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»Die Vampire sind zurück - und sie sind verführerischer denn je!«Bustle 1872 ist New Orleans eine Stadt, die von den Toten beherrscht wird. Als die junge Schneiderin Celine dort ankommt, ist sie von der wilden Lebensfreude der Stadt sofort verzaubert. Eigentlich wollte sie hier ein respektables Leben führen, doch sie findet stattdessen Freunde in der schillernden Unterwelt der Stadt. Besonders der rätselhafte Sébastien Saint Germain geht ihr nicht mehr aus dem Kopf. Doch als sich eine grausame Mordserie ereignet, stellt sich die Frage, welches Spiel hier überhaupt gespielt wird – und ob die Mitspieler menschlich oder doch etwas ganz anderes sind … ***Der erste Band der düster-romantischen »Hof der Löwen«-Reihe*** Band 1: The Beautiful. Tödliche Dämmerung Band 2: The Damned. Jäger und Gejagte
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Das Zitat am Buchanfang stammt aus William Blake, Ausgewählte Dichtungen. Übertragen von Adolf Knoblauch, Oesterheld & Co. Verlag, Berlin 1907.
Das Gedicht am Buchanfang stammt aus Stefan Zweig, Marceline Desbordes-Valmore. Das Lebensbild einer Dichterin, Insel Verlag, Leipzig 1927. Die Übersetzung des Gedichts stammt von Gisela Etzel-Kühn.
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Anna Wichmann
© Renée Ahdieh 2019
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»The Beautiful«, G. P. Putnam’s Sons Books for Young Readers, New York 2019
Published in agreement with the author,
c/o Baror International, Inc., Armonk, New York, USA
© Piper Verlag GmbH, München 2022
Karte: Jessica Khoury
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
Covergestaltung: Guter Punkt, München, nach einem Entwurf von Theresa Evangelista
Coverabbildung: Jane Morley / Trevillion Images und Shutterstock.com
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Cover & Impressum
Karte
Widmung
Zitat
Gedicht
Hiver 1872
Rue Royale
Janvier 1872
An Bord der CGT Aramis
Eine Kontraststudie
Zu den Sternen
Dein Name ist Marceline Béatrice Rousseau
Malvolio
Hiver 1872
Avenue des Ursulines
Ein Hauch von Gewalt
Hiver 1872
Rue Saint Louis
Der Hof der Löwen
Toussaint
Der Geist
Des Questions, Des Questions
Eine Tänzerin auf dem Seil
Einer von uns
Hiver 1872
Avenue des Ursulines
Eine Silhouette in einem Traum
Ein Überraschungsbesuch
Die Darbietung ihres Lebens
Eine Mörderin in der Sonntagsmesse
Hiver 1872
Cathédrale Saint Louis, Roi-de-France
Worte sind Waffen
Champagner und Rosen
Tritt vor deinen Schöpfer
Méfiez-vous du Rougarou
Die Geisterstunde
Der einsame Frieden einer nebelverhangenen Straße
Das verfluchte Porträt
Hiver 1872
Rue Bienville
Eine Sommernachtssoiree
Die verkörperte Dunkelheit
Sei vorsichtig
Hiver 1872
Rue Bienville
Die Piantagrane
Eintausend winzige Schnitte
Hiver 1872
Rue Bienville
Herrliches Verderben
Zwei Seiten derselben Medaille
Ein Pfund Fleisch
Der letzte Nagel
Viele Wege zum Glück
Lieb’ ist nicht Liebe
Epilog
Dank
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Der Stadt New Orleans gewidmet, weil sie mich an jeder Ecke daran erinnert, dass es Magie gibt
Und für Victor, immer
O, sieh in einem Sandkorn eine Welt
und in einer wilden Blume einen Himmel,
halte das Unendliche in der Palme deiner Hand
und Ewigkeit in einer Stunde.
Aus »Weissagungen der Unschuld« von William Blake
J’ai voulu ce matin te rapporter des roses;
Mais j’en avais tant pris dans mes ceintures closes
Que les noeuds trop serrés n’ont pu les contenir.
Les noeuds ont éclaté. Les roses envolées.
Dans le vent, à la mer s’en sont toutes allées.
Elles ont suivi l’eau pour ne plus revenir.
La vague en a paru rouge et comme enflammée.
Ce soir, ma robe encore en est toute embaumée …
Respires-en sur moi l’odorant souvenir.
Heut morgen wollt ich dir Rosen bringen,
Ich füllte mit ihnen den Gürtel zum Springen –
Der allzu bedrängte, er konnt sie nicht fassen.
Er brach auseinander; die Rosen verflogen
Im Wind und sind alle zum Meere gezogen.
Die Wogen, um die sie mich wirbelnd verlassen,
Erschäumen von rötlicher Glut übergossen,
Mein Kleid aber hält noch die Düfte verschlossen …
Komm abends – ich will sie dich atmen lassen!
Aus »Les Roses de Saadi« von Marceline Desbordes-Valmore
New Orleans, Louisiana
New Orleans ist eine Stadt, die von den Toten regiert wird.
Ich erinnere mich noch genau an den Moment, an dem ich jemanden das sagen hörte. Der alte Mann hatte mir damit Angst einjagen wollen. Er sagte, es habe eine Zeit gegeben, in der die Särge nach starkem Regen aus dem Boden gekommen und die Toten durch die Straßen der Stadt getrieben seien. Angeblich kannte er eine Kreolin an der Rue Dauphine, die im Jenseits mit Geistern sprechen konnte.
Ich glaube an Magie. In einer Stadt voller Illusionisten ist es schlichtweg unmöglich, an ihrer Existenz zu zweifeln. Aber diesem Mann habe ich nicht geglaubt. Halte an deinem Glauben fest, hat er mich gewarnt. Denn die Ungläubigen sind im Tode allein, blind und verängstigt.
Bei seinen Worten tat ich schockiert, fand ihn aber eigentlich amüsant. Er gehörte zu der seltenen Sorte fehlgeleiteter junger Seelen mit Geschichten über schaurige Kreaturen, die in dunklen Ecken lauern. Doch ich war auch fasziniert, besaß ich doch ebenfalls eine fehlgeleitete junge Seele. Von Kindheit an versteckte ich mich hinter gebügelten Stoffen und feinen Worten, aber sie bestand darauf, mich zu peinigen. Sie rief mich wie eine Sirene, trieb mich dazu, die Maske abzulegen und meine wahre Natur zu enthüllen.
Sie hat mich dorthin getrieben, wo ich nun bin. Doch ich bin nicht undankbar, denn sie hat mir zwei tief in mir verankerte Wahrheiten bewusst gemacht: Ich werde auf ewig eine fehlgeleitete junge Seele besitzen, ungeachtet meines Alters.
Und ich werde stets die schattenhafte Kreatur sein, die in einer finsteren Nische lauert.
Deinetwegen, o du meine Liebe. Deinetwegen.
Der Schein trügt
Die Aramis sollte beim ersten Tageslicht eintreffen, wie in Celines Träumen.
Sie würde unter einem sonnenbeschienenen Himmel aufwachen, den Duft des Meeres in der Nase haben und die Stadt am fernen Horizont ausmachen können.
Voller Versprechen. Und Absolution.
Stattdessen läutete die Messingglocke am Bug der Aramis zur Dämmerstunde, was ihre Freundin Pippa als »das Zwielicht« bezeichnete. Celine hielt das für eine sehr britische Aussage.
Sie hatte, nicht lange nachdem sie Pippa vor vier Wochen während eines zweitägigen Andockens der Aramis in Liverpool kennengelernt hatte, damit angefangen, diese Ausdrücke zu sammeln. Bisher war ihr »verdammt unwahrscheinlich« am liebsten. Celine konnte selbst nicht sagen, warum sie das derart bedeutsam fand. Vielleicht, weil sie der Ansicht war, sehr britische Formulierungen könnten ihr in Amerika bessere Dienste leisten als die sehr französischen, die sie von sich gab.
In dem Augenblick, in dem Celine die Glocke vernahm, eilte sie auf die Backbordseite und hörte, wie Pippa ihr mit leisen Schritten folgte. Tintenschwarze Ranken aus Dunkelheit fächerten sich über den Himmel, und ein geisterhafter Nebel hüllte die »Crescent City« genannte Stadt ein. Die Luft um die beiden jungen Frauen wurde dichter, die lauschten, wie die Aramis sich langsam einen Weg durch das Wasser des Mississippi bahnte und New Orleans immer näher kam, während sie sich weiter von dem Leben entfernten, das sie hinter sich zurückgelassen hatten.
Pippa schniefte und rieb sich die Nase. Sofort wirkte sie jünger als sechzehn. »Nach all den Geschichten sieht sie nicht so hübsch aus, wie ich erwartet hatte.«
»Sie sieht genauso aus, wie ich dachte«, versicherte Celine ihr.
»Lüg mich nicht an.« Pippa warf ihr einen Seitenblick zu. »Dadurch fühle ich mich auch nicht besser.«
Ein Lächeln umspielte Celines Lippen. »Vielleicht belüge ich mich ja ebenso wie dich.«
»Lügen ist in jedem Fall eine Sünde.«
»Unausstehlichkeit auch.«
»Das steht nicht in der Bibel.«
»Sollte es aber.«
Pippa hüstelte, um ihre Belustigung zu verbergen. »Du bist schrecklich. Die Schwestern im Ursulinenkonvent werden gar nicht wissen, was sie mit dir anfangen sollen.«
»Sie werden dasselbe tun, was sie mit jedem unverheirateten Mädchen machen, das mit all seinen weltlichen Besitztümern nach New Orleans reist: Sie werden einen Gatten für mich finden.« Celine riss sich zusammen, um nicht die Stirn zu runzeln. Es war ihre freie Entscheidung gewesen. Die beste aller schlimmen Optionen.
