Rain Dogs - Adrian McKinty - E-Book
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Rain Dogs E-Book

Adrian McKinty

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Beschreibung

Unruhen bekämpfen, Herzschmerz und Fälle aufklären, die aber nicht vor Gericht gebracht werden dürfen, darin ist Sean Duffy als katholischer Bulle in Nordirland inzwischen Spezialist. Immerhin bekommt er es zum zweiten Mal in seiner Karriere mit einem locked room mystery zu tun, und welcher Bulle – in Nordirland oder sonstwo, katholisch oder nicht – kann das schon von sich behaupten?
Die Journalistin Lily Bigelow wird im Hof von Carrickfergus Castle, wo sie sich allem Anschein nach über Nacht hat einschließen lassen, tot aufgefunden. Selbstmord, glaubt man, aber ein paar Dinge geben Sean Duffy zu denken, und er weigert sich, es dabei zu belassen. Duffy findet heraus, dass Bigelow an einer verheerenden Enthüllung in Sachen Korruption und Amtsmissbrauch innerhalb der höchsten Regierungskreise Großbritanniens und darüber hinaus gearbeitet hat. Und so sieht er sich mit zwei schwerwiegenden Problemen konfrontiert: Wer hat Lily Bigelow umgebracht? Und was wollte er oder sie damit vertuschen?

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Die Journalistin Lily Bigelow wird im Hof von Carrickfergus Castle, wo sie sich allem Anschein nach über Nacht hat einschließen lassen, tot aufgefunden. Niemand außer ihr war sonst in der Burg. Selbstmord, glaubt man, aber ein paar Dinge geben Sean Duffy zu denken, und er weigert sich, es dabei zu belassen. Duffy findet heraus, dass Bigelow an einer verheerenden Enthüllung in Sachen Korruption und Amtsmissbrauch innerhalb der höchsten Regierungskreise Großbritanniens und darüber hinaus gearbeitet hat. Und so sieht er sich mit zwei schwerwiegenden Problemen konfrontiert: Wer hat Lily Bigelow umgebracht? Und was wollte er oder sie damit vertuschen?

Adrian McKinty, geboren 1968 in Belfast, zählt zu den wichtigsten nordirischen Krimiautoren. Nach einem Philosophiestudium an der Oxford University verschlug es ihn nach New York und Denver, wo er verschiedenste Jobs annahm, vom Barkeeper bis zum Rugby-Coach. Heute lebt der mit dem Ned Kelly Award und zahlreichen anderen Preisen ausgezeichnete Autor mit seiner Familie in Melbourne, Australien.

Peter Torberg arbeitet seit 1986 als Übersetzer und hat neben vielen anderen auch Werke von Garry Disher, David Peace, Mark Billingham und Daniel Woodrell ins Deutsche übertragen.

ADRIAN MCKINTY

RAIN DOGS

Thriller

Aus dem Englischen von Peter Torberg

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

Rain Dogs

bei Serpent’s Tail, London.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4747.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016 © 2015 Adrian McKinty

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlagfoto: shutterstock/Mr Twister (Hintergrund); jimkruger/Getty Images (Wolf)

Umschlaggestaltung: cornelia niere, münchen

eISBN 978-3-518-74848-0

www.suhrkamp.de

Oh how we danced with the Rose of Tralee,

Her long hair black as a raven,

Oh how we danced and she whispered to me,

You’ll never be going back home.

Tom Waits, Rain Dogs (1988)

Der alte Nährstoff der Helden:

die Falschheit, die Niederlage, die Demütigung.

Jorge Luis Borges, Matthäus 25:30

1 DER BERÜHMTESTE MANN DER WELT

Selbst die vor Wut schäumenden Rassisten auf der anderen Seite der Polizeiabsperrung waren kurz sprachlos vor Ehrfurcht, als sie Muhammad Ali, den Champ, zum ersten Mal zu Gesicht bekamen, wie er vor dem Rathaus von Belfast leichtfüßig, ja schmetterlingsgleich, aus dem Bus stieg. Klar war er überdurchschnittlich groß, aber ihn umgab auch eine besondere Aura. Zehn Jahre nach seiner Glanzzeit, korpulenter, grauhaariger und mit den ersten Anzeichen von Parkinson – so die Gerüchte –, war er noch immer der berühmteste Mann auf dem Globus. Er trug Adidas-Sportschuhe, einen roten Trainingsanzug und eine Sonnenbrille. Zwei Bodyguards der Nation of Islam in dunklen Jacketts und mit Fliegen begleiteten ihn, ein Schritt dahinter folgte Reverend Jesse Jackson, in Amerika wohl eine Berühmtheit, hier drüben aber weitgehend unbekannt.

Der Champ stieg aufs Podium, und die Menge drängte nach vorn, um besser sehen zu können. Und im Polizistenhirn: So kann ein Irrer besser an ihn rankommen – mit einer Flasche, einem Ziegelstein oder einer versteckten Pistole. Der Mann wurde verehrt, klar, aber er wurde auch gehasst, und sein erster Titelkampf gegen den glücklosen Sonny Liston hatte ihm zu gleichen Teilen Feinde und Bewunderer eingebracht. Im Laufe der Jahre waren es weniger Feinde geworden, doch die Feindseligkeit schwelte immer noch in den Herzen jener, die durch die Krankheiten Rassismus, Patriotismus und religiöser Eifer geschwächt waren.

Der Champ nahm die Sonnenbrille ab, klopfte ans Mikro, trat einen Schritt zurück und legte eine Runde Schattenboxen hin. Jubel brandete durch die Menge. Genau das hatten sie sehen wollen. »Schau dir die Füße an!«, sagte jemand vor mir – eine kluge und faustkämpferisch scharfsinnige Bemerkung. Der Champ tanzte wie ein junger Bursche, wie der dürre Kerl, der bei den Olympischen Spielen in Rom Zbigniew Pietrzykowski ausgetrickst hatte.

Er hatte die Menge fest im Griff, dabei hatte er noch kein Wort gesagt.

Es war ein kalter, klarer Tag, und selbst Nestor Almendros hätte es nicht besser in Szene setzen können: Die Sonne beschien die neobarocken Säulen hinter dem Kopf des Champs, und die Wolken teilten sich und enthüllten einen indigoblauen Himmel, wie man ihn über seiner Heimatstadt in irgendeiner Schleife des Ohio River häufig zu Gesicht bekam, über dieser schlammigen Mündung des Lagan aber nur selten.

Er hörte auf zu boxen, grinste, und ein Helfer reichte ihm ein Handtuch, mit dem er sich die Stirn abwischte. Er versuchte, den Reißverschluss seiner Trainingsjacke ein paar Zentimeter zu öffnen, doch seine Hände zitterten, und der Helfer sprang ihm bei. Dann lächelte der Champ wieder, trat selbstsicher nach vorn, schnappte sich den Mikrofonständer und sagte: »Hallo, Irland! Ich bin so froh, endlich hier in diesem wunderschönen Belfast zu sein!«

Das Publikum stutzte einen Augenblick. Keiner von ihnen wäre auch nur auf den Gedanken gekommen, Belfast könne schön sein oder jemand würde freiwillig hierherkommen und sich auch noch bei der Ankunft darüber freuen. Und doch stand der berühmteste Mann der Welt da und sagte genau das. Belfasts Grundeinstellung war Sarkasmus, jeder mochte doch einen guten Witz, also scherzte der Champ vielleicht nur?

»Ja, Sir, das ist ein schöner Wintertag, und es ist wundervoll, hier im schönen Belfast in Nordirland zu sein!«, wiederholte der Champ, und diesmal gab es keinen Zweifel daran, dass er es ehrlich meinte. Die Menge war merkwürdig gerührt und brüllte zustimmend.

Er hatte schattengeboxt, hatte gewunken, hatte gelogen und erklärt, ihre Stadt sei ein angenehmer Anblick. Er hätte sich für die Nation of Islam als Bürgermeisterkandidat aufstellen lassen können und hätte schon in der ersten Runde gewonnen.

Die anderen Polizisten entspannten sich ein wenig, doch ich ließ mich nicht so leicht täuschen. Ich stand mit einem halben Dutzend anderer Bullen auf einer erhöhten Plattform, damit wir die kleine Gruppe der National-Front-Skinheads besser im Auge behalten konnten, die von der Absperrung aus, die ihretwegen neben dem Marks-&-Spencer-Supermarkt aufgestellt worden war, Schmähungen herüberbrüllten. Es waren nicht mehr als zwanzig, mit Perücke oder Hut hätten sie sich locker unter die Menge mischen können – doch solcher Einfallsreichtum überstieg wohl ihre geistigen Fähigkeiten.

Eine völlig andere Protestgruppe hatte sich um Reverend Ian Paisley versammelt und stand ein ganzes Stück weit weg auf der Royal Avenue, eine Horde älterer bibelfester Gemeindemitglieder, die nicht sonderlich glücklich darüber waren, dass ein berühmter Vertreter des Islam in der Hauptstadt von Ulster, Gottes Gelobtem Land, auftauchte. Man konnte hören, wie sie ihren Protest in mürrischen presbyterianischen Kirchenliedern und resolut freudlosen Psalmengesängen zum Ausdruck brachten. Wohin Paisley auch kam, stets verbreitete er einen Hauch unbefangenen Surrealismus. Heute hatte er einen Gospelchor mitgebracht, eine Schar akkordeonspielender Schulmädchen und einen mondgesichtigen Burschen, der auf einem Esel saß und auf ein Tamburin schlug.

