Rache und Rosenblüte - Renée Ahdieh - E-Book

Rache und Rosenblüte E-Book

Renée Ahdieh

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Beschreibung

Einhundert Leben für das eine, das du nahmst. Ein Leben bei jedem Sonnenaufgang. Gehorchst du auch nur an einem einzigen Morgen nicht, nehme ich deine Träume von dir. Ich nehme deine Stadt von dir. Und ich nehme von dir dieses Leben tausendfach.

Shahrzad und Chalid haben sich gefunden. Und obwohl ihre Gefühle füreinander unverbrüchlich sind, lauert da immer noch der Fluch, der dem jungen Kalifen auferlegt wurde. Sie wissen beide, dass diese Last ihrer gemeinsamen Zukunft im Weg steht. Und so verlässt Shahrzad den Palast. Sie verlässt Chalid. Aber kann sie einen Weg finden, ihre große Liebe nicht zu verlieren? Und kann sie verhindern, dass noch mehr Unschuldige sterben?

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Seitenzahl: 495

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Inhalt

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Prolog

Die Wasserlügen

Immer

Geschichten und Geheimnisse

Eine unauslöschliche Grenze

Ein Übergang zwischen zwei Welten

Bereitschaft zu lernen

Der Schmetterling und der Grobian

Nicht ein einziger Tropfen

Wie eine aufblühende Rose

Das Feuer

Grenzenlos

Der Junge am Meer

Wo Ruin ist

Eine Maus, die zu den Waffen ruft

Ein perfektes Gleichgewicht

Ein für alle Mal

Die geflügelte Schlange

Die dunkle Seite eines Spiegels

Tricks und Täuschung

Ein Pfeil im Herzen

Ein Bruder und ein Heim

Schief

Die größte aller lebenden Mächte

Leben und Todauf den Seiten eines Buches

Der Sandsteinpalast

Der Tiger und der Falke

Der brennende Banyanbaum

Der Kopf der fliegenden Schlange

Übertroffen

Die weiße Muschel

Tauschhandel, Lügen und Betrug

Unerwünschte Ankömmlinge

Die Tore von Amardha

Die Rose

Der Dolch

Die Macht der Liebe

Epilog

Danksagungen

Über das Buch

Einhundert Leben für das eine, das du nahmst. Ein Leben bei jedem Sonnenaufgang. Gehorchst du auch nur an einem einzigen Morgen nicht, nehme ich deine Träume von dir. Ich nehme deine Stadt von dir. Und ich nehme von dir dieses Leben tausendfach. Shahrzad und Chalid haben sich gefunden. Und obwohl ihre Gefühle füreinander unverbrüchlich sind, lauert da immer noch der Fluch, der dem jungen Kalifen auferlegt wurde. Sie wissen beide, dass diese Last ihrer gemeinsamen Zukunft im Weg steht. Und so verlässt Shahrzad den Palast. Sie verlässt Chalid. Aber kann sie einen Weg finden, ihre große Liebe nicht zu verlieren? Und kann sie verhindern, dass noch mehr Unschuldige sterben?

Über die Autorin

Renée Ahdieh hat die ersten Jahre ihrer Kindheit in Südkorea verbracht, inzwischen lebt sie mit ihrem Mann und einem kleinen Hund in North Carolina, USA. In ihrer Freizeit ist die Autorin eine begeisterte Salsa-Tänzerin, sie kann sich für Currys, Schuhe, das Sammeln von Schuhen und Basketball begeistern. Mit Zorn und Morgenröte legt sie ihren ersten Roman vor, zu dem es eine Fortsetzung geben wird, an dem die Autorin gerade arbeitet.

Renée Ahdieh

Rache und Rosenblüte

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Martina M. Oepping

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»The Rose and the Dagger«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2016 by Renée Ahdieh

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covergestaltung: Zero Werbeagentur, München unter Verwendung von Motiven von © FinePic/shutterstock

E-Book-Produktion: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-7325-4001-3

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Prolog

Das Mädchen war elf Jahre und neun Monate.

Neun sehr wichtige Monate. Denn sie hatten den Ausschlag gegeben, dass ihr Vater am Morgen ihr eine wichtige Aufgabe aufgetragen hatte. Mit einem tiefen Seufzer, als hätte sie alle Last der Welt zu tragen, krempelte sie also ihre zerschlissenen Ärmel hoch und häufte Schutt auf den Handkarren neben sich.

»Das ist so schwer«, klagte ihr achtjähriger Bruder, während er mit Mühe etliche Steine aus ihrem Heim schaffte. Er hustete, als eine Rußwolke aus den verkohlten Überresten aufstieg.

»Komm, ich helfe dir.« Das Mädchen ließ die Schaufel klappernd fallen.

»Ich habe kein Wort davon gesagt, dass du mir helfen sollst!«

»Wir sollten zusammenarbeiten, sonst werden wir nie fertig, alles wegzuräumen, bevor Baba nach Hause kommt.« Sie stemmte ihre Fäuste in die Hüfte und starrte von oben auf ihn herab.

»Sieh dich doch mal um!« Er hob die Hände. »Das schaffen wir nie!« Ihr Blick folgte seinen Händen.

Die Lehmwände ihres Heims waren aufgesprungen. Gebrochen. Rußgeschwärzt. Das Dach öffnete sich zum Himmel hin. Zu einem bedeckten und tristen Himmel. Es zeigte etwas, das einmal eine prächtige Stadt gewesen war. Die Mittagssonne versteckte sich hinter den zertrümmerten Hausdächern von Ray. Sie warf Schatten von Licht und Dunkel auf düsteren Stein und angesengten Marmor. Hier und da dienten schwelende Schutthaufen als bittere Mahnung an das, was erst vor wenigen Tagen geschehen war.

Das junge Mädchen senkte den Blick und trat näher an den Bruder heran.

»Wenn du nicht arbeiten willst, warte draußen. Aber ich arbeite weiter. Jemand muss es ja tun.« Sie griff wieder nach ihrer Schaufel.

Der Junge kickte gegen einen Stein, der vor ihm lag. Der Stein schlitterte über den vollgestellten Boden, bis er vor den Füßen eines Fremden mit Kapuze liegenblieb, der in den Überresten des Türrahmens stand.

Die Schaufel fester packend, schob das Mädchen den Bruder hinter sich.

»Kann ich helfen …?« Sie hielt inne. Der schwarze Rida des Fremden war mit silbernem und goldenem Garn bestickt. Die Scheide seines Schwertes war aufs Feinste ziseliert und elegant mit Juwelen besetzt, und seine Sandalen waren aus feinstem Kalbsleder geschnitten.

Auf keinen Fall war er ein dahergelaufener Räuber.

Das Mädchen richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Kann ich dir helfen, Sahib?«

Als er nicht sofort antwortete, hob das Mädchen mit zusammengezogenen Augenbrauen die Schaufel höher, das Herz hämmerte in ihrer Brust.

Der Fremde trat hinter dem durchhängenden Türpfosten hervor. Er schob seine Kapuze zurück und hob beide Handflächen flehend empor. Jede seiner Gesten war bedächtig, seine Bewegungen fließend und anmutig.

Als er in einen schmalen Lichtstreifen trat, sah das Mädchen zum ersten Mal sein Gesicht.

Er war jünger, als sie erwartet hatte. Nicht älter als zwanzig.

Sein Gesicht war wunderschön. Aber seine Gesichtszüge waren zu kantig, sein Ausdruck zu streng. Das Sonnenlicht auf seinen Händen enthüllte einen Widerspruch zu seiner Pracht; die Haut seiner Handflächen war rot und aufgerissen und schälte sich ab – ein Zeichen harter körperlicher Arbeit.

Seine müden Augen hatten die Farbe von lohfarbenem Bernstein. Solche Augen hatte sie schon einmal gesehen. Auf dem Gemälde eines Löwen.

»Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte der Fremde sanft. Sein Blick glitt über die Überreste ihrer Bleibe, die nur aus einem einzigen Raum bestand. »Darf ich euren Vater sprechen?«

Wieder packte Misstrauen das Mädchen. »Er ist … nicht da. Er steht in der Schlange, um Baumaterial zu bekommen.«

Der Fremde nickte. »Und eure Mutter?«

»Sie ist tot«, sagte der Bruder hinter ihrem Rücken. »Das Dach ist während des Unwetters auf sie gefallen. Sie ist am nächsten Morgen gestorben.«

Seine Worte waren von sachlicher Natur, die das Mädchen nicht nachempfinden konnte. Denn für ihren Bruder hatten die Worte noch keine wirkliche Bedeutung. Nachdem sie in der Dürre des vergangenen Jahres beinahe alles verloren hatten, hatte das Unwetter nun ihrer Familie den endgültigen Tribut abverlangt.

Und ihr Bruder musste diesen neuerlichen Verlust erst noch begreifen.

Die Ernsthaftigkeit des Fremden vertiefte sich für einen Moment. Er wendete den Blick ab, und seine Hände fielen an den Seiten hinab. Nach einem Pulsschlag sah er sie wieder an, seine Augen flackerten trotz der zusammengeballten Fäuste, deren Knöchel weiß hervortraten.

»Hast du noch eine Schaufel?«

»Wozu brauchst du eine Schaufel, reicher Mann?« Ihr kleiner Bruder marschierte auf den Fremden zu, jeder seiner barfüßigen Schritte ein einziger Vorwurf.

»Kamyar!« Seine Schwester schnappte nach Luft, und sie packte ihn hinten an seinem zerlumpten Qamis.

Der Fremde blinzelte zu ihrem Bruder hinunter, bevor er sich auf den vollgepackten Fußboden hockte. »Kamyar, richtig?«, fragte er, die Spur eines Lächelns schmückte seine Lippen.

Ihr Bruder sagte nichts, obwohl er es kaum fertigbrachte, dem großen Fremden in die Augen zu sehen.

