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RANDSTUNDEN erleben Menschen, wenn ihr Leben eine Wendung nimmt. Erkenntnisse klären, Erlebnisse erschüttern, Realität kippt Pläne. Geburt nicht nur am Lebensbeginn, Sterben nicht nur am Ende. Überforderung und Überraschung, Bindung und Lösung, Mut der Verzweiflung und Kraft der Zweifel , all das kleidet dieses Buch in Sprache. Im Wechsel zwischen Gedicht und Erzählung entstehen Bilder, die Freude und Anstrengung des Lebens spürbar werden lassen. Autobiografisches wird mit frei Erfundenem verwoben. So findet der Lesende Mutmachendes für die Zukunft ebenso wie Nachdenkliches für die persönliche Rückschau.
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Seitenzahl: 100
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Vorgeschichte
Keine halben Sachen
Spaziergang mit Plümmel
Fragezeichen
Ins Wanken geraten
Protokoll einer Ankunft
Abgespeist
Neu geboren
Soeben noch
Haute Couture
Klang-Wunder
Markus
Nur in meinem Kopf
Schnee im April
Keine alltägliche Begegnung
Du störst
Unerwünschte Kinder haben mehr Angst
Konjunktiv
Herr Brehm
Warum
Sucht
wie es sich gehört
Nicht nur zu Ostern
Koma – statt eines Nachwortes
Über die Autorin
Mittag, ein wirklich heißer Sommertag. Wären da nicht die typischen Schäbigkeiten eines Klassenraumes gewesen, man hätte die Atmosphäre als mediterran beschreiben können. Die schräg gestellten Lamellen der Jalousien zeichneten Lichtstreifen auf die Pinnwand mit den letzten Aushängen und Informationen, in der Luft wirbelte Staub und durch die geöffneten Fenster drang Wärme mit mehr oder weniger gedämpften Geräuschen beginnenden Unterrichts.
Da war sie also, die letzte Stunde Religion bei „meinen“ Zehnern. Ich nannte sie so und erntete damit manch missbilligend geschürzte Lippen bei Kollegen, aber das störte mich nicht weiter.
Es waren „meine“. Lange Jahre gemeinsamen Lernens mit allem, was dazu gehörte, Auseinandersetzungen, Diskussionen, Langeweile, Stille, Lachen, Weinen – im Religionsunterricht kam das vor – hatten uns verbunden.
Verbindung, das fällt mir gerade auf, nichts anderes heißt das Wort „Religion“ frei übersetzt.
Nun also die letzte Stunde, der Abschied. Sie saßen vor mir, lächelnd auf eine Art, wie sie nachsichtige Großmütter ihren krähenden Enkeln schenken, wenn Eltern entnervt aufgeben möchten. Altersmilde bei jungen Menschen … ein bisschen verrückt. Ich fühlte mich gut aufgehoben und musste schmunzeln.
Sie freuten sich auf ihre letzten Tage an dieser Schule, das Ende einer langen Reise, gepaart mit ein bisschen Wehmut und einer Spur Aufregung vor dem neuen Lebensabschnitt.
Ich hatte mir für diese Stunde eine Frage überlegt, um ein letztes Gespräch anzuregen, auch für mich eine Rückmeldung zu erhalten und vielleicht in späteren Lerngruppen das eine oder andere neu zu gestalten.
„Würdet ihr anderen Schülern empfehlen, am Religionsunterricht teilzunehmen?“
Diese Frage hätte in keinem anderen Unterrichtsfach Sinn gemacht. Aber vom Religionsunterricht kann man sich aus Gewissensgründen abmelden, wenn man die Religionsmündigkeit erreicht hat. Das bedeutet, zwei Stunden pro Woche frei zu haben und wird rege in Anspruch genommen. Viele junge Menschen stehen Gott und vor allem den Kirchen zunehmend kritisch gegenüber, und den Halt, den sie suchen, finden sie im christlichen Glauben nicht mehr.