Der Champ wich einem unsichtbaren linken Haken aus, dann nahm er wieder den Mikrofonständer in die Hand.

»Mein Urgroßvater, Abe Grady, aus Ennis, County Clare, kam 1860 nach Belfast. Dort nahm er das Schiff nach Amerika. Er überquerte den Atlantik und kam in ein Land, das sich mitten im Bürgerkrieg befand. Ein Land, in dem meine anderen Urgroßeltern Sklaven waren. Vieles ist seitdem geschehen, und es ist gut, wieder daheim zu sein!«

Wieder tobte die Menge.

»Aber ich habe gehört, dass ein paar von euch nicht sonderlich froh darüber sind, dass ich heute nach Belfast gekommen bin, um euch zu treffen. Stimmt das?«

Rufe: »Nein!«

»Doch, ich sehe sie. Da hinten sehe ich sie!«

Trotziger Jubel des Aufgebots der National Front.

»Ich sehe sie. Schaut sie euch mal an! O Mann, die sind so hässlich, wenn die in den Spiegel schauen, erschreckt sich ihr Spiegelbild.«

Gelächter.

»Die sind so hässlich, wenn die in ein Spukhaus gehen, finden die gleich nen Job!«

Brüllendes Gelächter.

»Die sind so hässlich, wenn die eine Bank betreten, macht die Bank die Überwachungskameras aus!«

Tosender Applaus und Gelächter.

Der Champ wartete, bis es wieder ganz still war. »Jetzt sind sie still, hm? Ich kann sie nicht hören. O Mann, glauben die vielleicht, die können mich austricksen? Ich bin so gut. Ich bin so schnell! Ich habe letzte Nacht im Hotelzimmer das Licht ausgeknipst und war im Bett, bevor es dunkel wurde!«

Wieder Gelächter.

»Seine ganzen Klassiker«, grummelte ein Sergeant neben mir.

»Wenn ihr auch nur davon träumt, mich zu besiegen, dann solltet ihr besser aufwachen und euch entschuldigen!«, fuhr der Champ fort, trat einen Schritt zurück und boxte wieder in die Luft. Die Menge war überglücklich.

Wieder wischte sich der Champ die Stirn ab und winkte. Jesse Jackson winkte ebenfalls. Der Bürgermeister winkte und Bono, der sich auf hohen Absätzen nach vorn drängelte wie ein vorwitziger Schuljunge, winkte ebenfalls.

Der Champ erzählte noch ein wenig von seinen irischen Wurzeln, von seiner Großmutter und Urgroßmutter. Er erzählte davon, wie es war, in der Ära der Rassendiskriminierungsgesetze in Kentucky aufzuwachsen. Er wurde ernst.

»Der Dienst am Mitmenschen ist die Miete, die du für dein Zimmer hier auf Erden zahlst. Der Kampf wird fern aller Zeugen gewonnen oder verloren – hinter den Kampflinien, im Training und draußen auf der Straße, lange bevor ich im Scheinwerferlicht tanze. Nur ein Mann, der weiß, wie es ist, geschlagen zu sein, kann bis an den Grund seiner Seele gelangen und mit jenem Extrawumms zurückkehren, den man braucht, um einen ausgeglichenen Kampf zu gewinnen … Ich weiß, ihr habt Probleme hier in Belfast. Ich weiß das. Aber glaubt mir, es gibt kein Problem, das der menschliche Geist nicht meistern kann. Ihr müsst zusammenarbeiten. Ihr müsst euch anstrengen! Wir alle sind Brüder und Schwestern, ganz gleich, welchen Glaubens und welcher Hautfarbe. Eines Tages wird dies eine friedliche Insel sein! Und dieser Tag wird kommen, weil es Menschen wie euch gibt! Danke, Belfast, und Gott segne euch alle!«

»Ali! Ali! Ali! Ali!«, skandierte die Menge und jubelte. Der Champ wusste das zu würdigen und winkte zum Abschied. Er drehte sich um, ein Helfer legte ihm das Handtuch über die Schultern und geleitete ihn zum Bus.

»War’s das?«, fragte der Bulle neben mir.

»Ich glaub schon«, sagte ich.

Darüber war ich froh. Unter der Schutzausrüstung schwitzte ich wie ein Tier, und meine Boxershorts waren patschnass. Ich freute mich schon darauf, alles ablegen zu können, Überstunden abzubauen und nach Carrickfergus heimzufahren.

Doch auf dem Weg zwischen den Absperrgittern zum Bus blieb der Champ plötzlich stehen, schüttelte den Kopf, machte kehrt und ging zur Bühne zurück. Er schaute über die Köpfe hinweg und ging die Stufen vor der Bühne hinunter in die ihn bewundernde Menge.

»Himmel!«, brüllte ich ins Funkgerät. »Er macht einen Rundgang!«

»Wissen wir!«, brüllten mir ein Dutzend Stimmen ins Ohr.

Die Menge wogte auf den Champ zu. Tausende. Jung, alt, Katholik, Protestant … seine beiden Bodyguards wurden überrannt und weggedrängt.

»Ich hab ihn verloren!«, schrien verzweifelte Stimmen in die Funkgeräte.

Mulmige dreißig Sekunden lang fragten wir uns, ob er niedergetrampelt worden war, ob wir vielleicht ein paar Tränengasgranaten abfeuern oder die Gummiknüppel zücken sollten … doch dann sahen wir ihn wieder, uns gegenüber auf der anderen Straßenseite.

Er schüttelte bedächtig Hände und arbeitete sich in meine Richtung vor.

»Er kommt zum Donegall Place«, sagte ich ins Funkgerät.

»Wer ist da?«, fragte jemand im Ohrhörer.

»Duffy.«

»Er kommt auf Sie zu?«

»Ja.«

»Bringen Sie ihn zum verfluchten Bus zurück, Duffy!«

»Wie denn?«

Die Antwort ging im Schneegestöber des statischen Rauschens unter.

Der Champ bewegte sich durch die Menge »wie ein heißes Messer durch Butter«, meinte der Polizist neben mir. Sein Ruhm schützte ihn. Er war kein Politiker, kein Schauspieler, er war der König des Sports, und die Menschen machten ihm Platz. Hände wurden ausgestreckt, um ihn zu berühren, andere hielten Notizbücher und Papierfetzen hin, die er mit pharaonischer Distanziertheit signierte.

»Hier spricht Detective Inspector Duffy, wir brauchen Verstärkung an der Ostseite des Donegall Place. Könnte Ärger geben. Er geht direkt auf die Demonstranten der National Front zu.«

»Roger, Duffy, ich schicke Ihnen ein halbes Dutzend Männer.«

»Wir brauchen mehr!«

Der Funkverkehr geriet durcheinander. Panik. Furcht.

»Er legt sich mit der verfluchten National Front an!«

»Die werden ihn lynchen!«

»Wir brauchen Verstärkung!«

Normalerweise hatte der Champ ständig Bodyguards um sich, um irgendwelche Irren daran zu hindern, ihm eine zu verpassen, nur weil die glaubten, dadurch, dass sie den großen Muhammad Ali k.o. geschlagen hatten, Ruhm zu erlangen.

Diesmal spazierte er ohne Bodyguards, Helfer oder Polizisten direkt auf die rassistische National Front vor dem Marks & Spencer zu.

»There is no black in the Union Jack!«, skandierte die National Front nervös, während der Champ auf sie zukam und die Menge ihm folgte.

Was um alles in der Welt tat er da? Glaubte er, er könnte mit ihnen argumentieren? Das würde bei diesem Haufen nicht ziehen. Alis Art war auf den postmodernen Verstand ausgelegt. Ulster hatte gerade mal das 20. Jahrhundert betreten.

Trotzdem schritt er immer weiter voran.

Endlich näherten sich ein paar Land Rover der Royal Ulster Constabulary und schafften die dringend benötigte Verstärkung heran, wie ich sah, aber sie kamen zu spät – der Champ würde noch vor ihnen bei den Demonstranten der National Front eintreffen.

»Kommen Sie«, sagte ich zu dem Sergeant. »Wir müssen da runter.«

»Mitten in die Meute?«

»Ja.«

»Auf keinen Fall.«

»Das ist ein Befehl.«

»Sagt wer?«

Ich wies auf die Inspector-Dienstgradabzeichen am Schulterstück. »Sage ich.«

»Das ist unser Todesurteil … Sir.«

Als der Champ die Absperrung erreichte, stiegen wir von der Plattform.

Ein Dutzend wütender Skinheads in Parkas, engen Jeans und Doc Martens brüllten Ali an wie Labortiere. Irland – das Land von Charles Stewart Parnell und Daniel O’Connell – befand sich nun in diesem glücklichen Zustand, in dem Ian Paisley und ein Haufen unflätiger Skinheads Sprachrohr der Unzufriedenen waren.