»Ich … ich entschuldige mich, Sahib«, stammelte das Mädchen. »Er ist etwas frech.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich habe nichts gegen Frechheit, solange sie von der richtigen Person kommt.« Dieses Mal lächelte der Fremde wirklich, und seine Züge wirkten weicher.

»Ja«, unterbrach ihr Bruder, »ich heiße Kamyar. Und wie heißt du?«

Der Fremde betrachtete ihren Bruder einen Augenblick.

»Chalid.«

»Wozu brauchst du eine Schaufel, Chalid?«, fragte ihr Bruder wieder.

»Ich möchte euch helfen, euer Haus zu reparieren.«

»Warum?«

»Wenn wir uns gegenseitig helfen, schaffen wir alles schneller.«

Kamyar nickte langsam, dann neigte er den Kopf zu einer Seite. »Aber das hier ist nicht dein Zuhause. Warum sollte es dich was angehen?«

»Weil Ray mein Zuhause ist. Und Ray ist euer Zuhause. Wenn du mir helfen könntest, wenn ich Hilfe brauche, würdest du es nicht tun?«

»Doch«, sagte Kamyar ohne zu zögern, »würde ich.«

»Dann ist es also abgemacht.« Der Fremde stand auf. »Teilen wir uns deine Schaufel, Kamyar?«

Den restlichen Nachmittag arbeitete das Trio daran, den Boden von verkohltem Holz und durchnässtem Schutt zu befreien. Das Mädchen verriet dem Fremden immer noch nicht seinen Namen und nannte ihn nie anders als Sahib, aber Kamyar behandelte ihn wie einen lang verschollenen Freund, mit dem zusammen er gegen einen gemeinsamen Feind kämpfte. Als der Fremde ihnen Wasser reichte und Lavash-Brot zu essen gab, neigte das Mädchen den Kopf und berührte zum Dank mit den Fingerspitzen ihre Augenbrauen.

Röte überzog ihre Wangen, als der auf seine Art wunderschöne Fremde ohne ein Wort die Geste erwiderte.

Bald ging der Tag in den Abend über, und Kamyar schmiegte sich in eine Ecke, sein Kinn senkte sich auf die Brust, und seine Augen fielen sachte zu.

Der Fremde stapelte die letzten verwertbaren Holzscheite neben der Tür und schüttelte den Dreck aus seinem Rida, bevor er die Kapuze seines Umhangs wieder über den Kopf schob.

»Vielen Dank«, murmelte das Mädchen in dem Bewusstsein, das wäre das Mindeste, das sie tun sollte.

Er blickte sie über die Schulter an. Dann griff er in seinen Umhang und holte einen kleinen, mit einer Lederschnur zusammengebundenen Beutel hervor.

»Bitte. Nimm das.«

»Nein, Sahib.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann dein Geld nicht annehmen. Du hast uns schon genug von deiner Großzügigkeit gewährt.«

»Es ist nicht viel. Ich möchte, dass ihr es nehmt.« Seine Augen, die von Anfang an müde erschienen waren, sahen jetzt mehr als erschöpft aus. »Bitte.«

In diesem Augenblick passierte etwas mit seinem Gesicht, wenn auch verborgen im Spiel der Schatten, den verbliebenen Partikeln von Staub und Asche …

Irgendetwas darin zeigte ein tieferes Leid, als es das Mädchen je zu ergründen hoffte.

Sie nahm das Beutelchen aus seiner Hand entgegen.

»Danke«, flüsterte sie ihm zu. Als ob er derjenige sei, der Hilfe nötig hatte.

»Shiva«, sagte sie. »Ich heiße Shiva.«

Verwirrung flackerte für einen Augenblick auf seinen Gesichtszügen auf.

»Natürlich heißt du so.« Er verneigte sich tief, eine Hand an die Brauen gelegt.

Trotz ihrer Verwirrung schaffte sie es, freundlich zu reagieren, ihre Finger strichen über ihre Stirn. Als sie wieder aufblickte, war er um die Ecke gegangen.

Und verschwand in der Dunkelheit der Nacht.

Die Wasserlügen

Es war nur ein Ring.

Und dennoch bedeutete er ihr so viel.

So viel zu verlieren. So viel, für das es sich zu kämpfen lohnte.

Shahrzad hielt die Hand in einen Lichtstrahl. Der Ring aus mattem Gold blitzte zweimal auf, als ob er sie an seinen Gefährten erinnern wollte, weit über das Meer aus Sand.

Chalid.

Ihre Gedanken schweiften zu dem Marmorpalast in Ray. Zu Chalid. Sie hoffte, dass er bei Jalal war oder bei seinem Onkel, dem Shahrban.

Sie hoffte, dass er nicht allein war. Hilflos. Verzweifelt …

Warum bin ich nicht bei ihm?

Sie presste die Lippen fest aufeinander.

Weil, als ich das letzte Mal in Ray war, Tausende von unschuldigen Menschen starben.

Und Shahrzad konnte nicht zurückkehren, bevor sie nicht eine Möglichkeit gefunden hatte, ihre Familie zu retten. Ihre Liebe. Und eine Möglichkeit, Chalids schrecklichen Fluch zu brechen.

Draußen hinter ihrem Zelt begann eine Ziege, fröhlich und unbekümmert zu meckern.

Ihr Zorn wuchs. Shahrzad warf ihre behelfsmäßige Decke zurück und griff nach dem Dolch neben ihrer Schlafstätte. Eine leere Drohung, aber sie wusste, sie sollte wenigstens den Anschein von Kontrolle wahren.

Als ob sie sie verspotten wollten, wurden die schrillen Klänge hinter ihrem Zelt noch beharrlicher.

Ist da eine … Glocke?

Das kleine Biest da draußen hatte ein Glöckchen um den Hals! Und so sorgten das Klingeln und das Gemecker endgültig dafür, dass sie unmöglich wieder einschlafen konnte.

Shahrzad setzte sich auf, packte das juwelenbesetzte Heft ihres Dolches …

Dann, mit einem entnervten Aufschrei, ließ sie sich auf die kratzende Wolle ihres Bettes zurückfallen.

Es ist ja nicht so, als ob ich wirklich schlafen könnte, sowie die Dinge liegen.

Nicht solange sie so weit weg von Zuhause war. So weit von dort, wohin ihr Herz sich sehnte.

Sie schluckte den Kloß hinunter, der sich plötzlich in ihrer Kehle gebildet hatte.

Mit dem Daumen strich sie über den Ring mit den beiden gekreuzten Schwertern – den Ring, den Chalid ihr erst vor vierzehn Tagen an ihre rechte Hand gesteckt hatte.

Genug. Mit diesem Unsinn erreiche ich nichts.

Wieder setzte sie sich auf, ihre Augen suchten die neue Umgebung ab.

Irsas Schlaflager war in einer Ecke des kleinen Zeltes ordentlich verstaut. Ihre kleinere Schwester war wahrscheinlich schon seit Stunden auf und hatte Brot gebacken, Tee gemacht und das Fell der erbärmlichen Ziege gebürstet.

Shahrzad lächelte fast, trotz allem.

Ihre Unsicherheit nahm mit der Dämmerung zu. Sie steckte ihren Dolch in den Hosenbund, dann stand sie auf. Jeder Muskel ihres Körpers schmerzte von der anstrengenden Reise und den schlaflosen Nächten.

Drei Nächte voller Sorge. Drei Nächte auf der Flucht aus einer Stadt, die in Brand gesteckt worden war. Eine nicht versiegende Quelle voller Fragen ohne Antworten. Diese drei langen Nächte voller Angst um ihren Vater, dessen zerschlagener Körper sich erst noch von den wie auch immer gearteten Verletzungen erholen musste, die er auf den Bergkuppen von Ray erlitten hatte.

Shahrzad atmete tief durch.

Die Luft hier war anders. Trockener. Frisch. Weichgezeichnete Lichtstäbe drangen schräg durch die Zeltsäume. Eine dünne Schicht feinen Treibsands bedeckte alles. Sie ließ ihre winzige Welt erscheinen, als sei sie mit schwarzem Diamantenstaub überzogen.

Auf einer Seite des Zeltes stand ein kleiner Tisch mit einem Porzellankrug und einer Kupferschale. Shahrzads spärliche Habseligkeiten waren daneben aufgestapelt, gewickelt in den fadenscheinigen Teppich, den ihr Musa Zaragoza vor einigen Monaten geschenkt hatte. Sie kniete sich vor den Tisch und füllte die Kupferschale mit Wasser, um sich zu waschen.

Das Wasser war lauwarm, aber sauber. Ihr Spiegelbild, das ihr von der Oberfläche entgegensah, wirkte seltsam beherrscht.

Ruhig, aber verzerrt.

Das Gesicht eines Mädchens, das alles und nichts im Laufe einer einzigen Nacht verloren hatte.

Sie tauchte beide Hände in das Wasser. Unter der Oberfläche sah ihre Haut blass und weich aus. Nicht ihre normale bronzene Farbe. Sie hielt den Blick auf die Stelle gerichtet, wo das Wasser und die Luft sich trafen, auf die Krümmung, die ihre Hände wie in einer anderen Welt unter Wasser erscheinen ließen …

Eine Welt, die sich langsamer bewegte und Geschichten erzählte.

Die Wasserlügen.

Sie spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht und fuhr sich mit den feuchten Fingern durch die Haare. Dann hob sie den Deckel des kleinen hölzernen Behälters daneben ab und nahm ein bisschen von der gemahlenen Minze, dem weißen Pfeffer und dem zerstoßenen Steinsalz, um ihren Mund vom Schlaf der letzten Nacht zu reinigen.

»Du bist wach. Nachdem du gestern Abend so spät angekommen bist, hatte ich nicht erwartet, dass du so früh aufstehen würdest.«

Shahrzad drehte sich um und sah Irsa unter der offenen Zeltklappe stehen. Ein Lichtdreieck beleuchtete die schmale Silhouette ihrer Schwester.

