Randgebiete der Menschheit - Frank Schmidtkowski - E-Book

Randgebiete der Menschheit E-Book

Frank Schmidtkowski

4,8

Beschreibung

"Es gibt Bücher, die so vielfältig sind, dass sie die Genregrenzen sprengen - so auch 'Randgebiete der Menschheit' von Frank Schmidtkowski. Ein actionreicher Krimi, der große Fragen der Philosophie stellt, eine atmosphärisch dichte Familiengeschichte im geteilten und postgeteilten Deutschland erzählt und dabei vielschichtig in die Randgebiete der Menschheit vordringt." Alexandra Fauth, Lektorin Ein Kriminalfall, der seinen Ursprung im innerdeutschen Grenzgebiet der Achtzigerjahre hat, wird durch eine verblüffende Entdeckung in die Gegenwart katapultiert. Als potenzieller Täter gilt ein anonymer Briefautor mit seinen kritischen Ausführungen zum Selbstbild der Menschheit und deren Umgang mit der Umwelt. Die Leser/-innen werden von einer zunehmend spannenden Kriminalgeschichte in eine Gedankenwelt entführt, in der sie sich selbst und ihre Artgenossen durchleuchten. Ein Roman, der dem Selbstverständnis der Menschheit spürbare Kratzer zufügt. "Randgebiete der Menschheit" gehört zum ersten Teil der Reihe "Philosophische Kriminalromane". Beide Romane enthalten eigenständige Geschichten, sind aber trotzdem miteinander verbunden und ergeben zusammen ein Gesamtbild. 1. "Randgebiete der Menschheit" - Frank Schmidtkowski (November 2016) 2. "Seelenflimmern" - Frank Schmidtkowski (Mitte bis Ende 2020) Buchbesprechung in der HNA (Hessisch-Niedersächsischen-Allgemeinen) vom 16.12.2016, Redakteur: René Dupont: "...Brisant und ungewöhnlich: Frank Schmidtkowski unterhält mit seinem Roman. Gleichzeitig erschüttert er das Selbstbewusstsein der Menschen bis ins Mark. ... ...Mit dem Blick ins unendliche Universum lässt der Roman das Selbstbewusstsein und die Überheblichkeit der Menschen auf die Größe eines Staubkorns schrumpfen ... ...Buchkritik: Der Roman ist kein einfaches Buch: Er ist unterhaltsam. Gleichzeitig muss man als Leser aber bereit sein, sich den großen Fragen des Lebens zu stellen: Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Wie verhalten wir uns? Was macht der Kapitalismus mit uns und unserer Fähigkeit zu lieben? Was können wir glauben? Wer dazu bereit ist, bekommt erstaunliche Antworten, wird vom Schluss überrascht und sieht am Ende das Leben ein wenig mit anderen Augen. Und das ist schon viel..."

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Kurz-Vita des Autors

Frank Schmidtkowski wurde 1966 in Wildeck-Obersuhl an der innerdeutschen Grenze geboren und verbrachte seine Kindheit und Jugend in Nordhessen.

Nach dem Studium verließ er aus beruflichen Gründen seine Heimat und war im Rhein-Main-Gebiet als Dozent, Gutachter, Kontroll- und Kriminalbeamter tätig.

Heute lebt er mit seiner Frau, zwei Hunden und einem Pferd im Hintertaunus.

Erreichbarkeit E-Mail: [email protected]

Homepage: http://frank-schmidtkowski.de

Wir machen uns die Welt, widdewidde wie sie uns gefällt!

In Anlehnung an Pippi Langstrumpf und in Dankbarkeit an meine wundervolle Frau Monika Janine Bernhardt.

„Man muss das Wahre immer wiederholen, weil auch der Irrtum um uns her immer wieder gepredigt wird, und zwar nicht von Einzelnen, sondern von der Masse. In Zeitungen und Enzyklopädien, auf Schulen und Universitäten, überall ist der Irrtum oben auf, und es ist ihm wohl und behaglich im Gefühl der Majorität, die auf seiner Seite ist.“

Johann Wolfgang von Goethe, Gespräche mit Peter Eckermann, 16. Dezember 1828

Inhaltsverzeichnis

Prolog

TEIL 1 - ELEONORE UND EIN FREMDARTIGES WESEN

I. Zufallsfund

II. Zeitzeugen und erste Kontakte

III. Die Analyse

IV. Gefährten

V. Grenzerfahrungen

VI. Die Baggerseeparty und der zweite Kontakt

VII. Eleonores erste Entfaltung

VIII. Geplante und unerwartete Begegnungen

IX. Der Mensch, das Tier

TEIL 2 - DER KRIMINALFALL

X. Der Anschlag

XI. Spurensuche

XII. Religionsfreier Glaube und Abschied

XIII. Liebesbegegnungen

XIV. Bestattungsparty mit zukünftigen Freunden

XV. Das Geheimnis des Schrankes

XVI. Rekapitulation im Zuhause eines Freundes und ein wichtiger Mentor

XVII. Offenbarungen

XVIII. Sympathische potenzielle Täter

XIX. Aufschlussreiche Gespräche und ein Verbrechen in der Gegenwart

XX. Die Schlinge zieht sich zu

XXI. Enthüllungen

Nachwort

Literaturverzeichnis

Prolog

Ich weiß, ihr kennt den Homo sapiens, den weisen, klugen und verständigen Menschen. Wir selbst schenkten uns schließlich diese Charakterisierung. Mit keiner anderen Bezeichnung bringt man die Fehldeutung einer gesamten Population prägnanter zum Ausdruck. Das Bestreben der Natur, mit jeder neuen Generation einen Fortschritt zu erreichen und so einen echten Homo sapiens hervorzubringen, kann bis zum jetzigen Zeitpunkt als gescheitert angesehen werden. Was sehen wir, wenn wir uns als die Krone der Schöpfung vor den Spiegel stellen? Im Tanz der Evolution, mit zwei Schritten vor und einem zurück, würde uns ein ehrlicher Spiegel den Rückschritt unserer Spezies präsentieren - unser glanzvolles Selbstbild wäre zerstört. Wir tasten diesen Spiegel jedoch nicht an, weil wir der Homo hybris sind. Selbstüberschätzung und Hochmut gehören zu unserem Wesen. Im günstigsten Fall stellen wir eine Zwischenstufe zum weisen und verständigen Geschöpf dar. Die Sicht auf uns selbst ist nicht objektiv. Sie unterliegt der unbewussten Kraft der selektiven Wahrnehmung. Diese verhindert den unverstellten und schonungslosen Blick in die Seele unserer eigenen Gattung aus der Familie der Menschenaffen.

Vor langer Zeit hielt meine Mutter den ehrlichen Spiegel unserer Spezies vorübergehend in den Händen, verlor ihn jedoch auf tragische Weise wieder. Der Spiegel bestand nicht aus Glas, sondern aus Fleisch und Blut, mit viel Gehirn und noch mehr Herz. Er war ein Wesen wie du und ich, stammte allerdings aus einer anderen Sphäre - vielleicht begegnete ihr damals der erste echte Homo sapiens. Die Ereignisse waren kurios, mit philosophischen und kriminalistischen Aspekten durchdrungen, und letztlich dramatisch einfach.

Am Bahnhof des Lebens treten immer mehr Akteure der hier beschriebenen Vorkommnisse ihre letzte Reise mit unbekanntem Ziel an. Jeder von ihnen hinterlässt seine kleinen, vergänglichen Fußabdrücke auf unserem fragilen Planeten. Gemeinsam teilen sie jedoch das Erlebnis, einem außergewöhnlichen Wesen begegnet zu sein, dessen Spuren zumindest für diejenigen erhalten bleiben sollten, die diesem Pfad folgen können und wollen. Jeder wird auf dieser Wanderung seinen eigenen Weg gehen, Erfüllung erfahren oder verwirrt stehen bleiben. Ich würde es mir nicht verzeihen, die nun folgende Geschichte irgendwann unerwähnt auf meinen letzten Ausflug mitzunehmen. Vielleicht kann die Erzählung die Kräfte ein klein wenig unterstützen, die uns retten können und an einigen Stellen aus den Ohren Augen machen, damit der aufrichtige Blick auf uns selbst aufblitzen kann. Ich erzähle sie so, wie ich sie erlebt und erfahren habe.

