The Damned - Renée Ahdieh - E-Book
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The Damned E-Book

Renée Ahdieh

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Beschreibung

Die Unterwelt von New Orleans ist in Aufruhr: Ein uraltes Abkommen wurde gebrochen, ein Krieg zwischen Vampiren und Werwölfen scheint unvermeidlich. Sébastien muss seinen Platz unter den Vampiren finden, und Celine hat ihr Gedächtnis verloren und kann sich nicht mehr an ihre Liebe zu ihm erinnern. In den Schatten regen sich zudem unbekannte Mächte, die geduldig nur auf diesen Moment gewartet haben, um ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Celine und Sébastien ahnen nicht, in welcher Gefahr sie schweben – und dass ihre Liebe genau das sein könnte, das sie für immer trennen wird … ***Der zweite Band der »Hof der Löwen«-Reihe*** Band 1: The Beautiful. Tödliche Dämmerung Band 2: The Damned. Jäger und Gejagte

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Das Zitat am Buchanfang stammt aus Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen, Georg Müller Verlag, München 1925. Das Gedicht übersetzte Terese Robinson.

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Wolfgang Thon

© Renée Ahdieh 2020

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»The Damned«, G. P. Putnam’s Sons Books for Young Readers, New York 2020

Published in agreement with the author, c/o Baror International, Inc., Armonk, New York, USA

© Piper Verlag GmbH, München 2022

Karte: Jessica Khoury

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Guter Punkt, München, nach einem Entwurf von Theresa Evangelista

Coverabbildung: Meg Cowell / Trevillion Images und Shutterstock.com

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Karte

Zitat 1

Zitat 2

ERWACHEN

BASTIEN

ODETTE

BASTIEN

BASTIEN

ÉMILIE

ODETTE

JAE

BASTIEN

BASTIEN

CELINE

BASTIEN

ÉMILIE

BASTIEN

CELINE

I

JAE

CELINE

BASTIEN

BASTIEN

BASTIEN

CELINE

CELINE

PIPPA

BASTIEN

BASTIEN

CELINE

BASTIEN

JAE

BASTIEN

CELINE

CELINE

BASTIEN

BASTIEN

ARJUN

BASTIEN

CELINE

DIE HERRIN DES TALS

BASTIEN

MICHAEL

II

ÉMILIE

MICHAEL

BASTIEN

BASTIEN

EPILOG

Danksagungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

All jenen gewidmet, die sich Neuen Welten stellten,

auf der Suche nach mehr

Und für Victor, immer

Every Night and every Morn

Some to Misery are born.

Every Morn and every Night

Some are born to Sweet Delight,

Some are born to Endless Night.

Aus »Songs of Experience« von William Blake

Comme au jeu le jouer têtu,

comme à la bouteille l’ivrogne,

comme aux vermines la charogne

– Maudite, maudite sois-tu!

Wie der Spieler seiner tollen Sucht,

Wie der Trinker der Begierde Krallen,

Wie der Leichnam ist dem Wurm verfallen,

So verfiel ich dir, oh sei verflucht!

Aus »Le Vampire« von Charles Baudelaire

ERWACHEN

Zuerst ist da nichts. Nur Stille. Ein Meer des Vergessens.

Dann nehmen Erinnerungsblitze Gestalt an. Fetzen von Geräuschen. Das Lachen eines geliebten Menschen, das Zischen von Kiefernharz in einer Feuerstelle, der Duft von schmelzender Butter auf frischem Brot.

Aus dem Chaos schält sich ein Bild heraus, das mit jeder Sekunde schärfer wird. Eine weinende junge Frau – Augen wie Smaragde, Haar schwarz wie Tinte – beugt sich über ihn, umklammert seine blutverschmierte Hand und fleht ihn mit gedämpfter Stimme an.

Wer bin ich?, fragt er sich.

Düstere Belustigung durchfährt ihn. Er ist nichts. Keiner. Niemand.

Der Geruch von Blut steigt ihm in die Nase, berauschend süß. Wie der einer Papaya an einem Obststand in San Juan. Ihr Saft tropft von seinen Hemdsärmeln herab.

Er wird hungrig. Es ist nicht die Art Hunger, die er kannte, sondern eine alles verzehrende Leere. Ein dumpfer Schmerz um sein totes Herz, explodierende Blutgier, die durch seine Adern schießt. Sie zerfetzt seinen Magen wie die Krallen eines Raubvogels. Wut flammt in seiner Brust auf. Das Verlangen, zu suchen und zu zerstören. Leben zu verschlingen. Soll sich die Leere in ihm füllen! Wo einst ein Meer des Vergessens war, leuchtet jetzt eine rot bemalte Leinwand, deren Farbe wie Regen auf seine Füße tropft und seine Welt in Brand setzt.

Meine Stadt. Meine Familie. Meine Liebe.

Wer bin ich?

Aus den Flammen seiner Wut erhebt sich ein Name.

Bastien. Mein Name ist Sébastien Saint Germain.

BASTIEN

Ich liege regungslos da, mein Körper ist schwerelos. Unbeweglich. Es fühlt sich an, als wäre ich in einem stockdunklen Raum eingesperrt, unfähig zu sprechen, während ich am Rauch meiner eigenen Dummheit ersticke.

Mein Onkel hat das einmal mit mir gemacht, als ich neun war. Mein bester Freund Michael und ich hatten eine Kiste Zigarren gestohlen, die von einer älteren Dame aus Havanna, die an der Ecke Burgundy und Saint Louis arbeitete, handgedreht worden waren. Als Onkel Nico uns dabei erwischte, wie wir sie in der Gasse hinter dem Jacques’ rauchten, schickte er Michael nach Hause. Seine Stimme war tonlos und unheilverkündend.

Dann sperrte mich mein Onkel mit der Zigarrenkiste und einer Dose Streichhölzer in einen Flurschrank. Er sagte mir, ich dürfe nicht gehen, bevor ich nicht sämtliche Zigarren aufgeraucht hätte.

Das war das letzte Mal, dass ich jemals eine Zigarre geraucht habe.

Ich brauchte Wochen, um Onkel Nico zu verzeihen. Jahre, um den Geruch von brennendem Tabak in meiner Nähe zu ertragen. Und ein halbes Leben, um zu verstehen, warum er es für notwendig hielt, mir diese besondere Lektion zu erteilen.

Ich versuche, die gallig-bittere Erinnerung herunterzuschlucken. Es gelingt mir nicht.

Ich weiß, was Nicodemus getan hat. Auch wenn die Erinnerung immer noch undeutlich ist, vernebelt durch die Schwäche meines sterbenden Körpers, weiß ich doch, dass er mich in einen von ihnen verwandelt hat. Ich bin jetzt ein Vampir, wie schon mein Onkel vor mir. Wie meine Mutter vor mir, die sich freiwillig dem endgültigen Tod stellte, mit rot gefärbten Lippen und einem leblosen Körper in ihren Armen.

Ich bin ein seelenloser Sohn des Todes, der dazu verflucht ist, bis zum Ende der Zeiten das Blut der Lebenden zu trinken.

Das klingt selbst für mich, einen Jungen, der mit der Wahrheit über Monster aufgewachsen ist, lächerlich. Wie ein Witz, den eine unkomische Tante mit einem Hang zum Melodramatischen erzählte. Eine Frau, die sich an ihrem Diamantarmband verletzt und jammert, als Blutstropfen auf ihre seidenen Röcke tropfen.

Mit einem Schlag bin ich wieder hungrig. Mit jedem stechenden Schmerz werde ich weniger menschlich. Ich bin weniger das, was ich einst war, und mehr von dem, was ich für immer sein werde. Ein Dämon der Begierde, der sich schlicht nach mehr sehnt und dessen Gier nie gestillt werden kann.

Weißglühende Wut jagt dem Blutrausch hinterher und zündet wie eine Salpeterspur aus einem Pulverfass. Ich verstehe, warum Onkel Nico es getan hat, auch wenn es viele Leben dauern wird, bis ich ihm verzeihen kann. Nur die schlimmsten Umstände würden ihn dazu treiben, das letzte lebende Mitglied seiner sterblichen Familie – den einzigen Erben des Saint-Germain-Vermögens – in einen Dämon der Anderswelt zu verwandeln.

Seine Linie ist mit mir gestorben, mein menschliches Leben hat ein allzu plötzliches Ende gefunden. Diese Entscheidung muss der letzte Ausweg sein. Eine Stimme erklingt in meinem Kopf. Eine weibliche Stimme, mit bebendem Widerhall.

Bitte! Rette ihn. Was muss ich sagen, damit du ihn rettest? Haben wir eine Abmachung?

Als mir klar wird, wer es ist, was sie getan haben muss, heule ich stumm, ein Heulen, das in der Leere meiner verlorenen Seele widerhallt. Daran kann ich jetzt nicht denken.

Mein Versagen will das nicht zulassen.

Es genügt zu wissen, dass ich, Sébastien Saint Germain, achtzehnjähriger Sohn eines Bettlers und einer Diebin, in ein Mitglied der Gefallenen verwandelt worden bin. Eine Rasse von Blutsaugern, die durch ihre eigene Gier von ihrem rechtmäßigen Platz in der Anderswelt verbannt wurden. Kreaturen der Nacht, die in einen jahrhundertelangen Krieg mit ihrem Erzfeind, der Bruderschaft der Werwölfe, verwickelt sind.

Ich versuche zu sprechen, aber es gelingt mir nicht, meine Kehle ist wie zugeschnürt. Meine Augenlider sind geschlossen. Immerhin ist der Tod ein mächtiger Feind, den es erst einmal zu besiegen gilt.

