Raubmöwen - Christiane Gezeck - E-Book

Raubmöwen E-Book

Christiane Gezeck

5,0

Beschreibung

Lily, 30 Jahre alt, muss die Trauerfeier für ihren verstorbenen Mann Arne vorbereiten. Da meldet sich Mads bei ihr, Arnes Sohn aus erster Ehe und fast genauso alt wie Lily selbst. Als Zwölfjähriger hatte Mads sich rigoros von seinem Vater losgesagt - Arne starb, ohne seinen Sohn noch einmal wiedergesehen zu haben. Kein Wunder also, dass Lily diesem zwar gut aussehenden, aber völlig fremden Mann mit Ablehnung begegnet, auch wenn er ganz offensichtlich Arnes meergrüne Augen und sein kastanienbraunes Haar geerbt hat. Doch Arne zuliebe und weil sie ein großes Herz hat, bietet sie Mads vorübergehend ihr Gästezimmer an, was dieser mit Freuden annimmt. Ziemlich bald allerdings kommen Lily Zweifel: War es wirklich klug, diesen Mann im Haus hinterm Deich aufzunehmen? Doch nun ist es zu spät …

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Große Raubmöwen, auch „Skua“ genannt:

Sie berauben häufig andere Vögel, meist Möwen und Seeschwalben, ihrer Beute. Sobald einer dieser Vögel einen Fisch gefangen hat, wird er von der Skua mit Schnabel, Klauen und Flügeln angegriffen, bis er die manchmal fast verschluckte Beute aufgibt.

Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Raubmöwen)

Lily und Arne

Der Wind kommt wie immer von vorn, doch er ist warm, ganz sanft streicht er ihr über die Haut und kühlt ihr die Stirn, auf der sich bereits die ersten Schweißperlen gebildet haben. Lilys Shirt bläht sich im Fahrtwind, die Jeans hat sie hochgekrempelt bis fast an die Knie, und die Füße in den weißen Turnschuhen treten kräftig in die Pedale. Wie immer sind ihre Arme um ein Vielfaches brauner als ihre Beine, und trotz des Schirms ihres Caps hat sie die Sonnenbrille aufgesetzt, um die Augen zu schützen. Die weizenblonden Haare sind noch nicht lang genug, um gebündelt zu werden, also hat sie sie hinter die Ohren gestrichen und unter die Kappe gestopft, und lachend versucht sie, Arnes Überholmanöver zu vereiteln.

Obwohl Arne die Sonne viel seltener genießen kann als Lily, wirkt er niemals blass: Das warme Braun seiner Haut sticht auch jetzt schon wieder deutlich ab von seinem weißen Poloshirt und der bunt karierten Bermuda. Seine nackten Füße stecken in ausgelatschten Sandalen, an seinem linken Handgelenk rutscht die Sportuhr mit dem metallenen Armband locker hin und her. Die Kappe hat er tief ins Gesicht gezogen, die randlose Brille hat sich dunkel eingefärbt, so dass seine grünen Augen mit den goldenen Sprenkeln nicht zu erkennen sind. Umso deutlicher leuchten ihr seine Zähne entgegen, wenn er lacht: Arne hat die weißesten Zähne, die Lily je gesehen hat.

Endlich wieder Frühling! Die Sonne steht hoch um diese Zeit, es ist Mittag, sie haben den Deich für sich allein. Weiße Schäfchen begleiten ihre Fahrt: Die einen blökend und kauend neben ihnen auf der Westseite im Vorland, die anderen bauschig und gemächlich dahinziehend über ihnen am sattblauen Himmel.

Sie fliegen dahin. Der Wind rauscht in ihren Ohren, sie blinzeln der Sonne entgegen und genießen ihre Wärme auf der Haut. Gleichmäßig treten sie in die Pedale, atmen tief die würzige Salzluft, und nur ab und zu fällt ein Wort in die Stille um sie herum - „Sieh nur, das Lämmchen!“ -, hebt eine Hand sich vom Lenker, um in die Ferne zu deuten - „Die Krabbenfischer laufen ein!“ -oder sich liebevoll auf die Schulter des anderen zu legen. - Das ist Glück.

Sie hält die Arme so fest um ihre Brust geschlungen, dass sich ihre Fingerspitzen auf dem Rücken fast berühren. Ihre Stiefel hinterlassen tiefe Abdrücke auf dem aufgeweichten Weg zwischen den geschorenen Buchsbaumhecken, von der alten Magnolie tropft es klatschend in die Stille. So schnell, wie der Regen gekommen ist, ist er auch wieder gegangen, so ist das hier an der Küste.

