tara verzog lediglich die Lippen und schüttelte den Kopf. »Jetzt ermutigt ihn nicht auch noch!«
»Ihr wollt also einen Beweis für meine göttlichen Kräfte?«, versicherte Seth sich.
»Ja. Bitte. Das wär echt abgefahren.« Billy grinste.
»So etwas wurde noch nie von mir verlangt. Doch ich tue es – für euch, da ihr mich aus dem Fluss gezogen und mit Opfergaben von ausgesuchter Schönheit meine Gunst gewonnen habt.« Seth erhob sich aus seiner sitzenden Position.
Fernando rempelte Billy aufgeregt mit dem Ellbogen an.
»Bitte tu dir nicht weh«, murmelte Tara.
Seth zog es vor, das zu ignorieren. Er breitete die Arme aus, die Handflächen nach außen gekehrt. Ein paar schlichte Feuerstrahlen in den Himmel zu schicken, sollte wohl ausreichen, um diese einfältigen Sterblichen zu beeindrucken. Er beschwor die Hitze herauf, sammelte sie in seinem Körper, sandte sie in seine Fingerspitzen …
Das heißt, er versuchte es.
Nichts geschah.
»War’s das schon oder kommt da noch was?«, raunte Billy Tara zu.
»Ich glaube, er hat noch nicht angefangen«, meinte diese.
Seth räusperte sich. »Das … Moment.« Er öffnete und schloss seine Finger, dass sie knackten, lockerte seine Glieder. Offensichtlich war er durch sein unfreiwilliges Flussbad noch immer geschwächt. So etwas kam schon einmal vor.
Seth schloss die Augen. Konzentrierte sich. Hitze. Ein inneres Feuer, so rot, heiß und trocken wie das Rote Land Deshret, seine Heimat, sein Königreich. Tief in ihm brannte es, sein ureigenstes Ka, die Essenz seines Seins. Es floss durch seine Adern, strömte von seinen Adern in seine Hände, in seine Finger, von wo aus es ihn nur einen flüchtigen Gedanken kostete, um es als Heka nach außen zu senden, die Flammen hervorschießen zu lassen, in … in … in …
»Seth?«, fragte Tara zögerlich. »Bist du eingeschlafen?«
»Falls du kotzen musst, nicht auf die Schlafsäcke zielen!«, bat Billy.
Seth atmete ruckartig aus und ließ seine Arme herabfallen. »Ich … ich kann es nicht.« Die Erkenntnis bohrte sich in seinen Magen wie die Giftzähne einer Viper: Kraftlos. Machtlos. Sein Heka, die göttliche Magie, die sein Sein bestimmte, war erloschen. Das hatte es noch nie gegeben. Noch nie, nicht einmal, als sein Neffe ihm während ihrer erbitterten Fehde das Gemächt abgeschnitten hatte, war er gänzlich ohne Kräfte gewesen. Ja, selbst im Tod, wenn er einst mit der ewigen Barke über den Jenseitsfluss in die Gefilde der Duat fahren sollte, würde das Feuer Deshrets in ihm brennen.
Zumindest hatte er das bislang immer geglaubt.
»Du siehst etwas käsig aus. Vielleicht solltest du dich lieber wieder hinsetzen«, riet Tara.
»Was auch immer er sich reingepfiffen hat, ich glaube, es hört gerade auf, zu wirken«, bemerkte Billy.
Da explodierte Seth. »Elendes Wurmgezücht! Wie könnt ihr es wagen, mir zu spotten! Wie könnt ihr es wagen, meine Worte anzuzweifeln! Ich bin der Erschaffer von Feuersbrünsten, Herrscher des Chaos’ – Osiris selbst ist unter meiner Klinge gefallen! Wie könnt ihr es wagen!«
Die Sterblichen zuckten synchron zusammen. Zum ersten Mal, seit sie ihn aus dem Fluss gezogen hatten, sah er aufrichtige Angst in ihren Augen.
Zum ersten Mal behandelten sie ihn so, wie es seiner würdig war.
In der Pause, die nach seinem Ausbruch entstand, stieß der struppige Hund ein leises Winseln aus. Davon abgesehen war es quälend still um ihn.