Clara Keppler

TEIL 1 - ELEONORE UND EIN FREMDARTIGES WESEN

I. Zufallsfund

D ie spitzen Eckzähne hatte ich von der Natur verliehen bekommen. Den verführerischen und gleichzeitig eiskalten Augenaufschlag beherrschte ich und verstand es, ihn mit Schminke perfekt in Szene zu setzen. Die Garderobe, die ich für dieses Event ausgewählt hatte, war ebenfalls präsentabel: ein romantisch-düsteres Outfit, elegant und mit einem Schuss Erotik. Für die Mottoparty ‚Transsilvanien‘ meiner Freundin fehlte mir aber noch ein passender dunkler Umhang. Meine Mutter Eleonore gab mir den Tipp, in den seit Jahrzehnten im Schuppen eingelagerten Umzugskartons nachzusehen, in denen sie einen Kunstleder-Mantel aus ihrer Jugendzeit vermutete: schwarz, lang und tailliert. Nachdem ich die dritte Kiste mit alten Klamotten geöffnet hatte, fand ich das besagte Kleidungsstück, das sich ideal für eine Vampirlady eignete. Ich probierte die Jacke an und sie saß wie angegossen. Als ich meine neueste Errungenschaft näher untersuchte, entdeckte ich in einer der Innentaschen einen Briefumschlag. Er war nicht zugeklebt. Auf dem Briefpapier erkannte ich die Handschrift meiner Mutter.

Lieber Gummili!

Weihnachten 1986

Die letzten vierzehn Monate habe ich versucht, dich aus meinem Gedächtnis und aus meinem Herzen zu verbannen, aber ich schaffe es einfach nicht. Deshalb richte ich diese Zeilen an dich, auch wenn mir schmerzhaft bewusst ist, dass ich dich nicht mehr erreiche und dieser Brief vermutlich haltlos im Orbit verschwinden wird. Es geht mir schlecht und mein Arzt rät mir, die Erlebnisse nicht zu verdrängen, sondern mich mit den Geschehnissen auseinanderzusetzen und mit anderen Menschen darüber zu reden. Ich möchte aber mit niemandem darüber sprechen. Dennoch verspüre ich den Drang in mir, etwas nach außen zu entlassen, weil ich ansonsten innerlich kaputt gehe. In besonders schwarzen Nächten meine ich, deine Gegenwart und Aufmerksamkeit spüren zu können, die mich durch die Dunkelheit in den nächsten Tag begleitet – nur so ist der seelische Schmerz für mich erträglich. Mir bleibt ein letztes Fünkchen Hoffnung, dass dich meine schriftlich formulierten Gedanken auch auf anderen Wegen erreichen, da du meine am Kriegerdenkmal vergrabenen Mitteilungen nicht mehr abholst.

Nach dem Mordversuch an mir, habe ich mich krampfhaft bemüht, alle Gefühle im Keim zu ersticken – aber sie verschwinden nicht, sondern entwickeln hinter verschlossenen Türen krankhafte Züge, die immer dominanter werden.

Das Geheimnis deiner Identität konnte ich nicht lösen, aber damit habe ich mich abgefunden, weil du mir stattdessen Freundschaft, Vertrauen und Inspiration geschenkt hast. Den Mörder meines vorherigen Lebens hingegen muss ich unbedingt finden, um zu verstehen, womit ich diesen abgrundtiefen Hass in ihm entfacht habe. Jede einsame Minute verbringe ich mit düsteren Gedanken an den Schützen. Letztlich drehen sich aber all meine Theorien im Kreis und finden keine Verankerung. Es macht mich wahnsinnig und menschenscheu, dass ich keinen meiner ehemaligen Vertrauten als Täter ausschließen kann. Nur Gerold und Gregor sind mir geblieben, während mir viele andere geliebte Menschen durch den perfiden Anschlag abhandenkamen. Mir fehlt die Kraft, meine düsteren Gedanken fortzusetzen. Ich baue auf die Zeit, auch wenn ich mir darüber im Klaren bin, dass sie Amputationen an der Seele nicht heilen kann.

Eleonore Biber

Die Worte meiner Mutter verwirrten mich. Sie stammten zweifelsfrei von ihr, aber ich hatte keinen blassen Schimmer, was den Inhalt und den Empfänger „Gummili“ anging.

Eleonore reagierte abweisend und ungehalten, als ich sie darauf ansprach und ihr den Brief übergab.

„Das ist ewig her und nicht mehr von Bedeutung“, kommentierte sie kurz angebunden das Schriftstück. Ihr verkrampftes Gesicht zeigte ungewollt eine deutliche Gefühlsregung: Entsetzen.

Mit ihrer knappen Aussage und ablehnenden Haltung wollte ich mich nicht zufrieden geben, biss bei ihr aber auf Granit. Für meine Mutter war das Thema eindeutig beendet. Die Botschaft des vor 30 Jahren verfassten Briefes war ein einziger Hilfeschrei und Eleonores gegenwärtiges Verhalten äußerst dubios.

Neben dem ominösen und mir vollkommen unbekannten Adressat „Gummili“, erwähnte meine Mutter in dem Schreiben meinen Vater Gerold und einen Gregor. Von alten Fotos wusste ich, dass Gregor ein Jugendfreund meiner Mutter war, von dem ich vielleicht etwas über den Hintergrund dieser beängstigenden Zeilen erfahren konnte. Also versuchte ich, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Ich hatte keine Vorstellung von den sensationellen Erlebnissen und Offenbarungen, die mit seiner Bekanntschaft auf mich zukamen.

II. Zeitzeugen und erste Kontakte

2015 – Onkologische Klinik Freiburg

„Schau Clara, die Morgensonne meint es gut mit uns, als ob sie die Bedeutung dieser Ereignisse hervorheben wollte. Diese Geschichte hat mich mein ganzes Leben lang begleitet, emotional aufgewühlt und sie berührt mich noch heute zutiefst. Du würdest nur an der Oberfläche dieser Geschehnisse kratzen, wenn ich es auf eine Kurzfassung beschränke.“

„Gregor, als ich nach unserem netten Telefonat die Karte von dir, die förmlich mit Herr Günster unterschreiben war, und den wunderschönen Blumenstrauß erhalten habe, war mir klar, dass du länger mit mir reden möchtest. Deine Einladung nach Freiburg habe ich gerne angenommen. Auf die Geschichte hinter dem Brief meiner Mutter bin ich sehr gespannt und dankbar für jede Stunde, die du mir zur Verfügung stellst. Eleonore blockiert Auskünfte oder Erklärungen zum Inhalt des Schreibens. Auch im Umfeld meiner Mutter konnte ich nichts Greifbares herausfinden.“

„Bei mir bist du richtig. Ich kenne die Hintergründe zu Eleonores Brandbrief. Allerdings weiß ich jetzt, am Ende meines Lebens, noch immer keine eindeutige Antwort auf die Frage, ob die Hauptdarsteller dieses Dramas all diese Hintergründe überhaupt erfahren sollten. Die Ereignisse von 1985 haben nicht nur deine Mutter geprägt, sondern sie haben auch mir eine Sicht auf die Welt und das Leben gegeben, die mir ohne diese Begebenheiten verschlossen geblieben wäre. Diese Geschehnisse drückten meiner eigenen Biografie, obwohl mir das lange nicht bewusst war, den deutlichsten Stempel auf. Ich will nicht pathetisch werden, aber letztlich haben mir die Worte des Briefpartners deiner Mutter die Angst vor dem nahenden Tod genommen. Im Grunde bin ich froh, die Geschichte von der Leine lassen zu können. Ich gebe sie mit dem Vertrauen in deine Obhut, dass du sorgsam damit umgehen wirst.“

„Aber wieso sprichst du von einem Drama? Eigentlich dachte ich die letzten Tage eher an ein Rollenspiel oder einen ähnlichen Grund für diese Zeilen, zumal ‚Gummili‘ kein realer Name sein kann.“

„Oh je, ich habe es befürchtet, du bist nicht ansatzweise eingeweiht. Deine Unkenntnis ist vergleichbar mit dem Hochseiltänzer, der nicht in den Abgrund schauen soll. Für mich war es ein Drama, weil ich dadurch meine besten Freunde verloren habe. Deine Mutter Eleonore wurde zu einem anderen Menschen und Falk brach alle Kontakte zu seiner Heimat konsequent, fast brutal ab. Für Eleonore war und ist es eine Katastrophe, weil mit Falk ihre große Liebe verschwand, was ihr erst nach und nach klar wurde - zumal ihr noch andere Lebensgefährten verloren gingen. Eleonore vertraute niemandem mehr und zog sich zurück. Ihr Wesen veränderte sich spürbar, bis von der lustigen, lebensfrohen und aufgeschlossenen jungen Frau nichts mehr übrig war. Wie gerne hätte ich den Menschen, der sich Gummili nannte und die mysteriösen Schriftstücke verfasst hatte, persönlich kennengelernt.