Feine Seide raschelt an meinem Ohr, eine duftende Brise weht durch die Luft. Neroliöl und Rosenwasser. Das unverwechselbare Parfüm von Odette Valmont, einer meiner besten Freundinnen. Fast zehn Jahre lang war sie meine Beschützerin im Leben. Jetzt ist sie meine Schwester im Blut. Ein Vampir, gezeugt von demselben Schöpfer.

Mein rechter Daumen zuckt als Reaktion auf ihre Nähe. Noch immer kann ich nicht sprechen oder mich frei bewegen. Noch immer bin ich in einem dunklen Raum eingesperrt, mit nichts als einer Zigarrenkiste und einer Dose Streichhölzer. Angst fließt durch meine Adern, Hunger kribbelt auf meiner Zunge.

Ein Seufzer entweicht Odettes Lippen. »Er wacht langsam auf.« Sie hält inne, Mitleid schwingt in ihrer Stimme mit. »Er wird wütend sein.«

Wie immer hat Odette nicht unrecht. Aber es gibt einen Trost in meiner Wut. Es bedeutet Freiheit, dass ich bald von meiner Wut befreit werden kann.

»Was er auch sein sollte«, sagt mein Onkel. »Das ist das Selbstsüchtigste, was ich je getan habe. Wenn er die Verwandlung überlebt, wird er mich hassen … genau wie Nigel es tat.«

Nigel. Allein der Name erregt meinen Zorn. Nigel Fitzroy, der Grund für mein vorzeitiges Ableben. Er hat mich zusammen mit Odette und vier weiteren Mitgliedern der Vampir-Nachkommen meines Onkels vor den Feinden von Nicodemus Saint Germain beschützt, vor allem vor denen der Bruderschaft. Jahrelang wartete Nigel auf den richtigen Zeitpunkt. Er feilte an seinem Plan, sich an dem Vampir zu rächen, der ihn aus seinem Zuhause gerissen und zu einem Dämon der Nacht gemacht hatte. Unter dem Deckmantel der Loyalität setzte Nigel eine Reihe von Ereignissen in Gang, die darauf abzielten, das zu zerstören, was Nicodemus am meisten schätzte: sein lebendiges Vermächtnis.

Ich bin früher schon betrogen worden, so wie ich andere betrogen habe. Das ist der Lauf der Dinge, wenn man unter kapriziösen Unsterblichen und den vielen Illusionisten lebt, die wie Fliegen in der Nähe kreisten. Noch vor zwei Jahren bestand meine Lieblingsbeschäftigung darin, die berüchtigtsten Hexenmeister von Crescent City um ihre unrechtmäßig erworbenen Gewinne zu bringen. Die schlimmsten von ihnen waren sich immer so sicher, dass ein Sterblicher sie niemals übertreffen könnte. Es bereitete mir großes Vergnügen, ihnen das Gegenteil zu beweisen.

Aber ich habe meine Familie nie verraten. Und ich war noch nie von einem Vampir verraten worden, der geschworen hatte, mich zu beschützen. Von jemandem, den ich wie einen Bruder liebte. Erinnerungen schwirren durch meinen Kopf. Bilder von Lachen und einem Jahrzehnt der Loyalität. Ich möchte schreien und fluchen. Zum Himmel schreien, wie ein besessener Dämon.

Doch ich weiß, wie wenig Aufmerksamkeit Gott den Gebeten der Verdammten schenkt.

»Ich werde die anderen rufen«, murmelt Odette. »Wenn er aufwacht, sollte er uns alle vereint sehen.«

»Lass sie in Ruhe«, antwortet Nicodemus, »wir haben das Ärgste noch nicht hinter uns.« Zum ersten Mal spüre ich einen Hauch von Verzweiflung in seinen Worten, der sich jedoch beinahe augenblicklich auflöst. »Mehr als ein Drittel meiner unsterblichen Kinder hat die Verwandlung nicht überlebt. Viele gingen im ersten Jahr durch die Dummheit der unsterblichen Jugend verloren. Dies hier … könnte vielleicht ebenfalls nicht funktionieren.«

»Es wird funktionieren«, widerspricht Odette, ohne zu zögern.

»Sébastien könnte dem Wahnsinn erliegen, wie seine Mutter«, wendet Nicodemus ein. »In ihrem Bestreben, zurückverwandelt zu werden, hat Philomène alles zerstört, was sich ihr in den Weg stellte, bis uns nichts mehr übrig blieb, als ihrem Terror ein Ende zu setzen.«

»Das ist nicht Bastiens Schicksal.«

»Sei nicht töricht. Es könnte sehr wohl so sein.«

Odette antwortet kühl. »Ein Risiko, das Sie eingegangen sind.«

»Aber es bleibt trotzdem ein Risiko. Deshalb habe ich seine Schwester abgewiesen, als sie mich vor Jahren bat, sie zu verwandeln.« Er atmet aus. »Am Ende haben wir sie trotzdem durch Feuer verloren.«

»Wir werden Bastien nicht verlieren, so wie wir Émilie verloren haben. Und er wird auch nicht Philomènes Schicksal erleiden.«

»Du sprichst mit solcher Gewissheit, kleines Orakel.« Er hält inne. »Hat dir dein zweites Gesicht diese Überzeugung verliehen?«

»Nein. Vor Jahren habe ich Bastien versprochen, nicht in seine Zukunft zu schauen. Ich habe mein Wort nicht gebrochen. Aber ich glaube in meinem Herzen, dass die Hoffnung siegen wird. Sie … muss es einfach.«

Trotz ihrer scheinbar unerschütterlichen Zuversicht ist Odettes Sorge fühlbar. Ich wünschte, ich könnte nach ihrer Hand greifen. Ihr beruhigende Worte anbieten. Aber ich bin immer noch in mir selbst gefangen, mein Zorn überwiegt alles andere. Er wird auf meiner Zunge zu Asche, bis mir nur noch Verlangen bleibt. Das Bedürfnis, geliebt zu werden. Gesättigt zu werden. Aber vor allem bleibt mir das Verlangen zu zerstören.

Nicodemus sagt eine Zeit lang nichts. »Wir werden sehen. Sein Zorn wird groß sein, daran kann es keinen Zweifel geben. Sébastien wollte nie einer von uns werden. Er hat schon früh erfahren müssen, welchen Preis diese Veränderung hat.«

Mein Onkel kennt mich gut. Seine Welt hat mir meine Familie weggenommen. Ich denke an meine Eltern, die vor Jahren bei dem Versuch, mich zu beschützen, gestorben sind. Ich denke an meine Schwester, die bei dem Versuch, mich zu beschützen, ums Leben kam. Ich denke an Celine, das Mädchen, das ich im Leben geliebt habe und das sich nicht an mich erinnern wird.

Ich habe nie jemanden verraten, den ich liebe.

Aber nie ist eine lange Zeit, wenn man an die Ewigkeit denken muss.

»Vielleicht wird er auch dankbar sein«, sagt Odette. »Eines Tages.«

Mein Onkel antwortet nicht.

ODETTE

Odette Valmont lehnte sich in den Wind. Sie ließ zu, dass er ihr die brünetten Locken um die Nase wehte und ihre Mantelschöße peitschte. Sie genoss das Gefühl der Schwerelosigkeit, als sie auf den Jackson Square hinunterstarrte, die rechte Hand um die kühle metallene Turmspitze geschlungen, während ihr linker Stiefel frei in der Abendluft baumelte.

»Ah, da sind wir beide mal wieder unter uns, n’est-ce pas?«, scherzte sie in Richtung des Metallkruzifixes über ihr.

Die Christusfigur starrte in nachdenklichem Schweigen auf Odette herab.

Odette seufzte. »Mach dir keine Sorgen, mon Sauveur. Du weißt, dass ich deinen Rat in höchstem Maße schätze. Es kommt nicht jeden Tag vor, dass ein Geschöpf wie ich das Glück hat, dich zu seinen besten Freunden zu zählen.« Sie schmunzelte.

Vielleicht war es blasphemisch für einen Dämon der Nacht, den Erlöser der Menschheit auf so vertraute Weise anzusprechen. Aber Odette brauchte Führung, jetzt mehr denn je.

»Ich würde gerne glauben, dass du meine Gebete hörst«, fuhr sie fort. »Als ich noch lebte, habe ich es mir zur Angewohnheit gemacht, regelmäßig in die Messe zu gehen.« Sie neigte ihr Ohr in Richtung des Kreuzes. »Wie war das?« Ein Lachen perlte aus ihrer blassen Kehle. »Mais oui, bien sûr! Ich wusste es. Du hast die Sünderin umarmt. Natürlich würdest du mich mit offenen Armen empfangen.« Zuneigung erwärmte ihren Blick. »Deshalb werden wir immer Freunde sein, bis zum bitteren Ende.« Sie hielt inne, als lauschte sie einer Antwort, die nur für ihre Ohren bestimmt war. »Du bist zu gütig«, sagte sie. »Und ich würde dich nie für die Sünden der Menschen verantwortlich machen, die deine reinen Worte und großzügigen Taten zu Instrumenten der Macht und der Kontrolle pervertiert haben.« Odette wirbelte noch einmal um die Turmspitze. »Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun«, sang sie mit geschlossenen Augen. Ein Windstoß fuhr ihr ins Gesicht.