»Wenn sie dich für gottlos halten, bringen sie dich mit dem hässlichsten Narren der Christenheit zusammen. Einem mit Knollennase und Plauze.«
»Mir ist ein hässlicher Mann lieber als ein langweiliger. Und eine Plauze bedeutet, dass er immer gut essen kann, also …« Celine legte den Kopf auf die Seite.
»Also wirklich, Celine.« Pippa lachte auf, und ihr Yorkshire-Akzent wob sich wie feine Chantillyspitze durch die Worte. »Du bist die unverbesserlichste Französin, die ich je kennengelernt habe.«
Celine grinste ihre Freundin an. »Du bist gewiss noch nicht vielen Französinnen begegnet.«
»Jedenfalls keinen, die so gut Englisch sprechen wie du. Als wärst du damit aufgewachsen.«
»Mein Vater hielt es für wichtig, dass ich die Sprache beherrsche.« Celine hob eine Schulter, als wäre das alles und nicht knapp die Hälfte. Bei der Erwähnung ihres Vaters – eines biederen Franzosen, der in Oxford Linguistik studiert hatte – drohte ein Schatten über sie zu kommen. Eine Traurigkeit, die Celine noch nicht zu ertragen vermochte. Sie zwang sich zu einem schiefen Grinsen.
Pippa schlang die Arme um den Leib, als würde sie frieren. Sorge zeichnete sich unter dem blonden Pony auf ihrer Stirn ab, während die beiden Freundinnen zu der Stadt in der Ferne hinüberblickten. Jede der jungen Frauen an Bord hatte die geflüsterten Berichte gehört. Auf See bekamen die Mythen, die sie über einer Tasse des grobkörnigen, bitteren Kaffees austauschten, ein eigenes Leben. Sie vermischten sich mit den Geschichten aus der Alten Welt zu unheilvolleren Geschichten. New Orleans wurde heimgesucht. Piraten hatten die Stadt verflucht. Taugenichtse strichen dort herum. Sie sei die letzte Zuflucht für all jene, die an Magie und Mysterien glaubten. Es gab sogar Gerüchte über Frauen, die ebenso viel Macht und Einfluss besaßen wie manch ein Mann.
Celine hatte darüber gelacht. Und sie wagte es, weiter zu hoffen. Möglicherweise war New Orleans nicht so, wie der erste Blick vermuten ließ. Passenderweise konnte man dasselbe auch über sie sagen.
Und wenn eines auf die jungen Reisenden an Bord der Aramis zutraf, dann, dass die Wahrscheinlichkeit einer solchen Magie – einer solchen Welt – zu etwas Maßgeblichem geworden war. Insbesondere für jene, die den Geist der Vergangenheit abschütteln und etwas Besseres und Strahlenderes werden wollten.
Und erst recht für jene, die zu entkommen versuchten.
Pippa und Celine sahen zu, wie das Unbekannte näher kam. Ihre Zukunft.
»Ich habe Angst«, gestand Pippa leise.
Celine erwiderte nichts. Die Nacht war durch das Wasser gesickert wie ein dunkler Fleck, der sich auf Organza ausbreitete. Ein rauer Seemann balancierte so anmutig wie ein Luftakrobat auf einem Holzbalken, während er eine Lampe an den Schiffsbug hängte. Wie als Antwort darauf züngelte Feuer über das Wasser und tauchte die Stadt in noch schaurigere Grüntöne.
Die Glocke der Aramis ertönte erneut und verriet allen am Hafen, wie weit das Schiff noch zu reisen hatte. Weitere Passagiere kamen unter Deck hervor, stellten sich neben Celine und Pippa und unterhielten sich leise auf Portugiesisch und Spanisch, Englisch und Französisch, Deutsch und Holländisch miteinander. Junge Frauen, die den mutigen Schritt gewagt und ihr Heimatland verlassen hatten, um ein neues Leben anzufangen. Ihre Worte verschmolzen miteinander zu einer sanften Kakofonie aus Geräuschen, die Celine unter normalen Umständen als beruhigend empfunden hätte.
Doch damit war es vorbei.
Seit jener verhängnisvollen Nacht inmitten der Seide im Atelier sehnte sich Celine nach beruhigendem Schweigen. Es war Wochen her, dass sie sich in der Gegenwart anderer sicher gefühlt hatte. Sicher mit ihren aufgewühlten Gedanken. Nur in Pippas Nähe gelang es ihr überhaupt, durch ruhigeres Wasser zu waten.
Als das Schiff nahe genug zum Andocken war, nahm Pippa unverhofft Celines Hand, als müsste sie sich wappnen. Celine keuchte auf. Zuckte bei der unerwarteten Berührung zusammen. Als wäre ihr Blut ins Gesicht gespritzt, dessen Salz sie auf den Lippen schmeckte.
»Celine?« Pippa riss die blauen Augen weit auf. »Stimmt etwas nicht?«
Celine musste durch die Nase atmen, um ihren Herzschlag zu beruhigen, und schlang beide Hände um Pippas Finger. »Ich fürchte mich auch.«
Dreiundzwanzig Passagiere entstiegen der Aramis, und alle hatten einen einfachen Koffer dabei, der ihre weltlichen Besitztümer enthielt. Nach einem Blick in die Frachtliste des Schiffes gestattete ihnen der Beamte im Zollamt, amerikanischen Boden zu betreten. Eine Stunde später setzten sich sieben Mädchen in eine bescheidene Equipage und fuhren durch die dunklen Straßen zum Ursulinenkonvent. Die Zukunft der anderen erwartete sie an den Docks.
Der offene Wagen holperte über das Kopfsteinpflaster. Um sie herum waren die Zweige der Bäume schwer von strahlend bunten Blüten. Zikaden und Schnellkäfer summten im Schatten und flüsterten von einer verfluchten Geschichte. Die tropische Brise strich durch die Äste einer Lebens-Eiche auf einem kleinen Platz. Die Wärme ihrer Umarmung fühlte sich auf Celines Haut seltsam an, insbesondere im Kontrast zum leicht kühlen Spätjanuarabend.
Aber sie wusste, dass sie sich nicht beschweren durfte. Vor ihrem Haus in Paris lag wahrscheinlich Schnee auf den Gehwegen, und es hätte noch Wochen gedauert, bevor sie das bequeme Musselinkleid, das sie nun trug, in Erwägung gezogen hätte. Celine erinnerte sich noch gut daran, wie sie es letzten Juni aus Stoffresten angefertigt hatte, die sie von einem eleganten Nachmittagskleid für eine reiche Dame, deren Salons berüchtigt waren, übrig behalten hatte. Damals hatte sich Celine ausgemalt, eines Tages selbst eine dieser Zusammenkünfte zu besuchen und sich unter die schicksten Mitglieder der Pariser Gesellschaft zu mischen. Sie würde sie mit ihrer Liebe zu Shakespeare und Voltaire beeindrucken. Sie würde genau dieses Kleid tragen, dessen dunkler Aubergineton einen wunderschönen Kontrast zu ihrer hellen Haut bildete und dessen Überrock mit reichlich Rüschen und Bändern verziert war. Und sie würde ihre schwarzen Locken auf dem Kopf auftürmen, so wie es der neuesten Mode entsprach.
Schmunzelnd erinnerte sich Celine an das siebzehnjährige Mädchen, das sie gewesen war. An die Dinge, von denen dieses Mädchen geträumt hatte. All das, was sie sich ersehnte: die Aufnahme in die Gemeinschaft der eleganten jungen Frauen, denen sie Kleider anpasste, die nur wenige Tage später weggeworfen wurden. Die Gelegenheit, sich in einen attraktiven jungen Mann zu verlieben, der ihr mit Gedichten und Versprechungen das Herz raubte.
Nun rümpfte sie bei diesem Gedanken die Nase.
Nach mehreren Wochen auf See, die es tief vergraben in einem Holzkoffer verbracht hatte, spiegelte das zerknitterte Kleid, das Celine nun trug, die deutliche Wende wider, die ihr Leben erfahren hatte. Es eignete sich nicht für eine Sonntagsmesse und erst recht nicht für einen Salon. Bei diesem Gedanken setzte sich Celine auf dem Holzsitz etwas anders hin, wobei sich das Korsett gegen ihre Rippen presste. Das Fischbein bohrte sich in ihre Brüste, als sie tief Luft holte.
Wobei sie einen derart köstlichen Duft einatmete, dass sie kurz abgelenkt war.
Sie schaute sich auf dem Platz nach der Ursache dafür um. An der Ecke der Lebens-Eiche gegenüber befand sich eine offene Bäckerei, die Celine an ihre Lieblingsboulangerie am Boulevard de Montparnasse erinnerte. Der Geruch von frischem Teig und langsam schmelzendem Zucker waberte zwischen den wächsernen Magnolienblättern hindurch zu ihr herüber. In der Nähe wurden die Fensterläden vor einem Balkon lautstark zugeknallt, und ein Spalier mit einer üppig wuchernden rosafarbenen Bougainvillea bebte, und die Blüten zitterten, als würden sie sich fürchten. Möglicherweise taten sie es aber auch aus Vorfreude.
Das hätte ein wunderschöner Anblick sein sollen, aber die entzückende Szene schien von etwas Unheilvollem unterlegt zu sein. Als hätte sich ein bleicher Finger zwischen einem Vorhang gezeigt und würde sie in einen dunklen Abgrund locken wollen.