Irsa lächelte, ihre frechen Gesichtszüge wurden sichtbar. »Du bist doch sonst nie vor dem Frühstück aufgewacht.« Sie schlüpfte in das Zelt und schloss die Zeltklappen fest hinter sich.

»Wer kann schon schlafen, solange diese scheußliche Ziege draußen schreit?«

Shahrzad bespritzte Irsa mit Wasser, um sie von ihrem unvermeidlichen Ansturm von Fragen abzulenken.

»Du meinst Farbod?«

»Du hast diesem kleinen Ungeheuer einen Namen gegeben?« Shahrzad grinste und begann, ihre verworrenen Locken zu einem Zopf zu flechten.

»Er ist ganz niedlich.« Irsa runzelte die Stirn. »Du solltest ihm eine Chance geben.«

»Bitte sage Farbod, dass – sollte er auf seine Konzerte frühmorgens bestehen – meine Lieblingsspeise geschmorte Ziege ist, in einer Sauce aus Granatäpfeln und zerstoßenen Walnüssen.«

»Ach!« Irsa nahm ein langes Stück Bindfaden aus ihrem zerknitterten Sirwal. »Wir sollten wohl nicht vergessen, dass wir uns jetzt in königlicher Gesellschaft befinden.« Sie band das Stück Faden um das Ende von Shahrzads Zopf. »Ich werde Farbod warnen, nie wieder Chorasans erlauchter Kalifin zu nahe zu treten.«

Shahrzad blickte über ihre Schulter in die hellen Augen ihrer Schwester. »Du bist so groß geworden«, sagte sie leise. »Wann bist du nur so groß geworden?«

Irsa schlang Shahrzad beide Arme um die Taille. »Ich habe dich vermisst.« Ihre Fingerspitzen streiften den Dolchgriff, und sie zuckte erschreckt zurück. »Warum trägst du …«

»Ist Baba schon aufgewacht?« Shahrzad lächelte mehr als breit. »Kannst du mich zu ihm bringen?«

In der Nacht des Unwetters war Shahrzad mit Tarik und Rahim auf der Suche nach ihrem Vater auf eine Hügelkuppe außerhalb von Ray geritten.

Sie war nicht im Mindesten auf das vorbereitet gewesen, was sie gefunden hatten.

Jahandar al-Haizuran hatte zusammengekrümmt in einer Pfütze gelegen, seine Arme um ein altes, ledergebundenes Buch geschlungen.

Seine bloßen Füße und seine Hände waren verbrannt. Rot, wund und aufgeschürft. Die Haare fielen ihm büschelweise aus. Der Regen hatte sie im Schlamm zusammengeschwemmt und die Strähnen gegen einen nassen Felsen gedrückt, zusammen mit anderen weggeworfenen Dingen.

Das scheckige Pferd ihrer Schwester war zu diesem Zeitpunkt schon lange tot gewesen. Ihm war die Kehle durchschnitten worden. Das Blut war in Strömen aus einer scheußlichen Halswunde geflossen. Ein Geäder aus Schlamm und herbeigewehter Asche hatte sich mit dem Purpur zu einem düsteren Flechtwerk auf den Hügeln vermischt.

Shahrzad würde niemals den Anblick des zusammengekauerten Körpers ihres Vaters vor dem Hintergrund des rot-grauen Abhangs vergessen.

Als sie versucht hatte, Jahandars Finger von dem Buch zu lösen, hatte er laut aufgeschrien in einer Sprache, die sie ihn nie zuvor hatte sprechen hören. Seine Augen hatten sich verdreht, und seine geschlossenen Wimpern hatten geflackert und sich nicht mehr geöffnet, jedenfalls nicht in den seither vergangenen vier Tagen.

Und bis sie sich öffneten, weigerte Shahrzad sich, ihn alleinzulassen.

Erst musste sie sich überzeugen, dass ihr Vater in Sicherheit war. Sie musste wissen, was er getan hatte.

Egal, was – oder wen – sie in Ray zurückgelassen hatte.

»Baba?«, sagte Shahrzad sanft, als sie sich in seinem kleinen Zelt neben ihn kniete.

Er schauderte im Schlaf, seine Finger klammerten sich fester um den uralten Band, den er noch immer in den Armen hielt. Selbst im Delirium hatte Jahandar sich geweigert, das Buch loszulassen. Keine Menschenseele hatte es berühren dürfen.

Irsa seufzte. Sie beugte sich zu Shahrzad und reichte ihr einen Becher mit Wasser.

Shahrzad hielt den Kelch ihrem Vater an die aufgesprungenen Lippen. Sie wartete, bis sie ihn schlucken fühlte. Er murmelte etwas vor sich hin, dann drehte er sich wieder zur Seite und versteckte das Buch tiefer unter seine Decken.

»Was hast du hier hineingetan?«, fragte Shahrzad ihre Schwester. »Es riecht gut.«

»Nur etwas frische Minze und Honig. Und ein paar Teekräuter und etwas Milch. Du hast gesagt, er hätte seit ein paar Tagen nicht gegessen. Ich dachte, es würde helfen«, sagte Irsa achselzuckend.

»Das ist eine gute Idee. Daran hätte ich auch denken sollen.«

»Mach dir keine Vorwürfe. Das passt nicht zu dir. Und … du hast schon mehr als genug getan.« Irsa sprach mit einer Weisheit, die über ihre vierzehn Jahre weit hinausging. »Baba wird bald wieder aufwachen. Ich … ich weiß es.« Sie biss sich auf die Lippe, ihrem Ton fehlte Überzeugung. »Er braucht Ruhe, damit seine Wunden verheilen können. Und Zeit.«

Shahrzad sagte nichts, während sie die Hände ihres Vaters aufmerksam betrachtete. Seine Verbrennungen hatten Brandblasen gebildet, und purpurfarbene und grellrote Flecken zogen sich über die Haut.

Was hat er am Tag des Unwetters nur getan?

Was haben wir getan?

»Du solltest etwas essen. Du hast gestern Abend, als du angekommen bist, schon kaum etwas herunterbekommen«, unterbrach Irsa Shahrzads Gedanken.

Bevor sie protestieren konnte, nahm Irsa Shahrzad den Kelch aus der Hand, zog sie auf die Füße und zerrte sie in die Dünen hinter dem Zelt ihres Vaters. Der Duft von geröstetem Fleisch hing schwer in der Wüstenluft, der Rauch über ihnen eine ziellose Wolke. Seidige Sandkörner rieben sich zwischen Shahrzads Zehen, fast zu heiß, um es zu ertragen. Grelle Sonnenstrahlen ließen alles verschwimmen, was sie berührten.

Als sie weitergingen, blickte Shahrzad sich mit zusammengekniffenen Augen in dem Badawi-Lager um, beobachtete den Trubel vieler lächelnder Menschen, die Kornbüschel und Warenbündel von einer Ecke in die andere schleppten. Die Kinder schienen immerhin glücklich, obwohl es unmöglich war, die schimmernde Waffenauswahl – Schwerter, Äxte und Pfeile – zu übersehen, die im Schatten aushärtender Tierhäute lagen. Unmöglich, sie zu ignorieren oder ihre unleugbare Bedeutung …

Vorbereitung auf einen anstehenden Krieg.

»Und ich nehme von dir diese Leben, tausendfach.«

Shahrzad erstarrte, dann zog sie die Schultern nach hinten. Sie wollte ihre Schwester mit den Problemen nicht belasten. Diese Probleme verlangten nach Wesen mit einzigartigen Fähigkeiten.

Solchen wie Musa Zaragoza, dem Magus des Feuertempels. Obwohl es ihr schwerfiel, schüttelte Shahrzad den unerträglichen Druck des Fluchs ab. Sie lief mit Irsa durch die Enklave aus Zelten auf das größte in der Mitte zu. Es hatte einen beeindruckenden Aufbau, so zusammengeschustert es auch war: ein Sammelsurium aus sonnengebleichten Farben mit einem verblichenen Banner an der Spitze, das im Luftzug herumtanzte. Ein vermummter Wachposten in einem groben Umhang stand am Zelteingang.

»Keine Waffen.« Mit der Hand hielt der Soldat Shahrzads Schulter fest, mit der Kraft eines lebenslangen Angreifers. Ein Soldat, der seine Rolle weit mehr genoss, als er sollte.

Wider besseres Wissen kam Shahrzads Reaktion mechanisch und unbewusst. Sie wehrte seine Hand ab, ihr Blick starr.

Ich bin nicht in der Stimmung für rüpelhafte Männer. Oder ihre Kriegstreiberei.

»Waffen sind im Zelt des Scheichs nicht erlaubt.« Der Soldat griff nach ihrem Dolch, in seinen Augen glitzerte eine unausgesprochene Drohung.

»Fass mich noch einmal an, dann werde ich …«

»Shazi!« Irsa trat heran, den Soldaten zu besänftigen. »Bitte verzeih meiner …«

Der Soldat stieß Irsa weg. Ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken, schlug Shahrzad ihm beide Fäuste gegen die Brust. Er taumelte zur Seite, seine Nasenflügel flatterten. Hinter sich hörte sie, wie Männer zu schreien anfingen.

»Was tust du da, Shahrzad?«, rief Irsa. Der Schock über den Leichtsinn ihrer Schwester stand ihr ins Gesicht geschrieben.

Voller Wut packte der Soldat Shahrzads Unterarm. Sie bereitete sich auf den bevorstehenden Kampf vor, ihre Zehen verkrampft und ihre Fäuste geballt.

»Lass sie sofort los!« Ein großer Schatten lauerte über dem Soldaten.

Perfekt.

Shahrzad schreckte zurück, ein Hauch von Schuldbewusstsein kämpfte gegen ihre Wut.

»Ich brauche deine Hilfe nicht, Tarik«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen.