Odette betrachtete die Welt des Vieux Carré weit unter sich, und sie wurde plötzlich der Kamee an ihrem Hals gewahr. Das cremefarbene Elfenbein war von einem Heiligenschein aus blutroten Rubinen eingefasst. Ihr Fétiche, der zwei Zwecken diente, so wie die zwei Seiten ihres Lebens. Sie dienten als Talisman, der sie vor dem Licht der Sonne schützte, aber auch als ständige Erinnerung an ihre Vergangenheit.

Sein Anblick ernüchterte sie. Ebenso wie die vielen Erinnerungen, die sich in seinem Kielwasser sammelten.

Die High Society von New Orleans hielt Odette Valmont für ein sorgloses junges Mädchen, das in Gesellschaft anderer aufblühte. Eine junge Lady, deren größte Freude es war, in einem Raum voller Menschen zu stehen und deren verzückte Blicke zu genießen.

»Aber wer würde sich nicht über Aufmerksamkeit freuen?«, fragte Odette. »Kann man mir dieses menschlichste aller Gefühle verübeln? Schließlich ist Schönheit wie die unsere dazu da, bewundert zu werden!« Das war eines der Dinge, die Vampire zu derart gefährlichen Raubtieren machten: ihre beauté inégalée, wie sie es gerne nannte. Mit dieser unvergleichlichen Schönheit zogen sie ihre Opfer in eine dauerhafte Umarmung.

Doch kaum waren die wohligen Seufzer verklungen, schlüpfte Odette in ihre Lieblingshosen aus Wildleder. Im Schutz der Nacht erklomm sie die Rückseite der Kathedrale, ihre Finger und Zehen fanden sicher den Weg durch die Mitte des Gebäudes bis zum höchsten der drei Türme, während die dunkle Gabe durch ihre Adern floss. Sobald sie die Spitze des Turms erreicht hatte, erfreute sie sich an der Stille der Einsamkeit.

An der Wonne des Alleinseins, unter den wachsamen Augen ihres Erlösers.

Es kam ihr immer seltsam vor, dass die Leute glaubten, auf Partys mit lauter Musik, schallendem Gelächter und Strömen von Champagner würden aufregende Dinge passieren. Diese Gewissheit lockte sie überhaupt erst zu solchen Veranstaltungen. Odette dagegen war der Meinung, dass der aufregendste Raum der in ihrer eigenen Vorstellung war. Ihre Vorstellungskraft war meist viel besser als das wirkliche Leben. Mit ein paar bemerkenswerten Ausnahmen natürlich.

Wie ihr erster richtiger Kuss. Der Geschmack von gesponnenem Zucker auf Maries weichen Lippen; Odettes sterbliches Herz, das in ihrer Brust raste. Die Art, wie ihre Hände zitterten. Wie sich ihre Atemzüge beschleunigten.

Sie drehte sich zu dem jungen Mann am Kreuz um. Dem Gottessohn.

»Ist meine Liebe eine Sünde?«, fragte sie ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, wie sie es schon bei unzähligen anderen Gelegenheiten getan hatte. Wieder gab er ihr die gleiche Antwort. Odette nickte zufrieden und wiederholte das Mantra. »Deine Botschaft war die der Liebe. Und Hass sollte niemals über die Liebe siegen.«

Wieder einmal waberten Erinnerungen an den Rändern ihres Geistes. Sie erinnerte sich an ihre erste Begegnung mit dem Tod, an den Tag, an dem ihr Vater zur Guillotine geführt und jeder seiner Schritte von johlendem Geschrei begleitet wurde. Wie er immer noch seine gepuderte Perücke trug, selbst als die Klinge fiel. Das Geräusch, mit dem sein Blut über die Steine spritzte, erinnerte sie an ihre erste Tötung in der Nacht, nachdem sie ihren Schöpfer mit offenen Armen empfangen hatte. Der Kitzel, über eine solche göttliche Macht zu verfügen.

Odettes Finger um die metallene Spitze wurden weiß. Entgegen der landläufigen Meinung war sie nicht mehr wütend. Nicht auf die nach Blut dürstenden Männer und Frauen, die sie als zitternde Waise zurückgelassen hatten. Nicht auf ihre Eltern, weil sie nicht in der Lage waren, sich zu wehren. Nicht auf Nicodemus, weil er Odette dem Elend ihres früheren Lebens entrissen hatte. Nicht auf Marie, die Odettes Herz gebrochen hatte, wie so viele erste Lieben.

»Durch all das, was passiert ist, habe ich gelernt, mich selbst mehr zu lieben«, sagte sie. »Und ist das nicht das schönste Geschenk, das dir eine Prüfung im Leben machen kann? Die Kraft, sich selbst heute mehr zu lieben als am Tag zuvor.«

Odette reckte ihr Kinn in den violetten, mit Sternen übersäten Himmel. Die Wolken bewegten sich wie Nebelfedern in einer vorbeiziehenden Brise. Nigel pflegte zu sagen, dass der Himmel über New Orleans vom Rauch der Missetaten der Stadt erfüllt war. Die Verfehlungen, die so oft von den wohlhabenden Reisenden zelebriert wurden, die das Vieux Carré besuchten und die dazu beitrugen, dass New Orleans trotz des jüngsten Krieges zwischen den Staaten zu einer der reichsten Städte des ganzen Landes wurde. Jedes Mal, wenn Nigel sich hinsetzte, um den anzüglichsten Klatsch und Tratsch der Woche zu erzählen, wurde sein Cockney-Akzent vor Lüsternheit immer stärker.

Etwas krampfte sich um Odettes totes Herz.

Diesmal zögerte sie, bevor sie einen Blick auf das Metallkreuz neben sich warf.

»Ich weiß, ich habe kein Recht, mit so etwas wie Wärme an Nigel Fitzroy zu denken«, flüsterte sie. »Er hat uns verraten.« Sie schluckte. »Er hat mich verraten.« Ein Ausdruck von Ungläubigkeit flammte in ihrem Gesicht auf. »Wenn man bedenkt, dass dies erst vor einem Tag passiert ist. Dass der Auf- und Untergang eines einzigen Mondes unser aller Leben auf so unwiderrufliche Weise verändert hat.« In dieser einen Nacht hatte Odette einen Bruder, den sie ein Jahrzehnt lang geliebt hatte, durch eine grausame Art von Verrat verloren. Dieser Verlust traf sie zutiefst, aber sie wagte es nicht, öffentlich zu trauern. Das wäre ein fataler Fehler gewesen, vor allem in Nicodemus’ Gegenwart. Der Verlust eines Verräters war für niemanden ein Verlust.

Und doch …

Heute Morgen hatte sie in ihrem Zimmer geweint. Sie hatte die Samtvorhänge um ihr Himmelbett zugezogen und ihre blutigen Tränen auf die elfenbeinfarbenen Seidenkissen fließen lassen. Den ganzen Tag über hatte niemand auch nur ein Haar von Boone gesehen. Jae kam kurz nach Sonnenuntergang, sein schwarzes Haar war nass, sein Gesichtsausdruck düster. Als Hortense ins Jacques’ zurückkehrte, spielte sie mit unmenschlicher Geschwindigkeit Bach’sche Cellosuiten auf ihrer Stradivari, während ihre Schwester Madeleine in einem ledergebundenen Tagebuch in der Nähe schrieb. Kurzum, jedes Mitglied des Cour des Lions trauerte auf seine eigene Art und Weise.

Oberflächlich betrachtet, war alles wie immer gewesen. Sie tauschten förmliche Höflichkeiten aus. Taten so, als ob nichts wäre, und keiner von ihnen wollte seinem Schmerz Ausdruck verleihen oder die schlimmsten Vergehen Nigels, die bald bewiesen werden sollten, an die große Glocke hängen.

Nigels schlimmstes Vergehen?

Der Verlust von Sébastiens Seele. Die Zerstörung seiner Menschlichkeit. Nigel mochte sie verraten haben, aber er hatte Bastien getötet. Er hatte ihm die Kehle herausgerissen, vor den Augen des einzigen Mädchens, das Bastien je geliebt hatte.

Odette fröstelte, obwohl sie sich seit Jahrzehnten nicht mehr wirklich kalt gefühlt hatte. Sie ließ ihren Blick über den Platz auf das glitzernde Wasser des Mississippi schweifen. Vorbei an den funkelnden Lampen der Schiffe am Horizont.

»Soll ich ihnen von meiner Rolle in dieser schmutzigen Geschichte erzählen?«, fragte sie.

Die Gestalt am Kreuz blieb nachdenklich stumm.

»Du würdest wahrscheinlich sagen, Ehrlichkeit ist die beste Strategie.« Odette strich sich eine dunkle Locke hinter das Ohr. »Aber ich würde lieber eine Handvoll Nägel schlucken, als mich Nicodemus’ Zorn auszusetzen. Und ich wusste es wirklich nicht besser, das sollte doch etwas zählen, non?«

Wieder blieb ihr Erlöser frustrierend still.

Nur eine Stunde vor Bastiens Tod hatte Odette ihm erlaubt, auf eigene Faust loszuziehen, wohl wissend, dass ein Mörder an ihren Fersen klebte. Sie war sogar so weit gegangen, ihre unsterblichen Brüder abzulenken, damit sie ihm bei seiner Aufgabe, Celine zu finden, deren Sicherheit kurz zuvor bedroht worden war, nicht in die Quere kommen würden.

Sollte sie ihre Rolle enthüllen?

Was würde Nicodemus mit ihr machen, wenn er es herausfand?

Dem letzten Vampir, der es gewagt hatte, Nicodemus Saint Germain in die Quere zu kommen, waren die Reißzähne aus dem Mund gerissen worden.