Sie wusste, dass es weise wäre, die Warnung zu beherzigen. Dennoch war Celine wie verzaubert. Als sie die sechs anderen Mädchen im Wagen musterte – vier auf der einen und drei auf der anderen Seite –, sah Celine sich weit aufgerissenen Augen und beklommenen Mienen gegenüber. Oder war es Aufregung? Wie bei der Bougainvillea ließ es sich auch hier schwer sagen.
Der Wagen hielt an einer geschäftigen Straßenecke, und das kräftige Zugpferd warf die Mähne in den Nacken. Menschen in allen nur denkbaren Kleidungsstilen – von den Reichen mit ihren goldenen Uhrenketten bis hin zu den Bescheidenen mit ihren verschlissenen Leinengewändern – überquerten die Decatur Street mit entschlossenen, eiligen Schritten, als wären sie auf einer Mission. Es kam ihr ungewöhnlich vor für eine Tageszeit, die eher von Abschlüssen denn Anfängen geprägt war.
Da Pippa am nächsten zum Fahrer saß, beugte sie sich vor und sprach ihn an. »Geschieht heute Abend etwas Bemerkenswertes, das die versammelte Menschenmenge erklären würde?«
»Die Parade«, antwortete der barsche Mann, ohne sich umzudrehen.
»Wie bitte?«
Er räusperte sich. »In der Nähe der Canal Street fängt die Parade an. Aufgrund des Karnevals.«
»Eine Karnevalsparade!«, rief Pippa aus und drehte sich zu Celine um.
Antonia – die junge Frau, die links neben Celine saß – schaute sich aufgeregt mit großen, strahlenden braunen Augen um, die an die Augen einer Eule erinnerten. »Um carnaval?«, fragte sie auf Portugiesisch und deutete in die Richtung, aus der ferne Feiergeräusche zu hören waren.
Celine nickte lächelnd.
»Jammerschade, dass wir sie nicht sehen können«, sagte Pippa.
»Keine Sorge, Mädel«, erwiderte der Fahrer, dem die Worte mit leicht irischem Akzent über die Zunge kamen. »Es gibt den ganzen Monat lang noch mehr als genug Karnevalsparaden und -feiern. Sie werden bestimmt noch eine zu sehen bekommen. Und warten Sie erst mal den Maskenball zu Mardi Gras ab. Das ist der große Höhepunkt.«
»Eine Freundin in Edinburgh hat mir schon von der Karnevalszeit hier erzählt«, warf Anabel – eine flinke Rothaarige mit attraktiven Sommersprossen auf der Nase – ein. »Die ganze Stadt New Orleans feiert vor Beginn der Fastenzeit wochenlang mit unzähligen Soireen, Bällen und Kostümfesten.«
»Feste!«, wiederholten die Zwillinge aus Deutschland, sobald sie das Wort erkannten, und eine klatschte vor Freude in die Hände.
Ihre strahlenden Gesichter fesselten Celine. Etwas hinter ihrem Herzen bewegte sich bei diesem Anblick; eine Emotion, die sie sich seit den Ereignissen dieser schicksalhaften Nacht versagt hatte: Hoffnung.
Sie trafen in einer feiernden Stadt ein. Einer Stadt, in der über Wochen ein buntes Treiben herrschen würde. Die Menschen auf den Straßen waren von derselben Vorfreude erfüllt, die sie auch in ihren Schicksalsgenossinnen sah. Vielleicht hatten ihre Mienen ja nichts mit Verzagtheit zu tun. Möglicherweise wurde die Bougainvillea nur wachgerüttelt, statt vor Furcht zu zittern.
Eventuell musste Celine keine Angst vor dem haben, was morgen geschehen würde.
Während sie darauf warteten, dass die vorbeiziehenden Fußgänger die Straße verließen, begann sich ein Hochgefühl in ihr breit zu machen. Celine beugte sich vor und versuchte, einen Efeustrang zu erwischen, der von einem verzierten gusseisernen Geländer herabhing. Das Geräusch von Schritten zu ihrer Linken lenkte sie jedoch ab, und die Menge teilte sich, um den Wagen hindurchzulassen.
Nein.
Man machte nicht ihnen den Weg frei.
Sondern etwas ganz anderem.
Dort im bernsteinfarbenen Licht einer Gaslaterne stand eine einsame Gestalt und machte sich daran, die Decatur Street zu überqueren, wobei sie den Panamahut so tief ins Gesicht gezogen hatte, dass ihre Gesichtszüge nicht zu erkennen waren.
Ohne zu zögern, zollte ihr Fahrer dem Mann sofort Hochachtung und neigte den Kopf in seine Richtung, als wollte er sich verbeugen … oder aber den Blick abwenden.
Der Mann überquerte die Straße und bewegte sich vom Licht in den Schatten und zurück ins Licht, glitt förmlich von einer Straßenecke zur anderen. Er bewegte sich … seltsam. Als wäre um ihn herum nicht etwa Luft, sondern Wasser. Oder vielleicht Rauch. Seine polierten Schuhe klapperten in einem schnellen Tempo über die Pflastersteine. Er war groß. Breite Schultern. Trotz des Abendlichts konnte Celine erkennen, dass sein Anzug aus dem besten Material bestand und von geübter Hand geschneidert worden war. Vermutlich aus der Savile Row. Ihre Ausbildung im Atelier von Madame de Beauharnais’ – der besten Modeschöpferin von Paris – hatte ihr ein gutes Auge für derartige Dinge beschert.
Doch seine Kleidung faszinierte Celine bei Weitem nicht so sehr wie das, was er vollbrachte. Er hatte die Straße überquert, ohne ein einziges Wort zu sagen, und Damen mit Sonnenschirmen und Kindern mit zuckerbestäubten Beignets ebenso wie Männer mit eleganten Hüten allein durch einen Blick in ihre Richtung dazu bewogen, ihm aus dem Weg zu gehen.
Diese Art von Magie hätte sie auch gern beherrscht.
Celine sehnte sich allein deswegen danach, derart mächtig zu sein, weil damit eine große Freiheit einherging. Sie beobachtete den Mann, der auf den Gehweg trat, und Neid umwölkte ihren Blick und erfüllte ihr Herz, um die Hoffnung zu verdrängen, die sie sich gerade erst eine Minute zuvor zaghaft gestattet hatte.
Dann hob er den Kopf. Er sah ihr in die Augen, als hätte sie nach ihm gerufen, allerdings lautlos.
Celine blinzelte.
Er war jünger, als sie erwartet hatte. Nicht viel älter als sie. Vielleicht neunzehn oder zwanzig, höchstens. Später würde Celine versuchen, sich an Details zu erinnern. Aber es war, als wäre ihre Erinnerung an diesen Augenblick verschwommen, als würde Öl über die Oberfläche eines Spiegels fließen. Das Einzige, das sie noch glasklar vor sich sah, waren seine Augen. Sie glänzten im Schein der Gaslampe, als würden sie von innen heraus leuchten.
Dunkelgrau. Wie der Lauf einer Waffe.
Er senkte den Blick. Grüßte sie mit einem Antippen des Hutes. Und ging weg.
»Grundgütiger«, hauchte Pippa.
Zustimmendes Gemurmel in mehreren Sprachen erhob sich unter den sitzenden jungen Frauen. Sie beugten sich zueinander, und mit einem Mal waren sie alle aufgeregt. Eines der Zwillingsmädchen aus Deutschland sagte etwas auf Deutsch, bei dem sich ihre Schwester kichernd die Hand vor den Mund hielt.
Allein Celine starrte der schnell kleiner werdenden Gestalt hinterher und kniff die Augen zusammen, so wie er es ebenfalls getan hatte. Als könnte sie es nicht glauben.
Was, wusste sie selbst nicht.
Ihr Wagen setzte seinen Weg zum Konvent fort. Celine sah zu, wie der junge Mann mit der Dunkelheit verschmolz und wie ihn seine langen, schlanken Beine mit einer nahezu außerweltlichen Selbstsicherheit durch die Nacht trugen.
Sie fragte sich, was jeden Menschen an der Kreuzung dazu bewogen haben mochte, ihm einfach Platz zu machen. Sehnte sich danach, es auch nur ansatzweise zu begreifen. Wäre Celine ebenfalls eine Person gewesen, der man derart großen Respekt entgegenbrachte, hätte sie sich nicht gezwungen gesehen, Paris zu verlassen. Ihren Vater anzulügen.
Oder einen Mann zu ermorden.
Ich sollte nicht hier sein.
Dieser Gedanke ging Noémie immer wieder durch den Kopf.
Es war dunkel. Spät. Das Wasser schwappte an den Pier am Rand des Vieux Carré und erzeugte ein einlullendes, hypnotisches Geräusch.
Sie hätte nie zustimmen dürfen, sich mit jemandem an diesem Ort zu treffen, selbst wenn es noch so aufregend war. Noémie wusste es besser. Ihre Eltern hatten sie besser erzogen. Ebenso die Kirche. Sie zog ihren leichten Frühlingsschal fester um die Schultern und richtete die rosafarbene Seidenschleife um ihren Hals. Als sie sich umdrehte, stießen ihre Granatohrhänger gegen die empfindliche Haut hinter ihrem Kiefer.
Ohrhänger und Seidenschleifen an einem Pier mitten in der Nacht?
Was dachte sie sich nur dabei?
Ich sollte nicht hier sein. Wen wollte sie mit derartigem Flitter denn beeindrucken?
Doch gewiss nicht diesen Mann.
