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Die 21 Kapitel dieses Bandes beleuchten pointiert verschiedene Dimensionen des Themenbereichs "Radikalisierung und Deradikalisierung". Autorinnen und Autoren aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft und (Sicherheits)-Behörden diskutieren dabei begriffliche Grundlagen, die verbindenden Elemente und Unterschiede der jeweiligen extremistischen Strömungen sowie das komplexe Gemenge an Faktoren, das Menschen in Radikalisierungsprozesse (und wieder heraus-) führen kann. Die Frage nach der Rolle der gesellschaftlichen Ebene wird ebenso diskutiert wie die Chancen und Risiken der praktischen Präventions- und Deradikalisierungsarbeit. Nicht zuletzt liefern die Beiträge konkrete Handlungsmöglichkeiten, die sich aus der Analyse der Phänomene ergeben. Ein Band auf Basis der gleichnamigen Blogreihe (04-06/2018) im PRIF Blog
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Seitenzahl: 184
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1. Auflage 2018 (Druckversion)
Frankfurt am Main, Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung
Ebenfalls erhältlich als PDF (HSFK) sowie Print-On-Demand-Buch (epubli)
Coverbild © iStock, #822924422
TextlizenzCC-BY-ND 4.0 (Namensnennung/Keine Bearbeitungen/4.0 International): Sie dürfen das Material also in jedwedem Format oder Medium vervielfältigen und weiterverbreiten und zwar für beliebige Zwecke, sogar kommerziell. Bedingungen: Namensnennung, keine Bearbeitungen.
ISBN (epub) 978-3-746777-35-1
Inhalt
Eine Einleitung zum Band
Magdalena von Drachenfels // Philipp Offermann // Carmen Wunderlich
Abschnitt A: Diskussion der Grundbegriffe
Warum wir nicht vom „Extremismus“ reden sollten
Simon Teune
Warum wir einen weiten Begriff von Radikalisierung brauchen
Hande Abay Gaspar // Christopher Daase // Nicole Deitelhoff // Julian Junk // Manjana Sold
Wir brauchen einen weiten Begriff von Radikalisierung – aber nicht immer und überall!
Aziz Dziri
Abschnitt B: Mehr als die Summe der Teile?
Irritierende ideologische Gemeinsamkeiten: Warum wir von Brücken-Dispositiven sprechen sollten
David Meiering
Gemeinsame Elemente in den Ideologien von Rechtsextremistinnen bzw. Rechtsextremisten und Islamistinnen bzw. Islamisten
Till Baaken // Maximilian Ruf
Online- oder Offline-Radikalisierung – oder doch ein Mix?
Hande Abay Gaspar // Manjana Sold
Abschnitt C: Sozialpsychologische Sicht auf Radikalisierung
Persönlichkeit oder Gruppe: Wo liegen die Wurzeln extremistischer Radikalisierung?
Fabian Srowig // Andreas Zick
Alle krank? Die Psycho(patho)logie individueller Radikalisierung
Katharina Seewald
Abschnitt D: Radikalisierung: Eine gesamtgesellschaftliche Angelegenheit?
Radikalisierung der Gesellschaft? Ein Streitgespräch
Oliver Decker // Christian Joppke
Radikalisierung in der Migrationsgesellschaft – wo liegen die Ursachen ethnisch-nationalistischer Mobilmachung?
Kemal Bozay
Deutschlands pluralistische Gesellschaft und seine umstrittene religiöse Prägung
Magdalena von Drachenfels
Abschnitt E: Chancen und Risiken der praktischen Deradikalisierungs- und Präventionsarbeit
Mehr als nur Dienstleister: Zivilgesellschaftliche Präventionsarbeit in Deutschland
Götz Nordbruch
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“? Sicherheitspolitisches vs. pädagogisches Handeln in der Extremismusprävention
Dennis Walkenhorst // Maximilian Ruf
Radikalisierung als Flucht und kommunale Präventionsarbeit als Chance
Janusz Biene
Herausforderungen und Grenzen von Online-Gegennarrativen
Alexander Meleagrou-Hitchens // Lorenzo Vidino
Radikalisierungsprävention – alles da, wo es sein muss?