Odette schluckte. Das Schicksal war nicht unbedingt schlimmer als der Tod, aber ermutigte auch nicht gerade zu Ehrlichkeit. Nicht, dass sie Schmerzen fürchtete. Selbst der Gedanke an den endgültigen Tod machte ihr keine Angst. Sie hatte den Aufstieg und Fall von Imperien miterlebt. Sie hatte mit einem Dauphin unter dem Licht des Vollmonds getanzt.

Ihre Geschichte war es wert, erzählt zu werden.

»Es ist nur … ich mag einfach, wie ich aussehe, verdammt noch mal!« Sie mochte ihre elegante Nase und ihr verschmitztes Lächeln. Fehlende Reißzähne würden diese Wirkung gewiss trüben. »Wenigstens würde ich nicht verhungern«, sinnierte sie. »Das ist das Geschenk der Familie, unter anderem.«

Wenn Völlerei und Eitelkeit sie böse machten, dann – tant pis! Sie hatte schon Schlimmeres von schlimmeren Kreaturen gehört.

Odette drehte sich um die Metallspitze herum, wobei das Kruzifix an der Spitze gefährlich knarrte. Gaslampen tanzten in den Schatten darunter. Ihre Vampirsinne wurden vom Duft eines Frühlingsabends in New Orleans überflutet. Süße Blüten, scharfes Eisen, schwüler Wind. Das Schlagen der Herzen. Das Wiehern der Pferde, das Klappern der Hufe auf den Pflastersteinen.

Dunkle Schönheit, überall um sie herum. Reif, sie zu ernten.

Ein wehmütiger Seufzer entrang sich Odettes Lippen. Sie hätte Bastien niemals gehen lassen dürfen, auch wenn das Leben von Celine auf dem Spiel stand. Odette hatte es besser gewusst. Wo Blut floss, wurde gemordet. Sie hatte sich einfach von ihren Gefühlen leiten lassen.

Nie wieder.

Jahrelang hatte Odette ihre besondere Gabe, die für Unsterbliche ungewöhnlich war, nicht mehr eingesetzt. Die Fähigkeit, einen Blick in die Zukunft eines anderen Wesens zu werfen, und zwar nur mithilfe der Berührung seiner Haut mit der ihren. Sie vermied es, weil sie bei denjenigen, die unvorsichtig genug waren, ihrer Neugier zu frönen, oft das Unglück aufblitzen sah.

So wie sie es gesehen hatte, als Celine Rousseau sie an jenem Tag, an dem sie sich zum ersten Mal trafen, gebeten hatte, in die Zukunft zu sehen.

Die Geschichte hatte Odette gelehrt, dass es sie der Person nicht gerade näherbrachte, die sie über ihren bevorstehenden Untergang informierte. Oft verlangte diese zu erfahren, wie sie ihr Schicksal abwenden könnte. Und wie sehr Odette auch zu erklären versuchte, dass ihre Gabe auf derartige Weise nicht funktionierte – dass sie nun wirklich keine Wunderheilerin sei –, sie wurde immer wieder bis zum Überdruss bedrängt. Zweimal war sie sogar tätlich angegriffen worden. Man hatte ihr mit körperlicher Gewalt gedroht, ein Messer blitzte vor ihrem Gesicht auf, ein Revolver wurde auf ihre Brust gerichtet.

Was für eine Frechheit!

Ein bitteres Lächeln verzog ihre Lippen und verzerrte ihr Gesicht. Diese Narren hatte das Schicksal ereilt, das ihrer Torheit angemessen war. Jae, der hauseigene Assassine des Cour des Lions, hatte ihr geholfen. Er verfolgte diese Männer durch die Dunkelheit. Terrorisierte sie stundenlang. Sorgte dafür, dass ihre letzten Momente von Angst geprägt waren.

»Sie haben nie geahnt, dass ich es war, die ihren Tod inszeniert hat«, murmelte sie.

Natürlich war es in der Theorie schön und gut, zu wissen, ob sich ein Unglück ereignen würde. Aber was wäre, wenn dieses Wissen jemanden beträfe, den Odette liebte? Bien sûr, sie konnte einen Freund aus dem Weg schieben, wenn eine Kutsche mit einem verängstigten Pferd auf sie zuraste. Aber so einfach war es selten.

Aus diesem und vielen anderen Gründen hatte Odette gelogen, als sie gefragt wurde, was sie in Celines Zukunft gesehen hatte. Celine würde tatsächlich eine Tierbändigerin werden, wie Odette verriet. Aber Odette würde nie die dumpfen Worte vergessen, die ihr danach ins Ohr geflüstert wurden, wie ein böses Geheimnis:

Einer muss sterben, damit der andere leben kann.

Putain de merde. Eine weitere dieser lächerlichen Prophezeiungen, die Odette die meiste Zeit ihres unsterblichen Lebens gehasst hat. Sie waren alle unfassbar vage. Warum konnten sie nicht einfach sagen, was sie meinten? Dieser connard wird jenen connard zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort umbringen. Hier ist eine Möglichkeit, wie du ihm dieses Schicksal ersparen kannst. Allons-y! Wäre das zu viel verlangt?

Auf wen bezog sich die Prophezeiung? Auf Celine und Bastien? Oder auf Celine und jemand ganz anderen? Es war unmöglich, sicher zu sein. Deshalb war es Odettes Meinung nach besser, wenn sie es alle nicht wussten.

Nur hatte Odette gestern Abend ihre Meinung geändert. Auch wenn es ihr Schmerzen bereitete, würde sie denen, die ihr lieb waren, helfen, eine Katastrophe zu vermeiden.

Mit entschlossener Miene blickte Odette zu ihrem schweigenden Beschützer hoch und gab ihm ein Versprechen. »Ich werde die Dinge in Ordnung bringen«, schwor sie. »Nicht nur wegen Bastien. Sondern meinetwegen.«

Versagen jeglicher Art hatte ihr noch nie gefallen.

Odette schlang ihre Finger fester um die Metallspitze auf dem Turm der Kathedrale. »C’est assez«, sagte sie. Es war an der Zeit, dass sie tat, was ihr aufgetragen worden war. Ihren Hunger zu stillen, bevor Bastien aufwachte, denn Nicodemus würde alle seine Kinder bei Kräften brauchen, wenn es so weit war.

Sie konnte nur erahnen, was für ein neugeborener Vampir Bastien sein würde. Als Junge war er schwierig gewesen, hatte zu Wutausbrüchen geneigt. Meinungsverschiedenheiten löste er lieber mit den Fäusten als mit Worten. Diese Neigung hatte dazu geführt, dass er von der Militärakademie in West Point verwiesen worden war. Und das, nachdem sich Nicodemus jahrelang darum bemüht hatte, ihm diesen Platz zu verschaffen. Schließlich verfügte der Sohn einer Frau of Color und eines Taíno nicht über den nötigen Stammbaum für eine solch hehre Institution.

Nicodemus glaubte, dass Bastien das stärkste seiner Kinder sein würde, wenn er die Verwandlung überlebte. Einfach aufgrund der Tatsache, dass sie in ihren beiden Leben blutsverwandt waren, sowohl im sterblichen als auch im unsterblichen. Das Teilen des Blutes war, wie eine Münze zu werfen. In manchen Fällen erhob sich ein brillanter und mächtiger Unsterblicher aus der Asche.

Und in anderen Fällen?

Ein mörderischer Wahnsinniger wie Vlad Țepeș. Oder Gräfin Elizabeth Báthory, die im Blut ihrer Opfer gebadet hat. Oder Kato Danzo, der mit riesigen Flügeln, die denen einer Fledermaus ähnelten, die Lüfte terrorisiert hatte.

Odette wollte glauben, dass das alles nichts darüber aussagte, wie sich Bastiens Charakter entwickeln würde. Würde er ein Bücherwurm werden wie Madeleine? Hedonistisch wie Hortense? Mürrisch wie Jae oder spielerisch bösartig wie Boone?

»Assez«, verkündete sie in den Nachthimmel.

Odette richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Jackson Square. Ihre Blicke huschten über die vielen Durchgangsstraßen in der Nähe, auf der Suche nach einer einsamen Gestalt, die allein einen Spaziergang unternahm. Ihr Blick blieb an einer Person hängen, die unter einer flackernden Gaslampe in der Rue de Chartres vorbeiging.

Ohne zu zögern, verabschiedete sich Odette von ihrem Erlöser und ließ den Turm los. Beim Fallen schloss sie die Augen und genoss das Rauschen der kühlen Luft und den Wind, der ihr um die Ohren pfiff. Kurz bevor sie auf den Pflastersteinen aufschlug, krümmte sie sich und rollte sich ab. Sie landete mit einem dumpfen Aufprall auf dem Boden, fing den größten Teil der Wucht mit der Schulter auf, rollte sich ab und kam im nächsten Atemzug wieder auf die Füße. Sie richtete sich auf und sah sich um, dann schob sie die Hände in die Taschen ihrer Wildlederhose. Sie summte vor sich hin, während sie die dunkle Gasse entlangschlenderte, die die Einheimischen als Piratengasse kannten. Die Worte von La Marseillaise erfüllten den Nachthimmel, und ihre Stiefelabsätze knallten in der Dunkelheit.

»Allons! Enfants de la Patrie«, sang Odette leise.