Festzustellen, ob der Religionsunterricht meist in der ersten und sechsten Stunde lag, weil die Gruppen so klein geworden waren oder umgekehrt sich viele abmeldeten, weil sie morgens länger schlafen und mittags eher gehen konnten, war schlicht unmöglich.
Für den Unterricht bedeutete das Randstundendasein sowohl Freiraum als auch Herausforderung. Wir leisteten uns so manche Minute für die kleinen Alltagswunder, um an den Fenstern stehend den Sonnenaufgang zu bestaunen oder uns über Elstern, die sich im einzigen großen Baum durch die Krone jagten und sich das Nistmaterial stibitzten, zu amüsieren.
Andererseits gab es von Zeit zu Zeit Kämpfe gegen die Noch- oder Schonwiedermüdigkeit und damit ein zähes Ringen um Ergebnisse.
„Würdet ihr anderen Schülern empfehlen, am Religionsunterricht teilzunehmen?“
Die ersten meldeten sich: „Auf jeden Fall. Hier ist es doch endlich mal möglich, über alles, wirklich alles zu sprechen.“ „Ja, und ich kann mich darauf verlassen, dass nichts nach außen getragen wird.“
Tatsächlich war mir das immer ein wichtiges Anliegen gewesen. Oft äußerten die jungen Menschen sich sehr persönlich, da war eine stabile Vertrauensbasis unerlässlich. In dieser Gruppe hatte das stets wunderbar geklappt.
„Ich finde, in Reli besprechen wir die wirklich wichtigen Dinge des Lebens, Liebe und Gleichgültigkeit, Freude und Vertrauen, Schöpfung, Himmel, Hölle, über Leid und Sterben, über unsere Zweifel, über unsere Zukunft, woher wir kommen, wohin wir gehen … Ich wüsste nicht, wo ich sonst so viel für meinen Weg mitgenommen hätte.“
Einen stillen Moment lang hingen wir diesen erstaunlichen Äußerungen nach, jeder in seinen eigenen kleinen Erinnerungen an die letzten Jahre, an wirklich besondere Stunden.
Die „Weißt-du-nochs“ flirrten spürbar durch den Raum.
Und mir wurde klar: das wirklich Wesentliche im Leben passiert in den Randstunden.
Randstunden des Lebens – wer kennt sie nicht?
Geburt und Tod, Abend und Morgen, Heirat und Trennung, Krankheit und Heilung, Gewinn und Verlust, Aufstieg und Absturz, Streit und Versöhnung, Gehen und Bleiben.
In Randstunden kommen wir an oder stehen kurz vor dem Aufbruch. Sie sind mit Entscheidungen verbunden, eigenen oder von außen an uns herangetragenen. Naturgewalten spielen ebenso eine Rolle wie die eigene Geschichte und Prägung, wie die Menschen um uns herum und der Ort, wo sich unser Leben abspielt, nicht zuletzt auch, ob ich mir die Folgen einer Randstunden-Entscheidung leisten kann oder nicht.
Randstunden bringen uns Wunder und Tragödien, wir können daran wachsen oder verzweifeln.
Leben heißt wohl, mit Randstunden umgehen zu lernen.
Ich versuche das mit Sprache.
Es war die beste Entscheidung ihres Lebens gewesen. Sie lachte in sich hinein, genoss den frischen Wind, der durch die Bäume fuhr, das Rauschen der Wipfel, das sich mit dem der Wupper unten im Tal mischte. Tief atmete sie ein und ließ der Führleine noch etwas Spiel.