»Ich helfe dir nicht.« Er kam näher, warf einen flüchtigen Blick in ihre Richtung. Sein unverhüllter Schmerz lag so bloß, dass er ihr die Standhaftigkeit raubte.

Wird er mir denn nie vergeben?

Der Soldat wandte sich mit einer Ehrerbietung an Tarik, die Shahrzad unter normalen Umständen immens gereizt hätte. »Entschuldige, Sahib, aber sie hat sich geweigert …«

»Lass sie sofort los. Ich wollte keine Entschuldigungen hören. Folge deinen Befehlen, oder du musst mit Konsequenzen rechnen, Soldat.«

Der Soldat ließ sie widerwillig los. Shahrzad schüttelte seinen Griff ab. Mit einem tiefen Atemzug straffte sie sich und betrachtete die Menschen in ihrer Nähe. Rahim stand Tarik zur Seite, verschiedene andere junge Männer befanden sich auf seiner anderen Seite. Einer war ein spindeldürrer Junge mit dem Gehabe eines viel älteren Mannes. Sein Bart wuchs in Flechten auf einem langen, schmalen Gesicht, und seine lächerlich ernsten Brauen bedeckten eiskalte Augen.

Augen, die sie mit niederträchtigem Hass beobachteten.

Ihre Finger tasteten nach ihrem Dolch.

»Danke, Tarik«, sagte Irsa, weil Shahrzad immer noch keinen Hauch von Dankbarkeit gezeigt hatte.

»Schon gut«, erwiderte er mit einem linkischen Nicken.

Shahrzad biss sich innen auf die Wangen. »Ich …«

»Gib dir keine Mühe, Shazi. Das haben wir doch schon hinter uns.« Tarik schlug die Kutte seines Rida zurück und betrat geduckt den Zelteingang, auf ihre Begleitung verzichtend. Der Junge mit den eiskalten Augen blickte sie finster an und schloss dicht auf. Rahim blieb neben ihr stehen, sein Gesichtsausdruck grimmig, als ob er etwas Besseres erwartet hätte. Dann trat er näher an Irsa heran, sein Kopf fragend gesenkt. Ihre Schwester lächelte ihn schwach an. Leise seufzend und ohne ein Wort stapfte Rahim hinter ihnen in das Zelt.

Irsa stieß Shahrzad einen Ellbogen in die Rippen. »Was ist los mit dir?«, tadelte sie flüsternd. »Wir sind hier Gäste. So kannst du dich hier nicht benehmen.«

Gedemütigt nickte Shahrzad, bevor sie durch das höhlenartige Loch schritt.

Ihre Augen brauchten eine Weile, um sich an die plötzliche Dunkelheit zu gewöhnen. Eine Reihe von Messinglampen hing in ungleichen Abständen von den Holzsparren oben, ihr schwaches Licht blass nach der Helligkeit der Wüstensonne. Am entfernten Ende des Zelts stand ein langer, niedriger Tisch, geschreinert aus grob behauenem Teakholz. Abgegriffene Wollkissen waren zu willkürlichen Stapeln aufgeworfen worden. Schreiende Kinder wieselten hinter Shahrzad her, nichts anderes im Sinn als den bevorzugten Platz am Frühstückstisch.

Inmitten des haarsträubenden Tumults saß ein alter Mann mit wachsamen Augen und einem zerzausten Bart. Als er Shahrzad sah, lächelte er sie mit überraschender Wärme an. Zu seiner Linken saß eine Frau ähnlichen Alters mit einem langen Zopf in gedämpftem Kupfer. Zu seiner Rechten saß Shivas Vater, Reza bin-Latief. Shahrzad zog sich der Magen zusammen, ein plötzliches Schuldgefühl trieb wieder an die Oberfläche. Sie hatte ihn gestern Abend kurz gesehen, aber in der Unruhe bei ihrer Ankunft hatte es nur einen schnellen Wortwechsel gegeben, und sie war sich noch nicht im Klaren, ob sie bereit war, Shivas Vater entgegenzutreten.

So kurz, nachdem sie bei der Rache für den Mord an seiner Tochter versagt hatte.

So kurz, nachdem sie sich genau in den jungen Mann verliebt hatte, der sie ermordet hatte.

Shahrzad entschied, dass es das Beste war, unerwünschte Aufmerksamkeit zu vermeiden, also hielt sie den Kopf gesenkt und setzte sich auf das Kissen neben Irsa, gegenüber von Tarik und Rahim.

Sie wich den Blicken aller in ihrer Umgebung aus, besonders denen des Jungen mit den eisig brennenden Augen, der jede Gelegenheit nutzte, sie mit einem beunruhigenden Blick zu durchbohren. Der Wunsch, auf sein Verhalten aufmerksam zu machen, bestimmte ihre Gedanken, aber Irsas jüngste Ermahnung setzte sich durch: Sie war hier nur Gast.

Und sie durfte sich nicht auf diese rücksichtslose Weise benehmen.

Nicht, wo das Wohlbefinden ihrer Familie auf dem Spiel stand.

Eine gebratene Lammkeule wurde in die Mitte des abgenutzten Tisches gestellt. Die Servierplatte war ein riesiges Stück aus gehämmertem Silber, an allen Ecken und Enden verbeult von Alter und Gebrauch. Dicke Scheiben von Barbari-Brot, bestrichen mit Butter und in schwarzen Sesamsamen gerollt, standen daneben in Körben bereit, dazu angeschlagene Schüsseln mit ganzen Rettichen und Platten mit gesalzenem Ziegenkäse. Kabbelnde Kinder griffen nach den Rettichen und rissen das Barbari in grobe Stücke, bevor sie mit bloßen Händen das Fleisch packten. Ihre Eltern zerstießen Stängel frischer Minze und gossen in großen Mengen dunklen Tee über die duftenden Blätter.

Als Shahrzad zufällig aufblickte, bemerkte sie, dass der alte Mann mit den aufmerksamen Augen sie beobachtete und dass wieder ein warmes Lächeln seine Lippen umspielte. Die Lücke zwischen seinen beiden Schneidezähnen war überdeutlich und gab ihm ein fast törichtes Aussehen.

Trotzdem ließ Shahrzad sich nicht das kleinste bisschen täuschen.

»Also, mein Freund … das ist also Shahrzad«, sagte der alte Mann.

Mit wem spricht er?

»Ich hatte recht …«, krächzte er weiter. »Sie ist wunderschön.«

Shahrzads Blick huschte über beide Seiten des Tisches und blieb bei Tarik hängen.

Seine breiten Schultern waren unbeweglich; sein gemeißeltes Kinn wirkte angespannt. Er atmete durch die Nase aus und hob seinen Blick, um ihren zu treffen.

»Das ist sie«, stimmte Tarik mit gleichgültiger Stimme zu.

Der alte Mann neigte den Kopf in Shahrzads Richtung. »Du hast eine Menge Staub aufgewirbelt, Schönheit.«

Trotz der beruhigenden Hand, die Irsa auf ihre legte, wuchs Shahrzads Wut wie glühende Kohle, die zur Flamme geschürt wird.

Ihr war bewusst, dass sie in diesem Moment an Gunst einbüßte, aber Shahrzad entschied sich, nichts zu sagen. Sie rollte ihre Zunge im Mund. Biss sich auf die Unterlippe.

Ich bin hier Gast. Ich kann nicht tun, was ich will.

Egal wie wütend und einsam ich mich fühle.

Der alte Mann lächelte wieder. Noch breiter. Noch deutlicher zeigte sich die Lücke zwischen den Zähnen.

Zum Verzweifeln.

»Bist du es wert?«

Shahrzad räusperte sich. »Wie bitte?«, sagte sie und hielt ihre Gefühle im Zaum.

Der Junge mit den eiskalten Augen beobachtete sie mit der gespannten Aufmerksamkeit eines Falken.

»Bist du diesen ganzen Ärger wert, Schönheit?«, wiederholte der alte Mann mit einem unerträglichen Singsang in der Stimme.

Irsa schloss flehend eine Hand um Shahrzads Finger; kalter Schweiß glänzte auf ihrer Handfläche.

Shahrzad durfte die Sicherheit ihrer Schwester nicht aufs Spiel setzen. Nicht in einem Zelt voller Unbekannter. Unbekannte, die ihre Familie genauso gut in der Wüste aussetzen könnten, wegen eines einzigen falschen Wortes. Oder ihnen wegen eines missverstandenen Blicks die Kehle durchschneiden. Nein. Shahrzad durfte den zweifelhaften Gesundheitszustand ihres Vaters nicht gefährden. Nicht für alles auf der Welt.

Sie lächelte langsam und nahm sich Zeit, ihre Wut zu unterdrücken. »Ich finde, Schönheit ist nicht der Aufregung wert.« Shahrzad ergriff Irsas Hand fester, in schwesterlichem Zusammenhalt. »Aber ich bin eine Menge mehr wert als das, was ihr von außen seht.« Ihr Ton war unbekümmert trotz des verhüllten Tadels.

Ohne Zögern warf der alte Mann seinen Kopf in den Nacken und lachte. »Ganz sicher!« Seine Augen glitzerten vor Vergnügen. »Willkommen in meinem Heim, Shahrzad al-Haizuran. Ich bin Omar al-Sadiq, und du bist mein Gast. Solange dich diese Grenzen umgeben, wirst du immer als solcher behandelt werden. Bitte merke dir: Eine Kalifin in Seide oder ein Bettler von der Straße – ich mache keinen Unterschied. Willkommen.« Er senkte den Kopf und rieb mit den Fingerspitzen in einem breiten Schnörkel über seine Brauen.

Shahrzad ließ ihrem aufgestauten Atem Raum. Er entwich ihr in einem einzigen Luftstoß und nahm ihr die Spannung von den Schultern und dem Magen.

Ihr Lächeln wurde breiter, und Shahrzad verbeugte sich ihrerseits, mit der rechten Hand an der Stirn.