»Ihr wollt einen Beweis?«, fuhr Seth mit bebender Stimme fort. »Ich werde euch einen Beweis liefern. Ich brauche das Feuer Deshrets nicht. Euer mickriges irdisches Feuer reicht völlig.« Er streckte einen Arm aus, wollte in die brennende Tonne fassen, um die Flammen aus ihrem Gefängnis zu befreien.
Da war plötzlich Taras Hand um sein Handgelenk und hielt ihn fest.
Sein Kopf zuckte zu ihr herum. »Du wagst es, mich zu berühren?«, zischte er durch zusammengepresste Zähne. »Du wagst es, mich aufhalten zu wollen?«
»Du musst uns nichts beweisen«, sagte sie ernst. »Wir glauben dir, okay? Wenn es dir so wichtig ist, dann glauben wir dir.«
Sein Blick wanderte über die anderen beiden Menschen. Fernando war bleich geworden. Er nickte, um Taras Worte zu bekräftigen. Selbst Billy war das Grinsen vergangen.
»Ja, Tara hat recht, Mann«, sagte er. »Setz dich … setz dich einfach wieder hin und halt die Füße still. Wir machen dir noch ein Bier auf. Niemand hier muss sich verbrennen, um irgendwas zu beweisen.«
Für einen Moment verharrte Seth noch so – mit Taras Hand an seinem Arm, ihr Gesicht nur wenige Zentimeter von seinem entfernt. Dann stieß er einen äußerst schweren Seufzer aus und ließ sich zurück auf seine Decke sinken.
Ein einhelliges Aufatmen ging durch die Runde.
Fernando reichte ihm das versprochene Bier. Seth nahm es entgegen, trank jedoch nicht. Seine Gedanken waren schwarz, sein Kopf auf einen Schlag leergefegt.
»Weißt du, wo du hinkannst?«, fragte Tara vorsichtig. »Hast du Familie in der Nähe? Irgendjemanden, den du anrufen kannst?«
Seth antwortete nicht, starrte lediglich schweigend in den Rauch, der aus der Tonne zwischen ihnen emporstieg.
Sie seufzte. »Na schön, ich nehme an, es geht klar, dass du ein paar Tage bei uns bleibst. Aber das ist keine Dauerlösung, klar?«
»Keine Sorge«, wandte Billy sich vertraulich an Seth. »Dasselbe hat sie damals über Cupcake gesagt, und das war vor drei Jahren. Wie sieht’s aus, Kumpel? Noch ’ne Fluppe?«
Zwei Wochen waren vergangen, seit die Sterblichen Seth aus dem Las Vegas Wash-Kanal gefischt hatten. Seither hatte er viel über jene Welt gelernt, in die er unversehens geworfen worden war. Seth war ebenso robust, wandelbar und anpassungsfähig wie die Wüste, die seine Heimat war, und so fand er sich schnell mit dem Gedanken ab, dass er sich nicht länger im Schwarzen Land Kemet befand – ja, nicht einmal mehr in seiner eigenen Zeit. Woran er sich allerdings nicht gewöhnen konnte, war das Versiegen seiner Kräfte. Jede Nacht, wenn die unbarmherzige Sonne Nevadas hinter dem Horizont versank und sich die Kälte in den steinigen, trockenen Boden fraß, saß Seth mit einem Feuerzeug in den Händen unter freiem Himmel und ließ die kleine Flamme leuchten. Er fixierte sie mit seinen Blicken, wollte sie mit seinem Willen aus ihrem metallenen Gefängnis herausziehen, in sich hinein, wo sie hingehörte – doch sie verweigerte sich ihm.
Ebenso wie die Menschen in jener befremdlichen Welt gehorchte sie seinen Befehlen nicht.
Wie sich herausstellte, war Las Vegas eine Wüstenstadt, umgeben von der weiten, zerklüfteten Landschaft der unbarmherzigen und grausam schönen Mojave. Seth fühlte sich dort sofort heimisch. Die Stadt selbst dagegen stieß ihn in ihrer Rastlosigkeit und Enge ab. Noch nie hatte er so viele Menschen auf einem Fleck zusammengepfercht gesehen. Besonders am Strip, der Amüsiermeile von Vegas, versiegten die Ströme der vergnügungssüchtigen Sterblichen nie. Tag und Nacht fluteten sie die Gassen, und ihre stinkenden, lärmenden Fahrzeuge verstopften die Straßen.