Sie glitt an den Eisengittern vorbei, an denen der berühmte Pirat Jean Lafitte in der ersten Hälfte des Jahrhunderts seine Beute verkauft hatte. Dunkle Glasmalereien glitzerten am Rand ihres Blickfeldes. Odette hätte schwören können, dass sie im Inneren der Kirche den Geist von Père Antoine sehen konnte, der sein Weihrauchfass schwang, umwabert vom Rauch. Vielleicht war es auch nur eine Erscheinung des Mönchs, der vor hundert Jahren unter dem höhlenartigen Dach der Kirche gehaust hatte und den man an stürmischen Abenden oft das Kyrie singen hörte.

»Le jour de gloire est arrivé«, sang sie weiter.

Die Geschichten über diese verwunschene Gasse im Herzen des Vieux Carré hatten Odette schon immer fasziniert. Wie die zahllosen Berichte über dieses strahlende Land, das als Amerika bekannt war, verbargen sie oft die dunkelsten Seiten ihrer Historie. Im Falle von New Orleans verbargen sie die jahrhundertelange Rolle der Stadt als Hauptumschlaghafen für den Sklavenhandel. Die unzähligen Toten, die in diesem strategisch wichtigen Landstrich gelebt, geatmet und geliebt hatten, lange bevor die Konquistadoren im Hafen landeten und von dort aus auszogen, ihre Flaggen in den Boden zu rammen und das Land zu ihrem Eigentum zu erklären.

Eine brodelnde Dunkelheit. Tanzende Schatten, die hinter all der schimmernden Schönheit länger wurden.

Odette wiederholte die nächste Zeile des Liedes zweimal, ihre Stimme war klar wie eine Glocke. »L’étendard sanglant est levé!« Sie bog um die Ecke, beschleunigte ihre Schritte und wandte sich in Richtung der einsamen Gestalt, die zwei Blocks entfernt stand.

Als die Frau Odettes zügige Schritte hinter sich hörte, hielt sie inne. Sie legte den Kopf schief und das Silber an ihren Schläfen schimmerte im Licht einer flackernden Flamme. Dann richtete sie sich auf, wobei sie ihren Kopf mit der eleganten Haube in den Himmel reckte, als würde sie Gott im Himmel ein Gebet darbringen.

Die Dummheit der Sterblichen, dachte Odette. Dein Gott wird dir jetzt nicht helfen.

Nicht dass sie die Vorstellung von Gott albern gefunden hätte. Sie zählte Christus zu ihren engsten Vertrauten. Außerdem war die Hoffnung eine sehr mächtige Kraft.

Nur nicht so mächtig wie Odette Valmont. Nicht für diese Frau. Nicht in diesem Moment.

Sie wartete, bis die Frau weiterging. Dann bezog Odette hinter ihr Position. Viele Vampire zögerten die Jagd bis zur letzten Sekunde hinaus, damit sich der Schrecken in ihrem Opfer aufbauen konnte. Um sie warten zu lassen, bis sie keuchend über ihre Füße stolperten und um Gnade bettelten. Boone liebte das. Aber Boone war Jäger von Beruf. Und Odette war nie eine solche Unsterbliche gewesen.

Stattdessen sah sie sich ein letztes Mal um, um sicherzugehen, dass sie allein waren. Bevor die Frau blinzeln konnte, schoss Odette nach vorne und packte sie von hinten, presste eine Hand auf die Lippen der Frau und zerrte sie mit der anderen in eine enge Gasse.

Odette hob das Kinn der Frau, damit sie ihr in die Augen sehen konnte. »Hab keine Angst«, flüsterte sie, ließ die dunkle Gabe in ihre Worte sickern und sie mit beruhigender Magie durchtränken. Der panische Blick der Frau wurde plötzlich ruhiger. »Ich verspreche dir, dass du dich an nichts erinnern wirst«, gurrte Odette und stützte sie in der Umarmung.

»Wer … wer sind Sie?«, hauchte die Frau.

»Wer bist du?«

Die Wimpern der Frau flatterten, als wäre sie kurz davor einzuschlafen. »Francine«, sagte sie. »Francine Hofstadter.«

»Bonsoir, Madame Hofstadter.« Odette hob ihre Hand und streichelte Francines Wangen. Sie hielt inne und betrachtete ihre warmen braunen Augen. »Du erinnerst mich an meine Mutter, schöne Francine.«

»Wie ist ihr Name?«

Ein schmales Lächeln umspielte Odettes Lippen. »Louise d’Armagnac.«

»So ein schöner Name«, murmelte Francine. »So entzückend … genau wie Sie.«

»Sie war eine Herzogin.«

»Sind Sie auch eine Herzogin?«

»Vielleicht hätte ich eine werden können.« Odette strich mit dem Zeigefinger über Francines Kinn. »Aber meine Mutter wäre wahrscheinlich dagegen gewesen. Sie hätte den Titel nie aufgegeben, nicht ohne einen Kampf. Man könnte sagen, dass sie dafür … ihren Kopf verloren hat.«

»Das tut mir leid.« Francine erschlaffte in Odettes Armen. »Es klingt, als hätte sie Sie nicht so geliebt, wie eine Mutter es tun sollte.«

»Oh doch, das hat sie. Da bin ich mir ganz sicher.« Amüsement machte Odettes Tonfall weicher. »Sie hat nur sich selbst mehr geliebt. Dagegen habe ich nichts einzuwenden. Meine Mutter ist für mich eine Heldin, die sich bis zum bitteren Ende treu geblieben ist.«

»Aber wie kann sie sich selbst mehr lieben, wenn sie eine Tochter wie Sie hat? Das ist nicht richtig.« Francine spiegelte Odettes Geste und umrahmte mit ihrer rechten Hand Odettes Gesicht. »Ich wünschte, ich hätte eine Tochter. Ich hätte sie lieben können. Ich hätte … dich lieben können.« Sie staunte, ihre Augen funkelten wie Wasserbecken. »Vielleicht … liebe ich dich ja wirklich.«

»Wer tut das nicht, ma chérie?« Odette verschränkte Francines Finger mit ihren. Drückte ihre zusammengelegten Handflächen an ihre Lippen. »Ich liebe dich auch«, flüsterte sie in Francines warme, nach Vanille duftende Haut.

Bevor Francine blinzeln konnte, versenkte Odette ihre Zähne in das zarte Fleisch an Francines Handgelenk. Ein Keuchen durchdrang die Nachtluft, aber Francine wehrte sich nicht. Ihre Glieder wurden träge. Gefährlich weich. Odette atmete durch die Nase, als sie einen weiteren heißen Schluck Blut einsaugte. Sie schloss schnell die Augen. Bilder waberten durch ihren Geist. Francines Erinnerungen. Ihre gesamte Lebensgeschichte, gefärbt von zahllosen Erinnerungsfetzen, die, wie Odette wusste, unzuverlässig sein konnten, selbst bei den ernsthaftesten Sterblichen.

Die Menschen neigten dazu, sich an die Dinge nicht so zu erinnern, wie sie waren, sondern so, wie sie sie sich wünschten.

Die Erinnerung an eine Geburtstagsfeier, als Francine noch ein junges Mädchen war und ihre Lippen von Pralinenglasur verschmiert waren. Der Tod einer geliebten Großmutter, als Francine dem Leichenwagen eine breite Gasse im Garden District hinunter folgte. Ein Schirm aus Spitze filterte das heiße Sonnenlicht. Die Hochzeit mit einem Jungen, von dem sie glaubte, er sei ihre einzige wahre Liebe. Jahre später ein anderer Mann, der diesen Glauben in Schutt und Asche gelegt hatte.

Zwischen diesen Episoden erhaschte Odette flüchtige Blicke auf eine mögliche Zukunft. Von einem Sohn, der sie jedes Jahr zu Weihnachten besuchte, zusammen mit seiner Frau, die sich wünschte, irgendwo anders zu sein. Von einem weit entfernten Ehemann, der starb, die Hände auf die Brust gepresst, und von einem Lebensabend voller Bedauern.

Es brach Odettes Herz, jedenfalls soweit ihr noch eines geblieben war. Dieses Leben, das einst so vielversprechend gewesen war.

Sei’s drum. Das Schicksal dieser Frau war nicht ihre Sache.

Trotz allem blieb Francine die Heldin ihrer eigenen Geschichte. Es war, wie es sein sollte. Zumindest sollte jeder Sterbliche der Held dieser speziellen Geschichte sein.

Aber auch die besten Helden hatten Schwächen. Und die besten Sterblichen vergaßen diese Tatsache nie.

Sie trank gierig und ließ Francine in ihre Umarmung zurücksinken, wie eine Geliebte, die von ihren Gefühlen überwältigt wurde.

Im Gegensatz zu Odettes zweitem Gesicht war die Fähigkeit, hinter den Vorhang des Lebens eines Opfers zu blicken, allen Blutsaugern gemeinsam, die diese dunkle Gabe besaßen. Aus diesem Grund trank Odette nie von Männern. Es war ihr zu intim, in den Geist ihrer Beute einzudringen. Einmal, als sie selbst ein neugeborener Vampir gewesen war, hatte sie von einem Mann trinken wollen, der andere zum Spaß tötete. Sie hatte es für angemessen gehalten, dass er in ihr eine ebenbürtige Gegnerin finden würde.

Aber die Erinnerungen des Mannes waren gewalttätig. Er hatte Freude an den Gräueln, die er beging. Die Bilder, die Odette durch den Kopf gingen, hatten ihr die Kehle zugeschnürt, sie erstickt, sie von innen heraus verbrannt.

In dieser Nacht hatte sie sich geschworen, nie wieder in die Gedanken eines Mannes einzudringen.

Männer waren die schlimmste Sorte von Helden. Voller Makel, die sie nicht sehen wollten.