Jeder junge Mann, der sie bat, sich mitten in der Nacht mit ihm zu treffen, war kein Gentleman. Aber Noémie vermutete, die Art von Frau, die dem zustimmte, konnte auch keine Lady sein. Sie seufzte leise. Martin, ihr ehemaliger Beau, hätte sie nie zu einem geheimen Treffen lange nach Sonnenuntergang eingeladen.
Doch bei Martin hatte ihre Haut auch nicht derart gekribbelt, und ihr hatte nie der Atem gestockt.
Nicht so wie bei ihrem geheimnisvollen Bewunderer.
Wenn er allerdings nicht bald auftauchte, würde Noémie wieder nach Hause gehen, sich zurück durch die Glyzinie ihrer Mutter schleichen und durch ihr Schlafzimmerfenster huschen, bevor irgendjemand ihr Verschwinden bemerkt hätte.
Noémie ging unruhig am Pier auf und ab und schwor den Sternen, dass dies die letzte Chance war, die sie ihm geben würde. Unter ihren Röcken klapperten die Absätze ihrer Stiefel über die verbogenen Holzdielen, und ihre Tournüre bebte im Takt ihrer Schritte. Eine Brise wehte von der Flussbiegung herüber und brachte den Gestank von verdorbenem Fisch mit sich – einem Überbleibsel des heutigen Fangs.
In dem Versuch, den Geruch zu vertreiben, presste sie sich einen nackten Finger unter die Nase.
Ich sollte nicht hier sein. Der Pier lag zu nah am Gebiet des Hofes. Diese Straßen und alles in der näheren Umgebung wurden von seinen geheimnisvollen Bewohnern kontrolliert. Auch wenn sie regelmäßig der Kirche spendeten. Auch wenn Le Comte de Saint German eine Loge in der Oper hatte und mit den Schönsten und Klügsten aus New Orleans verkehrte. Zum Hof gehörten auch die schlimmsten Leute, jene, die keine Skrupel kannten.
Und hier war nun Noémie und wartete allein in der Dunkelheit mitten in ihrem Reich.
Sie fuhr sich über die Kehle und betastete die weiche Seide, die sie darum geschlungen hatte. Die Farbe der Schleife – ein blasses Rosa, wie die Blütenblätter einer Pfingstrose – entsprach der neuesten Mode. Kaiserin Eugénie hatte sie vor gar nicht langer Zeit zum ersten Mal getragen. Inzwischen eiferten zahllose junge Damen in New Orleans ihr nach und schmückten damit ihre langen, schwanengleichen Hälse. Angeblich fanden die Gentlemen Gefallen daran.
Mit verbittertem Lächeln blickte Noémie aufs Wasser hinaus und machte sich daran, das letzte Mal über den Pier zu laufen.
Verflucht seien ihr beeindruckender Bewunderer und all seine Lügen. Es sollte nicht genug süße Worte und verlockende Versprechungen geben, um Noémie aus der Sicherheit ihres Hauses zu locken.
Sie hatte soeben das Ende des Piers erreicht, als sie laute Schritte hinter sich hörte. Je näher sie kamen, desto langsamer wurden sie, als würde sich derjenige mit Muße bewegen.
Noémie drehte sich nicht sofort um, denn sie wollte ihn wissen lassen, wie wütend sie war.
»Ihr habt mich lange warten lassen«, säuselte sie honigsüß.
»Ich bitte aufrichtig um Entschuldigung, mon amour«, hauchte er in ihrem Rücken. »Ich wurde beim Abendessen aufgehalten … bin jedoch vor dem Dessert gegangen.«
Ein Lächeln breitete sich auf Noémies Lippen aus, und ihr Herz schlug schneller. Langsam drehte sie sich um.
Doch da war niemand. Der Pier schien verlassen zu sein.
Sie blinzelte. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Hatte sie sich das etwa nur eingebildet? Hatte ihr der Wind einen Streich gespielt. »Wo seid Ihr …?«
»Ich bin hier, meine Liebste«, raunte er ihr ins Ohr und stand abermals hinter ihr. Sie keuchte auf. Er nahm ihre Hand, und seine Berührung war kühl und gelassen. Beruhigend. Ein Prickeln fuhr ihre Wirbelsäule entlang, als er an ihrem Ohrläppchen knabberte. Schockierend. Verlockend.
Martin hätte so etwas niemals gewagt.
Sie streckte eine Hand nach hinten aus, um seine Wange zu streicheln. Die Stoppeln an seinem Kinn schabten über ihre Haut, und das Blut toste durch ihre Adern. Er küsste ihre Fingerspitzen. Als sie die Hand zurückzog, fühlte sie sich warm an. Klebrig. Feucht.
Sie war mit roten Flecken bedeckt.
»Je suis désolé«, entschuldigte er sich leise.
Ein entsetzter Schrei stieg in Noémies Kehle empor.
Ihr schwanengleicher Hals wurde aufgerissen, bevor sie auch nur einen Ton herausbrachte.
Das Letzte, was Noémie sah, waren die Sterne, die munter am Himmel funkelten.
Sieben Mädchen zogen in den Schlafsaal des Ursulinenkonvents ein: Celine, Pippa, die Zwillinge aus Düsseldorf, die Marta und Maria hießen, Anabel, die Rothaarige aus Edinburgh, Antonia aus Lissabon und Catherine aus Liverpool.
Die katholische Kirche hatte ihnen die Reise nach New Orleans finanziert, und als Gegenleistung erwartete man von diesen sieben jungen Frauen, dass sie im Krankenhaus aushalfen, die Mädchen unterrichteten, die hier zur Schule gingen, und alle Bemühungen, Geldmittel für die Diözese zu sammeln, eifrig unterstützten. Jedenfalls so lange, bis es den Schwestern des Konvents gelungen war, passende Ehemänner für sie zu finden.
Für Celine war der Tag nach ihrer Ankunft ein Tag voller Bestürzung.
Ein Tag, der von den Entscheidungen anderer geprägt war.
Sie wollte auf keinen Fall, dass die Schwestern sie als Lehrerin einsetzten. Das war eine derart bedeutsame Position mit sehr viel Verantwortung. Celine war jedoch nie ein gutes Vorbild gewesen. Sie lachte zu laut über derbe Witze und genoss das Essen bei gesellschaftlichen Ereignissen, bei denen die Damen sittsam statt gesättigt sein sollten, viel zu sehr. Was hatte das denn auch für einen Sinn? Ein pain au chocolat ablehnen? Was für ein Sakrileg!
Aber bedauerlicherweise wurde es erwartet.
Aus diesen Gründen war Celine erleichtert, als sie erfuhr, dass Catherine als Gouvernante in den Diensten einer vierköpfigen Liverpooler Familie gestanden hatte. Die Brillenträgerin lächelte, als man ihr mitteilte, dass sie ihre alte Aufgabe wieder aufnehmen würde.
Celine hätte keine Einwände gehabt, im Krankenhaus eingesetzt zu werden, doch Pippa teilte ihr mit, dass Marta und Maria in Düsseldorf die Gehilfinnen einer Hebamme gewesen waren; aus diesem Grund wurden sie zusammen mit Antonia, die Expertin für Kräuter und andere Naturheilmittel war, dorthin geschickt.
Kurz darauf fanden sich Pippa, Anabel und Celine in derselben misslichen Lage wieder. Sie waren drei Mädchen, die sich in den weiß getünchten Hallen nur schwer einsetzen ließen, da ihre jeweiligen Interessen mit dem Leben im Konvent nicht unbedingt vereinbar waren. Anabel hatte ein Händchen für Zahlen und das Geschäft, was bei einer jungen Frau beides keine bewundernswerten Eigenschaften darstellten.
Pippa hatte sich den Großteil ihres Lebens mit Kunstgeschichte befasst und war eine erfahrene Violinistin und Malerin, doch die Schule verfügte bereits über eine Kunstlehrerin.
Zwar sprach niemand Celine den geschickten Umgang mit gerüschter Seide und zarter Alençon-Spitze ab, aber hier konnte sie damit wenig anfangen. Die Kenntnisse, wie man Kleider für die Pariser Elite anfertigte, standen auf der Liste der im Konvent benötigten Fähigkeiten recht weit unten.
Aus diesem Grund saßen Pippa, Anabel und Celine eine Woche nach ihrer Ankunft im Schatten der Saint Louis Cathedral und boten ihre Waren unter den Eichenblättern des Jackson Square feil. Trotz des herrlich warmen Tages kam sich Celine irgendwie verloren vor. An welchen Ort sie auch ging, stets schien das Leben darauf bedacht zu sein, sie einzusperren.
Vielleicht hatte sie es verdient. Ihre Sünden waren zahlreich, ihre Vergebungen hingegen nicht.
An der Ecke des Platzes, die am weitesten von Celine entfernt war, wurden Beignets zusammen mit dampfenden Tassen voller Café au Lait serviert, und ein berauschender Duft aus Butter, Zucker und Zichorie wehte zu ihnen herüber. Zu ihrer Linken erhoben sich die Türme der Kathedrale in den blauen Himmel, an dem sich die Wolkenart auftürmte, die Celine am meisten liebte, weil sie sie an Chiffon erinnerte. Zu ihrer Rechten saßen mehrere Künstler, Händler und Anbieter geheimnisvoller Dinge, deren Waren entlang des schmiedeeisernen Zauns, der den Kirchhof umgab, ausgelegt worden waren.