Michael Kiefer
Das (zu) weite Feld der Prävention oder: Wo Prävention beginnen und enden sollte
Frank Greuel
Abschnitt F: Ausblick in das Handlungsfeld
Funktionsweise und Wirkung von Ansätzen der Extremismusprävention
Andreas Armborst
Ein Plädoyer für gegenstandsangemessene Evaluationsforschung
Björn Milbradt
Weder übertreiben noch ignorieren: Religion in der praktischen Deradikalisierung und Extremismusprävention
Maximilian Ruf // Till Baaken
Ausstiegsberatung, Verschwiegenheit, Zeugnisverweigerungsrecht – und unsere schlechte nationale Vertrauenslage
Tobias Meilicke // Harald Weilnböck
Fazit: Stärkung der gesamtgesellschaftlichen Zusammenarbeit durch Dialog und Wissenstransfer
Magdalena von Drachenfels // Philipp Offermann // Carmen Wunderlich
Autorinnen- und Autorenverzeichnis
Eine Einleitung zum Band
Magdalena von Drachenfels // Philipp Offermann // Carmen Wunderlich
Extreme politische Ansichten haben Konjunktur – die liberale Werteordnung steht derzeit vor verschiedenen Herausforderungen. Auch in Deutschland wird die pluralistische Verfasstheit der Gesellschaft in Frage gestellt. Auf der rechten und linken Seite des politischen Spektrums sowie im Kontext islamistischer Strömungen radikalisieren sich Positionen. Mitunter geschieht dies unter Rückgriff auf antidemokratische Mittel bis hin zu Gewalt, und manche dieser Ansichten finden sich durchaus auch in der Mitte der Gesellschaft wieder. Dabei stellen sich einige Fragen: Ab wann kann bei diesen Prozessen von einer Radikalisierung gesprochen werden? Welche individuellen und kollektiven Faktoren spielen dabei eine Rolle? Wie können Straftaten verhindert und liberale Werte und Institutionen gestärkt werden? Welche Anreize zum Ausstieg aus extremistischen Gruppen können geboten und welche Maßnahmen zur Deradikalisierung getroffen werden? Aber auch, wie viel Radikalität muss eine demokratische Gesellschaft eigentlich aushalten (können)? In der wissenschaftlichen wie praktischen Beschäftigung mit diesen Themen bleibt zudem offen, an welcher Stelle Prävention und Deradikalisierung ansetzen sollten, und ob beispielsweise Programme gegen politischen auch gegen religiösen Extremismus wirksam sein können.
Vor diesem Hintergrund entstand das vom Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung koordinierte Projekt „Gesellschaft Extrem: Radikalisierung und Deradikalisierung in Deutschland“, in dessen Rahmen dieser Band erschienen ist.1 Gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung zielte das Projekt darauf ab, bestehende Wissensbestände innerhalb der Forschung zu diskutieren und praktische Umgangsmöglichkeiten mit der Thematik aufzuzeigen. Der vorliegende Band basiert auf einer im April 2018 gestarteten Blogserie, in der Autorinnen und Autoren aus Wissenschaft und Praxis die Erkenntnisse ihrer Arbeit im Kontext von Radikalisierung und Deradikalisierung erläuterten. Die 21 Kapitel dieses Bandes beleuchten pointiert verschiedene Dimensionen des Themenbereichs „Radikalisierung und Deradikalisierung“. Die Phänomene werden aus verschiedenen Perspektiven als gesamtgesellschaftliche Herausforderung betrachtet. Dabei diskutieren die Autorinnen und Autoren begriffliche Grundlagen, die verbindenden Elemente und Unterschiede der jeweiligen extremistischen Strömungen sowie das komplexe Gemenge an Faktoren, das Individuen in Radikalisierungsprozesse (und wieder heraus-) führen kann. Die Frage nach der Rolle der gesellschaftlichen Ebene und ob sich gar gesamte Gesellschaften radikalisieren (können) wird ebenso diskutiert wie die Chancen und Risiken der praktischen Präventions- und Deradikalisierungsarbeit. Nicht zuletzt liefern die Beiträge konkrete Handlungsmöglichkeiten, die sich aus der Analyse der Phänomene ergeben.