Shivas Vater beobachtete ihren Austausch unbeeindruckt, er kreuzte seine Ellbogen und lehnte sie gegen die verwitterte Tischkante. »Shazi-jan«, begann er in düsterem Ton.

Er sprach sie an, gerade als sie nach einem Stück Barbari griff. »Ja, Onkel Reza?« Sie hob fragend die Augenbrauen, ihre Hand blieb über dem Brotkorb in der Schwebe.

Rezas Züge wurden nachdenklich. »Ich bin sehr froh, dass du hier bist, in Sicherheit.«

»Danke. Und ich bin allen dankbar, dass sie meine Familie in Sicherheit gebracht haben. Und dafür, dass sie sich so hervorragend um Baba kümmern.«

Er nickte, dann beugte er sich vor und lehnte das Kinn auf seine übereinander gelegten Hände. »Natürlich. Deine Familie war immer auch meine Familie. Wie meine auch immer deine war.«

»Ja«, sagte Shahrzad leise. »So war es.«

»Also«, sagte Reza, Zeichen von Bestürzung verzerrten seinen Mund, »es schmerzt mich sehr, dich das zu fragen – weil ich dachte, es sei aus Nachlässigkeit geschehen, als du gestern Nacht ankamst – aber ich habe deine Beleidigung heruntergeschluckt, solange ich es eben aushalten konnte.«

Shahrzads ganzer Körper erstarrte, ihre Finger hielten noch immer über dem Brot inne. Die Spannung erdrückte erneut ihren Körper, Schuldgefühle umklammerten ihren Magen wie eine wilde Schlange.

»Shahrzad …« Reza bin-Latiefs Stimme hatte nun jede Spur von Freundlichkeit verloren. Jede Wärme des Mannes, den sie immer für einen zweiten Vater gehalten hatte, war wie weggeblasen. »Warum sitzt du an diesem Tisch – brichst Brot mit uns – und trägst den Ring des Jungen, der meine Tochter ermordet hat?«

Es war eine unverblümte Schuldzuweisung.

Sie durchschnitt die Menge wie eine Sense ein Getreidefeld. Shahrzads Finger pressten sich fest auf die Standarte mit den beiden gekreuzten Schwertern. So fest, dass es wehtat.

Sie blinzelte. Einmal. Zweimal.

Tarik räusperte sich. Der Klang hallte in der plötzlichen Stille wider. »Onkel … Onkel Reza …«

Nein. Sie konnte nicht zulassen, dass Tarik sie rettete. Nicht schon wieder.

Nie wieder.

»Es … tut … tut mir leid«, sagte sie mit trockenem Mund.

Aber das tat es nicht. Das nicht. Ihr taten hundert Dinge leid. Tausend Dinge.

Eine ganze Stadt voller nicht angebotener Entschuldigungen.

Aber dies hier würde ihr nie leidtun.

»Du sollst dich nicht entschuldigen, Shahrzad«, fuhr Reza in derselben kalten Stimme fort. Der Stimme eines Fremden. »Entscheide dich.«

Ihr Bedauern murmelnd stand Shahrzad auf.

Sie dachte nicht nach. Sich an die Überreste ihrer Würde klammernd stolperte sie weg vom Tisch, hinein in die feuerrote Wüstensonne. Ihre Sandalen verfingen sich in dem sengend heißen Sand, der sich an sie heftete und ihre Waden bei jedem Schritt heiß berührte.

Eine große, schwielige Hand hielt sie an der Schulter fest, zwang sie, stehen zu bleiben.

Sie blickte auf, schützte ihre Augen vor dem blendenden Licht.

Der Soldat. Der immerwährende Angreifer.

»Geh mir aus dem Weg«, flüsterte sie in dem Bemühen, ihre Wut zu zügeln. »Sofort.«

Seine Mundwinkel hoben sich gemächlich zu einem hämischen Grinsen. Er machte keine Anstalten zu weichen.

Shahrzad packte sein Handgelenk und wollte ihn beiseiteschieben.

Das grob gewebte Leinen seines Rida rollte sich bis zu seinem Ellbogen hinauf und enthüllte ein Brandzeichen, das innen in seinen Unterarm gesengt war.

Das Zeichen des Skarabäus.

Das Zeichen der Fedajin-Mörder, die in ihr Zimmer in Ray gedrungen waren und versucht hatten, sie umzubringen.

Shahrzad schnappte nach Luft und rannte los. Unbeholfen, sinnlos, ihr einziger Gedanke war Flucht.

Irgendwo in der Ferne hörte sie, wie Irsa nach ihr rief.

Trotzdem dachte sie nicht daran anzuhalten.

Sie rannte in ihr winziges Zelt, warf die Zeltklappe mit einem lauten Klappern hinter sich zu.

Ihre flachen Atemstöße hallten von den drei Wänden wider. Shahrzad hob die rechte Hand in einen Lichtstrahl, der durch einen Zeltsaum hereindrang. Sie beobachtete, wie er das matte Gold ihres Rings einfing.

Ich gehöre hier nicht hin. Ein Gast in einem Gefängnis ausSonne und Sand.

Aber ich muss meine Familie in Sicherheit bewahren. Ich musseine Möglichkeit finden, den Fluch zu brechen.

Und nach Hause zu Chalid zurückkehren.

Aber leider wusste sie nicht, wem sie trauen konnte. Bis Shahrzad wusste, wer dieser Scheich Omar al-Sadiq war und warum ein Fedajin-Mörder in seinem Camp herumlungerte, musste sie vorsichtig sein. Denn es war klar, dass sie in Reza bin-Latief nicht mehr den einstigen Verbündeten hatte. Und Shahrzad wollte um keinen Preis Tarik ihre Bürde auflasten. Es war nicht seine Aufgabe, ihre Familie in Sicherheit zu bringen. Nein. Diese Pflicht gebührte ihr, und nur ihr.

Ihr Blick irrte umher, bis er an der Wasserlache in der Kupferschale hängen blieb.

Existiere unter Wasser.

Bewege dich langsam. Erzähle Geschichten.

Lüge.

Ohne einen Gedanken an Sentimentalität zog sich Shahrzad den Ring vom Finger.

Atme.

Sie schloss die Augen und lauschte dem leisen Aufschrei ihres Herzens.

»Hier.« Irsa ließ die Zeltklappe hinter sich zufallen und kam an Shahrzads Seite. Sie brauchte keine Anweisung. Ebenso wenig kam irgendeine Art Vorwurf über ihre Lippen. Im Handumdrehen zog sie den Faden, der Shahrzads Zopf zusammengehalten hatte, ab. Die Schwestern sahen sich fest in die Augen, als Irsa den Ring aus Shahrzads Hand nahm und aus dem Faden ein Halsband formte.

Ohne ein Wort knotete Irsa das Halsband hinten an Shahrzads Nacken zusammen und steckte den Ring oben in ihren Qamis. »Keine Geheimnisse mehr.«

»Einige Geheimnisse sind hinter Schloss und Riegel sicherer aufgehoben.«

Shahrzad nickte ihrer Schwester zu, Chalids Worte waren ein leises Wispern in ihrem inneren Ohr. Nicht als Warnung. Sondern zur Erinnerung.

Sie würde alles tun, was getan werden musste, um ihre Familie in Sicherheit zu bewahren.

Sogar ihre eigene Schwester anlügen.

»Was willst du wissen?«

Immer

Er war allein.

Und er sollte die Zeit nutzen, bevor die Geschäfte des Tages ihm diese Augenblicke der Einsamkeit stehlen würden.

Chalid ging über den Sand des Übungsplatzes.

Sobald er nach seinem Shamshir griff, wusste er, dass seine Hände bluten würden.

Egal. Es war kaum von Bedeutung.

Augenblicke des Nichtstuns waren Augenblicke, die dem Nachdenken ausgeliefert waren.

Augenblicke des Erinnerns.

Das Schwert trennte sich von seiner Scheide mit dem leisen Zischen von Metall auf Metall. Seine Handflächen brannten, seine Finger schmerzten. Trotzdem packte er das Heft fester.

Als er sich der Sonne zuwandte, blendete das grelle Licht seine Augen und versengte seine Sehkraft. Chalid fluchte unterdrückt.

Seine wachsende Lichtempfindlichkeit war neuerdings ein immer wiederkehrendes Problem. Eine tragische Nebenwirkung fortdauernder Schlaflosigkeit. Bald würden sich alle in seiner Umgebung dieses Problems nur allzu bewusst werden. Er fühlte sich in der Dunkelheit zu wohl – eine hohläugige Kreatur, die durch die zusammengebrochenen Flure eines einst majestätischen Palastes glitt und schlich.

Wie der Fakir ihn gewarnt hatte, würde dieses Verhalten als Wahnsinn gedeutet werden.

Der verrückte Knabenkönig von Chorasan. Das Monster. Der Mörder.

Chalid kniff seine brennenden Augen fest zu. Wider besseres Ermessen überließ er all seine Sinne der Erinnerung.

Er erinnerte sich, wie er als siebenjähriger Junge im Schatten stand und beobachtete, wie sein Bruder Hassan die Kunst des Schwertkampfs erlernte. Als sein Vater ihm endlich gestattet hatte, mit Hassan zusammen zu lernen, war Chalid erstaunt gewesen; sein Vater hatte in der Vergangenheit solche Bitten selten erhört.

»Du kannst genauso gut etwas Nützliches lernen. Ich nehme an, selbst ein Bastard sollte fechten können.« Der Zorn seines Vaters Chalid gegenüber schien grenzenlos.

Seltsamerweise war das einzige Mal, dass sein Vater sich stolz auf ihn gezeigt hatte, der Tag gewesen, als Chalid Hassan mit dem Schwert besiegt hatte.

Aber am folgenden Tag hatte er Chalid verboten, weiter mit seinem Bruder Unterricht zu nehmen. Er hatte Hassan zusammen mit den Besten lernen lassen. Und hatte es Chalid überlassen, sich selbst zu verteidigen.