Es ehrt mich, dass du meiner Einladung nach Freiburg gefolgt bist. Eine Krebsklinik ist nun wirklich kein wünschenswerter Ort für einen Urlaub. Für mich bist du die letzte Chance, damit das Rätsel doch noch gelöst werden kann. Es wäre eine Befreiung für viele Menschen. Vieles von dem, was dir jetzt unbekannt oder zumindest abstrakt erscheint, wirst du verstehen und begreifen, aber dafür musst du zumindest kurz in den Abgrund blicken. Lass mich die Geschichte so erzählen, wie ich sie durch das Studium der Briefe, der Tagebücher deiner Mutter, der Ermittlungsakten, durch Gespräche mit den Beteiligten und durch meine Rolle als Mitwirkender und gleichzeitig Beobachtender rekonstruieren konnte. Ich versuchte mich dabei in die Menschen hineinzuversetzen, fast bis in ein pathologisches Stadium. Vielleicht ist die Zeit gekommen, aus dieser Vorgehensweise den Nutzen zu ziehen, um die Geschehnisse so authentisch wie möglich vor dir auszubreiten. Bisher hast du nur den letzten Brief deiner Mutter gelesen, der auch mir unbekannt war. Ich hingegen habe fast alle Schriftstücke von Gummili, die er an Eleonore richtete. Deine Mutter hat mir, in ihrer selbst verleugneten Verzweiflung, einen Großteil davon überlassen. Sie war schwermütig, wollte sich den Vorfällen nicht stellen. Aus diesem Grund gelang es mir, sie zu überreden, mir die Briefe auszuhändigen. Es half ihr, die Ereignisse weiter zu verdrängen, später sogar zu verleugnen. Ich bin sicher, sie hätte diese Beweise früher oder später vernichtet.“

„Gregor, ich habe ein Zimmer für sieben Tage reserviert und ich kann problemlos eine Woche dranhängen. Du hast also alle Zeit der Welt.“

„Leider nein, meine Liebe. Wir sollten sofort loslegen, meine Tage im Diesseits sind gezählt.“

„Entschuldige bitte, aber du darfst dich nicht überfordern. Wenn dich die Unterhaltung zu sehr anstrengt, machen wir eben am nächsten Tag weiter. Lass uns für unsere Gespräche Plätze finden, an denen du dich wohlfühlst. Ich verspreche dir, das Erzählte nur in deinem Sinne zu verwenden.“

„Weißt du, ich tauche gerne in diese Geschichte ein und dann verlieren Ort und Zeit vollkommen an Bedeutung. Wichtig ist eigentlich nur, zu unterbrechen, wenn deine Konzentrationsfähigkeit am Ende ist. Lass uns mit deiner Mutter Eleonore als Jugendliche beginnen, denn dieses lebenslustige Mädchen war der Auslöser der Ereignisse. Du solltest ein Gefühl für deine Mutter als Teenager bekommen, die vor diesen Erlebnissen ein anderer Mensch war. Deswegen werde ich dir einfach eine Passage aus ihrem Leben erzählen beziehungsweise vorlesen. Eleonore hat ihr Tagebuch wie eine Erzählung verfasst.“

Ich verstand immer noch nicht, warum diese Angelegenheit für Gregor Günster eine so immense Bedeutung hatte. Mir war schleierhaft, warum er von Ermittlungsakten, Abgrund, Drama und Katastrophe sprach. Auch die angedeutete Wesensänderung Eleonores war mir suspekt, aber nun war nicht der richtige Zeitpunkt, danach zu fragen. Gregor öffnete behutsam das leicht vergilbte Tagebuch meiner Mutter. Der Einband bestand aus geriffeltem Leinen mit himmelblauer Grundfarbe und weißgrauen Wolken. Die vergangenen Jahrzehnte hatten die Farben verblassen lassen. Gregor konzentrierte sich mit wachen Augen auf die Zeilen. Er setzte seine an der Brust baumelnde Lesebrille auf und begann mit der Wiedergabe des Büchleins. Es hatte den Anschein, als würde er durch das Buch direkt in die Vergangenheit blicken.

1985 – Eleonores Tagebuch

Wie sehr freute ich mich auf diesen Sommertag. Der Wetterbericht hatte 35 Grad bei schönstem Sonnenschein angekündigt. Den geplanten Highlights des Tages, ein Freibadbesuch mit den Mädels und eine Party am Baggersee, stand also nichts entgegen. Die Sommerferien begannen gerade erst und die schönsten Wochen des Jahres lagen vor mir. Voller Vorfreude schälte ich mich aus dem Bett. Als ich das Fenster meines Zimmers öffnete, durchdrang mich die frische Morgenluft. Die Gerüche des Sommers verzauberten mich und weckten meine Sinne. Die ersten Sonnenstrahlen krochen über das Kornfeld hinter unserem Grundstück und ließen die fast reifen Ähren golden schimmern. Der Wetterfrosch hatte ausnahmsweise recht behalten. Der Morgen war meine liebste Tageszeit, vergleichbar mit einem Filmtrailer, der die Neugier auf den kompletten Kinofilm weckte. Diese Intensität, mit der ich das normale Alltagsleben in mich aufsaugte, kam mir selbst ungewöhnlich vor. Als läge etwas in der Luft, das ich nicht greifen konnte. Die grelle Stimme meiner Mutter, eine Mischung aus Sopran und übersteuerter E-Gitarre, riss mich aus meinen abschweifenden Gedanken.

„Eli, hier ist ein seltsamer Brief für dich, und wir frühstücken gleich.“

Warum schämte sie sich eigentlich nicht für ihre verkorkste Schändung meines Namens? Eli klang wie der Schmusename eines Elefanten. Mein Name war Eleonore, und sie hat mir den, warum auch immer, verpasst. Nun war sie aber nicht mehr bereit, den vollständigen Namen zu benutzen, und nannte mich stattdessen Eli. Als Kosename gedacht, wurde daraus eine Offenbarung, die mehr als deutlich machte, dass mir meine Eltern einen außergewöhnlichen Namen geben wollten, um die Nachbarschaft zu beeindrucken und sich keine Gedanken um die alltägliche Verwendung des Namens gemacht hatten. Es gab so viele schöne und einfache Namen wie Lisa, Pia, Marie, Sophie, Lucy, Laura, Lena, Kenny, Aimee, Kia ... oder eben Eva, wie der Name meiner Mutter. Alles Namen, bei denen Abkürzungen, wenn auch liebevoll gemeint, nicht sinnvoll möglich waren. Eva nannte mich also Eli, was sich anhörte wie die Initialen eines elektrischen Phänomens: ‚Extreme Light Infrastructure‘ oder ähnlicher Bockmist.

Und was war ein ‚seltsamer‘ Brief? Woher wusste sie, dass der an mich gerichtete Brief seltsam war, wenn sie ihn nicht gelesen hatte? Bei allem Misstrauen an ihren Fähigkeiten hinsichtlich meiner Namensgebung, traute ich ihr das nicht zu. Der Umschlag, den meine Mutter unter der Tür durchgeschoben hatte, bewegte sich direkt auf mich zu. Aus der verbleibenden Distanz von zwei Metern zwischen dem Umschlag und mir spürte ich eine seltsame Anziehungskraft. Ich machte mich auf den Weg zu ihm und nun schossen mir die Gedanken wie Dum-Dum-Projektile durchs Hirn. Die Hoffnung, Gerold Keppler könnte der Absender des Schriftstücks sein, schwebte wie eine Seifenblase über mir. Sie sah schön aus, schillernd, gefüllt mit Gesten und Blicken, die eine zarte wachsende Liebe andeuteten. Aus der Entfernung konnte ich sehen, dass der Briefumschlag ungewöhnlich aussah: Er war blau, mit einer fremdartigen, circa zwei Zentimeter breiten, gezackten Umrandung. Grotesk empfand ich die Ummantelung des Umschlags mit durchsichtigem Kunststoff. Endlich überwand ich die zwei Meter und nahm die Botschaft in meine Hände. Auf der Vorderseite stand meine vollständige Adresse in Druckschrift: Eleonore Biber, Kastanienweg 8, 6430 Obersuhl. Eine Briefmarke konnte ich nicht finden. Beseelt sah ich Gerold förmlich vor mir, wie er vor meiner Tür gestanden und den Brief eingeworfen hatte. Als Absender entdeckte ich links oben leider nicht Gerold, dort stand nur der Schriftzug ‚GUMMILI‘. Was war das denn? Aus dieser Briefhülle konnte ich mir keinen Reim machen.