Wir hoffen, dass das vorliegende Buch den Wissensstand über Radikalisierung und Prävention sowie die Debatte in diesem Forschungs- ud Handlungsfeld bereichert, indem es zu einem sachlichen und informierten Umgang mit der Thematik beiträgt und darüber hinaus Denkanstöße liefert, die in adäquate Politik- und Handlungsoptionen umgesetzt werden können.2
1Weitere Informationen und Forschungsergebnisse finden sich unter https://gesellschaftextrem.hsfk.de.
2Die Beiträge stellen die Kontroversen im Forschungs- und Handlungsfeld „Radikalisierung und Prävention“ dar und sollen zur Diskussion anregen. Wir möchten uns insbesondere bei Klara Sinha und Karin Hammer für die Unterstützung bei der Überarbeitung und Editierung des Bandes bedanken.
Abschnitt A: Diskussion der Grundbegriffe
Auch kompakte Darstellungen komplexer Sachverhalte wie der vorliegende Band müssen auf einem Minimum an geteilten Begriffen aufbauen, um verständlich zu bleiben und Zugang zu verschiedensten Adressatenkreisen zu finden. Es ist daher unabdingbar, sich über bestimmte Grundbegriffe zu verständigen. Das bedeutet nicht, zu letztgültigen Definitionen und damit zwangsweise Minimalbestimmungen zu gelangen. Doch sollte zumindest ein Bewusstsein für die Umstrittenheit mancher Begriffe vorhanden sein. Dies ist umso wichtiger, wenn wie in diesem Fall, ganz unterschiedliche Phänomene unter ähnlichen Fragestellungen erforscht werden sollen.
Eine solche Begriffsarbeit leisten die drei ersten Beiträge in diesem Band. Schon im ersten Text zeigt Simon Teune auf, wie problematisch eine geteilte Annahme über einen Begriff – hier „Extremismus“ – sein kann. Durch seine Allgegenwärtigkeit schreibe sich die Verwendung des Extremismus-Begriffs immer weiter fort (so auch im Titel unseres Forschungsprojekts), obwohl damit ganz unterschiedliche Dinge benannt werden können. Politisch problematisch, so Teune, werde die Rede vom Extremismus, wenn sie den Raum für Dissenz innerhalb einer Gesellschaft verkleinere. Entsprechend fordert er: „Statt über ein Label vermeintlich Klarheit herzustellen, braucht es eine Auseinandersetzung darüber, was konkret als problematische Entwicklung gefasst wird.“
Über den Anwendungsbereich von Begrifflichkeiten, diesmal allerdings des Radikalisierungsbegriffs, wird auch in den nächsten beiden Beiträgen gestritten. Abay Gaspar, Daase et al. sprechen sich gegen ein rein gewaltgebundenes Verständnis von Radikalisierung und für ein weites Begriffsverständnis aus, das „die zunehmende grundlegende Infragestellung der Legitimation einer normativen Ordnung und/oder die zunehmende Bereitschaft umfasst, die institutionellen Strukturen dieser Ordnung zu bekämpfen“. Zwar stimmt Aziz Dziri zu, dass ein weiter Radikalisierungsbegriff vor allem in der vergleichenden Forschung durchaus angebracht sein könne. Er gibt allerdings auch zu bedenken, dass manche Kontexte, insbesondere solche, die (sicherheitsrelevante Handlungsoptionen nach sich ziehen, einen engen Radikalisierungsbegriff erforderlich machen. „Eine Änderung der Parameter und des Rahmens der Definition“, so seine Schlussfolgerung, sollte daher an die je spezifische Nutzung des Begriffs angepasst werden.
Warum wir nicht vom „Extremismus“ reden sollten
Simon Teune
In der sozialwissenschaftlichen Debatte über Radikalisierung hat es sich – wie im politischen Raum – eingeschliffen, von Extremismus und Extremistinnen bzw. Extremisten zu reden. Doch gerade wenn es darum geht, Prozesse zu verstehen, die in der Befürwortung von Gewalt und schließlich in Gewalthandeln enden, ist die Rede vom Extremismus nicht nur intellektuell unbefriedigend, sondern politisch fatal. Das Extremismuskonzept geht vielen in der Diskussion leicht über die Lippen, weil es unterschiedliche Entwicklungen zusammenfasst, die eine offene Gesellschaft in Frage stellen. Es schafft aber keinen Erkenntnisgewinn – und wirft eine Reihe neuer Probleme auf: die Rede vom Extremismus vernebelt den Blick auf gesellschaftliche Probleme, sie entlässt Akteure aus der Verantwortung, die in diese Probleme verstrickt sind, und sie distanziert diejenigen, die mit Deradikalisierungsprogrammen erreicht werden müssen.