Ihr Blick wandert den Weg entlang, an dem alten Pavillon vorbei, dessen Kletterrosen jetzt mit ein paar schrumpeligen Hagebutten wehmütig herüber winken, weiter zu der schmiedeeisernen Bank unter der Kastanie. Der Ziehbrunnen, den Arne erst vor zwei Jahren wieder hat instandsetzen lassen, beginnt schon, Moos anzusetzen, der Eimer schaukelt leise quietschend in der aufkommenden Brise. Sie schaut hinauf zur Terrasse, deren Steinplatten noch feucht im Licht der untergehenden Sonne glänzen, orangerotes Licht spiegelt sich in den Scheiben der Terrassentür.

Ein Schauer überläuft sie, sie schüttelt sich und steckt die klammen Hände in die Taschen ihrer Wachsjacke. Jetzt lässt ein letzter Sonnenstrahl den Wetterhahn auf dem reetgedeckten Ostgiebel des Hauses aufblitzen, und Lily muss lächeln, als sie daran denkt, wie Arne sich anlässlich ihres letzten Hochzeitstages aufs Dach gewagt hat, um dem kupfernen Hahn dort oben eine rosa Schleife um den Hals zu binden, nur weil sie sich ein paar Tage vorher gefragt hatte, wieso es eigentlich nur Wetterhähne, jedoch keine Wetterhennen gäbe.

Mit hochgezogenen Schultern hockt sie sich auf die kleine Trockenmauer des Steingartens und blickt den Weg zurück, den sie gekommen ist. Die Sonne schafft es noch nicht ganz bis in den Westen, sie geht noch fast im Südwesten unter, direkt hinter dem kleinen Gartenhaus, das Arne ihr zu ihrem achtundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hat. Sie liebt dieses kleine Blockhaus mit der großen Klöntür, mit den Leinenvorhängen vor den Fenstern und den Blumenkästen. Wenn sie die Nachmittage dort lesend, malend oder schreibend verbrachte, weil Arne beruflich unterwegs war, überraschte er sie bei seiner Rückkehr regelmäßig mit einem Glas Sekt, einem Martini oder einem Eisbecher, den er auf einem Tablett balancierte, und gemeinsam hatten sie sich in die über dem Wasser untergehende Sonne hinein geträumt. Selbst als die ersten Herbststürme die Bäume des Gartens kahl und schutzlos zurückließen und sich heulend und unkend um das Häuschen jagten, hat sie ihren Platz dort nicht aufgeben mögen, so dass Arne schließlich sogar noch für eine Infrarotheizung sorgen musste, um „sich seine Frau warm zu halten“, wie er sich ausdrückte, doch Lily hat den Verdacht, dass er selbst dort mehr fror als sie. - Jetzt hat sie die Läden verriegelt und die Tür verschlossen, und kalt und schwer spürt sie den Schlüssel in ihrer Hand.

Noch ein tiefer Atemzug, dann steht sie auf. Sie strafft die Schultern, wirft das Haar zurück und steigt die Treppe hinauf zur Terrasse. Ihre Finger sind rot verfroren, als sie die Glastür aufdrückt, und während sie noch steht und in den letzten Schimmer Tageslicht blinzelt, der sich über den westlichen Himmel verströmt, bläst sie hinein in ihre Hände in dem Bemühen, ihnen wieder Leben einzuhauchen. Kassandra, ihre alte Katze, windet sich zwischen ihren Beinen hindurch, schnurrend wartet sie darauf, umarmt zu werden.

Eine Viertelstunde später sitzt Lily mit hochgezogenen Beinen auf Arnes altem Ledersessel vor dem Kamin, einen Becher in der Hand und Kassandra auf dem Schoß. Ihre Nase ist immer noch kalt, sie hält sie über den Dampf, der aus dem Tee aufsteigt. Sie hat nur die Leselampe auf dem kleinen Tisch in der Ecke eingeschaltet, der Rest des Zimmers liegt im Dunkel. Das Feuer wirft seinen warmen Schein auf die rostroten Fliesen vorm Kamin, die alte Standuhr zerteilt mit ihrem Ticken die Zeit. Lily versucht, ihre Atmung dem Rhythmus der Uhr anzupassen, das erfordert Konzentration, und für die Dauer dieser Übung darf sie aufhören zu denken. Als das Schrillen des Telefons sie zusammenfahren lässt, schwappt der heiße Tee auf ihr Bein, und mit einem gezischten Fluch stellt sie den Becher ab, um sich zu vergewissern, dass Kassandra verschont geblieben ist. Die Katze ist trocken, sie schnurrt auch weiter, als Lily sie auf dem Sessel zurücklässt, um im Flur den Anruf entgegenzunehmen.