„Frühstück!“, krächzte die zum Reißen gespannte E-Gitarren-Stimme meiner Mutter durchs Haus. Schnell schlüpfte ich in meine Klamotten, stopfte das Kuvert in den Saum meines Rockes und zog das enge weiße T-Shirt drüber.

„Na, gut geschlafen?“, begrüßte mich Papi mit bis zu den Ohren ragenden Mundwinkeln. Mutter hatte es selbstverständlich nicht versäumt, ihm von der seltsamen Post zu berichten. Im Gegensatz zu seiner geliebten Ehefrau akzeptierte er jedoch die Privatsphäre seines Kindes. Aus diesem Grund hätte er mich niemals direkt darauf angesprochen. Eva brachte den Kaffee an den gedeckten Frühstückstisch und während sie sich setzte, warf sie mir diesen Blick zu, der mehr sagte als tausend Worte. Er schrie: Wer hat den Brief geschrieben? Ist es dein Freund? Grüßt er die Leute immer? Liebt ihr euch? Habt ihr Sex? Wollt ihr heiraten? Hat er eine gute Familie? Wie viele Kinder wollt ihr? Sind die Eltern geschieden? Als Erwiderung auf diesen unerträglichen Augenausdruck meiner Mutter und um mir jede einzelne penetrante Frage zu ersparen, quollen die Worte unaufhaltsam wie ein Rülpser aus mir heraus: „Eva, es handelt sich um einen Gemeinschaftsbrief von fünf Typen, die sich deshalb gemeinschaftlich Gummili nennen, weil jeder von ihnen ein Gummi benutzte, als sie mich gestern beim Gruppensex durchnudelten. Jetzt bin ich trotzdem schwanger und weiß nicht von wem. Beim Aussuchen eines Kandidaten könntest du mir behilflich sein. Stammbaum und Familienchronik der einzelnen Jungen reiche ich dir nach.“

Mama spuckte den ersten Schluck Kaffee wieder in die Tasse, wurde tiefrot, ihre Augen quollen aus den Höhlen und sie stöhnte, als hätte sie den Leibhaftigen getroffen: „Aalllsoooo! Das ist geschmacklos.“

Papi schaute mich kurz mit leerem Blick an, im Anschluss brach es wie ein riesiger Eisbrocken aus einem Gletscher heraus: erst langsam, danach unaufhaltsam und immer krachender. Mit der flachen Hand schlug er auf den Tisch und lachte erst mit glänzenden und dann mit von Tränen getränkten Augen. Entgegen seiner tiefen Sprechstimme konnte man sein Lachen durchaus für einen Liliputaner-Lachsack konservieren. Es war schrill, steckte aber an und so konnte ich mich auch nicht mehr halten, zumal der Gesichtsausdruck meiner Mutter unverändert in der skurrilen Pose zu erstarren drohte, als wäre sie eine in Wachs gegossene Figur eines potenziellen Opfers von Richard Bachmann. Wie von mechanischer Kraft angetrieben, löste sich Mamas Mimik.

„Ihr seid unmöglich, und deine Fantasie, Eli, ist einfach nur schmutzig!“

Sie war echt ungeschickt, wie sie Papi mit in mein Boot steckte und damit unausweichlich die Front gegen uns beide halten musste. Allerdings konnte ich ihrer Mimik eine gewisse Neugier entnehmen, was in mir wiederum ein erstauntes Interesse für sie aufkeimen ließ. Dass Angriff die beste Verteidigung sein kann, bestätigte sich, als mich meine Mutter im weiteren Verlauf des Frühstücks ignorierte. So konnte ich mein weiteres Vorgehen planen. Ich beschloss, mich auf den Drahtesel zu schwingen und im Rhäden ein ruhiges, romantisches Plätzchen zu suchen, um die Nachricht in Ruhe lesen zu können. Der Rhäden, dieses wundervolle Stück Natur zwischen Obersuhl und Bosserode, mit seinem Wald, seinen vielen seltenen Tierarten, Teichen und Seen, war ein zentraler Rückzugspunkt für mich. Seit meiner frühen Kindheit zog es mich in dieses unverbrauchte Biotop, das alle meine Sinne ansprach und mir so viele glückliche Erinnerungen bescherte. Dort die Natur zu sehen, zu riechen, zu schmecken und zu fühlen, waren ins Stammhirn eingebrannte glückliche Erinnerungen, die mich mein ganzes Leben begleiten werden. An zwei Seiten war der Rhäden vom Metallgitterzaun der DDR eingerahmt, der einerseits die unberührte Landschaft in diesem Naturschutzgebiet ermöglichte, aber andererseits Ausdruck und tägliches Sinnbild für die Unvollkommenheit und Niedertracht der Menschheit war. Ganze elf Kilometer dieser tödlichen Barriere rahmten Obersuhl ein. Den Metallgitterzaun als ‚unmenschlich‘ zu bezeichnen, war kontraproduktiv, denn nur die Menschheit griff auf solche widerwärtigen Ideen und Praktiken zurück. Wer sonst wäre auf die Idee gekommen, ein ganzes Volk einzusperren und über Jahrzehnte zu drangsalieren? Kein anderes Lebewesen besaß die Schlechtigkeit, so etwas mit dieser immensen Tragweite und Konsequenz über Jahrzehnte durchzuziehen. Das Adjektiv ‚unmenschlich‘ wirkte mehr wie ein überaus gelungenes Kompliment.

Der gütige Blick meines Vaters verwandelte sich in ein vielsagendes, schelmisches Grinsen, als er die Konturen des Kuverts unter meinem engen T-Shirt erkannte. Ihm gegenüber war es mir nicht peinlich, weil er gleichzeitig mein Vater und Freund war. Papi hatte in der Erziehung das richtige Maß an Freiraum und Strenge. Ich liebte ihn und wusste, diese Eigenschaften waren ein seltenes Juwel, worum mich meine Freundinnen zu Recht endlos beneideten.

Es war wieder einer dieser kostbaren Tage; der Fahrtwind beim Fahrradfahren und die damit verbundenen Eindrücke, die Gerüche, die Temperaturunterschiede, die Geräusche der Bäume und Vögel bescherten mir wahre Glücksgefühle. Im Grunde hätte ich diese Emotionen immer haben können, allerdings war ich viel zu selten bereit dafür. Es lag genau genommen an einem selbst, an der eigenen Perspektive, ob man glücklich oder traurig sein wollte oder konnte - eigentlich pervers einfach.

Mein Weg führte mich zum Beobachtungsstand in der Mitte des Rhädens, ein in Blockbohlenbauweise errichteter geräumiger Aussichtsturm. Dort war ich fast immer alleine. Manchmal dachte ich, der Rhäden wurde nur für mich erschaffen. Kaum jemand fand den Weg hierher, außer mir natürlich und Vogel-Ötzi. Hinter diesem Spitznamen verbarg sich ein Gesamtschullehrer aus Obersuhl, mit einem Faible fürs Zählen von Zugvögeln, obwohl er weder Mathematik noch Biologie unterrichtete. Der Mann war ein richtiger Vogel-Fetischist. Gewissenhaft beobachtete und zählte er die gefiederten Gäste im Rhäden und führte akribisch Buch darüber. Ich bezweifelte allerdings, dass er bei all dem Zählen und Addieren noch einen Blick für die Schönheit der Fauna und Flora hatte. Im Grunde hatte ich jedoch größten Respekt vor dem Engagement dieses Menschen, auch wenn ich selbst nie auf die Idee gekommen wäre, in meiner Freizeit Tiere zu zählen wie Geldmünzen. Vogel-Ötzi war wie ein in seinen pedantisch perfektionistischen Ansprüchen gefangener Fotograf: Immer auf der Suche nach dem vollkommenen Foto war er unfähig, die Anmut eines Motivs außerhalb des Kameraobjektivs zu erkennen.