In dem Moment, in dem Odette spürte, dass Francines Herzschlag langsamer wurde, zog sie sich zurück. Es wäre nicht gut, in Francines Tod zu ertrinken. So mancher Vampir hatte in diesem dunklen Winkel zwischen den Welten den Verstand verloren.

Odette leckte sich träge über die Lippen. Dann drückte sie ihren Daumen auf die Löcher an Francines Handgelenk und wartete darauf, dass der Blutfluss zum Stillstand kam. »Sobald wir uns trennen«, sagte sie, »wirst du vergessen, was heute Nacht geschehen ist. Ich werde dich niemals in deinen Träumen verfolgen. Du wirst nach Hause zurückkehren und den morgigen Tag in Ruhe verbringen, denn irgendeine kleine Kreatur hat dich gebissen, und du fühlst dich ein wenig gereizt. Bitte deine Familie, dir Steak und Spinat zuzubereiten.« Sorgfältig faltete Odette das Bündchen von Francines Ärmel über die Wunden. »Wenn du nachts allein durch diese Straßen gehst, dann gehe erhobenen Hauptes, auch wenn du glaubst, dass der Tod hinter der nächsten Ecke lauert.« Ihr Grinsen war so scharf wie die geschwungene Schneide einer Klinge. »Das ist die einzige Art zu leben, liebe Francine.«

Francine nickte. »Du bist ein Engel, meine Liebe.« Tränen stiegen ihr in die Augen. »Und ich könnte dich nie vergessen.«

»Ich bin kein Engel. Engel langweilen mich. Ich würde jederzeit einen Teufel vorziehen.«

»Du bist ein Engel«, beharrte Francine. »Das schönste Geschöpf, das ich je gesehen habe.« Als Odette sie losließ, hielt Francine Odettes Arm fest umklammert und weigerte sich, ihn loszulassen. Tränen liefen ihr über die Wangen, Verwirrung zeichnete sich auf ihrer Miene ab. »Bitte«, sagte sie, »nimm mich mit.«

»Wohin ich gehe, kannst du nicht folgen.«

»Ich kann, wenn du mich mitnimmst. Wenn du mich zu einem Engel machst wie dich.«

Odette legte den Kopf schief, die Gedanken des wunderschönen Wesens, das sie jetzt war, kämpften mit den Überzeugungen des sterblichen Mädchens, das sie einmal gewesen war. In ihren Händen hielt sie die Macht, Leben zu geben. Es zu nehmen.

Es auszukosten. Genüsslich.

Francine lächelte Odette an, ihr Blick irrte umher, und sie hatte ihre Finger noch immer in Odettes Ärmel gekrallt. »Bitte, Engel. Bitte. Lass mich nicht allein in der Dunkelheit.«

»Ich habe es dir schon gesagt, ma chérie.« Mit der freien Hand streichelte Odette über Francines Gesicht. »Ich bin kein Engel.« Mit diesen Worten brach sie Francine das Genick. Spürte, wie die spröden Knochen zwischen ihren unmenschlich starken Fingern brachen. Ließ Francines Leiche in einem unrühmlichen Haufen, leblos, auf das rissige Pflaster zu ihren Füßen gleiten.

Sie blieb lange so stehen. Wartete, ob Francines Gott sie jetzt niederstrecken würde. Immerhin hätte Odette es verdient. Sie konnte ihr Handeln rechtfertigen, wie sie wollte. Sie könnte sagen, sie hätte Francine die Enttäuschung einer traurigen Zukunft erspart. Sie könnte sagen, es sei eine Art Freundlichkeit. Eine Art perverser Gnade.

Aber wer war sie, dass sie jemandem Gnade erweisen konnte?

Odette wartete, starrte zum Mond hinauf und zuckte vor dem langen Schatten zurück, den das Kreuz hoch über ihr warf. Kein Hagel aus Feuer und Schwefel regnete auf sie herab. Alles war so, wie es immer gewesen war. Leben und Tod in einem einzigen Atemzug.

»Es tut mir leid, ma chérie«, flüsterte Odette. »Du hättest etwas Besseres verdient gehabt.« Sie starrte auf ihre Füße und ließ das Bedauern über ihren Rücken hinunter bis zu ihren Füßen gleiten, wo es zwischen den Rissen der Pflastersteine im Boden versickerte. Was sie getan hatte – dieses Leben zu stehlen –, war falsch. Odette wusste es.

Es war nur … manchmal war sie es einfach leid, so angestrengt zu versuchen, gut zu sein.

Mit einem Seufzer schlenderte Odette davon, die Hände in den Hosentaschen.

»Ils viennent jusque dans nos bras«, sang sie, wobei die Melodie von süßer Traurigkeit geprägt war. »Égorger nos fils, nos compagnes.« Das Echo der Marseillaise drang empor und vermischte sich mit dem Rauch von Odettes zahllosen Untaten.

BASTIEN

Als Junge träumte ich oft davon, ein Held zu sein, wie die Hauptfiguren aus meinen Lieblingsgeschichten. D’Artagnan, der sich den Musketieren anschließt, furchtlos im Angesicht der Gefahr. König Leonidas und seine tapferen dreihundert Krieger, die sich gegen eine ungeheure Übermacht stemmen. Odysseus auf einer epischen Reise, der gegen mythologische Ungeheuer kämpft und schöne Jungfrauen rettet.

Dann erfuhr ich, dass ich selbst unter den Ungeheuern lebte. Und dass solche Geschichten oft nicht von den Helden selbst geschrieben wurden, sondern von denen, die am Ende übrig blieben und die Geschichte erzählen konnten. Vielleicht sprach ja auch nicht viel für eine Figur wie d’Artagnan. Hatte er letztlich nicht immer nur Glück?

Glück ist keine Fähigkeit. Onkel Nico sagte das immer wieder, wenn ich mich beklagte, dass ich in meinen Studien in Kriegsführung, Schießkunst, Reiten, in all den Talenten, die man von einem sogenannten Gentleman erwartet, gedrillt wurde.

Vielleicht hätte ich lieber Athos verehren sollen, den Ausbund an Mystik. Oder Aramis, den Liebhaber des Lebens. Oder Milady de Winter, die gewiefteste aller Spione.

Am Ende hatten die Monster schließlich die besseren Geschichten.

Meine Augen öffnen sich ruckartig. Staubmotten schweben in der Luft über mir, wirbeln im bernsteinfarbenen Schein einer einzelnen Kerze. Ich sehe ihnen einen Moment lang beim Tanzen zu und studiere ihre Formen, als wären sie Sterne an einem unendlichen Himmel.

»Und das Unendliche fasziniert uns, weil es uns glauben lässt, dass alles möglich ist. Dass wahre Liebe die Zeit überdauern kann.«

Celine sagte das zu mir in der Nacht, in der ich zum ersten Mal merkte, dass ich echte Gefühle für sie hegte. Es war nicht mehr so einfach, wie von ihrer Schönheit angezogen zu werden, wie eine Flut ans Ufer gezogen wird. Es war mehr als das. Trost. Verstehen. Eine Art von Magie.

Ich sah sie eine Quadrille tanzen, mitten in einem Karnevalsumzug. Es dauerte nicht lange, bis die Melodie sie in ihren Bann zog, wie es die Musik so oft tut. Sie verpasste viele Schritte, aber es war ihr egal. Ihr Anblick traf mich unvorbereitet. Es lag nicht nur an ihrem Aussehen. Es war die Art und Weise, wie sie auf die Menschen um sich herum wirkte. Ihr Lächeln erhellte die Gesichter ihrer Partner. Sie brachte die Männer und Frauen, die sich um sie herumdrängten, dazu, ausgelassen zu lachen.

Für einen Moment verlor ich jedes Gefühl für Zeit und Ort. Es gab nur sie, eine einsame Kerze in einem dunklen Raum. Aber hinter diesem betörenden Lächeln sah ich weit mehr. Eine Welt voller Geheimnisse, die sich hinter einem Paar grüner Augen verbarg.

Ich war ein Junge mit eigenen Geheimnissen, und in meiner Brust machte sich ein Schmerz breit. In diesem Moment wusste ich, wie sehr ich mir wünschte, unsere Wahrheiten zu teilen. Es spielte keine Rolle, dass es in beiden von Monstern nur so wimmeln könnte. Eine Woche später kitzelte das Wort Liebe an den Rändern meiner Gedanken. Ich beachtete es nicht. Ich hielt mich für zu weltmüde, um der Torheit der jungen Liebe zum Opfer zu fallen.

Ich irrte mich. Auf katastrophale Art und Weise.

Aber das ist jetzt nicht mehr wichtig. Denn unsere Geschichte ist keine Liebesgeschichte.

Der Schmerz um mein totes Herz steigt hoch und breitet sich in meiner Kehle aus.

Es ist genug.

Ich spüre Toussaint, bevor ich ihn sehe. Mein ganzer Körper spannt sich an, als bereitete er sich auf einen Sprung vor. Der riesige Dunkle Tigerpython schlängelt sich über die Tischplatte, von meinen Füßen zu meinem Kopf. Ich beobachte, wie er sich von der Stelle bewegt, an der meine Familie mich auf dem Tisch ausgebreitet hat wie den Leichnam bei einer irischen Totenwache. Er züngelt witternd die Luft, seine gelben Augen sind zu Schlitzen zusammengezogen, unsicher. Auf meiner Brust hält er inne, sein Kopf schwebt über meinem Brustbein. Ich starre zu ihm hoch. Er starrt auf mich herab.

Zwei Raubtiere, die sich gegenseitig begutachten und entscheiden, ob sie zuschlagen sollen.