Tara und ihre Leute blieben diesem Hotspot fern. »Zu viele Arschlöcher, und zu viel Konkurrenz, um was abzugreifen«, hatte sie ihm erklärt. »Das ist das Revier von organisierten Banden. Die prügeln uns aus ihrem Bereich und entsorgen unsere Leichen im Kanal, wenn wir auf ihren Standplätzen wildern. Nein danke.«
Sie zogen es vor, sich tagsüber an ruhigere Plätze in der Stadt zurückzuziehen – regelmäßig frequentierte Parks, kleine Einkaufsstraßen und Bahnhöfe. Sie hatten ihre vier oder fünf Stammplätze, und die arbeiteten sie der Reihe nach ab. Dort machten sie es sich auf einem gefalteten Karton oder einer mitgebrachten Decke bequem und hofften auf die Freigiebigkeit zufällig vorbeikommender Passanten. Taras Erscheinung und ihr Auftreten hatten Seth anfangs glauben lassen, dass es sich bei ihr um eine Priesterin eines ihm unbekannten Kults handelte, und so hatte er gedacht, sie würde an den Tempeln von Las Vegas Gaben in Empfang nehmen. So kannte er das: Die Priester aus seiner Zeit hatten ausschließlich von den Gaben der Gläubigen gelebt. Wie sich jedoch bald herausstellte, erlag er einem Irrtum. Tara, Fernando und Billy waren nichts anderes als Bettler – ein Konzept, das Seth, anders als so viele andere Dinge in dieser neuen Welt, sehr gut vertraut war.
Seth begleitete die drei gelegentlich bei ihrer Arbeit, doch er selbst bat die vorbeiziehenden Passanten nie um Geld. Meistens stand er im Hintergrund, halb verborgen im Schatten, rauchte eine Zigarette nach der anderen und beobachtete das Treiben seiner Retter. Ihr Verhalten faszinierte ihn. Die Leute auf der Straße beschimpften sie, verspotteten sie, manche spuckten sogar in ihre Richtung. Doch selbst die unhöflichste Reaktion konnte ihnen ihr Lachen und ihre Fröhlichkeit nicht verleiden. In ihrer Unbeschwertheit und Arglosigkeit erinnerten sie Seth an spielende Welpen. Selbst wenn sie gelegentlich einen ungerechtfertigten Tritt kassierten: Schon kurz darauf balgten sie sich bereits wieder und erfreuten sich ihres Lebens. Imponierend.
Die meisten Nächte verbrachte er mit ihnen an ihrem Schlafplatz unter der Brücke. Dann zählten sie ihre kargen Tageseinnahmen und teilten Essen, Bier und Geschichten. In manchen Nächten war Seth jedoch nicht nach ihrer Gesellschaft zumute. Dann ging er nicht zur Brücke, sondern aus der Stadt hinaus, in die endlos scheinende Weite der Mojave. Dort lauschte er dem Knacken, mit dem sich die Hitze des Tages aus den Felsen zurückzog, ließ seine Finger durch das karge Strauchwerk wandern und spürte dem Knistern und Flüstern des Getiers nach, das sich in der Wüste sein Überleben sicherte. Nur dort, zwischen Stein, rissiger Erde und Kakteen, fühlte er sich wieder ein wenig wie er selbst. Doch wenn er den Kopf in den Nacken legte, spannte sich ein fremder leerer Himmel über ihn, das Feuer in seinen Fingern war taub für sein Flüstern, und die Antworten auf seine zahlreichen Fragen blieben ihm verschlossen.
Eines Abends kehrte er verfrüht von einer solchen Wüstenwanderung zurück. Seine Füße waren müde, und in die Stiefel, die Tara ihm besorgt hatte, waren Sand und Steine geraten, die seine Sohlen traktierten.
Schon aus der Ferne erkannte er, dass etwas nicht stimmte. Unter der Brücke, im Schein der brennenden Mülltonne, die sie jede Nacht mit Zeitungen und anderem Abfall fütterten, waren nicht drei, sondern vier Schemen zu sehen. Seth wusste nicht, warum, doch der Anblick alarmierte ihn augenblicklich. Er beschleunigte seine Schritte.