Am liebsten wäre Celine an den Ständen entlanggeschlendert und hätte die Angebote in Augenschein genommen. Sie wollte sich die Stadt ansehen und diese neu gewonnene Chance auf das Leben genießen. Doch wie sie in der letzten Woche zunehmend hatte erkennen müssen, waren die Dinge, die sie wollte, und die, die man von ihr erwartete, wie Öl und Wasser, die man in der Rührschüssel eines Bäckers zu vermengen suchte.
An dem Tag, an dem die anderen Mädchen ihre neuen Positionen erhalten hatten, wies man Pippa, Celine und Anabel an, Geld für den Ausbau des Gemeindewaisenhauses zu beschaffen. Die folgende Woche hatten sie sich den Vorbereitungen gewidmet.
Pippa hatte zarte Teetassen mit religiösen Motiven bemalt, beispielsweise Jesus, der Wasser in Wein verwandelte oder eine Menschenmenge aus mehreren Tausend Personen mit nichts als sieben Broten und Fischen speiste. Anabel hatte ihren Stand entworfen und sich überlegt, wie man die Kundschaft am besten anlocken konnte. Celine hatte hingegen kleine Quadrate aus gemangeltem Leinen mit einer Bordüre versehen, die fast wie feine Nadelspitze aussah.
Seit ihrer Ankunft am Hafen vor einer Woche war es keiner von ihnen gestattet worden, sich eine Parade anzusehen. Stattdessen wurden sie jeden Abend, sobald sie ihre jeweiligen Aufgaben beendet hatten, angewiesen, einander laut aus dem Gebetsbuch vorzulesen, bis es Zeit war, sich in ihre Zellen zurückzuziehen.
Ja. Ihre Zimmer wurden Zellen genannt. Das war der Grund, warum Celine einige freche Buchstaben in den Saum jedes der von ihr gefertigten Taschentücher gestickt hatte.
GIEK
Eine Anspielung auf Hamlet, ihre Lieblingstragödie von Shakespeare.
»Geh in ein Kloster.«
Celine betrachtete die in den komplizierten Spitzenwirbeln verborgenen Buchstaben, und warme Freude durchzuckte sie. Dann ließ sie den Blick jedoch über den klapprigen Holztisch schweifen, und ihr wurde das Herz mit jeder Sekunde schwerer.
War das alles, was sie vom Leben erwarten konnte?
Ihre Züge verhärteten sich. Celine setzte sich aufrecht hin, und das Fischbein in ihrem Korsett raubte ihr den Atem, da er ihr die Brust einschnürte. Sie sollte dankbar dafür sein, dass sie sich hier aufhalten konnte. Dankbar dafür, einen Platz unter anständigen Menschen zu haben. Dankbar für eine weitere Chance im Leben.
Entschlossenheit breitete sich in ihr aus. Sie strahlte einen potenziellen Kunden an, der ihre Anwesenheit jedoch gar nicht zur Kenntnis nahm. Sofort schluckte Celine ihren Gram herunter und wandte sich zwei jungen Frauen zu, die die Glasur einer von Pippa vor wenigen Tagen fertiggestellten Porzellantasse betrachteten.
»Wunderschön, findest du nicht?«, murmelte das Mädchen auf der linken Seite ihrer Freundin zu.
Diese bedachte sie mit einem beiläufigen Blick. »Nicht übel, wenn man an etwas Derartigem Gefallen findet«, erwiderte sie mit starkem Akzent und schob sich eine herausgerutschte Strähne ihres braunen Haars unter den Strohhut. Kaum lauter als ein Flüstern fuhr sie fort. »Aber hast du gehört, was die Dockarbeiter gestern Vormittag am Pier gefunden haben?«
Das andere Mädchen nickte. »Richard hat mir davon erzählt. Ihr Name war Nathalie oder Noémie oder etwas in der Art.« Besorgnis zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. »Er vermutete, dass der Hof dafür verantwortlich sein könnte, da es in der Nähe seines Gebiets passiert ist.«
Der Hof?, fragte sich Celine. Ihres Wissens hatte es nie eine amerikanische Monarchie gegeben.
»Als wäre sie von einem Tier verstümmelt worden!« Die Brünette erschauderte. »Die arme Seele.« Sie schnalzte mit der Zunge, doch ihre Augen glänzten ob der unausgesprochenen Gedanken. »Sie wurde zusammen mit dem Tagesfang zum Verrotten in der Sonne liegen gelassen. Wenn der Hof etwas damit zu tun hatte, dann wird er zunehmend skrupelloser. Nicht, dass es von Belang wäre. Sie tun ohnehin wie immer, was sie wollen.«
Wider besseres Wissen war Celines Interesse geweckt. Sie reckte den Hals, um die beiden besser verstehen zu können.
Die Brünette sprach fast schon atemlos weiter. »Hat Richard dir auch berichtet, was mit ihrem Kopf passiert ist?«
»N-nein.«
»Ich habe gehört, er wurde der armen jungen Frau vollkommen vom Hals abgetrennt.«
Das andere Mädchen keuchte auf und presste sich eine mit einem Spitzenhandschuh bekleidete Hand auf den Mund. »Großer Gott.«
Mit ernstem Nicken griff die Brünette nach einem von Celines bestickten Taschentüchern. »Ihr Gesicht war fast nicht mehr zu erkennen. Nur anhand ihrer Ohrhänger ist es ihrem Vater gelungen, sie zu identifizieren.«
Bei diesen Worten räusperte sich Pippa in dem unverkennbaren Versuch, die beiden Frauen davon abzuhalten, sich weiter über ein derart anzügliches Thema zu unterhalten. Anabels Miene verfinsterte sich, und sie wirkte gereizt.
»Können wir den Damen vielleicht behilflich sein?« Celine schenkte ihren jungen Kundinnen ein spitzes Lächeln.
Die Brünette kniff die Augen zusammen und ließ das Taschentuch mit einer achtlosen Handbewegung fallen. »Nein danke.« Sie hakte sich entschlossen bei ihrer Freundin unter und führte sie von dem wackeligen Tisch weg.
Sobald sie außer Hörweite waren, schnaufte Anabel. »Im Schatten einer Kirche über einen Mord tratschen …«, murmelte sie. »Wissen sie denn nicht, dass man die Geister nicht derart dreist provoziert?« Ihr schottischer Akzent trat bei ihrem Wutausbruch deutlich zutage, und sie schnippte eine dicke Biene weg, die vor ihrer Stirn herumsummte.
Pippa seufzte, nahm Anabels Hand und verhinderte, dass sie das Insekt traf. »Dieses arme Mädchen.« Sie setzte sich etwas aufrechter hin und verzog das feine Gesicht. »Hoffentlich musste sie nicht lange leiden. Wer kann denn so etwas tun?« Bei diesen Worten runzelte sie die Stirn. »Was für ein Monster könnte einem Menschen auf diese Weise das Leben rauben?«
Anabel nickte knapp. »Hoffentlich brennt der Teufel, der dafür verantwortlich ist, bis in alle Ewigkeit in der Hölle. Das ist die einzig richtige Strafe für einen Mord.«
Ein Hauch von Farbe drohte Celines Hals hinaufzusteigen. Sie lockerte die Schultern und beruhigte den Sturm, der in ihr toste. Eine Schweißperle sammelte sich in ihrer Kehlgrube, um zwischen ihren eingepferchten Brüsten hinunterzulaufen. »Ich bin ganz deiner Meinung«, stimmte sie wenig überzeugend zu. Die Worte kamen ihr kaum über die Lippen. Celine verschränkte die Finger und hoffte auf einen Themenwechsel.
Glücklicherweise machte es ganz den Anschein, als wären Pippa und Anabel derselben Meinung. Das Trio setzte seine Bemühungen mit neuem Eifer fort, Geld für die Kirche zu beschaffen, und stand gleichzeitig auf, als sich weitere mögliche Kunden ihrem Tisch näherten.
Die meisten Passanten blieben stehen, um sich die Gläser mit Weißdorngelee und Komturbirnenmarmelade anzusehen, die die in der Küche stationierten Mädchen am Vortag gekocht hatten. Niemand schien daran interessiert zu sein, die bemalten Tassen oder elegant gefalteten Taschentücher eines zweiten Blicks zu würdigen.
Trübsal legte sich schwer auf Celines Schultern wie eine im Schatten lauernde Bestie. Sie schaute sich um und suchte nach irgendetwas, das ihr Trost spenden konnte. Zumindest erwähnte keine der Personen, die sich vor ihrem Stand versammelt hatten, den schauerlichen Mord, der sich in Sichtweite des Jackson Square ereignet hatte.
Celine fand, dass diese Atempause auch schon etwas war, für das sie dankbar sein konnte.
* * *
Nach drei wenig erfolgreichen Stunden hatte sich Celines Schwermut nachhaltig festgesetzt. Die Sonnenstrahlen kamen ihnen immer näher, die Hitze wurde erdrückend, und sie sehnte sich zunehmend nach der Kühle der Nacht. Sogar die Äste über ihr schienen von der Last der schwülen Luft nach unten gedrückt zu werden, und ihre Blüten erinnerten an Augenlider, die mit jedem verstreichenden Augenblick schwerer und schläfriger wurden. Pippas blonde Locken rahmten ihr Gesicht langsam wie ein feuchter Heiligenschein ein. Anabel zog das gelbe Band um ihre Stirn fester und seufzte laut. Es machte ganz den Anschein, als wäre sie ebenfalls mit ihrer Geduld am Ende.