In den Sozialwissenschaften flammt die Diskussion über das Konzept des Extremismus immer wieder auf. Insbesondere in der Forschung zum Neonazismus ist es kritisch diskutiert und in der Konsequenz von vielen in der Substanz abgelehnt worden. Auch wenn einige in Forschung und Zivilgesellschaft den Begriff der extremen Rechte vorziehen, bleibt der Rechtsextremismus bis heute die dominante Bezeichnung. An dem Verlauf dieser Debatte zeigt sich die intellektuelle Trägheit, die den Gebrauch des Extremismuskonzepts insgesamt auszeichnet. Obwohl die Probleme des Begriffs ausgesprochen und anerkannt sind, wird er weiter verwendet und prägt damit den Blick auf die Welt in einer Weise, die auf mehreren Ebenen problematisch ist.
Ein vernebelter Blick auf gesellschaftliche Probleme
Rechtsextremismus, Linksextremismus, islamistischer Extremismus – diese Begriffe schaffen Ordnung im politischen Koordinatensystem. Aber die vermeintliche Klarheit erweist sich bei näherer Betrachtung als Illusion. Gerade der genannte Dreiklang vernebelt den Blick auf sehr unterschiedliche gesellschaftliche Konflikte und Probleme. Auch wenn die Extremismusforschung Unterschiede zwischen den der Logik des Verfassungsschutzes folgenden Phänomenbereichen betont, läuft der Alltagsgebrauch allzu häufig auf eine Gleichsetzung hinaus. Dabei sind nicht alle Begriffe gleichermaßen klar konturiert, so dass deutlich würde, von welchen gesellschaftlichen Akteuren und Problemlagen überhaupt die Rede ist. Allein was unter „Rechtsextremismus“ zu verstehen sei, ist mehr oder weniger konsensfähig: das Zusammentreffen von völkischem Nationalismus, Ideologien der Ungleichwertigkeit und der Bejahung von Gewalt. Welche Problemkonstellation mit dem Begriff „islamistischer Extremismus“ zu fassen ist und noch mehr, wie der Begriff „Linksextremismus“ inhaltlich begründet werden kann, ist kaum befriedigend beantwortet worden. Im letzten Fall ist auf der einen Seite von totalitären Ideologien die Rede, die keine Pluralität zulassen und demokratische Organisationsformen ablehnen. Auf der anderen Seite wird unter „Linksextremismus“ gewaltförmiges Handeln und dessen antikapitalistische und anti-etatistische Legitimation gehandelt. Beides zusammen – eine Haltung der Einschränkung individueller Rechte und die Befürwortung politischer Gewalt – ist aber nur in Bruchteilen bei der radikalen Linken anzutreffen – trotzdem wird das Label deutlich freigiebiger ausgegeben.
Insbesondere dann, wenn es darum gehen soll, Radikalisierungsprozesse zu verstehen, die in Gewalthandeln enden, ist es geradezu absurd, unterschiedliche Formen und Legitimationen der Gewalt gemeinsam zu verhandeln. Dass dies die politische Konsequenz des Extremismusparadigmas ist, zeigt der Versuch, Ausstiegsprogramme auf die radikale Linke zu übertragen – nachgewiesenermaßen ohne Erfolg. Statt über ein Label vermeintlich Klarheit herzustellen, braucht es eine Auseinandersetzung darüber, was konkret als problematische Entwicklung gefasst wird. Nur so werden gesellschaftliche Probleme verhandelbar und für Zivilgesellschaft und staatliche Stellen adressierbar.