Der Champ erkannte den Anführer der Skinheads, sah ihn fest an und bat mit einer Handbewegung um Ruhe.

Die Menge verstummte und hielt den Atem an.

»Hört mir zu! Hört mir zu«, begann der Champ. »Das war nicht nett von mir. Ich habe euch hässlich genannt und alle zum Lachen gebracht. Ihr habt mich gereizt. Ich habe die Kriegstrommeln gehört. Doch dann ist mir wieder eingefallen, dass man im Angesicht des Feindes demütig sein muss und ganz der Gnade Allahs vertrauen soll. Ich komme im Geist des Friedens und der Bruderschaft.«

Der Skinhead starrte ihn verwirrt an.

Der Champ beugte sich über die Barriere und streckte die Hand aus.

Diese große rechte Pranke.

Die große Rechte, die Foreman in der achten Runde auf die Bretter geschickt hatte.

Die große Rechte, die schon von Parkinson zitterte.

Der Skinhead versteinerte. Er klappte den Mund auf und wieder zu. Dann bewegte sich sein Arm. Er konnte gar nicht anders. Magnetismus. Kinetik. Er schaute wild um sich und drehte sich verzweifelt zu seinen Kumpeln um. Was soll ich denn machen …? Ich mein, ihr seht doch, wer das ist? Klar, ihr könnt mir was von Gene Tunney oder Joe Louis oder Jack Dempsey erzählen, aber das hier, das ist der Champ!

Er hob den Arm. Die Faust öffnete sich. Er gab dem Champ die Hand.

Ich schüttle Muhammad Ali die Hand.

»Was gefällt dir nicht an den Schwarzen?«, fragte der.

Der Skinhead bekam die Zähne nicht auseinander.

»Komm schon, sprich wie ein Mann!«

»Ich, ich … ich … Ihr solltet nicht in unserem … das ist unser …«

»Sohn«, sagte der Champ, »hast du nur einen Hammer, dann sieht alles wie ein Nagel aus …«

Man konnte es in den Augen des Skinheads sehen.

Das war’s. Vom Saulus zum Paulus. In null Komma nichts. Spontan. Das hier war nicht der Donegall Place, das war die Straße nach Damaskus.

Mit einem Handschlag und einem Grinsen vernichtete der Champ die Abordnung der National Front. So etwas hatten wir noch nie gesehen.

»So was hab ich noch nicht gesehen«, erklärte der Sergeant. Das war das Gegenteil von dem, was los gewesen war, als die Kennedys gekommen waren. Die Kennedys hatten schwarze Magie gebracht, Ali weiße.

»Duffy, sind Sie noch da?«, fragte die Stimme im Funkgerät.

»Ja.«

»Wir haben den Bus zur Royal Avenue geschafft, bringen Sie ihn die Castle Street runter.«

»Okay.«

Der Sergeant und ich geleiteten den Champ zu seinem Bus, der zur Kreuzung Royal Avenue und Castle Street gefahren worden war. Er war erschöpft. Aber er nahm sich die Zeit, um sich bei dem Sergeant und mir zu bedanken.

Er gab uns die Hand. Er drückte fest zu. Der Sergeant bekam ein Autogramm; ich war viel zu überwältigt, um daran zu denken.

Ich ging zurück zur Polizeikaserne Queen Street, wo ich meinen BMW abgestellt hatte, und sagte hallo zu ein paar grauhaarigen alten Bullen, die aussahen wie der Ausschuss aus Jim Hensons Muppet-Show-Werkstatt.

Ich stieg ein und fuhr über die A2 zum Revier Carrickfergus.

Bis auf Lawson oben im Einsatzraum des Criminal Investigation Department und den Chief Inspector waren alle fort. Ich beschloss, den beiden aus dem Weg zu gehen. Ich reichte meine Überstunden ein und sah mir kurz den Dienstverlauf an. Es war ein arbeitsreicher Tag gewesen. Muhammad Ali war nach Belfast gekommen, was die Hälfte der Einsatzkräfte des Reviers mit Beschlag belegt hatte, und in Carrickfergus hatte der Nordirland-Minister hochrangigen Besuchern die alte ICI-Fabrik in Kilroot gezeigt. Die großen Nummern waren aus Schweden, den Gerüchten zufolge wollten Volvo oder Saab dort eine Autofabrik aufbauen. Das Ganze fand wohl nur pro forma statt. Jeder neue Minister tat so, als wollte er »Nordirland retten«, indem er Investoren anlockte, doch in Wahrheit gingen die Aufträge dann an unwichtige Wahlbezirke in England.

Ich ging zu meinem BMW. Nach Hause in die Coronation Road, Victoria Estate.

Ich stellte den Wagen vor meinem Haus ab: Nr. 113, drei Zimmer, ehemaliger Sozialbau, Reihenmittelhaus.

»Hallo, Mr Duffy.«

Janette Campbell, die minderjährige Tochter der verboten gut aussehenden, rothaarigen Mittdreißigerin von nebenan. Janette trug Hotpants und ein Duran-Duran-T-Shirt. Sie rauchte Benson & Hedges, und zwar auf eine Weise, dass dem Chef der Marketingabteilung bei Philip Morris das Herz im Leib gehüpft wäre.

»Hallo, Janette.«

»Haben Sie wirklich Muhammad Ali gesehen?«

»Ja, habe ich«, antwortete ich und fragte mich, woher sie wusste, wo ich heute gewesen war.

»Mein Freund Jackie sagt, Tyson haut ihn locker um.«

»Dein Freund ist ein Idiot, Janette.«

Sie nickte traurig und bot mir eine Zigarette an. Ich lehnte ab und ging ins Haus.

Aus der Küche roch es nach Essen, im Flur standen drei Koffer.

Beth hatte sich im Wohnzimmer auf dem Sofa zusammengerollt wie eine exotische Katze, ein Ozelot vielleicht, und las Die Bienenfabel.

»Wie liest sich der Mandeville?«

»So lala, aber ich will den Mann«, sagte sie grinsend.

»Autsch«, meinte ich und setzte mich neben sie aufs Sofa.

»Na, ich hab noch einen anderen für dich, hat mir Janette von nebenan erzählt: Was liegt am Strand und spricht undeutlich? Eine Nuschel.«

Ich nahm den Schutzhelm ab und ließ ihn auf den Teppichboden plumpsen. Beth knuffte mich zwischen den Platten meiner Panzerweste.

»Und?«, fragte sie.

»Was, ›und‹?«

»Und, hast du ihn getroffen?«

»Wen?«

»Den Champ – wie du ihn ärgerlicherweise schon die ganze Woche genannt hast.«

»Es ging ja gar nicht darum, ihn zu treffen. Ich hatte da nur einen Job zu erledigen.«

»Ha!«, meinte sie abfällig. »Als wenn du nicht an allen Fäden gezogen hättest, um da eingesetzt zu werden. Gestern Nacht hast du sogar im Schlaf ›Ali‹ gesagt.«

»Hab ich nicht«, entgegnete ich und wurde rot.

»Wie war seine Ansprache?«, fragte Beth und reichte mir eine halbwegs kalte Dose Bass Ale.

»Die Ansprache war toll. Was sollen denn die Koffer?«

»Ich ziehe aus.«

»Du ziehst aus?«

»Ja.«

»Was? Wann?«

»Morgen früh. Rhondas Bruder holt mich ab.«

»Morgen?«

»Das haben wir doch alles schon besprochen, Sean.«

»Haben wir?«

»Du wusstest doch schon die ganze Zeit, dass das nur vorübergehend ist. Ich muss in der Nähe der Uni sein, wegen der Seminare. Und offen gestanden ist das die langweiligste Straße in der langweiligsten Stadt der ganzen Welt.«

»In den letzten paar Jahren hat es durchaus Höhepunkte gegeben, das kannst du mir glauben.«

»Na ja, für mich ist das nichts.«

Ich trank das Bier aus und nahm ihr vorsichtig das Buch aus der Hand. Beth und ich waren seit fast sieben Monaten zusammen, und in den letzten paar Wochen hatte sie bei mir gewohnt. Sicher, da war der Altersunterschied, aber ich war noch nicht tot, ich konnte sie zum Lachen bringen, und wir kamen prima miteinander aus. Wir hatten uns beim Konzert der Stone Roses in der Ulster Hall kennengelernt, doch abgesehen von einer Vorliebe für Bands aus Manchester hatten wir nicht viel gemeinsam. Sie war Protestantin und stammte aus einer wohlhabenden Familie, und nachdem sie erst ein paar Jahre für ihren Dad gearbeitet hatte, machte sie nun an der Queen’s University ihren Master in Englisch. Kurze rote Haare, schlank, hübsch, knabenhaft androgyner Körper, was Sie nicht überraschen sollte, falls Sie mich kennen. Sie hatte lange, kräftige Beine, und es war etwas Besonderes an ihren tiefgrünen Augen.