Die schlanke Schottin drehte eine rostrote Locke um den Zeigefinger, zog sie gerade und rümpfte die Nase. »Puh, es ist so heiß wie in einem Hexenkessel. Und wie sollen wir überhaupt einen passenden jungen Mann treffen, wenn wir unsere Tage damit verbringen, Geld zu beschaffen, und die Abende im Gebet verharren?«
Es gab vieles, was Celine als Antwort auf der Zunge lag. Sie entschied sich für die am wenigsten anstößige Option. »Vielleicht wäre es besser, wenn wir stattdessen die Nächte mit Geldverdienen verbringen.« Ihr fröhlicher Sarkasmus kam bei Anabel jedoch nicht an. Die Rothaarige beäugte sie bloß verwirrt.
Doch wie immer verstand Pippa auch jetzt den leicht finsteren Humor ihrer Freundin. Sie warf Celine einen Blick zu, und ihre Lippen zuckten. Danach wandte sie Anabel den anmutigen Kopf zu. »Möglicherweise sollte es nicht unsere einzige Sorge sein, einen Mann zu finden.«
»Nein, das sollte es nicht, aber ich sag euch, ein strammer junger Gentleman wäre eine nette Abwechslung von all diesem Stumpfsinn.«
»Oder er würde alles nur noch schlimmer machen.« Pippa rückte die schmale Kette mit dem goldenen Kreuz um ihren Hals zurecht. »Meiner Erfahrung nach sind stramme junge Männer nicht immer eine bessere Gesellschaft.«
Celine musste sich ein Grinsen verkneifen. Das war genau der Grund, weshalb Pippa und sie schon kurz nach Setzen der Segel zueinandergefunden hatten. Keine von ihnen gab sich in Bezug auf das andere Geschlecht Illusionen hin. Selbstverständlich hätte Celine nur zu gern gewusst, warum sich Pippa nicht danach sehnte, verheiratet zu sein, aber sie wusste, dass sie besser nicht nachfragte.
Als zarte Blondine mit herzförmigem Gesicht und saphirblauen Augen erregte Pippa überall Aufmerksamkeit. Männer grüßten sie häufig anerkennend. Wichtiger jedoch war, dass sie auch einen messerscharfen Verstand besaß. Es hätte sie eigentlich keine große Mühe kosten sollen, die Liebe zu finden. Doch statt sich in ihrem Heimatland niederzulassen, war Pippa in ein wildes neues Land auf der anderen Seite des Atlantiks aufgebrochen.
Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte Celine dies äußerst verwundert zur Kenntnis genommen. Aber sie behielt diese Gedanken für sich, denn sie hatte nicht die Absicht, sich an der darauf folgenden Diskussion zu beteiligen. Wenn sie Fragen stellte, würde sie auch selbst welche beantworten müssen, was sie jedoch ganz und gar nicht wollte. Jegliches Interesse an ihrer Vergangenheit, das über das Allernötigste hinausging, war um jeden Preis zu vermeiden.
Aus zahlreichen Gründen.
An dem Nachmittag, an dem Celine an Bord der Aramis gegangen war, hatte sie unwillkürlich bemerkt, dass alle Mädchen auf dem Schiff hellhäutig waren und so gut wie kein fremdes Blut in sich trugen. Antonia – die junge Frau aus Portugal – neigte dazu, in der Sonne rasch braun zu werden, doch selbst sie hatte den Großteil der Reise unter Deck verbracht, um jeglichen Anflug von Farbe zu vermeiden.
Wenn sie wüssten, woher Celines Mutter stammte. Wenn sie auch nur eine Ahnung hätten, dass kein rein angelsächsisches Blut in ihren Adern floss …
Das war ein Geheimnis, das sie und ihr Vater vom ersten Augenblick an, an dem sie vor dreizehn Jahren in Paris eingetroffen waren und Celine knapp vier Jahre alt gewesen war, für sich behalten hatten. Zwar war Frankreich nicht derart berüchtigt für die Rassentrennung wie Amerika in den letzten Jahren, aber es schwangen dennoch stets gewisse unterschwellige Spannungen mit. Dabei wurde einem oftmals vermittelt, wie ungehörig eine Vermischung doch sei. Dies schien auf der ganzen Welt der Fall zu sein. In Gebieten außerhalb von New Orleans gab es sogar Gesetze, die verboten, dass sich Menschen unterschiedlicher Hautfarbe im selben Raum aufhielten.
Celines Mutter kam aus dem Orient. Nach seiner Zeit in Oxford war ihr Vater seiner Sprachleidenschaft gefolgt und in exotische Gefilde gereist. Er hatte Celines Mutter in einem kleinen Dorf an der Südküste einer felsigen Insel kennengelernt. Den genauen Ort hatte Celine nie erfahren, obwohl sie als Kind oftmals nachfragte, jedoch stets abgewiesen wurde.
»Es ist völlig ohne Bedeutung, wer du gewesen bist«, hatte ihr Vater argumentiert. »Es zählt nur, wer du heute bist.«
Damals wie heute war ihr diese Aussage richtig vorgekommen.
Demzufolge wusste Celine auch nur sehr wenig über ihre Mutter. Die Erinnerungen, die sie an ihre ersten Lebensjahre in einer fernen Küstenregion hatte, waren flüchtig. Hin und wieder flatterten sie durch ihre Gedanken, blieben jedoch unklar. Ihre Mutter war eine Frau, die nach Färberdistelöl roch, sie jeden Abend mit Obst fütterte und ihr Lieder vorsang. Doch mehr war nicht hängen geblieben.
Sah man jedoch genauer hin und studierte Celines Züge mit geübtem Blick, bemerkte man die leicht nach oben gerichteten Augenwinkel. Ihre hohen Wangenknochen und die dicken dunklen Haarsträhnen. Die Haut, die im Winter hell blieb, sich in der Sommersonne jedoch leicht bräunte.
»Dein Name ist Marceline Béatrice Rousseau«, sagte ihr Vater immer ernst, wenn sie nach ihrer Mutter fragte. »Das ist alles, was andere über dich wissen müssen.«
Celine hatte sich das zum Motto erkoren, nach dem sie zu leben gedachte. Es war unwichtig, dass die Hälfte der Seiten in diesem Buch leer war. Das zählte kein bisschen.
»Ist das zu verkaufen, Mademoiselle?«, fragte eine junge Frau laut, als würde sie eine Schwachsinnige ansprechen. Ihre hellbraunen Augen huschten über die von Celine bestickten Taschentücher.
Celine war derart erschrocken, dass sie brüsk antwortete und ihr die Worte über die Lippen kamen, bevor sie es verhindern konnte. »Das will ich doch hoffen, denn sonst würde ich mich verdammt noch mal fragen, was ich während der letzten drei Stunden hier getrieben habe.«
Zu ihrer Linken hörte sie Anabel aufkeuchen, und Pippa konnte sich nur mit Mühe ein Kichern verkneifen. Celine verzog das Gesicht und versuchte sich an einem Lächeln, während sie den Kopf in den Nacken legte, nur um vom Sonnenlicht geblendet zu werden.
Die junge Frau, die auf der anderen Seite des klapprigen Tischs saß, schien von Celines Unhöflichkeit nicht abgeschreckt zu werden und grinste auf sie herab. Celine spürte ein leichtes Unbehagen, als sie die junge Dame vor sich gründlicher in Augenschein nahm.
Sie sah schlicht umwerfend aus. Ihre Gesichtszüge glichen denen einer Puppe, und sie reckte den Kopf mit den brünetten Haaren stolz in die Luft. Mit honigfarbenen Augen musterte sie Celine gelassen. An ihrer Kehle prangte – an einem Schultertuch aus Valenciennes-Spitze – eine wunderschöne, mit Rubinen besetzte Elfenbeinkamee. Auf ihrer Schulter lag ein Sonnenschirm mit einem Saum aus Saatperlen, dessen Rosenholzgriff mit der Schnitzerei einer Lilie im Maul eines brüllenden Löwen verziert war. Diese passte sehr gut zum Mieder des Mädchens, das im Baskenstil gehalten war, wenngleich das Ensemble nicht mehr ganz der aktuellen Mode entsprach.
Sie ließ die Finger, die in zarten Seidenhandschuhen steckten, über den bestickten Rand eines Taschentuchs gleiten. »Das ist eine sehr schöne Arbeit.«
»Vielen Dank.« Celine neigte den Kopf.
»Sie erinnert mich an etwas, das ich bei meinem letzten Besuch in Paris gesehen habe.«
Es war unmöglich, die Aufregung zu übersehen, die sich in Pippas Gesicht widerspiegelte. »Celine hat dort bei einer der besten Modeschöpferinnen gelernt.«
Celine presste die Lippen aufeinander und verfluchte ihren Stolz. Dieses Detail hätte sie Pippa nie anvertrauen dürfen.
»Bei welcher?« Das Mädchen sah Celine fragend an.
»Bei Worth«, flunkerte Celine.
»An der Rue de la Paix?«
Celine schluckte schwer und nickte dann. Der Drang, einfach wegzulaufen, wurde beinahe übermächtig, dabei hatte sie noch nicht einmal etwas von Bedeutung verraten. Nichts, was sie mit den Ereignissen jener verhängnisvollen Nacht im Atelier in Verbindung bringen konnte.
»Ist dem so?«, meinte das Mädchen, dessen zarte Züge überzeugt wirkten. »Ich nehme sie alle.« Sie fuhr mit der Hand über die ausgebreiteten Taschentücher, als würde sie einen Zauber wirken.