Aber ich schweife ab, zurück zu den Geschehnissen. Nun saß ich auf der Holzbank im Beobachtungsturm. Wenn diese Bank erzählen könnte … Im Laufe der Jahre wurden unzählige Namen, Grüße, Wünsche und Sprüche in das Holz geritzt. Sie verliehen dem Bauwerk die Aura von Höhlenmalereien unserer prähistorischen Vorfahren.

Nun war es endlich soweit. Ich zog den Umschlag aus meinem Rock, der von meinen Bewegungen zwar geknickt, aber ansonsten unversehrt war. Kein Mädchen auf dieser Welt würde einen solchen Briefumschlag für eine persönliche Botschaft verwenden. Abgesehen davon, welcher weibliche Teenager nannte sich schon Gummili? Es musste also ein männlicher Absender sein. Neugierig roch ich an dem Kuvert. Mehr als den typischen Papiergeruch konnte ich nicht feststellen. Nervös öffnete ich den Umschlag mithilfe meines Haustürschlüssels. Nun hielt ich sechs weiße DIN-A4 Blätter in den Händen und las den in handgeschriebenen Druckbuchstaben verfassten Brief:

HIER SPRICHT GUMMILI VERZAUBERTE CAÇI!

Wildeck, der erste Kontakt

Erlaube mir bitte, dich mit diesem Namen anzuschreiben. Er ist dir zwar nicht unbekannt, aber du wirst ihn vermutlich nicht erkennen. Für die Zukunft kann ich nicht ausschließen, dass es dir mit anderen Begebenheiten ähnlich ergehen wird, aber wir werden uns gemeinsam bemühen, die Unkenntnis zu minimieren.

Wir werden uns ab jetzt vermutlich oft schreiben, weswegen ich mich kurz vorstellen möchte:

Ich komme nicht aus der Vergangenheit und nicht aus der Zukunft, sondern immer nur aus deiner Gegenwart.

Gummili werde ich genannt und habe eine unfassbar lange Reise hinter mir, denn von deiner Welt komme ich nicht. Mein Planet liegt nicht in deinem Sonnensystem und nicht in deiner Galaxie. Meine Heimat ist der Planet Aurelia im Sternsystem Andromeda. Diese Galaxis kannst du sogar mit deinen bedingt als Sehorgan geeigneten menschlichen Augen am Himmel sehen, wenn die Nächte dunkel und klar sind. Du siehst dann zwar lediglich einen schwachen, verschwommenen Lichtfleck, aber das kommt von der unfassbaren Entfernung zwischen Andromeda und dir. Also, lass dich nicht täuschen, es ist der entfernteste Punkt am gesamten Horizont, den du mit deinen Augen wahrnehmen kannst. 2,5 Millionen Jahre benötigt das Licht dieses Sternsystems, um auf der Erde und damit der Oberfläche deiner Netzhaut anzukommen.

Während dein Mond 380.000 Kilometer und deine Sonne circa 150 Millionen Kilometer von der Erde entfernt sind, liegt Aurelia 2,5 Millionen mal 9,461 Billionen, also 23.650.000.000.000.000.000 Kilometer von dir entfernt. Dimensionen, die der Intellekt des menschlichen Wesens nicht mehr erfassen und verstehen kann, obwohl Aurelia in deiner unmittelbaren Nachbargalaxie liegt. Das Licht deiner Sonne trifft bereits nach acht Minuten und neunzehn Sekunden auf deinen wunderschönen Körper und verursacht dort hoffentlich keinen Sonnenbrand. Von meinem Herkunftsplaneten zu deinem Zuhause benötigen die Lichtstrahlen mehrere Millionen Jahre, obwohl sie 300.000 Kilometer in der Sekunde zurücklegen. Bitte verzeih mir, wenn ich dich deshalb nie zu einem Kaffee in meine Heimat einladen werde.

Trotz dieser unbegreiflichen Entfernung kannst du meine Geburtsstätte sehen – allerdings nur, weil sie unerhört groß ist. Der Durchmesser ihres Lichtschweifs beträgt 140.000 Lichtjahre. Andromeda ist eineinhalbmal so groß wie die Milchstraße, also deine Muttergalaxie.1 Was für ein niedlicher Name für solch ein massiges Konstrukt, denn auch die Milchstraße beherbergt etwa 200 Milliarden Sterne, also Sonnen wie du deine am Himmel sehen kannst. Die bildhafte Bezeichnung der ‚Milchstraße‘ ist aber verständlich. Dem Mensch bleibt lediglich die Möglichkeit, etwas für ihn vollkommen Unverständliches bildlich oder in Metaphern zu beschreiben. Nur so kann er solche komplexen Gebilde in die Strukturen seines auf die Erde bezogenen Verstandes transformieren. Das beinhaltet natürlich enorme Fehlerquellen, denn der Erdbewohner kann sich diese Ausmaße nicht ansatzweise vorstellen.

Dieser kleine theoretische und trockene Exkurs soll dir ein erster Hinweis darauf sein, was wir gemeinsam erreichen können. Ich lade dich zum Beispiel dazu ein, mit mir die Weltenräume zu entdecken, um einen klareren Blick auf uns selbst zu bekommen.

Bitte habe Nachsicht mit mir. Ich neige dazu, neue Entdeckungen mit Enthusiasmus und Temperament unter die Lupe zu nehmen. Und die Erde ist für mich eine neue Entdeckung.

Andererseits kann ich diese Umwelt nicht einschätzen und analysieren, wenn ich mich nicht dezidiert damit beschäftige. Die Zusammenhänge der Welt bleiben dann verborgen, was lebensgefährlich sein kann.

Vielleicht hast du Lust auf einen Deal?

Ich erkläre dir die Welt und du entschleierst meine Seele, was sich ganz automatisch einstellen wird, wenn wir uns austauschen. Wie du sicher bereits in den ersten Absätzen erkannt hast, wird das anfangs sehr ungewohnt und nicht leicht für dich werden, aber dies beruht auf Gegenseitigkeit.