Stillstellung gesellschaftlicher Konflikte
Offene Gesellschaften entwickeln sich in der Aushandlung von Konflikten weiter. Solche Konflikte sind nicht aus der Welt zu räumen; sie bleiben in der Regel wegen unterschiedlicher Erfahrungen und Interessen bestehen. Die Formen, in denen solche Auseinandersetzungen verlaufen, sind in großen Teilen eingeübt. Die Akteure beschränken ihre Handlungen dabei in der Regel selbst. Radikalisierung in Gewalthandeln, also die Hinwendung zu einer Form der Auseinandersetzung, die die Selbstbeschränkung aufgibt und die Integrität des Gegenübers in Frage stellt, geschieht insbesondere da, wo die öffentliche Aushandlung gesellschaftlicher Konflikte verweigert wird.
Die Rede vom Extremismus schlägt diese Richtung ein. Sie vermittelt eine binäre und statische Vorstellung von gesellschaftlichen Konflikten: auf der einen Seite die Extremistinnen und Extremisten, die es zu bekämpfen gilt, auf der anderen die Mitte der Gesellschaft und die freiheitlich-demokratische Grundordnung, die es zu verteidigen gilt. Dass der Streit in Demokratien eine zentrale Qualität ist, geht dabei verloren. Ein Beispiel: Politische Gewalt, vom Steinewerfen bei Demonstrationen bis zum terroristischen Mord, ist tief verwurzelt in männlicher Dominanzkultur. Wenn man diese Perspektive anerkennt, kommt ein Machtverhältnis in den Blick, das die Gesellschaft insgesamt durchzieht. Misogyne Gewalt, männliches Anspruchsdenken, sind Alltag; sich dagegen zur Wehr zu setzen, Gewalt sichtbar zu machen und sie rechtlich zu sanktionieren, ist Gegenstand lang andauernder Auseinandersetzungen. Erst der Kampf um die Ahndung häuslicher Gewalt hat Schutzmechanismen hervorgebracht, die Betroffenen grundlegende Rechte eröffnen. Den Ursprung politischer Gewalt in männlicher Dominanzkultur zu thematisieren, ist deutlich invasiver, als sie in den Handlungsbereich des Extremismus zu verbannen. Es ruft die Verantwortung jeder und jedes Einzelnen auf.
Exkulpation der Mitte
Mit der Verlagerung gesellschaftlicher Probleme ins Außen suggeriert das Extremismuskonzept, dass die demokratisch gesinnten Bürgerinnen und Bürger, die so oft beschworene gesellschaftliche Mitte und der Verfassungsstaat Opfer der Extremistinnen und Extremisten sind. Diese Vorstellung erweist sich als gefährliche Illusion, denn sie verschleiert, dass Radikalisierungsprozesse wesentlich vom Verhalten staatlicher, ökonomischer und zivilgesellschaftlicher Akteure abhängig sind.
Untersuchungsausschüsse, Nebenklageanwältinnen und -anwälte sowie Rechercheinitiativen haben deutlich gezeigt, dass es das rechtsterroristische Netzwerk „Nationalsozialistischer Untergrund“ ohne das Verhalten der Verfassungsschutzämter nicht in der Form gegeben hätte. Der Zusammenschluss konnte so über Jahre rauben, bomben und morden.Bei den G20-Protesten erklärten die politisch Verantwortlichen die Gewalteskalation schnell mit der Durchtriebenheit „linksextremistischer Gewalttäter“ – und verschleierten damit die komplexe Dynamik einer versammlungsfeindlichen Polizeistrategie, einer stigmatisierenden öffentlichen Debatte und der spezifischen Gelegenheitsstruktur zur Legitimation von Gewalthandeln, die sich alles andere als schicksalshaft entwickelte.Die Radikalisierung der völkischen Protestwelle, die mit den Demonstrationen von Pegida ihren zahlenmäßigen Höhepunkt fand, ist nicht ohne die öffentlichen Debatten um die Dresdner Proteste zu verstehen. Die schrillen Reaktionen aus Regierung und Parteien, die Überhöhung der Ereignisse durch eine überbordende Berichterstattung, haben die völkische Kritik an Medien und Regierung und damit die Stilisierung als Widerstandsbewegung bestärkt. Gleichzeitig hat der Umgang mit Pegida einen Resonanzraum eröffnet, in dem die dort geäußerten Forderungen, etwa die Einschränkung der Rechte von Asylsuchenden, von politisch Verantwortlichen vollstreckt wurden.Wenn es um die Entwicklung von Gewaltorientierung geht, steht niemand außerhalb einer gesellschaftlichen Dynamik, die für solche Formen der Radikalisierung den Rahmen bietet. Es gibt in diesem Zusammenhang keine unschuldige Position. Die Rede vom Extremismus spricht aber alle Akteure frei, die nicht mit dem Label belegt werden. Sie entlässt sie damit aus der Pflicht, die eigene Verstrickung in gesellschaftliche Konflikte und Machtverhältnisse zu reflektieren.