»Ich dachte, wir hätten da was Gutes laufen, Beth.«

»Hörst du mir eigentlich jemals zu? So richtig? Ich hab dir doch gesagt, das geht nur so lange, bis Rhonda das kleine Haus an der Cairo Street kriegt.«

»Ich dachte, das sei geplatzt.«

»Nein. Ist es nicht.«

»Das war’s also? Wir … was? Wir trennen uns?«

»Komm schon, Sean. Hat dir das Gras das letzte bisschen Verstand geraubt? Das haben wir doch vor zwei Wochen schon alles durchgekaut.«

»Ja, aber ich dachte, es hätte sich was geändert, weißt du? Ich dachte, du würdest vielleicht bleiben wollen. Wir sind doch so gut miteinander ausgekommen.«

»Wir haben keine gemeinsame Zukunft, Sean. In ein paar Jahren bist du vierzig.«

»Und du dreißig!«

»Das ist doch was anderes. Hör mal, wir können doch weiter Freunde bleiben. Wir bleiben einfach befreundet, okay?«

»Freunde. Himmel.«

Sie legte die Arme um mich und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Na, komm schon, Sean. Du hast doch nicht angenommen, dass ich für immer hierbleibe?«

»Eigentlich schon, irgendwie.«

»Ach, Sean, Süßer … Hör mal, du musst doch ausgehungert sein, ich hab was zu essen für dich. Hab was Besonderes gezaubert, ja, wirklich. Ein Abschiedsmahl.«

Kochen war keine von Beths Stärken, aber das machte nichts. Es war warm, und man hätte schon ein kulinarisches Genie sein müssen, um ein Ulster-Frühstück zu versauen.

»Und, schmeckt’s?«, fragte sie und schaute mir beim Essen zu.

»Lecker.«

»Und findest du nicht, das Kartoffelbrot ist verbrannt?«

»Ich mag’s so.«

Sie beugte sich vor und gab mir erneut einen Kuss. »Du sagst immer das Richtige.«

Ich legte die Gabel beiseite. »Bleib. Bleib hier bei mir. Du wirst es nicht bereuen.«

Sie schüttelte den Kopf und holte ein Bier aus dem Kühlschrank. »Na komm, schauen wir uns die Nachrichten an, mal sehen, ob wir dich in der Menge entdecken.«

Alis Friedensinitiative für Nordirland war der Aufmacher. Der Mann war 46, aber er war für das Fernsehen wie geschaffen und stach aus der Menge der teigigen, käseweißen Iren heraus wie ein schwarzer Achill.

»O mein Gott! Da bist du ja!«, kreischte Beth begeistert, und da war ich, wie ich gerade mit dem Sergeant von der Plattform stieg.

»Du warst in der Glotze! Ich fasse es nicht! Du bist berühmt.«

»Ja. Ich bin berühmt.«

»Und jetzt ab in die Küche, berühmter Mann, du machst den Abwasch, und ich packe zu Ende.«

Ich spülte die Teller und ging dann hinaus zum Geräteschuppen. Ich drehte mir einen fetten Joint aus einem Blatt Virginiatabak und einem ordentlichen Batzen schwarzen Türken.

Ich hatte die Hälfte davon aufgeraucht, als es anfing zu schneien. Sonnenschein in Belfast am Nachmittag, Schnee in Carrickfergus am Abend. Nordirland eben. Ich rauchte zu Ende, und als ich wieder ins Haus kam, hatte Beth zwei Kulturbeutel mit Kosmetika zu den drei Koffern im Flur gestellt.

»War’s das?«, fragte ich.

»Das war alles.«

»Ich leih dir ein paar Platten. Rhonda hat wahrscheinlich nicht so viele, und deine Sammlung habe ich ja gesehen.«

»Nein, schon okay, Sean, ich steh nicht so auf das Zeug.«

»Welches Zeug?«

»Altes Zeug. Elvis und so ’n Scheiß.«

»Ach herrje, hab ich dir denn gar nichts beigebracht? Ich leg dir mal was auf.«

Beth stöhnte, als ich meine seltene Schwarzpressung von From Elvis in Memphis auflegte, auf der in der letzten Blüte des King ein Hit nach dem anderen folgte. Sie wissen, was ich meine: »In The Ghetto«, »Suspicious Minds«, »Kentucky Rain« …

»Wenn man sich vorstellt, dass die Platte im selben Monat aufgenommen wurde wie Let it Be, die letzte Scheibe der Beatles – also, ist doch verrückt, das Ende der Fünfziger und das Ende der Sechziger zur selben Zeit«, erklärte ich.

Beth seufzte, schüttelte den Kopf und lächelte auf ihre liebreizende Art. »Ich werde dich vermissen, Sean Duffy.«

In der Nacht lag ich im Doppelbett und betrachtete ihre blassen Wangen im blauen Schein des Kerosinofens.

»Honey, ich werde dich auch vermissen«, sagte ich.

2 DER DIEBSTAHL, DER KEINER WAR

Telefon. Früh. Durch einen Nebel lethargischer Nachdröhnung drang hartnäckiges Klingeln.

Rrrrriiiiinnngggggg.

»Siehst du? Das ist der Grund, warum ich mit Rhonda zusammenziehe. Die ruft keiner an. Nie.«

»Klingt ja, als ob sie der Partyknaller wäre.«

»Du hast gut reden.«

»Soll ich drangehen?«

»Ist doch offenkundig für dich, Sean.«

»Vielleicht ist auch was mit deinem Dad?«

»Hübscher Gedanke. Geh dran. Dein Pieper klingelt auch.«

Normalerweise hätte ich mich in die Decke gewickelt, mich darin eingegraben wie ein russischer Soldat in Stalingrad, aber ich konnte Beth ja nicht gut die Decke wegnehmen, also huschte ich zitternd, nur in Pyjamahose, die eisige Treppe hinunter zum Telefon, das noch immer wie irrsinnig klingelte.

Ich hob ab. »Hallo?«

»Inspector Duffy?«

»Ja.«

»Sir, ich bin’s.«

»Wie spät ist es?«

»Kurz nach halb sieben, Sir.«

Es kam mir nicht wie halb sieben vor, aber als ich die Haustür öffnete, lag tatsächlich ein heller Lichtstreifen am östlichen Himmel, und der Milchmann war schon da gewesen und hatte zwei Flaschen Vollmilch hingestellt. Es war eisig, Raureif lag über dem Vordergarten und auf dem Knockagh Mountain war eine leichte Schneedecke zu sehen. Ich trug die Milch hinein und schloss die Haustür.

»Geht es bei diesem frühmorgendlichen Anruf um einen Fall oder wollen Sie nur ein Schwätzchen halten, Lawson?«

»O ja, Sir, ich hätte sonst niemals …«

»Also gut. Ich gehe in die Küche. Einen Augenblick.«

Ich trug das Telefon in die Küche, schaltete das Radio an und steckte zwei Scheiben Toast in den Toaster. Auf Atlantic 252 lief zum millionsten Mal »Gimme Shelter«, aber da es sich um einen Piratensender handelte, der von einem Schiff in der Irischen See aus sendete, zahlten sie den Stones nichts dafür, da fühlte man sich schon gleich besser.

Ich versuchte, den glänzenden neuen Wasserkocher anzumachen. Beth hatte ihn gekauft. Ein tolles Teil, dessen Bedienelement aussah, als käme es direkt aus dem Maschinenraum von Star Trek. Beths Familie hatte Geld. Nicht gerade so viel, um wie Dagobert Duck in seinem Tresor durch die Goldtaler zu schwimmen, aber ganz ordentlich. Ich besah mir das komplizierte Teil und dachte an Beth’ Worte. Einfacher geht’s nicht, Sean. Du drückst den blauen Knopf und dann den roten, dann wird das Licht grün, und das Wasser kocht. Ich drückte den blauen Knopf, aber nichts passierte, und als ich den roten Knopf drückte, passierte immer noch nichts, und an dem ganzen Teufelsding gab es nirgends ein grünes Licht.

»Verflixt.«

»Sir?«

Ich gab auf, zündete mir eine Zigarette an, butterte den Toast und strich Marmelade drauf. »Erzählen Sie mir von dem Fall, Lawson.«

»Na ja, Sir, im Coast Road Hotel hat es einen Diebstahl gegeben.«

»Einen Diebstahl?«

»Ja, Sir.«

»Einen Einbruch?«

»Nein. Aus einem der Gästezimmer ist eine Brieftasche verschwunden.«

»Gewaltanwendung?«

»Nein.«

»Wie viel Geld?«

»Etwa zwanzig Pfund und Kreditkarten.«

»Sind Sie der echte Detective Constable Alexander Lawson, oder handelt es sich bei Ihnen vielleicht um einen anderen Detective Constable, der sich mit den Gepflogenheiten des Carrickfergus CID nicht recht auskennt?«

»Ich bin es, Sir.«

»Sie sind ein Betrüger. Unter gar keinen Umständen hätte mich der echte DC Alexander Lawson jemals an einem Sonntagmorgen rausgeklingelt, um mich mit dem Diebstahl von zwanzig Piepen aus einem Hotelzimmer im Coast Road Hotel zu behelligen. Wo ist er? Was haben Sie mit dem echten Lawson gemacht, Sie Unmensch!«

»Sir, ich bin es wirklich!«

»Und Sie rufen mich an, weil Sie nicht in der Lage sind, sich um einen kleinen Diebstahl zu kümmern?«

»Tut mir leid, Sir.«

Beth war nach unten gekommen und sah mich vom Flur aus an. »Einen Moment«, sagte ich zu Lawson und legte eine Hand auf den Hörer.