Nach einem kurzen Augenblick seufzt Toussaint resigniert. Dann gleitet er über meine Schulter, den Rest seines langen Körpers hinter sich herziehend, und seine Schuppen glitzern auf der blutbefleckten Seide meiner elfenbeinfarbenen Weste. Ich habe immer gedacht, dass Schlangen vorausschauend sind. Die Art von allwissenden Kreaturen, die im Raum zwischen den Welten gedeihen.

Wenigstens scheint mein orakelhaftes Haustier diese unselige Wendung des Schicksals akzeptiert zu haben.

Ich setze mich auf, meine Bewegungen verschwimmen. Unmenschlich schnell. Es wäre verwirrend gewesen, wenn ich es nicht gewohnt wäre, dass sich Unsterbliche auf diese Weise bewegen. Im nächsten Moment lösche ich die einzelne Kerze mit den Fingerspitzen und sehne mich danach zu spüren, wie das Feuer meine Haut versengt.

Ich fühle nichts. Nicht einmal ein Flüstern von Schmerz. Ich brauche auch keine Zeit, um mich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Ohne das Licht – durch Schattenschichten hindurch – sehe ich jedes Detail meiner Umgebung, bis hin zu der Goldfolie auf der Tapete und den sechzehn funkelnden Rubinen in Odettes Kameebrosche. Jeder Strähne im schwarzen Haar meines Onkels und allen achtundvierzig Messingnieten in dem glänzenden Holztisch unter mir.

Abscheu ergreift mich, als sich die Wahrheit wie eine bleierne Last auf meine Schultern legt. Ich gehöre nicht mehr zu den Lebenden. Ich bin ein Dämon, der verflucht ist, im Schatten zu wandeln. Es gibt nichts, was ich tun kann, um diese Wendung des Schicksals zu ändern. Ich kann kein Gebet sprechen. Keine Suche unternehmen. Keine Abmachung, die ich treffen könnte.

Ich nehme an, das war schon immer mein Schicksal.

Mein Onkel räuspert sich und tritt vor.

Der Anblick der sieben jenseitigen Kreaturen, die sich im Kreis um mich versammelt haben, sollte Sterbliche und Unsterbliche gleichermaßen beunruhigen, aber ich behalte einen kühlen Kopf und betrachte zum ersten Mal mit dem Blick eines Vampirs prüfend meine unsterblichen Geschwister.

Odette Valmont mit ihren braunen Haaren und den zobelfarbenen Augen beobachtet mich aufmerksam und mit wachsamem Blick. Sie ist wie ein Gentleman gekleidet, ihr seidenes Halstuch lose um ihren blassen Hals geschlungen, von dem ihr Fétiche herabbaumelt. Auf den ersten Blick scheint sie ein Mädchen von nicht mehr als zwanzig Jahren zu sein, mit einem Gesicht, das selbst den Teufel bezaubern könnte.

Aber der Schein soll bekanntlich trügen.

Zorn brennt in meinen Adern, meine kühle Besonnenheit verpufft. Wenn Odette von meinem Schicksal wusste und es mir verheimlicht hat, wird sie es büßen. Sie hat das hier schon einmal getan, in dem fehlgeleiteten Versuch, mich auf den Weg zu bringen, den sie für richtig hält, als wäre sie Richter, Jury und Henker.

Doch bevor ich Odette angreife, schaue ich durch sie hindurch und zwinge mich dazu, mich zu betäuben.

Shin Jaehyuk, Nicodemus’ wichtigster Assassine, hält sich im Dunkeln hinter Odettes Rücken auf. Jae, der zweite Vampir, den Nicodemus verwandelt hat, beherrschte die Nacht in der Blütezeit der koreanischen Joseon-Dynastie. Als Meister der Waffen und der Taschenspielertricks hat mir dieser Vampir – mit seiner Vorliebe für Klingen aller Formen und Größen – als Kind am meisten Angst gemacht. Er war allgegenwärtig, seine fahle Haut war von unzähligen Narben gezeichnet, die aus einer Geschichte stammten, die mir in Stücken erzählt wurde.

»Willkommen in der Ewigkeit, mein Bruder«, sagt eine andere Stimme in einem für Carolina typischen Tonfall. Boone Ravenel lehnt mit der linken Schulter an der Damasttapete, während er mich unbekümmert angrinst. Er ist braun gebrannt, und seine Miene ist die Verkörperung des Charmes. Doch hinter seinen engelsgleichen Zügen verbirgt sich ein Unhold und Fährtenleser mit dem Geruchssinn eines Hais und dem Auge eines Falken. Vor fünfzig Jahren taufte Odette ihn aus verschiedenen Gründen Höllenhund. Wie häufig bei solchen Gelegenheiten blieb der Name haften.

Unmittelbar rechts von Nicodemus steht Madeleine de Morny, deren Augen und Haut die Farbe von dunklem Teakholz haben und deren Gesichtsausdruck aus Quarz zu bestehen scheint. Madeleine ist das erste der untoten Kinder meines Onkels, das verwandelt wurde, und sie ist der Vampir, den Nicodemus vor allen anderen konsultiert. In den letzten Hundert Jahren ist sie ihm in vielen Dingen ebenbürtig geworden, auch wenn ich in Gegenwart meines Onkels nie wagen würde, das zu sagen. Leider weiß ich nur sehr wenig über Madeleines Vergangenheit an der Elfenbeinküste, abgesehen davon, dass sie Nicodemus angefleht hat, ihre jüngere Schwester Hortense zu verwandeln, als Gegenleistung für ihre ewige Treue. Und dass ihre größte Leidenschaft – abgesehen von ihrer Familie – darin besteht, sich in den Seiten eines guten Buches zu verlieren.

Hortense de Morny ruht auf einer Liege aus getuftetem Samt und spielt mit den Spitzen ihres langen, dichten Haares, das wie die Mähne eines Löwen gestriegelt ist. Ein amüsiertes Lächeln huscht über ihr Gesicht, und ihre rotbraunen Augen funkeln verrucht. Sie trägt ein Kleid aus transparentem Tüll, das genau die Farbe ihrer dunklen Haut hat. Von allen untoten Kindern des Nicodemus genießt Hortense die Unsterblichkeit am meisten. Sie ist Kunstliebhaberin und verbringt am liebsten den Abend auf Nicodemus’ Logenplätzen in der Französischen Oper – und schockiert mit ihrer Anwesenheit die lilienweißen Mitglieder der Gesellschaft von New Orleans. Gefolgt von einer Kostprobe der besten Musiker der Stadt. Die Geiger haben es ihr besonders angetan. Ihr Gesang ist wie Zuckerwatte, säuselt sie gerne.

Einer der Unsterblichen bleibt jedoch außerhalb des Kreises. Denn auch wenn man es ihm nicht ansieht – seine haselnussbraunen Augen haben einen ähnlich unmenschlichen Glanz, seine braune Haut denselben subtilen Schimmer – Arjun Desai ist kein Vampir. Er kam letztes Jahr auf Jaes Geheiß nach New Orleans. Arjun wurde unter der Schirmherrschaft der britischen Krone zum Anwalt ausgebildet, doch aufgrund seiner Herkunft wurde ihm der Zugang zu den heiligen Hallen des Anwaltsberufs verwehrt. Arjun, der vor neunzehn Jahren in Maharashtra, einem Staat in Ostindien, geboren wurde, ist ein Ätherischer, der Sohn eines sterblichen Mannes und einer Feen-Jägerin aus dem Waldestal. Ein weiteres Wesen, das die Grenze zwischen den Welten überschreitet. Seine Ankunft in der Crescent City löste zwei Probleme: dass das Interesse meines Onkels am Hotelgewerbe von New Orleans einen Anwalt mit besonderen Fähigkeiten erforderte und dass es den Gefallenen verboten war, weitere Vampire in die Stadt zu bringen, nachdem sie vor einem Jahrzehnt ein Abkommen mit der Bruderschaft geschlossen hatten. In weniger als einem Jahr hat sich Arjun als vollwertiges Mitglied des Cour des Lions etabliert.

Da stehen sie alle, aus allen Teilen der Welt und aus allen Schichten des Lebens. Jeder von ihnen ist auf seine Weise ein Löwe. Zwei meiner Blutsbrüder, drei meiner Blutsschwestern und ein Halb-Feenwesen.

Der schlaksige Nigel Fitzroy, der Vampir, der für meinen Tod verantwortlich ist, fehlt allerdings auf diesem perversen Tableau.

Wut steigt in mir auf. Ich schlucke, während sie durch meine Adern brennt, und meine Zähne knirschen laut in meinem Schädel.

Alles um mich herum wird schärfer. Es wird klarer, wie ein Lichtpunkt in einem Dunst der Dunkelheit.

Es ist kein unwillkommenes Gefühl. Ich möchte mich in ihm verlieren. Jeden Sinn für Logik aufgeben und mich um nichts anderes kümmern als um die Zerstörung. In einem solchen Gefühl liegt Reinheit. Vernunft in ihrer Einfachheit.

Ich entspanne meine Schultern und atme unnötig tief ein. Als ich mich noch einmal im Raum umsehe, fällt mein Blick auf meinen Onkel, dessen goldene Augen wie die eines Panthers im Schatten schimmern.

Nicodemus studiert mich, sein Gesicht ist wie aus Marmor gehauen. Eine einzelne teuflische Strähne schwarzen Haares fällt in seine Stirn. »Sébastien«, sagt er. »Weißt du, wer ich bin?« Er analysiert mich wie eines der vielen geflügelten Exemplare in seiner Sammlung. Wie eine Schmeißfliege mit schillernden Streifen, durch deren Bauch eine lange Metallnadel gestochen ist.