Stigmatisierung
Die Rede vom Extremismus erweist sich auch im praktischen Umgang mit Radikalisierungsdynamiken als kontraproduktiv. Die Bezeichnung „Extremismus“ ist eine Feindbestimmung. Mit ihr ist bereits alles gesagt. Damit wird sie zum Teil des Problems: Sie distanziert und ächtet Zielgruppen, die für Radikalisierung in die Gewalt anfällig sind. Deradikalisierungsprojekten wird damit der Zugang zu denen verbaut, die angesprochen werden sollen. Wenn die Beteiligung an einem Programm mit der Zuschreibung „Extremistin“ bzw. „Extremist“ einhergeht, erhöht das nicht nur die Schwelle des Einstiegs, es dürfte auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Verstrickung kaum motivieren.
Die Rede von „Extremistinnen“ bzw. „Extremisten“ suggeriert darüber hinaus, dass alle, die so bezeichnet werden, gleichermaßen eine Gefahr für Demokratie und Menschenrechte sind. Dieses Mantra, das im politischen Raum vor allem von Konservativen reflexhaft zu hören ist, demotiviert und entfremdet insbesondere diejenigen, die sich gegen Rassismus und völkische Ideologie engagieren. Das Stigma „Extremismus“ überlässt es im Zweifel den Verfassungsschutzberichten, darüber zu urteilen, wo die Grenze von Innen und Außen verläuft. Dass dieses Konzept geradezu grotesk unterkomplex ist, zeigt die Entwicklung der letzten Jahre. Weil rassistische und völkische Ressentiments weniger oder subtiler mit Bezug zum historischen Nationalsozialismus artikuliert werden, sind sie lange als gesellschaftliche Herausforderung unterschätzt worden. Die „Lügenpresse“-Rufe und die rassistischen Attacken auf (vermeintliche) Geflüchtete und ihre Unterkünfte laufen unterhalb des Radars des Extremismus. In der Logik des Verfassungsschutzes sind nicht die Pegida-Demonstrationen als solche das Beobachtungsobjekt, sondern sie erscheinen als Aktionsfeld von Extremisten. Aus diesem Beispiel lässt sich aber auch ableiten, was die Leitplanken in der Aushandlung gesellschaftlicher Konflikte sein sollten. Auf den Demonstrationen von Pegida werden die Grundsätze der liberalen Demokratie offensiv in Frage gestellt. In der Auseinandersetzung mit dieser Herausforderung ist die Kategorisierung als extremistisch nicht hilfreich. Der Maßstab der Kritik muss immer lauten: Inwiefern schränken Aussagen und Handlungen die Freiheiten und Rechte von Menschen ein? Und inwiefern sind sie orientiert an einer pluralen Demokratie oder an einer autoritären Form politischer Organisation? Würden diese Fragen konsequent gestellt, gäbe es einen normativen Nullpunkt, um auf einer gemeinsamen Basis unterschiedliche Wege der Radikalisierung in Gewalt zu diskutieren.
Warum wir einen weiten Begriff von Radikalisierung brauchen
Hande Abay Gaspar // Christopher Daase // Nicole Deitelhoff // Julian Junk // Manjana Sold
Radikalität und Radikalisierung werden heutzutage als zentrale Kennzeichen einer globalen politischen Krise angesehen. Der häufige Bezug auf den Begriff der Radikalisierung in öffentlichen Debatten täuscht jedoch darüber hinweg, wie umstritten der Begriff ist, sowohl in der Frage, auf welche Phänomene er zugreift, als auch mit Blick auf seine normative Bewertung. Heute wird Radikalisierung vorwiegend als Hinwendung zur politischen Gewaltausübung im Kontext von Terrorismus und Extremismus verstanden. Das hat für die Forschung und für die politische Praxis allerdings problematische Konsequenzen. Wir plädieren daher für einen weiten Begriff von Radikalisierung, der die zunehmende grundlegende Infragestellung der Legitimation einer normativen Ordnung und/oder die zunehmende Bereitschaft umfasst, die institutionellen Strukturen dieser Ordnung zu bekämpfen.