»Wer ist denn dran?«, fragte Beth.

»Lawson.«

»Ist das der, der so aussieht, als würde er Latex anziehen und sich auspeitschen lassen?«

»Das ist Dalziel.«

»Na, muss ja ein toller Fall sein für so eine Uhrzeit«, meinte sie.

»Ein Diebstahl. Ich gehe nicht hin.«

»Das solltest du aber, dann bin ich weg, bevor du zurückkommst«, meinte sie.

»Du musst doch nicht so früh verschwinden. Du hast den ganzen Tag Zeit. Entspann dich. Frühstücke. Setz den Kessel für uns auf.«

Sie verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf.

»Ich helf dir beim Umzug«, sagte ich.

»Nein. Tust du nicht.«

»Ernsthaft, kein Grund zur Eile, Honey. Du hast noch Sachen in der Wäsche. Und deine Platten habe ich nach dem Alphabet in unsere … meine … die Sammlung einsortiert«, beharrte ich.

»Die Klamotten kannst du spenden, und behalt die Platten, ich steige eh auf CDs um.«

»CDs sind nur eine Modeerscheinung.«

»Modeerscheinungen sind nur eine Modeerscheinung.«

»Was soll das denn heißen?«

»Hör mal, Sean, es ist vorbei, okay?«

»Vorbei wie das Römische Reich oder vorbei wie Graeme Souness beim FC Liverpool?«

»Wer ist Graeme Souness? Ach, egal. Kümmer dich um deinen Fall, Sean. Das ist für uns beide das Beste«, sagte sie.

»Beth, bitte … du trägst zu einem Stereotyp bei, das du, wie ich aus deinen literaturtheoretischen Aufsätzen weiß, hasst. Der drogenabhängige Polizist, der Ärger mit der Freundin hat. Das reinste Klischee.«

»Es dreht sich nicht alles um dich«, erwiderte sie, gab mir einen Kuss auf die Wange, nahm sich eine Scheibe Toast und verschwand wieder nach oben.

»Dann zeig mir wenigstens, wie der Kessel funktioniert!«, rief ich ihr nach. Ich nahm die Hand vom Hörer. »Sieht so aus, als wäre ich in zehn Minuten da, Lawson«, sagte ich.

Ich zog mir Jeans, einen schwarzen Rollkragenpulli und eine schwarze Lederjacke an, holte meine Dienstwaffe und ging zum BMW hinaus. Ich suchte unter dem Wagen nach einer Sprengladung mit Quecksilberzünder, fand aber nichts. Ich wollte schon einsteigen, da fiel mir ein, dass ich mal wieder die Kampfmontur auf dem Revier reinigen lassen sollte, um den Gestank loszukriegen. Ich ging zurück ins Haus, holte die Montur, legte sie auf den Rücksitz, schloss ab und ging ein letztes Mal ins Haus.

»Ich gehe«, rief ich nach oben.

»Pass auf dich auf, Sean«, sagte sie.

»Das war’s?«

»C’est tout.«

Ich schloss die Haustür, schaute unter dem Wagen nach, stieg ein, fuhr die Coronation Road entlang und nahm die Taylor’s Avenue. »Beth! Himmel! Wie kannst du mir das antun? Was ist falschgelaufen?«, fragte ich den Glücksbringer-Snoopy, den sie auf das Armaturenbrett geklebt hatte. Snoopy behielt seine Antwort für sich; ich rätselte immer noch, als ich vor dem Coast Road Hotel hielt, dem einzigen Hotel in Carrickfergus.

Lawson wartete draußen auf mich.

»Es tut mir sehr leid, Sir, aber der Chief Inspector hat mir aufgetragen, Sie anzurufen«, erklärte er, als ich ausstieg.

»Der Chief Inspector ist auch hier?«, fragte ich verblüfft. Bei Mordfällen tauchte er gelegentlich auf. Aber bei einem Diebstahl?

»Ja, Sir. Chief Superintendent McBain auch, und Superintendent Strong haben Sie gerade verpasst.«

»Heiliger Strohsack. Was zum Teufel geht hier vor, Lawson?«

»Vielleicht sollten Sie reinkommen, Sir.«

»Na gut.«

Wir betraten das ziemlich elegante Strandhotel, das wohl geboomt hätte, wenn da nicht die Tatsache gewesen wäre, dass dies hier das verfluchte Carrickfergus war, und zwar während der verfluchten Troubles.

»Mir ist die Kampfmontur auf dem Rücksitz aufgefallen, Sir«, begann Lawson.

»Und?«

»Ich hab gehört, Sie waren gestern bei Ali im Einsatz?«

Ich sah ihn streng an. Wollte er mich verscheißern? Sein Blick blieb fest, von Grinsen keine Spur.

Er wollte sich wohl nicht mit mir anlegen. Lawson war ein guter Mann. Attraktiv, wenn man auf ausgemergelt und leichenblass stand (falls ja, kann ich Ihnen für einen Zehner Zutritt zum Leichenschauhaus verschaffen). Er war groß und hatte blaue Augen, dazu blondierte Haare, die er zu einer Reihe sich der Schwerkraft widersetzender Zacken hochgegelt hatte. Sergeant McCrabban und ich hatten ihn schon vor Ewigkeiten angewiesen, das Gel sein zu lassen, doch in den letzten Monaten hatte er heimlich wieder damit angefangen. Heute trug er einen nüchternen, gut geschnittenen dunkelblauen Anzug mit braunen Oxford-Schuhen und einem dunkelgrauen Regenmantel. Aufmerksam war er auch. Die Kampfmontur. Verflucht. Ich hätte sie in den Kofferraum legen sollen. Ich fand, dass ich als Detective über solchen Dingen wie Einsätze bei Massenveranstaltungen stand, und ermutigte die anderen Detectives beim CID Carrickfergus, ebenfalls so zu denken: »Esprit de corps, Jungs, wir sind was Besonderes, wir sind nicht wegen unserer Muskeln hier, sondern wegen unserem Grips.« Alles schön und gut, trotzdem hatte ich Superintendent Strong angefleht, mich zu dem Einsatz bei Ali mitzunehmen, und Lawson hatte mich voll ertappt.

»Ja, ich war bei Muhammad Ali. Ich hab Strong einen Gefallen getan, er wollte einen erfahrenen Mann dabeihaben.«

»Ich verstehe, Sir«, meinte Lawson gleichmütig.

Im Hotel warteten ein erschöpft wirkender Chief Inspector McArthur und ein rotwangiger, rothaariger Portier auf uns.

Der Chief Inspector gab mir die Hand. Ein gepflegter, blauäugiger, dunkelhaariger Schotte, jünger als ich, ein Überflieger, musste sich aber immer noch an das vom Krieg zerrissene Ulster gewöhnen.

»Gott sei Dank, dass man Sie aufgetrieben hat, Duffy. Alle Mann auf Gefechtsstation«, erklärte McArthur.

»Was ist hier los, Sir?«

»Jemand hat aus einem der Gästezimmer eine Brieftasche gestohlen.«

Ich sah Lawson an. Waren denn eigentlich alle vollkommen verrückt geworden?

»Eine Brieftasche, Sir?«

»Wird wohl jemand vom Reinigungspersonal gewesen sein«, murmelte McArthur. »Chief Superintendent McBain ist oben bei den Gästen und versucht, alle zu beruhigen. Die Lage ist äußerst brisant.«

»Ich glaube, ich verstehe nicht ganz, Sir. Wir reden hier doch von einer ganz normalen Brieftasche, oder nicht? Kein Zauberportemonnaie, das Wünsche erfüllt?«

»Sie wurde aus Mr Laaksos Zimmer gestohlen! Das ist einer der Abgesandten, Duffy«, sagte McArthur mit auf panisches Bühnengeflüster gesenkter Stimme.

»Abgesandte?«

»Die Finnen.«

»Von der Fabrikbesichtigung?«

»Genau! Deshalb sind der Chief Super, Sie und ich alle zu dieser gottlosen Uhrzeit hier! Was haben Sie denn gedacht?«

»Keine Ahnung. Freimaurerei?«

»Ach was … das ist eine ernste Angelegenheit, Duffy.«

»Ich dachte, es ginge um Schweden, Sir. Volvo, Saab, so in etwa«, sagte ich.

»Nein. Finnen. Keine Schweden, Duffy. Telefone, keine Autos.«

»Warum übernachten die VIPs hier in Carrickfergus, nicht in Belfast?«

»Die schauen sich morgen die alte Courtaulds-Fabrik an. Da ist das wohl praktischer, nehme ich an«, erklärte McArthur.

Carrickfergus konnte eine peinlich hohe Zahl an leerstehenden Fabrikanlagen vorweisen, die alle in den optimistischen Sechzigern errichtet, in den pessimistischen Siebzigern geschlossen worden waren und in den apokalyptischen Achtzigern, in denen wir uns jetzt befanden, langsam zu Ruinen wurden.