In jener Nacht hatte ein wütender elfjähriger Prinz von Chorasan geschworen, der beste Schwertkämpfer des ganzen Königreichs zu werden. Und wenn er das erreicht hätte, würde sein Vater erkennen, dass die Vergangenheit ihm nicht das Recht gab, seinem Sohn eine Zukunft zu verwehren.

Nein. Da musste schon etwas ganz anderes passieren.

Und an dem Tag, an dem er seinem Vater ein Schwert an den Hals halten würde, würde sein Vater es wissen.

Chalid lächelte vor sich hin, als die Erinnerung den bittersüßen Geschmack kindlicher Wut mit sich brachte.

Dennoch war auch das ein weiteres Versprechen gewesen, das er nicht hatte halten können.

Eine gescheiterte Rache mehr.

Er wusste nicht, warum er sich gerade an diesem Tag an all diese Dinge erinnerte. Vielleicht lag es an der Begegnung mit dem Jungen und seiner Schwester gestern.

Kamyar und Shiva.

Was immer es war, das Chalid an ihre Tür gezogen hatte, hatte ihm auch geboten zu bleiben und zu helfen. Es war nicht das erste Mal, dass er so etwas getan hatte. Seit dem Unwetter hatte sich Chalid mehrere Male in verschiedene Teile seiner Stadt gewagt, gehüllt in die Anonymität von Schweigen und Schatten.

Am ersten Tag war er in ein angeschlagenes Viertel von Ray gewandert, nicht weit entfernt vom Souk, dem Markt. Dort hatte er den Verwundeten zu essen gegeben. Vor zwei Tagen hatte er geholfen, einen Brunnen zu reparieren. Seine Hände – nicht gewöhnt an harte körperliche Arbeit – hatten geblutet und von der Belastung hatten sich Blasen gebildet.

Den gestrigen Tag hatte er zum ersten Mal in der Gesellschaft von Kindern verbracht.

Zuerst hatte Kamyar Chalid an Shahrzad erinnert. Und zwar so sehr, dass sich selbst jetzt noch ein Lächeln auf Chalids Gesicht schleichen wollte. Dieser Junge war tapfer und frech.

Unerschrocken. Das Beste und das Schlechteste von Shahrzad.

Dann, als die Stunden verstrichen waren, war es das Mädchen, das ihn am meisten an Shazis Temperament erinnerte.

Denn sie hatte ihm nicht getraut. Nicht im Mindesten.

Sie hatte Chalid aus den Augenwinkeln beobachtet. Sie hatte erwartet, dass er sie verraten würde – seine Schlangenhaut abstreifen und zuschlagen würde. Wie ein verwundetes Tier hatte sie nur vorsichtig Essen und Trinken angenommen, nie ihre Wachsamkeit abgelegt, nicht einmal für einen Augenblick.

Sie war klug, und sie liebte ihren Bruder mit einer Wildheit, auf die Chalid beinahe neidisch war.

Am meisten hatte er ihre ruhige Aufrichtigkeit geschätzt. Und er hatte mehr für ihre Familie tun wollen. So viel mehr, als ihr winziges Zuhause von den Spuren der Zerstörung zu befreien und eine milde Gabe in einem Lederbeutelchen zu hinterlassen. Aber er wusste, nichts wäre je genug.

Denn nichts könnte je ersetzen, was sie verloren hatten.

Chalid öffnete die Augen.

Mit dem Rücken zur Sonne begann er seine Übungen.

Der Shamshir schnitt in herabstoßenden Bögen durch den Himmel, in silbernen Blitzen und in Strahlen aus weißem Licht. Es pfiff um ihn, als er versuchte, das Aufschreien seiner Gedanken zum Schweigen zu bringen.

Aber es war noch nicht genug.

Er legte beide Hände an den Griff und drehte ihn auseinander.

Die Klingen waren aus Damaszenerstahl geschmiedet, vollendet in den Blaufeuern von Warharan. Er hatte sie selbst in Auftrag gegeben. Es gab nichts Vergleichbares.

Ein Schwert in jeder Hand, bewegte Chalid sich weiter über den Sand.

Das Geräusch kreischenden Metalls wütete in seinem Kopf wie ein Wüstenadler.

Trotzdem war es noch nicht genug.

Ein Blutrinnsal lief seinen Arm hinab.

Er fühlte nichts. Er sah es nur.

Denn nichts tat so weh wie die Sehnsucht nach ihr.

Er nahm an, nichts würde je so wehtun.

»Ist es schon so weit gekommen?«

Chalid drehte sich nicht um.

»Sind die Truhen von Chorasan so leer?«, scherzte Jalal weiter, obwohl sein Tonfall merkwürdig gezwungen klang.

Mit dem Rücken zu seinem Cousin wischte sich Chalid die blutenden Handflächen an den Enden seiner purpurnen Tikka-Schärpe ab.

»Bitte sag mir, dass der Kalif von Chorasan – der König der Könige – sich doch immer noch ein Paar Stulpenhandschuhe leisten kann.« Jalal schlenderte herbei, eine dunkle Augenbraue hochgezogen.

Chalid schob seinen Shamshir wieder in die Scheide und sah den Hauptmann seiner Palastgarde an.

»Wenn du einen Handschuh brauchst, kann ich einen für dich beschaffen. Aber nur einen. Ich bin nicht aus Gold, Hauptmann al-Churi.«

Lachend stützte Jalal seine Hände auf das Heft seines Scimitar, sein Griff fest. »Beschaffe dir einen für dich selbst, Sayyidi. Es scheint, du hast dringend einen nötig. Was ist passiert?« Er deutete auf Chalids blutbefleckte Handflächen.

Chalid zog seinen leinenen Qamis wieder über den Kopf.

»Hat es etwas damit zu tun, dass du gestern wieder verschwunden bist?«, drängte Jalal, seine Erregung wurde nur allzu deutlich.

Als Chalid ein zweites Mal nicht sofort antwortete, stellte Jalal sich ihm in den Weg.

»Chalid.« Alle scheinbare Unbeschwertheit war dahin. »Der Palast ist ein einziges Durcheinander. Deine Stadt ist eine Katastrophe. Du kannst nicht stundenlang verschwinden, vor allem nicht ohne Leibwache. Vater kann nicht weiterhin jeden darüber anlügen, wo du bist, und ich … kann ihn nicht weiter anlügen.« Jalal fuhr sich mit den Fingern durch das wellige Haar und brachte es nur noch mehr in Unordnung.

Chalid hielt inne und sah seinen Cousin forschend an.

Und er erschrak über das, was er sah.

Jalals gewohnte Fassade selbstgefälliger Zufriedenheit fehlte. Ein ausgefranster Bart überschattete seine Kinnlinie. Sein normalerweise makelloser Umhang hatte Falten und war beschmutzt, und seine unruhigen Hände schienen unentwegt auf der Suche nach irgendetwas zu sein, das sie packen konnten – ein Schwertheft, eine Schärpenschlinge, einen Kragenknoten … egal, was.

In seinen ganzen achtzehn Jahren hatte Chalid Jalal nie so unruhig erlebt.

»Was ist los mit dir?«

Jalal brach in lautes Gelächter aus. Zu laut. Es klang so offensichtlich falsch, dass es Chalid nur noch mehr beunruhigte.

»Meinst du das ernst oder im Spaß?« Jalal überkreuzte seine Arme.

»Im Ernst.« Chalid holte vorsichtig Luft. »Zumindest im Moment.«

»Du willst, dass ich mich dir anvertraue? Ich muss gestehen, ich bin verärgert über diese Ironie.«

»Ich will nicht, dass du dich mir anvertraust. Ich will, dass du mir sagst, was los ist, und nicht weiter meine Zeit verschwendest. Wenn du jemanden zum Händchenhalten brauchst, such dir eine von den vielen jungen Frauen aus, die sich vor deiner Zimmertür nach dir verzehren.«

»Ah, da haben wir es.« Ein düsterer Ausdruck legte sich auf Jalals Gesicht. »Sogar du.«

Das trieb Chalids Verärgerung auf die Spitze. »Nimm ein Bad, Jalal. Ein langes.« Er wandte sich zum Gehen.

»Ich werde Vater, Chalid-jan.«

Chalid hielt plötzlich inne. Er drehte sich auf der Stelle um, sein Absatz hinterließ eine Vertiefung im Sand.

Jalal zuckte mit den Schultern. Ein klägliches Lächeln hing in einem Mundwinkel.

»Du … skrupelloser Schwachkopf«, sagte Chalid und schüttelte den Kopf.

»Sehr freundlich.«

»Suchst du um Erlaubnis, sie zu heiraten?«

»Sie will mich gar nicht.« Er fuhr sich wieder mit den Fingern durch die Haare. »Es scheint, du bist hier nicht der Einzige, der den Harem von Frauen vor meiner Zimmertür bemerkt hat.«

»Ich mag sie jetzt schon. Immerhin ist sie bereit, aus ihren Fehlern zu lernen.« Chalid lehnte sich im Schatten an die Steinwand und warf seinem Cousin einen durchbohrenden Blick zu.

»Das ist auch freundlich.«

»Freundlichkeit gehört nicht zu meinen herausstechenden Tugenden.«

»Das stimmt.« Jalal lachte trocken. »Tut sie nicht. Besonders in letzter Zeit nicht.« Sein Lachen wich einer ernüchternden Pause. »Chalid-jan, du glaubst mir doch, wenn ich dir sage, dass ich nichts anderes als Shazis Sicherheit im Sinn hatte, als ich diesem Jungen sagte …«

»Ich glaube dir.« Chalids Stimme war sanft, aber dennoch scharf. »Wie ich schon sagte, das bedarf keiner weiteren Diskussion.«

Die beiden jungen Männer standen eine Weile in peinlichem Schweigen einander gegenüber und starrten in den Sand.