»Alle?« Anabel riss die Augen auf, und die Enden ihres gelben Bands flatterten in der starken Brise. »Nicht, dass ich Sie davon abbringen möchte … Das Rad der Zeit hält keine Frau auf, wie man so schön sagt.«
Während Anabel die Taschentücher einsammelte und zählte, beäugte Celine das Mädchen vor ihnen und staunte über diese plötzliche Wendung. Etwas an der jungen Frau beunruhigte Celine. Es glich einer Erinnerung, die sie nicht zu fassen bekam. Ein Wort, das mitten im Satz entfleuchte. Ein Gedanke, der sich unverhofft auflöste. Die junge Frau ließ sich von Celine anstarren, und ihr Grinsen wurde mit jeder Sekunde breiter.
»Wenn Sie bei einer Modeschöpferin gelernt haben, können Sie dann auch Kleider entwerfen?«, wollte sie wissen.
Erneut nickte Celine. »Mais oui, bien sûr.«
»Merveilleux!« Die junge Frau beugte sich ein wenig vor, und ihre Augen glitzerten wie Chalzedon. »Ich bin mit meiner momentanen Modistin nicht zufrieden und benötige dringend ein Kostüm für den Maskenball zu Mardi Gras im nächsten Monat. Der russische Großherzog wird dieses Jahr als Ehrengast zugegen sein, und ich möchte zu dieser Gelegenheit etwas tragen, das im Gedächtnis bleiben wird. Etwas strahlend Weißes, das an den französischen Hof vor der Revolution erinnert, schwebt mir vor.« Sie rümpfte die Nase, als wäre sie drauf und dran, ein delikates Geheimnis auszuplaudern. »Denn trotz dieser Albernheiten wie dem Jagen von Schweinen und dem Parfüm bin ich der Ansicht, dass dies eine der Glanzzeiten der jüngsten Geschichte hinsichtlich der Damenmode darstellt, insbesondere was die Reifröcke angeht.« Sie trommelte mit den Fingern auf dem Rand des Holztisches herum und legte den Kopf nachdenklich schief. »Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie zuerst meine Maße nehmen müssen?«
Erneut kam Celine eine kecke Antwort über die Lippen. »Ja, Mademoiselle. Das wäre ratsam.«
Die Augen der jungen Frau funkelten, als könnte sie Celines Gedanken lesen. »Sie sind wirklich herrlich. Wie Bastien in einem Kleid.« Sie lachte leise. »Dieser freche Teufel.«
Celine runzelte verwirrt die Stirn. Wollte die junge Frau sie beleidigen, oder machte sie ihr ein Kompliment?
»En tu cas …«, fuhr ihr Gegenüber fort und wedelte mit der freien Hand durch die Luft, als müsste sie Rauch vertreiben. »Wäre es möglich, dass wir uns heute Abend treffen?«
Die Frage brachte Celine ins Grübeln. Am Tag nach ihrer Ankunft am Hafen hatte die Mutter Oberin ihnen davon abgeraten, abends allein durch die Stadt zu streifen, insbesondere während der Karnevalssaison. Sie hatte zu ihnen gesprochen, als ob sie alle törichte kleine Lämmchen wären und als ob das Vieux Carré einem Jagdgebiet für Wölfe glich. Zudem musste Celine auch an den brutalen Mord denken, der sich vor Kurzem ganz in der Nähe am Pier ereignet hatte.
Angesichts dieser Fakten war es höchst unwahrscheinlich, dass die Mutter Oberin Celine ein abendliches Treffen gestatten würde.
Mit dieser Erkenntnis überkam sie auch eine plötzliche Enttäuschung. Auch wenn sich Celine in der Gegenwart dieses forschen, seltsam gekleideten Mädchens nicht ganz wohlfühlte, war sie nichtsdestotrotz … fasziniert und fühlte sich ein wenig zu Leichtsinn angestachelt.
Als das Mädchen Celines Zögern spürte, schürzte es enttäuscht die Lippen. »Selbstverständlich würde ich Sie gut bezahlen.«
Daran zweifelte Celine nicht. Allein die Elfenbeinkamee war ein Vermögen wert. Doch hierbei ging es nicht um das Geld, sondern darum, das Richtige zu tun. Sie war sich diese zweite Chance schuldig, und es wäre höchst unklug, die Mutter Oberin zu verärgern.
»Es tut mir schrecklich leid, Mademoiselle.« Celine schüttelte den Kopf. »Das wird leider nicht möglich sein. Die Mutter Oberin wird es nicht erlauben.«
»Verstehe.« Ein tiefer Seufzer entrang sich der Kehle des Mädchens. »So macht Bewusstsein Feige aus uns allen.«
»Pardon?« Celine riss die Augen auf. »Haben Sie eben … Shakespeare zitiert?«
Und noch dazu Hamlet.
»Den Unvergleichlichen.« Das Mädchen grinste. »Aber nun muss ich bedauerlicherweise weiter. Besteht die Möglichkeit, dass Sie Ihre Meinung noch ändern? Sie müssen mir nur Ihren Preis nennen.«
Celine konnte nicht anders, als sich über diese Situation zu amüsieren. Noch vor wenigen Stunden hatte sie frech vorgeschlagen, es wäre besser, das Geld im Mondlicht zu verdienen, und nun bekam sie das Angebot, genau das zu tun. Noch dazu eins, bei dem keine Grenzen gesetzt waren.
In diesem Augenblick, als sie diesem seltsamen Mädchen lauschte, wie es Shakespeare zitierte und ihr verlockende Möglichkeiten bot, merkte Celine, dass sie dieses Treffen wollte. Unbedingt. Zum ersten Mal seit einiger Zeit spürte sie diesen besonderen Funken der Vorfreude in sich. Sie wollte etwas erschaffen und ein Teil der Welt sein, statt stets nur zu beobachten. Schon jetzt malte sie sich aus, wie sie die breiten Reifröcke im Barockstil umsetzen konnte. Sie würde ein Manteau mit herabhängenden Pagodenärmeln entwerfen. Nun beruhte ihr Zögern eher darauf, dass sie verzweifelt versuchte, an ihren Überzeugungen festzuhalten. Gehorchen. Ein Musterbeispiel an Bescheidenheit sein. Sich Gottes Vergebung in gewissem Maße verdienen.
»Wenn Geld Sie nicht locken kann …« Das Mädchen kam noch näher, und ein Hauch von Neroliöl und Rosenwasser stieg ihr in die Nase. »Dann kann ich Ihnen ein Abenteuer versprechen … Eine Reise durch eine Löwengrube.«
Ja, das war es.
Es machte fast den Anschein, als hätte das Mädchen ein Fenster entdeckt, durch das es in die finstere Ecke von Celines Herz zu blicken vermochte.
»Es wäre mir ein Vergnügen, ein Kleid für Sie zu entwerfen, Mademoiselle«, sagte Celine. Sobald ihr die Worte über die Lippen gekommen waren, schlug ihr Herz schneller.
»Das ist ja großartig.« Strahlend zückte das Mädchen eine eierschalenfarbene Karte mit goldener Kalligrafie in der Mitte. Darauf stand:
Jaques’
Darunter eine Adresse im Herzen des Vieux Carré, nicht weit vom Konvent entfernt.
»Kommen Sie heute Abend gegen acht Uhr«, fuhr die junge Frau fort. »Ignorieren Sie die Warteschlange vor der Tür einfach. Wenn ein prächtiger Mann mit einer sündhaften Stimme und einem Ring im rechten Ohr von Ihnen wissen will, was Sie dort zu suchen haben, dann verlangen Sie, tout de suite zu Odette gebracht zu werden.« Sie griff nach Celines Hand. Durch den Spitzenhandschuh fühlte sich ihre Haut kühl an. Beruhigend. Das Mädchen riss kurz die Augen auf, und ihr zuerst zaghafter Griff wurde fester. Sie legte den Kopf leicht schief, und ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen. »Es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen, Celine«, erklärte sie herzlich.
»Mich ebenfalls … Odette.«
Mit einem letzten kecken Grinsen schlenderte das Mädchen namens Odette von dannen, und der Saum ihres Kleides glitt hinter ihr über den Boden. Kaum war sie fort, drehte sich Anabel zu Celine um. »Ich bin vermutlich die Letzte, die dir einen Vortrag über Fehler halten sollte, Celine, aber ich weiß wirklich nicht, was über dich gekommen ist, dass du zustimmst, dich heute Abend mit dieser Odette zu treffen. Hast du den Verstand verloren? Wir dürfen den Konvent nach dem Abendessen nicht mehr verlassen. Die Mutter Oberin hat es ausdrücklich verboten. Sie sagte, was im Viertel nach Sonnenuntergang geschieht …«
»Fördert das zügellose Verhalten, das unter ihrem Dach nicht toleriert wird«, beendete Celine den Satz leise. »Ich weiß, ich war dabei.«
»Du musst nicht gleich gereizt reagieren.« Anabel pustete sich eine rote Locke aus dem Gesicht. »Ich mache mir bloß Sorgen wegen dem, was passieren wird, wenn man dich erwischt.«
»Ich dachte, du wärst den Stumpfsinn leid?«, neckte Pippa sie.
Celine schenkte ihrer Freundin ein Lächeln und war dankbar, dass sie versuchte, die Anspannung zu vertreiben. »Und möchtest einen strammen jungen Gentleman kennenlernen.«
»Für mich müsste er nicht einmal jung sein«, warf Pippa ein.
»Oder ein Gentleman«, fügte Celine hinzu.
»Autsch, ihr seid schrecklich.« Anabel lief rot an und schlug das Kreuz. »Das reicht ja fast schon, um mich in die Kirche zu treiben.«
Celine setzte eine Unschuldsmiene auf und zog die schwarzen Augenbrauen hoch. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was du meinst.«
»Jetzt spiel hier nicht die Henne, die noch kein Ei gelegt hat. Nicht bei mir, Mademoiselle Rousseau.« Ihr Blick fiel auf Celines Brust. »Und gewiss nicht mit diesem Busen.«
»Was?« Celine starrte sie blinzelnd ah.