Der Portier, der leicht angesäuert wirkte, baute sich zwischen uns auf. »Das ist keine Frage der Praktikabilität, meine Herren. Es handelt sich hier schließlich um eines der besten Hotels in Nordirland. Vor zwei Jahren hat hier die englische Fußballnationalmannschaft übernachtet«, betonte er in breitem, manieriertem, in den Ohren schmerzendem West Belfaster Akzent, der dem Kriegswaffenkontrollgesetz nach hätte verboten werden müssen. »Und wenn ich hinzufügen darf, so ist es unwahrscheinlich, äußerst unwahrscheinlich, dass einer meiner Angestellten eine Brieftasche aus einem der Zimmer entwendet hat.«

»Wie das?«, fragte ich.

»Wir sind ein kleines Unternehmen, Sir. Zu dieser frühen Uhrzeit sind nur der Nachtportier und ich anwesend. Niemand sonst. Reinigungspersonal und Frühstücksschicht sind gerade erst eingetroffen. Ich habe die Brieftasche nicht entwendet, und Joe war die ganze Nacht am Eingang.«

»Und Sie heißen?«, fragte ich.

»Kevin, Inspector. Kevin Donnolly. Kev, wenn Sie möchten.«

»Okay, Kevin, und Sie sind der Portier, richtig?«

»Ich bin der Hoteldirektor!«

»Und Sie sind sicher, dass zu dieser Uhrzeit keine anderen Angestellten im Haus sind? Und was, wenn jemand Hunger bekommt?«

»Das machen wir alles allein. Bis die Frühstücksschicht kommt, sind Joe und ich allein.«

»Hm. Wie viele Zimmer hat das Hotel?«

»Neun im ersten Stock und sechs darüber. Mr Laaksos Zimmer ist im ersten Stock. Die Suite mit Blick auf die Burg.«

»Wer hat sonst noch einen Generalschlüssel zu den Zimmern?«

»Es gibt keine Schlüssel für die Suiten. Die haben wir richtig modern ausgestattet. Alle Suiten haben Keycards, und der Einzige, der die Mastercard für alle Suiten hat, bin ich.«

»Schlief Mr Laakso allein?«

»Ja.«

»Hatte er womöglich einen Gast? Eine junge Dame, vielleicht?«

»Mr Laakso ist ein, ähm, älterer Herr. Er hat keinen Gast angemeldet.«

»Und es wurde ihm auch niemand aufs Zimmer geschickt?«

»Gewiss nicht! So etwas gibt es nicht in diesem Haus.«

»Gibt es eine Verbindungstür zwischen Mr Laaksos Zimmer und den Nebenzimmern?«

»O ja, zu beiden Seiten gibt es Zimmer, die beide von Mitgliedern seines Stabes bewohnt werden.«

»Wenn die Brieftasche also von keinem Hotelangestellten entwendet wurde, dann wurde sie entweder verlegt oder von einem Mitglied der Delegation mitgenommen?«, schlussfolgerte ich.

»Höchstwahrscheinlich verlegt, Inspector. So etwas kommt andauernd vor. Ein-, zweimal die Woche. Natürlich schreit nicht jeder gleich ›Diebe!‹ und trommelt die halbe Polizei zu unchristlichen Tages- und Nachtzeiten raus«, meinte Kevin.

Chief Superintendent John Edward »Ed« McBain kam gerade die Treppe herunter. Ein nervöser, schlaksiger Storch von Mann mit einer trotzigen Glatzenkaschierfrisur aus den frühen Siebzigern. Er war der leitende Kommandant aller Polizeireviere in East Antrim, einer der wenigen hohen Tiere, mit denen ich gut auskam. Ich ließ ihn beim Snooker im Polizeiklub immer gewinnen, und einmal hatten Sergeant McCrabban und ich seinen weggelaufenen Köter aufgesammelt, bevor er überfahren wurde oder, wie seine Frau Jo befürchtet hatte, »diesen Teufelsanbetern« in die Hände gefallen war, »von denen man in der News of the World andauernd liest«. Seitdem war der große Ed McBain dem Carrickfergus CID auf ewig dankbar.

Er reichte mir seine verschwitzte Hand und packte uncharakteristisch zögernd zu. Er war blass und wirkte äußerst gereizt.

»Schön, Sie zu sehen, Duffy«, sagte er.

»Ganz meinerseits, Sir.«

»Hab gehört, Sie haben gestern Muhammad Ali getroffen.«

»So etwas macht schnell die Runde, oder, Sir?«

»Überbewertet. Großes Mundwerk. Ein Kämpfer, kein Boxer.«

»Wenn Sie es sagen, Sir.«

»Ja, das sage ich, Duffy.«

Einen Augenblick lang sah er Lawson, Kevin, mich und den Chief Inspector an.

Ich sah absichtsvoll auf die Uhr. »Vielleicht sollte ich mal nach oben gehen und mir den Tatort anschauen, Sir?«

»Gute Idee.« Er wies nach oben und flüsterte: »Sie wollen, dass wir alle Hebel in Bewegung setzen. Haben Sie verstanden?«

»Ja, Sir.«

»Die Finnen sind hier, um uns den Hals zu retten. Man sollte doch meinen, wir hätten den Krieg gewonnen.«

»Waren die nicht, ähm, auf unserer Seite, Sir?«, fragte ich.

»Waren sie nicht! Jedenfalls nicht von Anfang an. Na, kommen Sie, gehen wir nach oben.«

»Das ist ein Tatort, Sir«, sagte ich zu McBain und nickte dem Chief Inspector zu.

McBain verstand den Hinweis. Er legte eine Hand auf McArthurs Schulter.

»Du wirst hier unten warten müssen, Pete. Das ist Sache des CID«, erklärte er.

McArthur schaute bestürzt. »Ach. Wirklich? Oh … na dann. Ich setz mich am besten, oder?«

»Das wäre wohl das Beste«, bekräftigte McBain.

Ich wollte den Chief Inspector nicht verarschen – da oben war tatsächlich ein Tatort, da brauchten wir keine Amateure, die es nur gut meinten und rumschnüffelten.

McBain führte Lawson und mich zur breiten, eleganten Treppe vorbei an Drucken, Aquarellen und verschiedenen gerahmten kartografischen Darstellungen von Carrickfergus im Wandel der Zeit.

»Keine Technik, Duffy. Das ist sein Problem.«

»Der Chief Inspector, Sir?«

»Ali. Ein Raufbold. Ein Schläger. Hat einen Mordswums.«

»Und was ist mit seiner Beinarbeit, Sir? Die ist doch …«

»Beinarbeit! Beinarbeit, meinen Sie? Nun, ja … seine Beinarbeit. Guter Punkt, Duffy. Sehr guter Punkt. Der konnte ein Tänzchen hinlegen, oder?«

»Ja, Sir.«

»Muss toll gewesen sein, ihn in voller Lebensgröße zu sehen. Und wir haben ihn lebendig rein- und rausgekriegt, was man vom Memphis Police Department im Fall von Martin Luther King nicht behaupten kann.«

»Ähm, wie bitte?«

»Okay, da wären wir, Duffy. Also, wenn Sie bei den Finnen sind, will ich keine flapsigen Bemerkungen von Ihnen hören, okay? Schnee von gestern.«

»Was meinen Sie damit?«

»Mein Schwiegervater war bei den Nordmeergeleitzügen dabei. Also hüten Sie Ihre Zunge, okay? Basil Fawlty vom Feinsten, verstanden?«

»Basil …«

»›Kein Wort über den Krieg.‹«

»Sir, ich würde nicht im Traum …«

»Natürlich nicht, Sie sind ja ein Profi. Und wie heißen Sie, mein Junge?«

»Lawson.«

»Das gilt auch für Sie. Ich wünsche, dass Sie beide diese Angelegenheit äußerst ernst nehmen. Sagen Sie denen, dass wir jeden Stein umdrehen werden, okay?«

Wir nickten.

Oben an der Treppe warteten bereits vier Männer und eine Frau auf uns. Die Frau war ein winziges Vögelchen, aber sehr hübsch. Sie stellte sich als Miss Jones vor und erklärte, sie sei die Verbindungsperson zum Außenministerium. Dann machte sie uns mit der Delegation bekannt. Ein kleiner, gebeugter und glatzköpfiger Sechzigjähriger in schwarzem Schlafanzug stellte sich als Mr Laakso vor. Er stand neben einem großen, gepflegten, hohlwangigen, graugesichtigen Mann mit blauen Augen und gefärbten schwarzen Haaren, ebenfalls um die sechzig, vielleicht älter. Das war offenbar Mr Ek. Die anderen beiden Männer schienen eineiige Zwillinge zu sein: schlanke Blondhaarige, 19 oder 20. Einer von ihnen trug einen pinkfarbenen Morgenmantel aus Seide im Kimonostil – wäre er darin vor die Tür getreten, hätte man ihn als »Schwuchtel« gesteinigt.

Ich gab den beiden älteren Herren die Hand.