Im öffentlichen Diskurs umfasst Radikalisierung so unterschiedliche Phänomene wie Fremdenfeindlichkeit auf der einen und körperliche Selbstoptimierung oder Veganismus auf der anderen Seite, die überwiegend als individuelle Reaktionen auf gesellschaftliche Ungewissheiten gedeutet werden. Zumeist wird der Begriff gegenwärtig aber auf die zunehmende Bereitschaft junger Musliminnen und Muslime verengt, sich dem Dschihadismus zuzuwenden und im Namen des Islams Terroranschläge zu verüben. Die Verengung des Radikalisierungsbegriffs auf die Hinwendung zur politischen Gewalt und mehr noch auf den (religiösen) Fundamentalismus oder schlicht Terrorismus setzte spätestens mit den Anschlägen von Madrid (2004) und London (2005) ein. Dieses gewaltgebundene Verständnis von Radikalisierung hat sich inzwischen verfestigt und zeitigt konkrete Probleme in der Forschung zu und im politischen Umgang mit Radikalisierung. In empirisch-analytischer Hinsicht verhindert es, dass wir die Mechanismen von Radikalisierung besser verstehen, weil wir einen Teil des Phänomens (nämlich gewaltfreie Radikalisierungsprozesse) von vornherein aus der Analyse ausschließen. In normativ-praktischer Hinsicht geraten damit auch potenziell emanzipatorische Prozesse in den politischen Sog einer Sicherheitsdebatte, die ihnen ihre Legitimität abspricht.
Das war keineswegs immer so. Im Europa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren es die Anhängerinnen und Anhänger des politischen Liberalismus bzw. der Demokratie, die als Radikale bezeichnet wurden, und bis vor Kurzem galt Radikalismus als politischer Richtungsbegriff einer bürgerlichen Linken. Dass heute Radikalität, das heißt die Absicht, politische Probleme „an der Wurzel zu packen“, hauptsächlich mit links- und rechtsextremen Positionen, religiösem Fanatismus und politischer Gewalt in Verbindung gebracht wird, sagt viel über die Krisenwahrnehmung unserer Zeit aus: Liberale Gesellschaften sehen ihre normative Ordnung vielfältigen Bedrohungen ausgesetzt und reagieren mitunter mit Abschottungs- und Exklusionsmaßnahmen, die bis an die Aufweichung oder gar Aufgabe liberaler Grundwerte reichen. Angesichts politischer Radikalisierungstendenzen radikalisiert sich auch der gesellschaftliche Diskurs über Radikalisierung und der Begriff wird politisch vereinnahmt.
Zur Abgrenzung des Radikalisierungsbegriffs
Die Gleichsetzung von Radikalisierung und politischer Gewaltanwendung im Kontext von Terrorismus und Extremismus findet sich freilich nicht nur im alltäglichen Sprachgebrauch in Politik und Medien; auch in der Radikalisierungsforschung ist sie anzutreffen. So stellen Stufenmodelle der Radikalisierung, die Radikalisierungsprozesse als Ablaufsequenzen mit verschiedenen Stationen betrachten, einen direkten Zusammenhang zwischen Radikalisierung und Terrorismus her. Gewaltanwendung wird dann als logischer Endpunkt von Radikalisierung verstanden, es sei denn, der Radikalisierungsprozess bricht vorher bereits ab. Dieser Abbruch wird aber oftmals nicht mit derselben Stringenz ausbuchstabiert. Im Gegenteil: Oftmals wird eine Art Automatismus hin zur Gewaltanwendung unterstellt.