Als sie sich gemeldet hat, bleibt es einen Augenblick still in der Leitung. Dann sagt eine Männerstimme: „Hallo… ich bin’s, Mads.“ Die Stimme klingt warm, tief und warm, und es schwingt eine Erwartung darin mit, als müsste Lily wissen, mit wem sie da spricht, doch der Name sagt ihr nichts, sie kennt keinen Mads, sie weiß nicht, warum er sie anruft, doch da sagt die Stimme: „Mads. Arnes Sohn.“ Und sie fühlt, wie eine heiße Welle des Erkennens, der Erinnerung, eine Welle von Zorn und Trauer sie mitreißt, und als habe sie einen elektrischen Schlag erhalten, legt sie den Hörer auf. - Als das Telefon keine zwei Minuten später wieder läutet, hat sie es bereits außer Hörweite unter Kissen vergraben.

Mit nackten Füßen, in Arnes Pyjama und ungeduscht, steht sie vor der Terrassentür und bläst in ihren Kaffee, als es an der Tür klingelt. Ein Blick auf die Uhr sagt ihr, dass es bereits viertel nach zehn ist. Dank der Schlaftablette, die sie irgendwann gegen 4.00 Uhr morgens geschluckt hat, hat sie grandios verschlafen. Ohne sich ihres Aufzugs bewusst zu sein, geht sie zur Tür und öffnet, um einem jungen Mann in schwarzer Jeans und dreiviertellangem Mantel gegenüber zu stehen. „Frau Ahrendt?“ Lily starrt den Mann an, überlegt krampfhaft, ob sie ihn kennen müsste, und kommt zu dem Schluss, dass sie ihn noch nie gesehen hat. „Ja?“ „Jakob Harmsen vom Bestattungsinstitut ‚Letzter Gruß‘ - wir haben telefoniert?“

Wortlos wendet sie sich um, lässt die Tür offen stehen und schlurft zurück ins Kaminzimmer. Als sie mit müder Geste auf den Stuhl ihr gegenüber deutet, wird ihr bewusst, dass der Mann ihr nicht gefolgt ist. Sie geht zurück zur Tür, winkt ihn herein und sagt tonlos über die Schulter zurück: „Machen Sie die Tür zu, bitte - aber lassen Sie die Katze noch rein.“ Der Mann dreht sich um, lässt die zu ihm aufblickende Katze herein und schließt die Tür. Auf der Matte im Flur versucht er vergeblich, seine Schuhe von Nässe und Matsch zu reinigen, zieht schließlich die Schuhe aus und lässt sie auf der Matte stehen. Lautlos erscheint er in der Tür zum Kaminzimmer, und als Lily ihn dort stehen sieht, sockfuß und verlegen lächelnd, ist sie plötzlich wach, wischt sich die wirren Haare aus dem Gesicht und fragt: „Möchten Sie auch einen Kaffee?“ „Gern“, antwortet Jakob Harmsen, „wenn’s keine Mühe macht?“ Lily ist schon in der Küche verschwunden, kehrt jedoch Sekunden später mit einem Tablett zurück. Wortlos stellt sie einen Becher vor ihm ab, stellt die Kanne, Milch und Zucker dazu und lässt sich auf den nächstbesten Stuhl fallen. Sie zieht ein Bein hinauf, umklammert es mit beiden Armen und fährt sich dann mit allen zehn Fingern durch die Haare. Aus maskaraverschmierten Augen sieht sie ihn blinzelnd an. „Entschuldigen Sie meinen Aufzug“, sagt sie, „ich schlafe zur Zeit nicht so gut.“ Jakob Harmsen legt seine Mappe auf die dunkel schimmernde Tischplatte, sieht ihr offen ins Gesicht und sagt: „Das kann ich mir vorstellen… und es tut mir sehr leid.“ Das Lächeln auf dem glattrasierten Gesicht ist warm und echt. Sie nimmt noch einen Schluck Kaffee, stellt fest, dass er ihr nicht schmeckt und schiebt den Becher von sich.