Ein kleiner Irrweg führte mich auf deinen Planeten. Aus der fünften Dimension bin ich direkt auf ein gepflegtes Stück Rasen gefallen, das geometrisch mit weißen Linien gekennzeichnet war. An den schmalen Seiten des Rechtecks befanden sich mittig zwei grobmaschige Fischernetze an einem Gestänge. Ich war nicht alleine dort. 23 andere Gestalten tummelten sich ebenfalls in diesem eingegrenzten Rasenstück. Alle konzentrierten sich hingebungsvoll auf ein kugelförmiges Lederstück, welches von einem zum anderen katapultiert wurde. Sobald die Gestalten der Lederkugel nicht unmittelbar hinterherhechteten, verteilten sie ihren Speichel in hohem Bogen auf dem Rasen oder fassten sich mit einem martialischen Griff zwischen die Beine, um das dort befindliche Gehänge zu richten. Erst der ansteigende Geräuschpegel der Umgebung ließ die Wesen schließlich innehalten. Als ich der ersten Figur unmittelbar gegenüberstand, bekam ich einen Schock. Es handelte sich ganz offensichtlich um einen Menschen, der mich fassungslos mit seinen Glubschaugen anstarrte. Mir wurde sofort klar, ich war auf der Erde, am Rande unserer Nachbargalaxie, gelandet. Mein rudimentäres Wissen über den blauen Planeten beschränkte sich auf meine Initialisierung bei meiner Formation. Das kannst du jetzt nicht verstehen. Die Formation ist vergleichbar mit eurer Geburt. Wir werden initialisiert, also mit dem gesamten Wissen des Universums ausgestattet, das unserer Art zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung steht. Maße, Lage und Aufbau der Erde waren mir aus diesem Grund genauestens bekannt. Zudem erinnerte ich mich an wirklich unansehnliche Bilder der Spezies Mensch, die die Erde mit ihrem Anfangsstadium von Intelligenz dominierten. Die Beschreibungen dieser Wesen aus meiner Initialisierung waren äußerst unästhetisch: ‚Sie sind mit Löchern wie Mund, Nase, After, Ohren und Genitalien geradezu übersät, aus denen ekelerregende Flüssigkeiten und Substanzen ausgeschieden werden: Mit Enthusiasmus der Speichel aus dem Mund, die Essensreste aus dem After, der Schmalz aus den Ohren, die Tränen aus den Augen, Schleimsekret aus der Nase, Samen, Urin und diverse andere Stoffe aus den Genitalien ...‘ Es war abstoßend. Nun stand eines dieser Geschöpfe direkt vor mir und ich starrte auf zwei behaarte und tropfende Löcher, die Bestandteil seiner Nase waren. Ich war kurz vor einem Kollaps, als ich bemerkte, dass ich ebenfalls die Gestalt eines solchen Menschen angenommen hatte. Es war der reinste Horror, denn außerhalb der Rasenfläche saßen und standen insgesamt 29.396 dieser Lochsubjekte und alle schauten sie mich erwartungsvoll an. Offenbar fiel ich sofort auf, da ich einige meiner Löcher nicht in einem nummerierten Einheitsanzug versteckt hatte, sondern offen zur Schau stellte. In aller Eile kramte ich mein gesamtes Wissen über diese seltene Art des Universumsbürgers hervor: Mäßig intelligent, selbstherrlich, gutgläubig, zeitlich begrenzte Formation, gewalttätig, destruktiv, führt gerne Krieg, zur Liebe fähig, sucht Trost und Ablenkung in Geisterbildern und Halluzinationen, lebt gern in einer illusorischen und fiktiven Welt, meidet die Konfrontation mit der Realität, bestraft Andersartigkeit und Unangepasstheit – kurzum: ist sehr gefährlich. Die erste Bestätigung dieser Eigenschaften erfuhr ich, als sich Augenblicke später mehrere Erdbewohner auf mich stürzten und mich gewaltsam in einen Raum führten, den sie Kabine nannten. Sie überzogen einige meiner Löcher mit Textilien und übergaben mich anschließend an Subjekte in grünen Gewändern. Diese transportierten mich in einem überaus primitiven, stinkenden Fortbewegungsmittel, das flackernde blaue Lichtzeichen aussendete, in ihren Stützpunkt in der Mitte der Stadt. Meine anfänglichen Versuche des Konformismus, wie zum Beispiel gegen die Raumabtrennung aus Metallstäben zu spucken, gegen alles zu treten, was annähernd kugelförmig aussah - und beherztes Grapschen in meinen Schambereich - erbrachten nicht den gewünschten Erfolg. Etwas später wurde ich jedoch positiv überrascht, als mich ein einsichtiger Mann namens Polizei in einen eingezäunten Gebäudekomplex brachte, in dem die Menschen keine grüne, sondern ausschließlich weiße Gewandung trugen. Hier konnte ich zu meiner Freude einige höher entwickelte Exemplare der Gattung Mensch kennenlernen, die sich selbst für Außerirdische hielten und die nächste Evolutionsstufe erklimmen wollten. Während der Inanspruchnahme ihrer Gastfreundschaft lernte ich schnell, die Erwartungen der Weißgewandeten vollumfänglich zu erfüllen, was mir mit dem Vermerk ‚nicht geheilt, aber ungefährlich‘ den Gang in die Freiheit einbrachte. Nun hatte ich die Muße und später auch die notwendige Ungezwungenheit, den Planeten Erde und seine Bewohner eingehend zu studieren.

Geraume Zeit beobachtete ich dich und musste feststellen, dass mein Interesse an deinem einzigartigen Wesen mit abnehmender Lebenszeit immer weiter wuchs. Wir werden interagieren müssen, um Verständnis füreinander zu generieren.

Ich werde mich bemühen, den auf euren Erfahrungshorizont beschränkten Sprachschatz so zu verwenden, dass du das von mir Gesagte nachvollziehen kannst. Sehe es mir bitte nach, falls diese Äußerungen für dich arrogant klingen, aber sie sind letztlich nur die Wirkung unserer unterschiedlichen Herkunft. Weder kann ich mir darauf etwas einbilden noch solltest du Minderwertigkeitskomplexe bekommen. Die Evolution auf der Erde befindet sich in den Kinderschuhen und der Mensch ist erst an einer der unteren Sprossen auf der fast endlos langen Leiter angelangt. Ich verdanke meinen Entwicklungsstand der Gnade der Geburt auf einem Planeten, der in dieser Hinsicht einige Sprossen weiter ist. Trotzdem können wir voneinander lernen, was im Laufe unserer Kommunikation sicher deutlich werden wird.

Bitte entschuldige meine manchmal hochtrabenden und komplizierten Formulierungen, aber ich muss erst den Umgang mit eurer Sprache erlernen, und das schaffe ich am schnellsten mit viel Übung.

Du kennst sicher das Kriegerdenkmal am Friedhof in Obersuhl. Links neben dem Monument befindet sich der Weg hinauf zum Wäldchen, den du als Kind zur Schlittenabfahrt missbraucht hast. In Höhe des Mahnmals befindet sich links neben dem Weg eine Holzbank. Unter dieser Sitzgelegenheit werde ich am rechten Bein der Bank von innen einen Brief an dich deponieren, den du morgen, also Samstag, abholen kannst. Dies ist unser Umschlagplatz, an dem du deine Mitteilungen an mich vergraben kannst.

Verschwende deine kostbare Zeit bitte nicht mit der Suche nach meiner körperlichen Hülle, sondern öffne dich für Gummili. Schnitze einen Strich im Holzturm des Rhädens auf den noch fast unbenutzten linken Schenkel der U-förmigen Sitzgelegenheit.

Wenn die Sonne erneut aufgeht, werden wir wieder in Kontakt stehen.

Bis bald in alter Frische und halt die Form.

GUMMILI

Ich nahm weder das Zirpen der Grillen, den Gesang der Vögel, das Rauschen in den Bäumen noch das Schnattern der Gänse wahr, während ich in diese Zeilen eintauchte. Alles um mich herum schaltete ich aus, damit sich mein Geist auf die Worte fokussierte. Dreimal las ich das Schreiben von Anfang bis Ende. Anschließend ließ ich meinen Blick nachdenklich vom Aussichtsturm in die Ferne schweifen, bis ich wieder zu mir kam und sauer wurde.

„Ist das Ding bescheuert? Hat es sich zu viel Franz Kafka reingezogen? ‚Wir werden uns jetzt oft schreiben‘ und ‚wir werden wieder in Kontakt stehen‘! Ich glaube, was auch immer es ist, es hat seine Augen in der Kristallkugel verloren, wenn es überhaupt welche hat.“ Enttäuschung machte sich in mir breit, weil es sich nicht um die erhofften Worte von Gerold handelte. Er hätte zwar nie einen Liebesbrief geschrieben. Aber selbst wenn er mir eine Dissertation über Friedrich Nietzsche geschickt hätte, wäre das bei ihm als deutliches Zeichen einer Beziehung durchgegangen, die über den rein gesellschaftlichen Kontakt in der Jugendgruppe hinausging. Jeder Brief von ihm, egal mit welchem Inhalt, wäre ein Beweis seiner Zuneigung gewesen.

Die Nachricht steckte ich zurück in meinen Rock, schwang mich aufs Fahrrad und fuhr in Richtung Heimat.

III. Die Analyse

1985 – Eleonores Tagebuch

Die Botschaft des Briefes konnte ich weder ein- noch zuordnen. Auf dem Heimweg kreisten meine Gedanken ausschließlich um die sonderbare Mitteilung. Klar, ein Liebesbrief war aus anderem Holz geschnitzt. Meine Leichtigkeit war dahin, die Fahrt diente nur dem Zweck, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen.

Dort angekommen, ging ich in mein Zimmer, setzte mich an den Schreibtisch und holte die Post erneut hervor. Ich beobachtete mich selbst dabei, wie ich den Brief sorgsam glättete, als hätte ich eine unersetzbare Botschaft aus dem Jenseits in der Hand. Noch einmal las ich sorgfältig jeden Satz durch, um seine Bedeutung zu analysieren und Hinweise auf den unbekannten Verfasser aufzuspüren.

‚Hier spricht Gummili‘ – warum ‚spricht‘, er schrieb doch? Wie kam ich eigentlich auf ‚er‘? Bombensicher war das nicht. Er nannte sich selbst Gummili, das sollte also sein Name sein. Handelte es sich um ein Pseudonym? Vermutlich. Die Frage war, welche tiefere Bedeutung steckte dahinter? Vorausgesetzt, es gab eine.