»Mr Laakso, sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Mr, ähm, Elk, richtig?«

»Ek«, korrigierte mich das Graugesicht und schüttelte mir die Hand, als wolle er sie abbrechen.

»Ek«, wiederholte ich.

»Das heißt Eiche auf Schwedisch«, erklärte er.

»Schwedisch? Jetzt bin ich verwirrt, ich dachte, sie seien Finnen«, meinte ich fröhlich.

»Sind wir«, entgegnete Ek, verärgert über den offensichtlichen faux pas, den ich wohl begangen hatte.

Ek war ein alter Knacker, aber sein Händedruck war der eines ehemaligen Militärs – eines knallharten Ausbilders, womöglich.

»Darf ich Ihnen Nicolas und Stefan Lennätin vorstellen?«, sagte Miss Jones. Aus der Nähe betrachtet, wirkten die Burschen blass, schlank, gut aussehend, mit dunkelbraunen, recht unintelligent blickenden Augen.

»Was können Sie mir über die Einzelheiten des Zwischenfalls sagen?«, fragte ich Mr Laakso.

»Mr Laakso hat seine Brieftasche gestern Nacht auf sein Waschbecken gelegt, bevor er zu Bett ging. Heute Morgen war sie verschwunden«, antwortete Ek, bevor Laakso auch nur den Mund aufmachen konnte.

»Wann ist er zu Bett gegangen?«, fragte ich.

»Mr Laakso ist nach 23 Uhr zu Bett und wachte heute Morgen kurz nach fünf wieder auf und hat mich geholt«, antwortete Ek.

»Notieren Sie, Lawson«, sagte ich.

Lawson klappte sein Notizbuch auf und schrieb die Information hinein.

»Ich möchte gern den Tatort sehen, wenn ich darf«, sagte ich zu Mr Laakso.

»Das würde ich auch erwarten«, entgegnete Ek barsch.

Lawson und ich folgten Ek an einem halben Dutzend Gästen vorbei, die aus ihren Zimmern getreten waren, um zu sehen, was all der Lärm sollte. Wir betraten Mr Laaksos Zimmer, eine große, geschmackvoll eingerichtete Suite mit einem recht beeindruckenden Ausblick auf Carrickfergus Castle im Süden und County Down und die schottische Küste von Galloway im Nordosten. Ein besorgt dreinblickender Chief Superintendent und die restliche Delegation folgten uns.

Nicolas und Stefan kicherten und tuschelten vertraulich miteinander. Ich stupste Lawson an, der sich das ebenfalls notieren sollte.

Ek führte uns in das große Badezimmer, das für nordirische Verhältnisse geradezu luxuriös war: Marmorwanne, Marmorwaschbecken, Dusche, Bidet, italienische Boden- und Wandfliesen.

»Hier ist die Brieftasche verschwunden«, erklärte Ek. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, ich habe Dringenderes zu erledigen.«

»Natürlich. Beobachtungen, Lawson?«, fragte ich meinen jüngeren Kollegen.

»Wasserflecken auf dem Boden. Seifenschaum am Spiegel. Sieht nicht so aus, als ob die Putzfrau schon durchgewischt hätte – nicht, dass sie das so früh überhaupt tun würde.«

»Was fällt Ihnen am Waschbecken auf?«

Lawson besah sich das Becken.

»Ähm, Bartstoppeln im Waschbecken. Seit gestern nicht geputzt.«

Der Chief Super sah ebenfalls hinein und nickte. »Ich wette mit Ihnen, das Becken ist von einer Frau oder von einem Mann mit Bart entworfen worden. Schauen Sie mal, wie eben der Boden ist. Da hat man schon seine Mühe, die Stoppeln nach der Rasur wegzuspülen. Und, ähm, ja, wie gesagt, das ist heute noch nicht geputzt worden«, murmelte er.

Ich drehte mich zu Mr Laakso um. »Wo genau haben Sie die Brieftasche abgelegt?«

Er wies auf eine kleine Ablage neben dem Zahnbürstenhalter. Es war eindeutig keine Brieftasche da.

»Und wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?«, fragte ich.

»Letzte Nacht, bevor ich zu Bett ging«, antwortete Mr Laakso in absolut brauchbarem Englisch.

»Und Sie haben keine Eindringlinge bemerkt?«

»Ich habe nichts gehört.«

»Die Tür zu Ihrem Zimmer war verschlossen?«

»Sie war verschlossen, ja«, bestätigte Mr Laakso.

»Und die angrenzenden Zimmer?«, fragte ich.

»Auch verschlossen, glaube ich.«

»Wer wohnt in den Räumen?«

»Nicolas und Stefan.«

War da wieder ein Grinsen auf Nicolas’ Gesicht? Er starrte seinen Zwillingsbruder an, und beide waren kurz davor loszuprusten. Ich ging zu der ersten Nebentür. Nicht abgeschlossen. Ich ging durchs Zimmer und versuchte es an der anderen Nebentür. Ebenfalls offen.

»Ich hätte gern die Erlaubnis, diese Räume zu durchsuchen, wenn ich darf«, sagte ich zu Mr Laakso.

Er sah Nicolas und Stefan an. Dann gab es unter den Dreien eine lebhafte Unterhaltung auf Finnisch. Als sie geendet hatten, sagte Mr Laakso etwas zu Miss Jones, die mich daraufhin mürrisch ansah. »Gibt es ein Problem?«, fragte ich sie.

»Mr Laakso ärgert sich sehr über die Andeutung, jemand aus der Delegation könne etwas mit dem Diebstahl seiner Brieftasche zu tun haben. Mr Laakso weist diese abstruse Vorstellung weit von sich. Mr Laakso wünscht, dass Sie Ihre Ermittlungen auf dieses Zimmer beschränken, das der Dieb zweifellos mit einer Keycard betreten hat«, erklärte sie.

»Können Sie mir sagen, wer in welchem Zimmer wohnt?«, fragte ich.

»Das da drüben ist mein Zimmer, das andere das von Nicolas«, klärte mich Stefan auf.

Ich sah ihn lange an. Das Grinsen auf Nicolas’ Gesicht wurde immer breiter.

Ich hatte mehr als genug von diesem Blödsinn.

»Wenn Sie dann bitte alle hinausgehen, damit wir Mr Laaksos Räume gründlich durchsuchen können?«, schlug ich vor.

»Ulos!«, befahl Laakso. Als sie verschwunden waren, schaute ich unter dem Bett nach, in den Schubläden und im Schrank. Als diese erste oberflächliche Suche nichts zu Tage förderte, teilten sich Lawson und ich das Zimmer auf, und wir durchsuchten alles gründlich, doch auch dabei tauchte keine Brieftasche auf. »Damit wäre alles geklärt«, stellte ich fest.

»Was denn?«

»Nicolas war’s.«

»Warum? Ein Dummejungenstreich?«

»Was weiß denn ich, verflucht? Na, kommen Sie, nichts wie weg hier«, sagte ich. »Wir haben schon mehr als genug Zeit für einen Vormittag verplempert.«

Wir gingen hinaus, wo Mr Laakso mit den beiden Burschen, Miss Jones und dem Chief Super wartete. Ek hatte sich verdrückt, aber der halbe Flur war draußen und versuchte herauszufinden, was los war. Der richtige Augenblick, um in ein Zimmer zu schleichen und eine Brieftasche zu stehlen, fand ich. In der Nähe stand eine attraktive junge Frau herum, die unheilverkündend ein Notizbuch in Händen hielt. Sie hatte einen schwarzen Bubikopf, sehr blasse Wangen und bezaubernde grüne Augen; sie trug zwar nur ein altes schwarzes T-Shirt und eine wenig schmeichelhafte Pyjamahose, aber man konnte sofort sehen, dass sie eine modebewusste Ausländerin war, keine verlotterte Irin.

»Reporterin auf sechs Uhr«, murmelte ich zu Lawson.

»Wo … ach ja.«

»Also gut, die Herren, Miss Jones, damit dürften die vorläufigen Ermittlungen abgeschlossen sein. Ich werde sie in die fähigen Hände von Constable Lawson hier übergeben, der wird Ihre Aussagen aufnehmen, während ich alles Weitere vom Revier aus koordiniere. Nachdem Sie Ihre Aussagen gemacht haben, können Sie auf Ihre Zimmer zurückkehren, und hoffentlich wird sich der Fall so schnell wie möglich aufklären.«

Die Finnen schien das zufriedenzustellen.

»Ich könnte natürlich die Kriminaltechnik aus Belfast kommen und rings um Ihr Waschbecken Fingerabdrücke nehmen lassen, Mr Laakso. Vielleicht hat der Dieb aus Versehen einen Abdruck hinterlassen«, fuhr ich fort und sah Nicolas an.

Mr Laakso warf einen nervösen Blick auf Stefan und Nicolas. Nun begriff wohl auch er, was mit der Brieftasche geschehen war. Er zuckte zusammen. Es war offensichtlich ein Fehler gewesen, die Polizei zu rufen. Die Dynamik der kleinen Gruppe war offenkundig. Laakso war Kopf der Delegation, aber Stefan und Nicolas waren die Söhne oder Enkel der herrschenden Mächte in Finnland und daher so gut wie unangreifbar. Ich unterdrückte ein Gähnen. Solchen Scheiß hatte ich schon eine Million Mal erlebt. Das war alles überhaupt nicht interessant.