»Spiel nicht die Unschuldige«, übersetzte Pippa lachend.
»Was hat das denn mit meinem … Busen zu tun?«
Pippa biss sich auf die Lippe. »Das war doch nur Spaß, Liebes. Du musst doch selbst wissen, dass du eine wundervolle Figur hast.« Sie tätschelte Celines Hand wie bei einem Kind. Das ging Celine auf die Nerven. »Nimm dir das nicht zu Herzen. Dir wurde eine Gabe zuteil.«
Eine Gabe?
Sie hielten ihre Figur für eine Gabe? Diese Aussage war derart lächerlich, dass Celine beinahe laut losgelacht hätte. Früher einmal hatte sie die Schönheit und Widerstandskraft ihres Körpers geschätzt, doch das war längst vorbei. Nun hätte sie alles dafür gegeben, so geschmeidig und schlank wie Anabel zu sein. Diese »Gabe«, die die beiden nun derart entzückte, hatte Celine nichts als Ärger eingebracht.
Und deswegen war sie auch alles andere als unschuldig.
Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Es breitete sich heiß und schnell auf ihrer Haut aus, als könnten diese beiden Mädchen – selbst wenn es nur Spaß war – die Wahrheit erkennen, die Celine jeden Tag ihres Lebens zu verbergen versuchte. Blut sickerte durch ihr Blickfeld, sie hatte den Geruch von warmem Kupfer in der Nase, und um sie herum schien es dunkler zu werden.
Doch das war absurd. Woher sollten Pippa und Anabel wissen, was sie getan hatte? Aus welchem Grund sie fünf Wochen zuvor aus ihrem Zuhause geflohen war? Celine versuchte, die Fassung wiederzugewinnen.
Nein, das war nicht möglich. Keiner konnte das wissen. Nicht, solange sie selbst nichts ausplauderte.
Dein Name ist Marceline Béatrice Rousseau. Das ist alles, was andere über dich wissen müssen.
»Ich würde nie die Unschuldige spielen, meine Damen.« Celine lächelte und zwinkerte den anderen munter zu. »Das passt einfach nicht zu mir.«
Anabel verriet Celine beim Abendessen, keine Stunde nach ihrer Rückkehr in den Konvent.
Im null Komma nichts hatte die Mutter Oberin dem redseligen Mädchen die Wahrheit entlockt. Kaum hatte Anabel den versammelten jungen Frauen erzählt, dass Celines bestickte Taschentücher von einer jungen Frau auf einen Schlag und zum vollen Preis erworben worden waren, wollte die Nonne mit den Adleraugen – und dem perfekt gebügelten Ordenskleid – auch schon genauere Einzelheiten wissen.
Daraufhin entpuppte sich Anabel als furchtbare Lügnerin. Nach all den Geschichten, die Celine über die Schotten gehört hatte, war sie schrecklich enttäuscht, auf die einzige Highlanderin gestoßen zu sein, die nicht zur Lüge imstande war.
Nun sah sich Celine gezwungen, sich mit dem Innenleben des Dienstzimmers der Mutter Oberin vertraut zu machen, während ihr Abendessen, ein geschmackloser Eintopf, auf dem Küchentisch stand und kalt wurde. Sie schaute sich gelangweilt um und zermarterte sich das Gehirn nach einer glaubhaften Lüge, mit der sie sich die Erlaubnis einholen konnte, nach Anbruch der Nacht noch in der Stadt herumzulaufen.
Es war alles so dramatisch. So unnötig.
Wieso wollte jeder, dem Celine begegnete, ihr vorschreiben, wie sie ihr Leben zu führen hatte?
Pippa saß schuldbewusst schweigend in der Nähe und rang die Hände wie eine Figur aus einer Schauergeschichte. Celine atmete tief ein und war sich bewusst, dass sie nicht darauf hoffen durfte, Philippa Montrose in etwas auch nur ansatzweise Niederträchtiges mit hineinziehen zu können. Dafür war Pippa einfach zu gut. Es war eine allgemein anerkannte Wahrheit bei all jenen, die im Konvent lebten, die Nonnen eingeschlossen: Pippa Montrose war vertrauenswürdig und gehorsam. Ganz anders als die impulsive Celine Rousseau.
Warum hatte man Pippa überhaupt hierher zitiert? Ihr konnte man nun wirklich nichts vorwerfen. War ihre Anwesenheit nur dazu gedacht, Celines Fehlverhalten in einem noch schlechteren Licht dastehen zu lassen? Oder sollte Pippa eingeschüchtert werden, damit sie Celine ebenfalls verriet?
Bei diesem Gedanken umwölkte sich ihre Miene. Celine ließ den Blick durch den Raum schweifen. Auf einer Seite der Wand hing ein großes Holzkreuz, das von einer der ältesten spanischen Familien von New Orleans gespendet worden war und aus einer Zeit stammte, in der die Franzosen in der Hafenstadt noch nicht die Vorherrschaft gehabt hatten. Jenseits der halb geschlossenen Fensterläden war ein Streifen schwindenden Sonnenlichts zu sehen, der die äußeren Bereiche des Ursulinenkonvents erhellte.
Wenn sich die Fenster doch nur ganz öffnen ließen, sodass man den Hafen sehen konnte. Vielleicht würde das diese fahlen Räume mit den schiefen Fußböden mit etwas Leben erfüllen. An ihrem zweiten Tag hier hatte Celine genau das versucht, nur um zehn Minuten später gescholten zu werden; die Fenster des getünchten Konvents waren stets verschlossen, um die klosterhafte Atmosphäre zu bewahren.
Als ob sich diese dadurch nennenswert verändern würde.
Die Tür wurde geöffnet und schabte über den Boden. Pippa setzte sich in dem Moment aufrecht hin, in dem Celine die Schultern hängen ließ.
Noch bevor die Mutter Oberin über die Schwelle getreten war, machte sich ihre Anwesenheit bereits dank der Wolle ihres schwarzen Ornats bemerkbar, die nach Lanolin und der medizinischen Salbe roch, die sie jeden Abend für ihre spröden Hände benutzte.
Die Kombination entsprach in etwa einem nassen Hund im Heuhaufen.
Während die Tür zufiel, wurden die Falten um den Mund der Mutter Oberin tiefer. Sie verharrte kurz und blickte dann ernst auf die beiden jungen Frauen hinab. Der offensichtliche Versuch, ein unheilvolles Gefühl heraufzubeschwören, wie es die einstigen Tyrannen getan hatten.
Auch wenn es völlig unangebracht war, drohte ein Lächeln auf Celines Gesicht zu erscheinen. Alles an dieser Situation war absurd. Vor nicht einmal fünf Wochen war Celine noch bei einer der anspruchsvollsten Modeschöpferinnen von Paris in die Lehre gegangen, einer Frau, deren regelmäßige Wutausbrüche die Kristalle in ihren Kronleuchtern erbeben ließen. Einer wahren Unterdrückerin, die Celines Werke regelmäßig in Stücke riss, noch dazu vor ihren Augen, wenn auch nur ein einziger Stich nicht richtig saß.
Und diese tyrannische Nonne mit den aufgesprungenen Händen bildete sich ein, sie könnte Angst hervorrufen?
Verdammt unwahrscheinlich, wie sich Pippa ausgedrückt hätte.
Ein Glucksen drang aus Celines Mund. Pippa stieß als Reaktion darauf ihren Stuhl an.
Was war der Grund dafür, dass die Mutter Oberin derart angegriffene Hände hatte? Möglicherweise übte sie in den Tiefen ihrer Zelle insgeheim irgendein Handwerk aus. Vielleicht malte sie oder betätigte sich als Bildhauerin. Oder war sie etwa heimlich des Nachts Schriftstellerin? Besser noch, schrieb sie gar gänzlich in Nebenbemerkungen oder versah alles mit einer Doppelbedeutung so wie Malvolio in Was ihr wollt?
So wahr ich lebe, das ist meines Fräuleins Hand. Dies sind grade ihre C’s, ihre U’s und ihre T’s, und so macht sie ihre grossen P’s.
Celine räusperte sich. Die Mutter Oberin runzelte verärgert die Stirn.
Die Vorstellung, diese Nonne in ihrem gestärkten Ornat könnte etwas Ungebührliches von sich geben, zwang Celine dazu, den Blick starr auf den polierten Steinfußboden zu richten, um nur ja nicht in Lachen auszubrechen. Pippa stieß sie abermals an, diesmal mit etwas mehr Kraft. Obwohl ihre Freundin nichts sagte, konnte Celine deutlich erkennen, dass Pippa an dieser Situation rein gar nichts lustig fand.
Womit sie ja auch recht hatte. Das Verärgern der Matrone dieses Konvents sollte auch nicht im Geringsten witzig sein. Diese Frau hatte ihnen eine Unterkunft und Arbeit gegeben. Die Chance, in der Neuen Welt ihr Glück zu finden.
Nur eine undankbare Unruhestifterin würde das anders sehen; ein Mädchen wie Celine.
Durch diese Gedanken ernüchtert kaute Celine auf der Innenseite ihrer Wange herum. Es wurde wärmer im Raum, und ihr Mieder zog sich zusammen.
»Ich erwarte von Ihnen eine Erklärung, Mademoiselle Rousseau«, setzte die Mutter Oberin mit einer Stimme an, die gleichzeitig blechern und harsch klang.