‚ Wildeck, der erste Kontakt‘ – er hielt sich demnach in Wildeck auf. Für den Fall, dass in der Zukunft irgendjemand, vielleicht sogar ein Außerirdischer, in diesem Tagebuch liest, sollte ich an dieser Stelle einige Erläuterungen einfügen: Wildeck ist der Name der Großgemeinde im Nordosten Hessens, in der ich lebe. Sie liegt direkt an der Grenze zwischen West- und Ostdeutschland, zwischen Hessen und Thüringen und besteht aus den Ortsteilen Obersuhl, Hönebach, Richelsdorf, Bosserode und Raßdorf. Meine Heimat liegt im sogenannten Zonenrandgebiet, was sich in meinen Ohren anhört wie ein Nationalpark zum Schutz bedrohter Tierarten. Die Hoffnung, dass wir als Zonenrandgebiet vom Aussterben bedroht sind, besteht leider nicht. Dies würde auch meine Vorstellungskraft sprengen. Das Wahrzeichen der östlichen Staatsführung stand schließlich schon bei meiner Geburt und ich würde durchaus mit Honi wetten, dass es in 100 Jahren noch stehen wird. Obwohl, mit solchen Typen soll man nicht zocken!

Jeder normale Mensch würde im Briefkopf ‚Wildeck, den 20.07.1985‘ schreiben. Gummili verwendete dort nicht die Zeitangabe, sondern beschrieb die Auswirkung des Briefes. Zudem beinhaltete das Wort ‚erste‘, dass es selbstverständlich weitere Kontakte geben würde.

‚Verzauberte CAÇI!‘ – dies schien die Anrede zu sein. Er nannte mich ‚Caçi‘. Keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte. ‚Caçi‘ hatte ich noch nie gehört. Auch der Duden half mir nicht weiter. Hatte ich mich echt an diesem Morgen über meinen Namen beschwert? Lieber Gott, was war das für eine billige Retourkutsche!

‚Tja, kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort!‘, hätte meine Mutter in einem solchen Moment inbrünstig ausgerufen. Immerhin fand der geheimnisvolle Schreiber mich bezaubernd, nee, verzaubert. Wer oder was hatte mich wie verzaubert, oder sollte ich erst noch verzaubert werden? Ich hatte keinen blassen Schimmer.

‚Wir werden uns ab jetzt vermutlich oft schreiben‘ – na schön, war ja toll, dass er mir kein Mitspracherecht einräumte. Nein, das schien bei Gummili nicht mal Grundlage für eine Diskussion zu sein, wenngleich das Wort ‚vermutlich‘ ein kleines Mitbestimmungsrecht meinerseits signalisierte.

War immerhin lobenswert und zeugte von Anstand, dass er sich wenigstens vorstellte.

‚Ich komme nicht von dieser Welt. Mein Planet liegt nicht in diesem Sonnensystem. Meine Heimat ist Aurelia‘ - er behauptete, nicht von der Erde, sondern aus einem anderen Sonnensystem zu kommen. Na Klasse, nun erhielt ich seit ewigen Zeiten mal wieder einen Brief und schaffte es nicht, dass dieser von unserer Erde oder aus unserem Sonnensystem stammte. Herrje, ich musste ganz schön weit draußen fischen gehen. Und dann diese Zahlenkolonnen – der hatte doch ein Rad zu viel am Kreisen. Mir war schon nach zwei Sätzen klar geworden, dass ich nicht auf seine Heimat spucken konnte, sie etwas mehr als einen Katzensprung entfernt war.

‚Ich komme nicht aus der Vergangenheit und nicht aus der Zukunft, sondern immer nur aus deiner Gegenwart‘ – okay, er kam weder aus der Vergangenheit noch aus der Zukunft, aber seltsamerweise auch nicht aus der allgemeinen, sondern aus ‚meiner‘ Gegenwart. Sollte das nun eine Anspielung darauf sein, dass die Aurelianer die gleiche Zeitrechnung wie auf der Erde verwendeten, oder steckte etwas anderes dahinter? Vielleicht bildete ich mir das alles nur ein. Wahrscheinlich befand ich mich in einem skurrilen Traum, aus dem ich bald erwachen würde.

Die Beschreibung seiner Landung im Fußballfeld und seines Aufenthalts im Irrenhaus fand ich allerdings gelungen und lustig, wenngleich ich die abscheulichen Bilder der lochübersäten Menschen nicht mehr aus meinem Gedächtnis verdrängen konnte.

‚Geraume Zeit beobachtete ich dich und musste feststellen, dass mein Interesse an deinem einzigartigen Wesen mit abnehmender Lebenszeit immer weiter wuchs‘ – das bedeutete, ich kannte ihn zumindest flüchtig, denn er hatte mich offensichtlich beobachtet. Super, er hielt mich für ein einzigartiges Wesen! Das war eine Vogelspinne allerdings auch. Obwohl, es klang eher, als wäre es als Kompliment gemeint. Das Interesse an mir wuchs mit ‚abnehmender Lebenszeit‘. Das war eine kuriose Formulierung. Zählte er die Tage, die mir im Diesseits blieben?

‚Wir werden interagieren müssen, um das gegenseitige Verständnis füreinander zu generieren‘ – oh je, ohne Fremdwörterlexikon ging nichts mehr. Gut, er wollte mich kennenlernen. Derart war ich noch nie angemacht worden. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würde mich auch nie wieder jemand in dieser irren, aber irgendwie genialen, spannenden und kreativen Form locken. Zwar würde ich ab August aufs Gymnasium in die elfte Klasse gehen, aber manche Aussagen waren mir fremd. Handelte es sich um eine Kunstsprache oder war Gummili einfach abgedreht?

Ja, selbstverständlich kannte ich die Parkbank am Kriegerdenkmal und die Winterpiste, also den Weg zum Wäldchen. Jedes Kind düste dort in der kalten Jahreszeit mit dem Schlitten runter. Diese Aussage zum Missbrauch des Weges gab mir keine weiterführenden Hinweise, außer, dass mein Gummili aus Obersuhl - und nicht aus einem der anderen Dörfer - kommen musste. Kinder aus anderen Gemeinden benutzten ihre eigenen Pisten für Schlitten-Eskapaden. Das war doch ein Fortschritt: Er kam aus Obersuhl. Außerdem schränkte ich damit die Identität von Gummili auf etwas über 3000 Personen ein. Okay, wenn ich Greise und Kleinkinder abzog, verblieben circa 2000. Obwohl, konnte ich mir mit dem Ausschluss der Alten wirklich sicher sein?

‚Dies ist unser Umschlagplatz, an dem du deine Mitteilungen an mich vergraben kannst‘ – ah, er hätte ja auch ‚vergraben sollst‘ schreiben können, also Befehlsform. Machte er aber nicht. Er war demnach nicht völlig überzeugt, dass ich zurückschreiben würde. Ertappt!

‚Verschwende deine kostbare Zeit nicht mit der Suche nach meiner körperlichen Hülle, sondern öffne dich für Gummili‘ – dahinter steckte mehr. Im Umkehrschluss hieß das, seine körperliche Hülle könnte ich finden, aber aus seiner Sicht wäre es Zeitverschwendung. Stattdessen sollte ich mich mit der Kunstfigur Gummili abfinden, einem angeblich außerirdischen Wesen, dessen Name mich an Kondome erinnerte und der wahrscheinlich nicht mal einen Mund besaß, weswegen er diesen Weg der Kommunikation gewählt hatte. Schreiben und Sprechen bedeuteten für ihn möglicherweise ein- und dasselbe. Darüber musste ich lachen. Sein Rat war, mich auf Gummili einzulassen.