»Sag es deinem Vater.« Chalid drückte sich von der Wand ab, um zu gehen. »Er wird sich darum kümmern, dass sie und das Kind versorgt werden. Solltest du darüber hinaus noch irgendetwas benötigen, brauchst du nur zu fragen.« Er machte sich auf den Weg.

»Ich liebe sie. Ich glaube, ich möchte sie heiraten.«

Wieder blieb Chalid abrupt stehen. Dieses Mal drehte er sich nicht um. Die Worte quälten ihn – die Leichtigkeit, mit der sie seinem Cousin über die Lippen gekommen waren. Die Erkenntnis von Chalids zahlreichen Fehlern bei Shahrzad. Die Erinnerung an all die verpassten Möglichkeiten.

Mit beklommener Brust horchte Chalid Jalals Worten nach.

Er wartete ab, ob sie den Klang von Wahrheit an sich hatten.

»Du glaubst?«, sagte Chalid schließlich. »Oder weißt du es?«

Winziges Zögern. »Ich glaube, ich weiß es.«

»Sprich nicht in Rätseln, Jalal. Das ist beleidigend. Für mich und für sie.«

»Es war nicht als Beleidigung gemeint. Es war mein Versuch, ehrlich zu sein – eine Eigenschaft, vor der du, wie ich weiß, größten Respekt hast«, erwiderte Jalal. »Im Moment – ohne ihre wahren Gefühle in dieser Sache zu kennen – ist es das Äußerste, das ich bewältigen kann. Ich liebe sie. Ich glaube, ich möchte mit ihr zusammen sein.«

»Sei vorsichtig, Hauptmann al-Churi. Diese Worte haben für jeden Menschen eine andere Bedeutung. Sorge dafür, dass sie für dich die richtige Bedeutung haben.«

»Sei kein Dummkopf. Ich meine sie wörtlich.«

»Wann hast du sie wörtlich gemeint?«

»Ich meine sie jetzt. Ist es nicht das, worauf es ankommt?«, fragte Jalal.

Ein Muskel an Chalids Kinn zuckte. »Jetzt ist leicht gesagt. Es ist leicht zu sagen, was du in einem vorübergehenden Augenblick meinst. Deswegen wartet ein ganzer Harem vor deiner Tür, und die Mutter deines Kindes will dich nicht nehmen.« Er schritt auf den Palast zu.

»Was ist dann die richtige Antwort, Sayyidi? Was hätte ich sagen sollen?«, rief Jalal in Verzweiflung in den Himmel.

»Immer.«

»Immer?«

»Und sprich mich nicht mehr darauf an, bis das die Antwort ist.«

Geschichten und Geheimnisse

Irsa schlug beide Hände vor den Mund, einen Schrei unterdrückend.

Sie beobachtete verblüfft, wie ihre Schwester den kleinen, schäbigen Teppich in die Mitte ihres Zelts brachte und ihn mit nichts anderem als den Fingerspitzen hielt.

Der Zauberteppich wirbelte durch die Luft mit der trägen Anmut eines fallenden Blattes. Dann, mit einer sanften Drehung des Handgelenks, ließ sie die Matte wieder zu Boden schweben.

»Na?«, sagte Shahrzad und blickte fragend zu ihr auf.

»Grundgütiger Gott.« Irsa sank neben sie. »Und das hat der Magus vom Feuertempel dir beigebracht?«

Shahrzad ließ die Hand sinken und schüttelte den Kopf. »Er hat mir nur den Teppich geschenkt und gesagt, Baba habe mir seine Fähigkeiten vermacht. Aber ich muss noch genauer mit ihm darüber sprechen, und zwar bald. Ich habe … viele wichtige Fragen an Musa-effendi.«

»Du hast also vor, ihn aufzusuchen?«

»Ja.« Sie nickte nachdrücklich. »Sobald ich herausbekommen habe, wie man am besten zum Feuertempel gelangt, ohne gesehen zu werden.«

»Vielleicht«, Irsa zögerte, »kannst du, wenn du gehst, mit Musa-effendi auch über Baba sprechen? In dem Fall, dass er …«

Sie brach ab, weil sie den Gedanken nicht zu Ende bringen wollte, der ihnen, wie sie wusste, im Augenblick die größten Sorgen bereitete.

Der Gedanke, dass ihr Vater sich nie erholen würde von den Folgen des Verbrechens, das an ihm, wie schändlich auch immer, in der Nacht des Unwetters begangen worden war.

Was würde aus ihnen werden, wenn ihr Vater stürbe? Was würde mit ihr geschehen?

Irsa legte die Hände auf die Knie und schalt sich ihrer eigennützigen Gedanken inmitten dieses Leids. Dies war weder die Zeit noch der Ort, um sich über sich selbst Sorgen zu machen. Nicht solange es so viele andere gab, um die man sich sorgen musste. Allen voran Baba.

Als Shahrzad sich vorbeugte, um den Zauberteppich unter ihren Habseligkeiten zu verstauen, wurde das Band um ihren Hals sichtbar.

Der Ring blieb in Sicherheit verborgen, aber seine Geschichte drängte immer noch, erzählt zu werden. Und Irsa konnte nicht anders, als neugierig zu reagieren.

»Wie konntest du ihm verzeihen, Shazi?«, fragte Irsa sanft. »Das, was er Shiva angetan hat? Das alles?«

Shahrzads Atem stoppte. In einer raschen Bewegung drehte sie sich zu Irsa um.

»Vertraust du mir, Jirjirak?« Shahrzad nahm Irsas Hand in ihre.

Grashüpfer. Seit sie ein kleines Mädchen gewesen war, hatte Irsa diesen Spitznamen gehasst. Er ging zurück auf die Zeit, als sie mit Beinen wie Schilfstängel und einem dazu passenden Stimmchen gestraft war. Shahrzad war die Einzige, die den ungeliebten Spitznamen benutzen durfte, ohne ein Zucken – oder Schlimmeres – hervorzurufen.

Zum zehnten Mal in ebenso vielen Augenblicken forschte Irsa im Gesicht ihrer Schwester nach einer Antwort, die sie verstehen konnte. Ihre Schwester war so liebevoll wie immer, obwohl ihre Züge sich in den wenigen Monaten, die sie im Palast verbracht hatte, verändert hatten. Nicht viel, und nicht so, dass die meisten Leute es bemerken würden. Ihre Wangen waren weniger rundlich, und die Farbe ihrer Haut hatte etwas von ihrem bronzenen Glanz verloren. Glücklicherweise war ihr Kinn immer noch genauso eigensinnig, ihre Nase noch genauso keck. Aber ein Schatten war auf ihr Gesicht gefallen; eine Art Bürde, die sie nicht mit ihr teilen wollte. Ihre haselnussfarbenen Augen wirkten geradezu durchsichtig im nahen Lampenschein. Ihre Farben waren immer so wechselhaft gewesen. So unberechenbar. Genauso wie die Stimmungen ihrer Schwester. Einen Moment war sie strahlend und voller Lachen, bereit zu jeder Art Unfug. Im nächsten war sie klar und ernst, bereit, auf Leben oder Tod zu kämpfen.

Irsa hatte nie gewusst, woran sie bei Shahrzad war.

Aber Vertrauen war nie die Frage gewesen. Jedenfalls nicht für Irsa.

»Natürlich vertraue ich dir«, sagte sie. »Aber kannst du mir nicht sagen …«

»Es geht nicht um mein Geheimnis, das ich verraten würde, Irsa-jan.«

Irsa biss sich auf die Unterlippe und sah weg.

»Es tut mir leid«, sagte Shahrzad. »Ich möchte diese Dinge nicht vor dir verbergen. Aber wenn jemand entdecken sollte, dass du davon weißt, könnten sie dich verletzen, um die Wahrheit herauszubringen, und … das könnte ich nicht ertragen.«

Irsa wich zurück. »Ich bin nicht so schwach, wie du denkst.«

»Ich habe nie gesagt, du wärest schwach.«

Irsas Lächeln war schmal und flüchtig. »Manche Dinge brauchen nicht laut gesagt zu werden. Du brauchst mir nicht zu sagen, dass du Chalid Ibn al-Rashid liebst. Und ich brauche dir nicht zu sagen, dass ich mich wochenlang, nachdem du weggegangen warst, in den Schlaf geweint habe. Liebe spricht für sich selbst.«

Shahrzad zog die Knie an die Brust und blinzelte Irsa schweigend an. Seufzend nahm Irsa ihr Säckchen mit Teekräutern und griff nach einem Zweig frischer Minze. »Kommst du mit zu Baba?«

Shahrzad nickte mit Nachdruck und kam auf die Beine.

Ein trockener Wüstenwind zirkulierte durch das Badawi-Zeltlager. Er blies Sandwirbel um den Irrgarten aus sich aufblähenden Zelten. Irsa stopfte ihren Zopf in ihr Qamis, damit das Zopfende ihr nicht ins Gesicht wehte.

Shahrzad stieß einen Strom lebhafter Flüche aus, als das Ende ihres Zopfes ihr an die Wange schlug und ihre Frisur zerzauste. Schwarze Wellen bauschten sich auf ihrem Kopf zu einem wüsten Gewirr auf.

»Meine Güte.« Irsa unterdrückte ein Grinsen über die Ausdrücke ihrer Schwester. »Wer hat dir denn solche Worte beigebracht? Der Kalif?«

»Ich hasse das alles hier!«

Trotz Shahrzads Weigerung, selbst die unverfänglichsten Fragen zu beantworten, was wehtat, ignorierte Irsa die heftige Bemerkung. »Lass etwas Zeit vergehen. Du wirst merken, es ist gar nicht so schrecklich.« Sie hängte sich bei ihrer Schwester ein und zog sie an sich.