Als er näherkam, erkannte er, dass es sich bei dem unbekannten Vierten um einen Mann in Uniform handelte. Seth war bereits lange genug in der Stadt, um zu wissen, dass diese Farben Ärger bedeuteten. Polizei nannte man jene Institution, vor deren Symbolen und Vertretern Tara und die anderen stets Reißaus zu nehmen pflegten, sobald sie ihrer gewahr wurden. Der Uniformierte, ein rotgesichtiger Kerl mit Stiernacken und peinlichst kurzgeschnittenen Haaren, hatte sich vor Tara und den anderen aufgebaut.
»Wir stören hier doch niemanden«, schnappte Seth Billys Einwurf auf, als er die Brücke erreichte. »Sir«, fügte er nach einer spürbaren Pause hinzu.
»Das sehe ich völlig anders«, erwiderte der Cop. »Dieses Ding da«, er deutete auf die brennende Tonne, »ist eine verdammte Brandgefahr. Allein dafür sollte ich euch einbuchten. Außerdem verschmutzt ihr das Stadtbild.«
»Das stimmt doch überhaupt nicht!«, fuhr Tara ihn an.
»Ach ja? Und warum liegt dann euer Scheiß hier überall rum?«, fragte der Cop. Dann packte er einen der Säcke, die all ihre Habseligkeiten beinhalteten, und drehte ihn um, sodass der Inhalt sich unter der ganzen Brücke verstreute. Leichtere Teile wie Chipstüten oder die Zeitungen, die sie zum Heizen und als Isolierung gegen die Kälte brauchten, wurden vom Wind erfasst und in den Kanal geweht. »Seht euch diese Schweinerei an!« Er trat mehrmals auf einen der Schlafsäcke und wischte seine Schuhe am Kopfteil ab.
Cupcake, der alles bislang zitternd aus der Sicherheit zwischen Fernandos Beinen heraus beobachtet hatte, kroch ein Stück auf den Cop zu und keifte warnend.
Der Cop wuchtete ihm seinen Stiefel gegen die Schnauze. Der Hund jaulte auf.
Dann passierte alles sehr schnell. Fernando, der die Erniedrigung bislang blass und mit verkniffenem Gesicht, aber tatenlos beobachtet hatte, riss erschrocken den Mund auf und stürzte vorwärts. Der Cop empfing ihn mit einem Stoß gegen die Brust, der ihn rückwärts taumeln ließ. Hätte Billy ihn nicht rasch gepackt, wäre er gefallen. Unterdessen hatte Tara laut zu fluchen begonnen. Ihre Hände waren zu hilflosen Fäusten geballt, doch sie unternahm nichts. Zitternd stand sie da, in den Augen blanke Mordlust – die fleischgewordene Hilflosigkeit.
»Euer beschissener Köter hat mich attackiert«, blaffte der Cop. »Ihr wisst doch hoffentlich, was mit Tölen passiert, die Menschen angreifen?«
In diesem Moment trat Seth von hinten an den Uniformierten heran. Obwohl er keinen Laut von sich gab, musste der andere seine Gegenwart spüren, denn was auch immer ihm noch auf den Lippen gelegen hatte – er verstummte und wandte sich quälend langsam zu ihm um.
Nachdem er Seth von oben bis unten gemustert hatte, fragte er mit einem süffisanten Verziehen der Lippen: »Und was genau stellst du dar?«
»Ich bin Seth, Sohn von Nut, Herr von Ombos – du Wichser.« Und mit diesen Worten rammte Seth ihm die geballte Faust ins Gesicht.
»Shit, Shit, Shit, Shit!«
»Durchatmen, Billyboy. Komm runter.«
Die drei Menschen atmeten schwer. Selbst der Hund, der von der Aufregung immer noch am ganzen Leib zitterte und sich nicht einmal von den besänftigenden Berührungen Fernandos beruhigen ließ, hechelte. Während der Cop auf seinem Hinterteil gesessen und sich benommen die blutende Nase gehalten hatte, nahmen Tara, Billy und Fernando die Beine in die Hand, bevor er wieder hatte aufstehen können. Dabei hatten sie Seth einfach gepackt und mit sich gezogen.