Laura hatte nicht mehr gewusst, wie sie ihr Leben aushalten sollte. Die große Familie mit fünf Kindern, ihr Mann, der zwar den Hausmann gab, aber es immer weniger mochte, von seiner Frau abhängig zu sein, ihre große Belastung in der Chefetage der Firma, die nach alter Bergischer Tradition Werkzeuge fertigte. Sie war die Erbin und einmal mit Feuereifer angetreten, hatte die großen Fußstapfen ihres Vaters und Großvaters gut ausgefüllt, die internationalen Beziehungen gefestigt und ausgebaut, viel Zeit und Geld in die Entwicklung neuer Technologien und Produkte gesteckt, war selbst im Ausland gewesen, hatte einfach alles richtig machen wollen, besser noch als es jemand anderes hätte schaffen können.
War sie daheim, sollte natürlich auch das Familienleben und die Beziehung zu ihren Kindern nicht zu kurz kommen. Sie musizierte mit ihnen, spielte Karten und schaute Hausaufgaben nach, brachte sie zu Bett, las Geschichten und kochte Unmengen von Nudeln. Damit ihr Mann mehr Zeit hatte, übernahm sie die Wäsche – bei so vielen Personen eine schier unendliche Geschichte – und fuhr zum Einkaufen. Alles richtig machen, keine halben Sachen.
Aber das hatte seinen Tribut gefordert. Irgendwann konnte sie kaum noch schlafen. Kopf und Rücken schmerzten ununterbrochen. Sie hatte entweder Riesenhunger und stopfte alles in sich hinein, was sie in die Finger bekam oder aß überhaupt nichts. Es reichte ein schiefer Blick oder eine kleine kritische Äußerung und sie explodierte, zunächst nur zuhause, später auch in der Firma. Irgendwann bat ihr Prokurist sie um einen Termin und fragte sie geradeheraus, ob sie der Aufgabe noch gewachsen sei. Die ersten Mitarbeiter hatten angekündigt, die Firma zu verlassen, wenn sich das Klima nicht wieder beruhigte. Selbst als sie jetzt nur daran zurückdachte, merkte sie, wie sie atemlos wurde.
Laura hatte sofort für drei Tage Urlaub genommen und war nach Köln gefahren zu ihrer Tante. Selbst ihr Mann und die Kinder unterstützten sie in diesem Moment; sie hatten den Ernst der Lage gespürt. In Köln weinte sie fast ununterbrochen. Sie fühlte sich hilflos, überfordert, krank an Leib und Seele und wusste nicht mehr weiter. Aber ihre Patin, inzwischen hochbetagt, hatte sie einfach in den Arm genommen, Tee gekocht und war mit ihr am Rhein entlangspaziert.
„Mein Kind, du brauchst etwas, was dich auf Abstand bringt, was dir Erholung schenkt, was überhaupt nichts mit der Firma zu tun hat und dir dein Leben schön macht. Du brauchst etwas Lebendiges um dich. Wie wäre es mit einem Garten? Oder vielleicht einem Hund?“
Sie blieb einen Moment stehen, und Plümmel, ihr Islandpony, nutzte die Pause gleich für ein paar Happen Gras, die sie selbst an den verborgensten Stellen im Wald zu finden vermochte. Gedankenverloren streichelte Laura das strubbelige Fell, das gleich wieder Staubwolken von sich gab. Jegliches Bürsten und Striegeln blieb völlig sinnentleert. Wälzen gehörte zu Plümmels Lieblingsbeschäftigungen, und was da als Unterlage diente, Sand oder Erde, Schlamm oder Stroh, Laub oder Schnee, egal.
Grinsend setzte Laura ihren Weg fort, Plümmel trottete mit. – Genau. Plümmel, die beste Entscheidung.
Als sie aus Köln zurückkam, organisierte sie einiges neu. Eine Haushaltshilfe kam alle zwei Tage, sodass auch ihr Mann sich wieder seiner ursprünglichen Leidenschaft widmen konnte, dem Schreiben. Das genoss er jetzt vormittags, solange die Kinder in der Schule waren. Er wurde gelassener und zufriedener, es tat ihm gut.
Laura delegierte Aufgaben in der Firma, entschuldigte sich bei denen, die sie fast vergrault hätte und verkürzte ihre Arbeitszeit konsequent, nicht ohne das auch anderen gerne anzubieten.