»Warum sind wir ausgerechnet in dieser gottverlassenen Wüste gelandet? Warum hat der alte Scheich uns Zuflucht gewährt?« Shahrzad sprach so leise, wie der Wind es erlaubte.

»Ich bin nicht in alle Details eingeweiht. Ich weiß nur, dass er Onkel Reza Pferde und Waffen verkauft hat. Sein Stamm handelt mit beidem. Vielleicht dürfen wir deshalb bleiben.« Sie schwieg nachdenklich. »Oder vielleicht hat es etwas mit seiner Nähe zu Tarik zu tun. Der Scheich behandelt ihn, als wäre er sein eigener Sohn.«

»Also hat er sich noch nicht mit Tarik und den anderen Soldaten zusammengeschlossen? Ist er nicht beteiligt an den Kriegsvorbereitungen?« Shahrzads Augenbrauen zogen sich verwirrt zusammen.

»Ich glaube nicht«, erwiderte Irsa. »Aber wenn ich beim nächsten Kriegsrat dabei bin, werde ich sicher mehr Details für dich zusammentragen.«

Shahrzad schob sich eine Haarsträhne hinter ein Ohr und verdrehte die Augen.

Als sie weiter durch den Sand auf das Zelt ihres Vaters zugingen, sah Irsa, wie ihre Schwester langsam ihre Umgebung musterte. Ihr Blick folgte Shahrzads, bis er auf eine schmale Gestalt in der Ferne fiel, die ihre bedächtige Beobachtung nachahmte.

Ein spitzer Ellbogen stieß Irsa in die Seite. »Wer ist der Junge da?«

»Aua!« Irsa stieß zurück. »Du meinst Spinne?«

»Wie?«

»Oh, ich nenne ihn Spinne, wegen seiner schlaksigen Glieder und seiner Angewohnheit überall herumzulauern. Er ist mit dem Emir von Karaj angekommen und anscheinend ein entfernter Verwandter des Emirs. Ich glaube, sein Name ist Teymur oder Tajvar oder so ähnlich.« Sie wedelte geringschätzig mit einer Hand.

»Er hat so etwas … Beunruhigendes an sich.«

Irsa runzelte die Stirn. »Er ist ein bisschen merkwürdig, aber harmlos, Shazi.«

Shahrzad kniff die Lippen zusammen und sagte nichts.

Irsa öffnete die Klappen, und sie duckten sich in das Zelt ihres Vaters. In der trockenen Hitze des Nachmittags war die Dunkelheit darin sogar noch stickiger geworden. Sie zündeten eine Öllampe an und bereiteten noch einen Kelch mit Wasser, frischer Minze und Teekräutern zu. Ihr Vater würgte die Mischung genau wie am Morgen hinunter, murmelte weiter vor sich hin und klammerte sich an das lächerliche Buch in seinen Armen.

Shahrzad fächelte sich mit beiden Händen Luft zu. »Er ist schweißgebadet. Wir sollten seine Tücher wechseln und ihm das Gesicht und den Hals waschen.«

Irsa goss Wasser in eine irdene Schüssel und holte frische Leinentücher aus ihrem Ranzen. Sie bückte sich und tauchte das Tuch in das kühle Wasser. »Willst du Baba von dem Zauberteppich erzählen? Er wäre so begeistert, wenn er erführe, dass er seine Gabe an dich weitergegeben hat.« Lächelnd wrang Irsa das Tuch aus.

»Ba…ba?«, begann Shahrzad und lehnte sich über ihn. Sie schaute verwirrt. Irgendetwas zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab.

Furcht?

Irsa ließ das Tuch fallen und drehte sich um. »Was ist los?«, fragte sie. »Hat er die Augen geöffnet?«

Shahrzad schüttelte den Kopf. »Ich … nein. Ich dachte, ich hätte draußen etwas gehört, aber ich muss mich geirrt haben.« Ihre Lippen verzogen sich zu einem zaghaften Lächeln. »Ich weiß, dass die Wüste einem müden Geist gern Streiche spielt. Wenn du mit Babas Gesicht anfängst, wasche ich ihm die Arme.«

»Bist du auch ganz sicher?«, drängte Irsa.

»Vollkommen.« Es war eine deutliche Erwiderung, eine, die nicht überhört werden konnte.

Und obwohl Irsa sich daranmachte, mit Shahrzad wortlos die Haut ihres Vaters von Schweiß und Schmutz zu reinigen …

Sie wusste, dass ihre Schwester log.

»Was ist passiert?«, flüsterte Irsa, kaum dass sie das Zelt ihres Vaters verlassen hatten. »Sag mir die Wahrheit, Shazi, oder ich …«

Shahrzad legte Irsa eine Hand um das Handgelenk und zog sie an sich. »Ich dachte, ich hätte etwas draußen vor dem Zelt gehört«, erwiderte sie in gedämpftem Ton. »Und ich wollte nicht, dass uns jemand belauscht, während wir über etwas Wichtiges sprechen.«

»Du glaubst, wir werden überwacht?« Irsa konnte sich nicht vorstellen, warum irgendjemand ihrem Gespräch lauschen sollte.

»Ich weiß es nicht. Es ist möglich.«

Irsa zog den Gurt ihres Ranzens fester um ihren Körper und beschleunigte ihren Schritt. Ihr Blick glitt von einer Seite zur anderen. Während der wenigen Wochen, die sie jetzt hier war, hatte sie sich nie unsicher oder beobachtet gefühlt. Nicht einen einzigen Augenblick lang. Sie hatte die meisten Vormittage mit Aisha und den Kindern verbracht, und nachmittags unterrichtete Rahim sie im Reiten.

Wer würde zwei Mädchen bürgerlicher Herkunft bedrohen?

Als Irsa einen Seitenblick auf ihre Schwester warf, fiel es ihr wieder ein.

Shahrzad war nicht mehr nur die Tochter eines einfachen Bibliothekars.

Sie war die Kalifin von Chorasan.

Ein fetter Fang für jeden Feind von Chalid Ibn al-Rashid.

Wovon es zahlreiche gab.

Im selben Moment, als Irsa diese Erkenntnis dämmerte, verscheuchte sie den Gedanken wieder.

Shahrzad war erst seit einem Tag hier. Ihre Schwester benahm sich lächerlich. Paranoid. Eindeutig die Folge davon, mit einem Monster zusammengelebt und jeden Tag um ihr Leben gebangt zu haben.

Irsa beugte sich durch die Öffnung ihres Zeltes.

Eine feuchte Hand packte sie am Hals und zog sie hinein.

Sie kreischte auf.

Lange Finger griffen nach ihrem Genick. Heißer Atem strich ihr über die Haut.

»Dich sollte es eigentlich nicht treffen«, kratzte eine tiefe Stimme an ihrem Ohr. »Es tut mir leid.«

Sie blinzelte fest und schnell und zwang so ihre Augen, sich an das schummrige Licht anzupassen.

Spinne?

»Was tust du da?«, schrie Irsa.

»Lass sie los.« Shahrzad stand im Eingang, eine Hand auf dem juwelenbesetzten Dolch an ihrer Hüfte. Ihre äußere Erscheinung war unbewegt. Aber etwas Wildes lauerte tief in ihren Augen. Als ob sie solch eine Bedrohung erwartet hätte.

Der Gedanke erschreckte Irsa bis ins Mark.

»Ist das ein Befehl, Herrin?«, spie Spinne in Shahrzads Richtung.

»Nein. Es ist ein Versprechen.«

»Was für ein Versprechen?«

Shahrzad neigte den Kopf leicht zur Seite. »Dass, wenn du meine Schwester loslässt, ich hier bei dir bleibe. Ich werde deine Beschwerden anhören. Was immer ich tun kann, um dir entgegenzukommen, werde ich tun. Das verspreche ich.«

Er stieß heißen Atem in Irsas Nacken. »Ich glaube dir nicht.« Sie fühlte, wie er hinter ihr zitterte.

»Das solltest du aber.« Shahrzad trat einen Schritt vor. »Ich war nämlich noch nicht fertig. Ich verspreche dir auch, dass, wenn du meine Schwester nicht loslässt, du derjenige sein wirst, der meine Beschwerden anhört. Und meine bestehen nicht aus Worten, sondern aus Fäusten und Stahl.«

Spinne stieß ein raues Lachen aus. »Das passt. Weil du die Hure eines blutrünstigen Monsters bist.«

Shahrzad zuckte zusammen. Und in diesem winzigen Aufflackern von Schmerz sah Irsa eine Quelle.

Wutentbrannt ging Irsa auf ihn los und versuchte, sich zu befreien. Er verstärkte seinen Griff um ihre Hüfte und ihren Hals. Sie begann zu keuchen.

»Irsa!« Shahrzad gab sich geschlagen und hob die Hände. »Lass sie los!«

»Gib mir deinen Dolch.«

»Lass sie los, dann gebe ich dir meinen Dolch.« Shahrzad nahm den Dolch aus ihrem Hosenbund.

»Zuerst den Dolch!«, sagte Spinne, seine Finger in die weiche Haut unter Irsas Ohr gepresst.

»Sha… Shahrzad!«, krächzte Irsa.

Ein Schweißtropfen rann an Shahrzads Augenbraue hinunter.

»Ich gebe ihn dir. Aber lass Irsa los. Dein Gegner bin ich, nicht sie.«

»Lass ihn erst fallen, dann kann sie gehen. Aber wenn sie Hilfe holt – wenn ich auch nur einen Ton von dem Weißen Falken vor dem Zelt höre –, bringe ich dich um.«

»Sie wird Tarik nicht holen.« Der Dolch fiel klirrend zu Boden. »Sie wird nichts tun.«

Irsa fühlte, wie er sich entspannte. Gleichzeitig zog sich ihre Brust von innen eng zusammen.

Shahrzad musste denken, dass sie zu gar nichts fähig wäre.

Ganz und gar nutzlos.

Und was hatte sie denn tatsächlich getan, um das Gegenteil zu beweisen?