‚Schnitze einen Strich im Holzturm des Rhädens auf den noch fast unbenutzten linken Schenkel der U-förmigen Sitzgelegenheit‘ – oh verdammt, das hatte ich vorher glatt überlesen. Ich bekam eine Gänsehaut. Woher konnte er wissen, dass ich den Brief im Rhäden auf dem Turm lesen würde? Das war ja total abgefahren. Unwillkürlich schaute ich mich in meinem Zimmer und am Fenster um. Wurde ich beobachtet oder gab es eine versteckte Kamera? Vielleicht hatte mich das Wesen im Turm ausspioniert, aber da war der Brief schon geschrieben - bekloppte Idee. Diese Passage ging ich nochmal durch. Ich sollte nur einen Strich auf der Sitzbank am Holzturm machen. Dem Satz war nicht zu entnehmen, wo ich den Brief lesen würde. Gummili war demnach doch kein Hellseher. Ein Hammer war es trotzdem, denn beim ersten Durchlesen war ich genau dort gesessen, wohin ich den Strich schnitzen sollte. Für eine Weile hielt ich inne und irgendwie wurde mir warm ums Herz.

‚Vielleicht hast du Lust auf einen Deal? Ich erkläre dir die Welt und du entschleierst meine Seele, was sich ganz automatisch einstellen wird, wenn wir uns austauschen‘

Der gesamte Brief, so oberseltsam er war, enthielt im Grunde das unbändige Verlangen, sich mitteilen zu können. Warum ging diese Offerte an mich und warum auf diese Weise? Das konnte ich mir beim besten Willen nicht beantworten.

‚Wenn die Sonne erneut aufgeht, werden wir wieder in Kontakt stehen‘ - komische Formulierung, als wäre der letzte Satz ein Abschiedsgruß von Winnetou und Old Shatterhand, nachdem der Schatz in den Tiefen des Silbersees verschwunden war.

Mit der Analyse hätte ich ewig weitermachen können. Das Kerlchen hatte auf jeden Fall Fantasie - in Anbetracht seiner Ausführungen zu seinem Planeten, dem Sonnensystem Andromeda, seinen Entfernungsberechnungen, den minderwertigen Augen, dem beschränkten Menschen, den löchrigen Fußballspielern und den anderen Außerirdischen in der Nervenklinik.

In meinem Magen breitete sich ein flaues Gefühl aus. Nachdem ich mich intensiv mit den Zeilen auseinandergesetzt hatte, ergriff mich eine merkwürdige Hingabe zu Gummili, die ich mir nicht erklären konnte. Die ganze Angelegenheit nahm unsagbar spannende Züge an und ich war positiv gereizt.

Trotzdem bestand die Möglichkeit, dass ich jedes Wort auf die Goldwaage legte und überbewertete. Der Brief hätte ebenso gut von einem neunmalklugen und frühreifen Kauz stammen können, der eine Gehirnwindung zu viel im Oberstübchen hatte.

Außerdem gab es noch eine letzte Alternative: Gummili könnte wahrhaftig außerirdisch sein. Das würde mehr erklären als Fragen aufwerfen. Langsam fing ich an zu spinnen und übersprang diesen Gedanken mit einem Lächeln.

In diesem Moment riss Mama die Tür auf. „Eli, du bist ja doch hier. Dann hätte ich dich auch zum Essen rufen können.“

„Wieso reißt du die Tür auf wie die Vorhut eines Überfallkommandos, wenn du davon ausgehst, dass ich nicht im Zimmer bin?“

„Sei nicht so pingelig, ich habe mir Sorgen gemacht.“

Beiläufig blickte ich auf die Uhr im Regal. „Oh Mist, es ist schon halb drei.“

„Sag ich doch.“

„Ich muss los ins Schwimmbad.“

Einer genialen Eingebung folgend, bei der sich Wickie bestimmt die Nase wund gerieben hätte, schrieb ich die Eckdaten der Angaben von Gummili zur Erde, zur Sonne, zur Milchstraße, zu Andromeda und zu Aurelia auf einen Zettel.

IV. Gefährten

1985 – Eleonores Tagebuch

Ich zog mir schnell den Rock und das T-Shirt über den Badeanzug, steckte fünf Mark, ein großes Handtuch und den Zettel in meinen Rucksack und lief über das Kornfeld in Richtung Freibad, das nur 500 Meter Luftlinie von unserem Wohnhaus entfernt lag.

Kurz vor dem Freibad stand das kleine Hexenhaus von Herrn Hempel, unserem ehemaligen Physiklehrer. Hempel und Gummili hätte ich problemlos in einen Sack stopfen können und immer den Richtigen getroffen. Sie waren beide verschrobene Wunderlinge. Hempel war wie ein verrückte Professor: leicht verpeilt, überzeugter Single mangels Alternativen - oh, wie böse! -, gutmütig, warmherzig und hilfsbereit. Sein Spitzname bei uns Schülern lautete ‚Nun-ja‘. An seinem Haus angekommen, suchte ich vergebens eine Klingel. Daher hämmerte ich mit dem drachenköpfigen Türklopfer gegen die Eichentür. Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete Hempel mit einem großväterlichen Lächeln die schwere Eingangstür.

„Nun ja, Eleonore, was für ein überraschender Besuch. Komm doch rein in die gute Stube.“

„Herr Hempel, ich habe leider nicht viel Zeit, aber mir brennt da etwas auf den Nägeln, was ich eben in einem Buch gelesen habe.“ Ich übergab ihm den Zettel. „Kommt Ihnen das bekannt vor?“

Er nahm mir das Blatt aus den Händen, las kurz meine ihm leidvoll bekannte kritzelige Handschrift und verabschiedete sich mit einem tief klingenden: „Nun ja, dann gehe ich mal in die Bibliothek“, nachdem er mir erfolglos einen Thymiantee angeboten hatte.

Abwartend nahm ich in seinem Ohrensessel in der winzigen, aber urgemütlichen Wohnstube Platz, und schaute mich neugierig um. Der Zustand seines Wohnzimmers hätte der Chaostheorie sicher einen würdigen praktischen Bezug gegeben, auch wenn ich im Gegensatz zu Hempel von dieser Theorie nicht die leiseste Ahnung hatte.

Nach fünfzehn Minuten kam Hempel, aus einer langen Pfeife dampfend, aus dem Obergeschoss zurück. Ich stand in gespannter Erwartung auf.

„Nun ja mein Kind, zur Phantastik gehört das nicht. Du hast wahrscheinlich ein Buch über Astronomie in die Hände bekommen. Wie lautet denn der Titel des Werkes?“

„Äh, ‚Mein Leben auf Aurelia‘ oder so ähnlich. Also Aurelia ist ein Planet, keine Frau, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Zunächst wirkte er wie versteinert, doch dann begann er zu keuchen und mit dem Kopf zu wackeln. Schließlich musste er sogar die antiquierte Lesebrille abnehmen, um sich die Tränen mit einem überdimensionalen Stofftaschentuch abzuwischen. Einem Taschentuch, das im ausgeklappten Zustand problemlos als Segel der Gorch Fock verwendet werden könnte. Unser Nunja hatte Humor, das war der endgültige Beweis.

„Du bist ja ´ne Ulknudel. Nun ja, hat sich nichts geändert seit deiner Schulzeit bei mir. Bis auf gerade diese schöne Aurelia stimmt hier alles, jedenfalls soweit ich das in der Kürze nachvollziehen konnte. Die Entfernungen zum Mond und zur Sonne sind dir ja geläufig, aber ebenso müssten die Distanz zu Andromeda und alle anderen Angaben stimmen.“

„Wirklich? Andromeda ist kein Hirngespinst? Das gibt es tatsächlich?“

„Ja, im Grunde handelt es sich um unsere Nachbargalaxie. Auch wenn wir sie natürlich nie erreichen können, ist sie nachts bei optimalen Bedingungen sichtbar.“

„Das verstehe ich jetzt nicht. Wie kann sie denn gleichzeitig unser Nachbar und ewig weit entfernt sein?“

„Nun ja, die Forscher gehen von der Existenz Milliarden anderer Galaxien aus, die noch viel weiter entfernt sind.“

„Aber die Sache mit den Sonnen ist doch undenkbar. Zwei Milliarden Sonnen, alleine in unserem Sonnensystem. Das gibt es nicht.“

„Nun ja, unsere Galaxie ist die Milchstraße. Sie besteht aus geschätzten zwei oder gar drei Milliarden Sonnen. Unsere ist eine davon. Unser Sonnensystem besteht nur aus der Sonne und den um sie kreisenden neun Planeten. Von den Entfernungen ausgehend, ist die Erde - nach Merkur und Venus - der dritte Planet in diesem System.“

„Herrje, warum habe ich das nicht gewusst? Das ist unsere Welt und ich weiß so gut wie nichts darüber.“