Diese analytisch-empirische Verengung des Radikalisierungsbegriffs gerät schnell zur Legitimationsfolie für manch unverhältnismäßige Gegenmaßnahme, wie etwa flächendeckende Überwachungsmaßnahmen im öffentlichen Raum. Terrorismus kann als ein mögliches Ergebnis von Radikalisierung verstanden werden, keineswegs jedoch mit Radikalisierung gleichgesetzt werden. Ganz ähnliche Problematiken entstehen durch die synonyme Verwendung von Extremismus und Radikalisierung. Nicht nur beschreibt Extremismus, anders als Radikalisierung, einen Zustand, aber keinen Prozess. Darüber hinaus wird von Extremismus, zumindest im wissenschaftlichen Diskurs, primär im Kontext demokratischer Gesellschaften gesprochen. Extremismus wird als Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates, seiner Grundwerte und Verhaltensregeln verstanden, während Radikalisierung, unabhängig von politischen Systemen, als Form einer zunehmenden Infragestellung geltender Ordnungen gedacht werden kann.
Vorschlag eines weiten Radikalisierungsbegriffs
Um dem Phänomen „Radikalisierung“ gerecht zu werden, ist es aus unserer Sicht unerlässlich, über die Prozesse der Radikalisierung in die Gewalt hinauszugehen und, empirisch wie auch theoretisch, den Blick auf Radikalisierungsprozesse unabhängig von Gewalt einerseits und Radikalisierungsprozesse in der Anwendung von Gewalt andererseits auszuweiten. Wir plädieren daher für einen weiten Radikalisierungsbegriff und verstehen unter Radikalisierung die zunehmende grundlegende Infragestellung der Legitimation einer normativen Ordnung und/oder die zunehmende Bereitschaft, die institutionellen Strukturen dieser Ordnung zu bekämpfen.
Damit verbinden wir drei wesentliche Vorteile: Ein weiter Radikalisierungsbegriff wird, erstens, dem Prozesscharakter von Radikalisierung gerechter und erlaubt eine analytische Durchdringung seiner Start- und Ausstiegspunkte. Ob Radikalisierung zu Gewaltanwendung führt, ist letztlich eine empirische Frage. Sie muss im Einzelfall geklärt und als ein möglicher Kausalpfad mithilfe vergleichender Forschung theoretisiert werden. Radikalisierung als Prozessbegriff fasst durch die Betonung von Zeitlichkeit oder Geschwindigkeit auch verschiedene Formen der Entradikalisierung analytisch klarer. Radikalisierung so verstanden lässt, zweitens, die Verbindung von Rhetorik und Handlung als Ausdruck von Radikalisierungsprozessen zu, aber auch ihre analytische Trennung. Das Verhältnis von Handlung und Diskurs wird somit ebenfalls zur empirischen Frage. Drittens schlagen wir mit dieser Definition vor, von der Infragestellung normativer und nicht nur politischer Ordnungen auszugehen. Radikalisierung kann sich auch auf gesellschaftliche Zusammenhänge richten, die die politische Ordnung nicht oder nur am Rande betreffen – sie kann auch gesellschaftlich, wirtschaftlich, religiös oder anders ausgerichtet sein. Entscheidend ist, dass diese Ordnung durch Normen und Institutionen Erwartungen erzeugt, die Menschen nicht länger bereit sind zu erfüllen, zunehmend ablehnen und Bereitschaft zeigen, diese zu bekämpfen.
Der hier vertretene Radikalisierungsbegriff unterscheidet mithin drei Grundformen von Radikalisierung mit Bezug auf die Gewaltfrage: (A) Radikalisierung in die Gewalt, (B) Radikalisierung in der Gewalt und (C) Radikalisierung ohne Gewalt. Radikalisierung in die Gewalt verbindet rhetorische wie handlungsorientierte Elemente der Radikalisierung. Während bei Radikalisierung ohne Gewalt das diskursive Element unserer Definition im Vordergrund steht, ist es bei Radikalisierung in der Gewalt eher die Handlungseskalation als solche.
Implikationen für Wissenschaft und Praxis
Aus dem engen Verständnis von Radikalisierung ergeben sich Konsequenzen für Wissenschaft ebenso wie für die, vereinfacht gesprochen, Praxis in Politik, Verwaltung, Zivilgesellschaft und Medien. Die Verengung des Radikalisierungsbegriffs auf die Gewaltfrage tendiert dazu, einige Fragen der Ursprünge von Radikalisierung und der gewaltlosen Radikalität aus dem Blick zu verlieren. Eine Erweiterung des Phänomenbereichs führt aber auch zu neuen Herausforderungen und Handlungsoptionen.