Die Kinder lernten, Bus und Bahn zu nutzen und sich nicht mehr auf Papa- oder Mama-Taxi zu verlassen. Nach anfänglichem Quengeln fanden sie das sogar prima, erlangten sie doch mehr Freiheit und entgingen der elterlichen Kontrolle.
Schließlich setzte Laura den Vorschlag ihrer Tante um.
Kein Garten, kein Hund. Viel besser.
Alle hatten sie für völlig verrückt erklärt, dass sie bei der enormen Belastung das Reiten wieder angefangen und sogar schließlich ein eigenes Pferd gekauft hatte. Aber genau das hatte ihren Lebensmut, ihre Freude wieder geweckt. Die Bewegung (inzwischen bekam sie keinen Muskelkater mehr) ließ ihre Rückenschmerzen verschwinden. Das kräftige Tier, das volle Konzentration forderte, erlaubte einfach nicht, an Arbeit und Familie zu denken. Schweifte sie ab oder zückte ihr Handy, quittierte Plümmel das konsequent mit Sturheit, ging ihrer eigenen Wege und bestimmte auch, wie schnell sie das tat. So hatte sie sich Laura ruckzuck erzogen. Keine halben Sachen.
Ganz einfach.
Das Beste war aber, dass Laura Zeit für sich hatte, ohne dabei ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, und dass die Kinder und ihr Mann ebenso schockverliebt in Plümmel waren wie Laura. Alle kümmerten sich, es blieb nicht alles an ihr hängen.
Natürlich liefen Firma, Schule und Haushalt weiter, aber es gab endlich auch wieder heitere und lebendige Gespräche, unbeschwert und leicht. Das Leben hatte sie wieder.
Voll und ganz.
Keine halben Sachen eben.
Zierliche Hufe
Schmatzen durch
Die weiche Furche
Espressofarben wiegen sich
Kopf und Körper über dem Herbstlaub
Still vergnügt die Tarnung schwingend
Trockene Reste des Morgenvergnügens
Khakischlamm gewälzter Rücken
Kleine Staubwolken verwirbeln im Sonnenlicht
Verbotenes Grün vom Wegesrand
Verschmitzter Blick über den Samtlippen
Sie kräuseln das Gebiss frei
Vielleicht
Ergrinst man sich
Ein Stück Mohrrübe
Liebe Miriam, liebe Harriet!
Eigentlich kein kurzes Telefonat, aber so lang wie früher war es auch nicht. Und doch hallt es nach. Ein Satz ist gefallen, der sich fest verankert hat. Wichtig war er, schwierig, schmerzhaft, eine Last, und doch einfach wahr:
„Wir wissen, es wird unser letzter gemeinsamer Sommer sein.“
Diese Aussage hat offensichtlich Widerhaken …
Immer wieder ploppt sie auf, in den ungünstigsten Momenten. Aber jetzt möchte ich mir Zeit nehmen, an diesem Maiabend, der endlich nicht mehr so heiß vor sich hin wabert, sondern mit etwas Bewölkung und Wind der blassen Sonne Gelegenheit gibt, ein paar Schattenspiele zu schenken. Die Blütenköpfchen der Hornveilchen im Blumenkasten gegenüber nicken und tänzeln in der Brise und leuchten auf, wenn die Sonnenstrahlen wieder hinter den Wolken hervorblinzeln.
Unser letzter Sommer.
Wie ist das wohl, so etwas auszusprechen, so kühl und gelassen, wie Du, Harriet, zumindest geklungen hast?
Miriam ist nach langen Irrfahrten durch die Diagnostik moderner Medizin und unzähligen Gesprächen mit echten oder vermeintlichen Spezialisten vor einigen Monaten endlich mit einem Befund konfrontiert worden: Amyotrophe Lateralsklerose. ALS. Nicht heilbar.