Wieder kocht die Wut in meiner Brust hoch. »Waren Sie wirklich besorgt, ich würde mich nicht an Sie erinnern, Monsieur le Comte?« Ich erwarte, dass meine Stimme durch die Abnutzung rau klingt, aber die dunkle Magie rundet ihren Klang ab, macht sie weich und melodiös.

Keine Spur von Erleichterung blitzt in Nicodemus’ Gesichtszügen auf, trotz des Beweises, dass mein Geist die Veränderung überlebt hat. »Es war eine reale Möglichkeit. Du warst dem Tod gefährlich nahe, als ich dich zu verwandeln begann.« Er hält inne. »Und es ist immer ein Wagnis, sterbliches Blut mit dem eines unsterblichen Vorfahren zu vermischen, wie du ja weißt.«

Ich weiß es. Ich blinzle die Erinnerung an meine Mutter weg, die vom Wahnsinn befallen war. Vergiftet vom Kummer. Besessen von dem Wunsch, zurückverwandelt zu werden und ihre sterbliche Form wiederzuerlangen. Ich sage nichts dazu. Diese Erinnerungen haben keinen Zweck mehr, außer meine Wut anzustacheln.

»Wie fühlst du dich?« Nicodemus tritt einen Schritt vor. Alles an ihm – von seinem glatten Haar bis zu seinen glänzenden Schuhen – verkörpert das Aussehen eines Gentlemans. Die Art von Gentleman, die ich von klein auf sein wollte. Aber in seiner Frage liegt ein seltsames Zögern.

Mein Onkel zögert nicht. Nie.

Das verwirrt mich. Aber ich will ihn meine Verwirrung nicht merken lassen und sage das Erste, was mir in den Sinn kommt. »Ich fühle mich mächtig.« Ich erwarte, dass meine Brüder und Schwestern mich wegen meiner Plattitüde auslachen.

»Bist du nicht … wütend?« Odettes Stimme ist sanft. »Ich weiß, das ist nicht das, was du …«

»Nein.« Ich lüge, ohne nachzudenken. »Ich bin nicht wütend.«

Erneut kehrt Schweigen ein.

Madeleine stürmt auf mich zu und bleibt abrupt stehen, als hätte sie sich im letzten Moment gefangen, die Handflächen beschwichtigend erhoben. »Hast du irgendwelche Fragen? Brauchst du irgendetwas? Il y a des moments où …«

»Ich glaube, ich verstehe das Wesentliche, Madeleine.« Ich unterdrücke eine weitere Welle des Zorns, der rasch von bitterer Belustigung verdrängt wird. »Trinke Blut und lebe ewig.« Ich grinse meine unsterbliche Familie an, dann zupfe ich meine fleckigen Manschetten zurecht.

»Hör auf«, sagt Jae. Die beiden Silben klingen wie Warnschüsse in der Dunkelheit.

Madeleine drehte sich zu Jae herum und versucht, ihn mit einem Blick zum Schweigen zu bringen.

Er ist unbeeindruckt. Ungerührt. »Sei wütend«, stößt er gepresst heraus. »Sei traurig. Sei alles, nur nicht das.«

Ich hebe eine Braue.

»Angst«, stellt Jae klar. »Du hast so viel Angst, dass ich deine Angst mit einem Messer zerschneiden könnte. Ich könnte sie in lange Bänder schneiden.« Mit seinem Kinn deutet er auf Odette. »Die sie in ihrem Haar tragen kann.«

Ich schlucke und bemühe mich weiterzulächeln. Ich überlege, ob ich Jae angreifen soll oder nicht.

Er beantwortet meine unausgesprochene Herausforderung sehr schnell. Wie ein Ghul gleitet Jae vorwärts, sein Mantel rauscht um ihn herum. Er zieht zwei Klingen aus den versteckten Scheiden seiner Jacke. Er lässt sie einmal in der Luft herumwirbeln und fordert mich auf, seine stumme Drohung zu erwidern.

Ich stehe gerade da, die Hände zu Fäusten geballt, und Feuer reinigt mich von innen. Er wird gewinnen. Daran gibt es keinen Zweifel. Aber ich werde nicht den Schwanz einziehen und weglaufen. Ich werde auf ihn losgehen, bis er gezwungen ist, mich niederzustrecken. Wenn er mich tief genug verletzt, finde ich vielleicht den Rest meiner Menschlichkeit wieder. Oder vielleicht unterliege ich einfach einer weiteren Lektion meines Onkels: zerstören oder zerstört werden.

Angst? Jae denkt, ich hätte Angst? Soll er sehen, was Angst wirklich ist.

Doch kurz bevor ich dieses Versprechen einlösen kann, klatscht mein Onkel in die Hände und fordert Ordnung, wie ein Richter, der den Hammer herabsausen lässt. Ich muss fast lachen, denn Le Comte de Saint Germain ist alles andere als der korrekte Gentleman, den er der Welt der Sterblichen so gern vorspielt.

Nicodemus ist in allen Kreisen der Anderswelt bekannt, sowohl für seinen Reichtum und seinen Einfluss als auch für seine Brutalität. Er war von Anfang an dabei, damals, als Vampire und Werwölfe noch in aus Eis gehauenen Schlössern lebten, tief in einem Wald der ewigen Nacht. Als Blutsauger und Gestaltwandler unter ihren Feenbrüdern lebten, wie die Götter auf dem Olymp, und mit den Menschen nur zum Vergnügen spielten. Er trieb sich mit den Nymphen, den Goblins, den Ogern, den Phoukas und den Halb-Geistern fernab der Welt der Sterblichen herum, an einem Ort des endlosen Winters, der als Waldeswildnis bekannt ist. Nicodemus erinnert sich noch an eine Zeit, in der sie ihre elfische Natur nicht versteckten, sondern sich in ihr aalten. Bis sich die Vampire in ihrem Streben nach Macht mit den Werwölfen verbündeten und einen großen Fehler begingen: Sie versuchten, ihr wertvollstes Gut mit den Menschen zu tauschen.

Ihre Unsterblichkeit.

Nicodemus ist einer der wenigen verbliebenen Vampire, die die Ereignisse der Verbannung miterlebt haben, die Zeit, in der Vampire und Werwölfe wegen dieser Vergehen vom Winterhof der Waldeswildnis verbannt wurden. Sie wurden gezwungen, ihre Besitztümer an den Sommerhof des Waldestals abzutreten.

»Jae«, sagt Nicodemus müde, »das reicht!«

Jae lässt seine Klingen mit zwei schnellen Handbewegungen wieder verschwinden. Es ärgert mich, wie schnell er gehorcht und wie kühl er ist, als hätte er nur eine Bemerkung über das Wetter machen wollen. Mein Onkel sieht mich an und erwartet, dass ich mich ebenso verhalte.

»Bastien«, sagt er. »Du wirst tun, was dein Schöpfer dir befiehlt, in diesem und in allen anderen Dingen.« Obwohl in seinem Ton keinerlei Vorwurf mitschwingt, spüre ich die Prüfung darin. Eine weitere Runde im sprichwörtlichen Ring.

Ich war klein als Kind. Ich fühlte mich in der Nähe von Büchern und Musik wohler als in der Nähe von Menschen. Um mir beizubringen, in einem überfüllten Raum aufrecht zu stehen, bezahlte mein Onkel mir ein Training mit dem besten Faustkämpfer von New Orleans. Trotz meiner Proteste lernte ich zu boxen. Anzutäuschen. Auszuweichen. Schläge einzustecken und sie auszuteilen.

Ich habe seit Jahren keinen Boxring mehr betreten, aber mein Onkel hat mit mir im metaphorischen Sinne geboxt, seit ich ein Junge war. Gehorche ich ohne Zögern, bin ich ein Schaf, wie Jae. Eine Kreatur, der bestimmt ist, zu dienen. Wenn ich mich wehre, bin ich ein Kind, das einen Wutanfall bekommt. Ein zappelnder Wurm, der nichts von Respekt weiß.

Die Regeln des Kampfs ändern sich wie die Jahreszeiten, ohne Vorwarnung.

Es ist ein unmöglicher Kampf. Den ich normalerweise verliere.

Vielleicht liegt es daran, dass Jae mir noch vor wenigen Augenblicken vorwarf, ich hätte Angst. Oder es mag daran liegen, dass mir die Konsequenzen völlig egal sind. Möglicherweise will ich auch einfach nur weiter Schläge austeilen, bis mein Gegner »Mea culpa!« schreit und sein Blut meine Fäuste befleckt.

Ich lache. Das Lachen steigt zur Kassettendecke empor.

In Nicodemus’ Blick schimmert so etwas wie Zustimmung auf. Mein Onkel verschmäht jedes Anzeichen von Schwäche. Wenigstens in dieser Hinsicht habe ich nicht versagt. Meine Brüder und Schwestern wechseln Blicke. Sie heben die Brauen. Sie verkneifen sich ihre scharfen Erwiderungen.

Noch bevor mein Lachen verstummt, greife ich an.

BASTIEN

In dem Moment, in dem meine Faust gegen Jaes Kiefer kracht, bricht ein Tumult aus.

Unser Assassine ist so verblüfft, dass er eine Sekunde braucht, um zu reagieren. Aber nur eine Sekunde. Er weicht aus, bevor ich auch meinen rechten Haken anbringen kann. Als Boone und Madeleine versuchen, sich einzumischen, werden sie von Nicodemus aufgehalten.