»Ich glaube, das wird nicht nötig sein. Ich habe volles Vertrauen in Ihre Fähigkeiten«, erklärte Mr Laakso.

Aber sicher doch. Ich nickte Chief Superintendent McBain zu. »Ich verabschiede mich, Sir«, sagte ich.

»In Ordnung«, erwiderte McBain.

Die Frau in dem schwarzen T-Shirt hielt mich oben an der Treppe auf.

»Ich habe den Rummel mitbekommen. Was ist denn los?«, fragte sie in einem liebreizenden Akzent aus dem Umland von London, der ein wenig an die Nachrichtensprecherin Anna Ford erinnerte.

»Und Sie sind Reporterin?«, fragte ich zurück.

»Woher wissen Sie das?«, wunderte sie sich.

»Das Notizbuch und der Bleistift sind schon ein wenig verräterisch.«

»Lily Bigelow, Financial Times«, sagte sie und hielt mir die Hand hin.

Ich schüttelte sie. »Was hat denn eine so hübsche Person aus …«, setzte ich an.

»Woking.«

»Woking, an so einem Ort wie dem hier zu suchen?«

»Ich schreibe über die Reise der finnischen Handelsmission in Nordirland. Diese Woche bin ich wohl so etwas wie die Nordirland-Korrespondentin der Financial Times.«

»Ich verstehe.«

»Also, was ist passiert?«, fragte sie und wies den Gang entlang.

»Mr Laakso hat seine Brieftasche verlegt. Sie wird schon wieder auftauchen«, antwortete ich.

Sie biss auf den Bleistift. »Es gibt also gar keine Story, wollen Sie damit sagen.«

»Entweder das, oder ich mache bei einer unheimlichen Vertuschung mit.«

Sie klappte, wie von mir beabsichtigt, ihr Notizbuch zu und steckte den Bleistift in die Tasche ihrer Pyjamahose. Das hier war keine Story, und Carrickfergus CID brauchte keinerlei Erwähnung in irgendeiner englischen Zeitung.

»Pech gehabt, hm? Da kommt der Chefredakteur und sagt: ›Lily, wir haben einen Auslandsauftrag für dich.‹ Sie denken schon an Hong Kong, New York, Paris und landen in Belfast«, sagte ich.

»Eigentlich habe ich um diesen Auftrag gebeten. Aber ich bin Entbehrungen gewohnt. Sie wissen ja, was mit Woking passiert ist, oder?«, fragte sie mit tragischer Miene.

»Nein«, erwiderte ich.

»Es wurde doch im Krieg der Welten vollständig von den Marsianern ausgelöscht.«

Ich grinste. Hübsch und witzig. Ich würde Beth nicht sofort vergessen können, aber ein oder zwei Drinks mit einer attraktiven englischen Journalistin würden auch nicht schaden.

»Aber das hat man doch seitdem wieder aufgebaut, oder?«, fragte ich.

»Nur teilweise.«

»Sind Sie denn all das rote Gras losgeworden?«

»Das musste regelrecht gerodet werden, die Kinder haben es geraucht.«

»Was haben Sie später vor?«, fragte ich und probierte mein Glück.

»Ich schaue mir mit der Delegation die Courtaulds-Fabrik an.«

»Da war ich schon mal. Hübsches Fleckchen. Geben Sie auf den Wachmann acht, der ist in seinen Siebzigern, hat eine Schrotflinte, und ihm juckt der Finger.«

»Hört sich ja toll an.«

»Und was ist nach dem Fabrikbesuch?«

»Carrickfergus Castle.«

»Auch sehr aufregend. Und danach?«

»Tippen.«

»Und nach dem Tippen?«

Sie zuckte mit den Schultern. Ich gab ihr eine meiner Visitenkarten, strich die Dienstnummer durch und schrieb meine private Nummer drauf. »Falls Sie Lust auf einen Drink haben sollten oder so.«

Sie lächelte. »Recht unwahrscheinlich, ich arbeite an einer Story.«

»Und falls die Story nicht vom Fleck kommt oder Sie früher fertig werden?«

»Vielleicht.«

Damit kann ich leben, dachte ich, und während ich in meinem Hirn nach einer witzigen oder charmanten Bemerkung zum Abschluss kramte, steckte Ed McBain seine große Visage dazwischen.

»Ah, Sie sind die Reporterin, sehe ich das richtig? Unter anderem bin ich auch der leitende Presseoffizier hier, Chief Superintendent McBain«, stellte er sich vor.

Ich überließ die beiden der Arbeit und ging deprimiert die Treppe hinunter. Chief Inspector McArthur saß noch immer mürrisch auf dem Ledersofa beim Empfang.

»Haben Sie die Brieftasche gefunden, Duffy?«, fragte er.

»Noch nicht, Sir«, antwortete ich. »Lawson nimmt gerade die Zeugenaussagen auf.«

Ich rief Kevin zu uns.

»Hat irgendjemand von Ihren Angestellten eine Vorstrafe wegen Diebstahls?«, fragte ich ihn.

»Nein! Ich habe alle Lebensläufe selbst gelesen. Nichts dergleichen. Die Arbeitslosenrate in Carrickfergus ist so hoch, da kann ich mir die Angestellten aussuchen.«

»Hab ich mir gedacht.«

Der Chief Inspector sah mich besorgt an. »Glauben Sie, dass Sie die Brieftasche finden, Duffy? Der Chief Super macht sich ziemliche Sorgen um den Eindruck, den wir hinterlassen.«

Ich unterdrückte ein weiteres Gähnen. »Der Bogen des moralischen Universums ist weit, Sir, aber er neigt sich zur Gerechtigkeit.«

»Ist das wirklich so, Duffy?«

»So sagt man, Sir.«

»Man war wohl noch nicht in Nordirland, oder?«

»Nein, Sir. Also, ich muss los.«

»Goodbye, Duffy.«

»Goodbye, Sir.«

Ich ging hinaus. Die Sonne stand schon hoch über der blauen Linie Schottlands. Ich ging zum BMW und schaute nach Sprengsätzen. Es gab keine, also schloss ich die Fahrertür auf. Ich wollte gerade einsteigen, als ein zweiter BMW hinter mir hielt. Neu. Schwarz. Personalisiertes Nummernschild: »McIlroy1«.

Aus dem Wagen stieg Tony McIlroy, früher RUC, jetzt Scotland Yard. Tony war so alt wie ich, aber das sah man ihm nicht an. Er war braun gebrannt und fit, und selbst zu dieser unchristlichen Stunde saß die Kleidung gut. Seine Haare waren wellig und schwarz, ohne einen Hauch grau, seine Augen waren klar und hell wie immer. Er trug einen flotten Maßanzug in Mitternachtsblau, schicke Budapester und ein recht teuer wirkendes Hemd. Seine Uhr war golden. Das Leben auf der anderen Seite des Wassers behagte ihm wohl. Er war Chief Inspector der Special Branch gewesen, aber Nordirland war als Bühne für seine Fähigkeiten zu klein geworden, deshalb war er übers Wasser gezogen und zu Scotland Yard gegangen. Während des Lizzie-Fitzpatrick-Falls hatten wir uns in London auf einen Drink getroffen, kurz vor meinem Rendezvous mit dem Schicksal und ein paar Kilo Semtex in Brighton … Tony war schon immer ehrgeizig gewesen, war aber eine echte Persönlichkeit, jemand, der Eindruck machte, nicht wie all die anderen Langweiler bei der Truppe hier in der Gegend.

»Na, wenn das nicht Sean Duffy ist!«, sagte er und grinste.

»Was in Gottes Namen machst du denn hier?«, fragte ich, hocherfreut, ihn zu sehen.

»Das könnte ich dich auch fragen, Mann«, antwortete er und schüttelte mir die Hand.

»Na ja, das ist mein Revier«, meinte ich.

»Immer noch?«, fragte er überrascht.

»Ja«, erwiderte ich defensiv.

»Himmel, Sean, ich dachte, du wärst in der Zwischenzeit schon Chief Super in Belfast«, sagte er.

»Nein, immer noch ein einfacher Detective Inspector. An vorderster Front. So gefällt’s mir«, erwiderte ich und versuchte so zu klingen, als würde ich das auch meinen.

Er nickte zweifelnd. »Na, komm schon, Sean … mir kannst du es ruhig sagen«, meinte er und versetzte mir einen leichten Hieb gegen die Schulter.

Ich seufzte. »Das waren ein paar harte Jahre, Mann. Probleme mit denen da oben, du weißt ja, wie das ist.«

Er schüttelte den Kopf, zog ein silbernes Zigarettenetui aus der Jackentasche und bot mir eine an.

»Nein, danke. Ich versuche, meinen Konsum einzuschränken«, sagte ich.

»Lass mich raten. Du gehst mit einer Krankenschwester aus?«

»Ich will nur weniger rauchen. Rauchen ist ungesund. Yul Brynner, du weißt schon.«