„Soll ich vielleicht heute Nachmittag noch einmal wiederkommen?“, fragt er, und sein Blick verrät ehrliche Besorgnis. „Das ist kein Problem, ich könnte…“ „Nein, ist schon gut“, fällt Lily ihm ins Wort. „Bringen wir es hinter uns.“ Plötzlich ist ihr kalt, sie geht zum Sessel vorm Kamin, zieht ihr Schultertuch von der Lehne und hüllt sich zitternd hinein. „Mein Mann und ich wollen… eigentlich wollte er…“ Sie bricht ab und beißt sich auf die Lippen, während Jakob Harmsen sie ruhig und abwartend ansieht. „Also, eigentlich hatten mein Mann und ich uns auf eine Seebestattung geeinigt“, erklärt Lily, während sie Muster auf das dunkel glänzende Holz der Tischplatte malt. „Aber da waren wir auch noch davon ausgegangen, dass er es bis in den Sommer hinein schaffen würde, das war eigentlich die Prognose gewesen. Doch als sich abzeichnete, dass es… dass er… dass uns nicht mehr so viel Zeit bleiben würde, hat er diese Entscheidung revidiert. Mir zuliebe, verstehen Sie? Ich bin absolut nicht seefest, ich brauche so eine Barkasse nur von weitem zu sehen, und mir dreht sich schon der Magen um, und Arne wollte um jeden Preis verhindern, dass ich mich in dieser Jahreszeit an Bord eines Kümos begeben müsste. ‚… und das nur wegen so ’ner ollen Dose‘, hat er gesagt“, und mit schiefem Lächeln dreht sie den Kopf und starrt blicklos zum Fenster hinaus, und ihre Hand zittert, als sie sie jetzt vor den Mund presst. Jakob Harmsen greift in seine Manteltasche, holt eine Packung Papiertücher heraus und schiebt sie zu ihr hinüber. „Aha, Dienst am Kunden, was?“, fragt Lily sarkastisch, greift jedoch nach den Tüchern und versucht, den Tränenfluss zu stoppen.

„Wir werden also seinen Anweisungen folgen und eine Feuerbestattung vornehmen - heißt das so?“, fragt sie unsicher. Harmsen nickt und holt aus der mitgebrachten Umhängetasche einen schmalen Ordner, den er vor Lily auf den Tisch legt. Gemeinsam suchen sie einen Sarg aus und dann die Urne, in der die sterblichen Überreste beigesetzt werden sollen, sie legen das Datum fest und besprechen die organisatorischen und amtlichen Schritte, die jetzt erforderlich sind und die das Institut „Letzter Gruß“ selbstverständlich gern übernimmt.

„Sie haben mich ja bereits informiert, dass Sie auf den kirchlichen Segen verzichten möchten“, sagt Jakob Harmsen. „Möchten Sie, dass jemand von unserem Institut die Abschiedsworte spricht? Unser Chef, der Herr Severin, hat Ihren Mann, glaube ich, persönlich gekannt?“ Lily schüttelt den Kopf, kann gerade nicht sprechen und greift nach einem neuen Taschentuch, um sich zu schnäuzen. Dann sagt sie mit rauer Stimme: „Nein, danke, das übernehme ich selbst. Und ich möchte auch seinen Freunden und allen, die ihn kannten und schätzten, die Gelegenheit geben, mit ein paar Worten Abschied zu nehmen - jedenfalls denen, die das Bedürfnis haben.“ Harmsen hat kurz eine Augenbraue hochgezogen, jetzt legt er die locker verschlungenen Hände auf den Tisch und beugt sich vor. „Das ist sehr tapfer von Ihnen, Frau Ahrendt, aber muten Sie sich da nicht etwas zu viel zu? Unterschätzen Sie nicht die Emotionen, die Sie in einem solchen Augenblick überrollen können.“ Lily nickt. „Ich weiß. Aber ich will es.“

Auch den Platz für die Urne, die Arnes Wunsch zufolge unterm grünen Rasen beigesetzt werden soll, wird Herr Harmsen sich vertraglich sichern, doch aussuchen will ihn Lily, daran lässt sie keinen Zweifel. Sie verabreden sich für den Nachmittag, 16.00 Uhr am alten Friedhof, dann verabschiedet sich Harmsen, und Lily steigt müde und zerschlagen die Treppe hinauf, um nun doch endlich unter die Dusche zu gehen.

Mit noch nassen Haaren steht sie vorm Spiegel und starrt sich an. Ihre Nase ist gerötet und sie hat bläuliche Schatten unter den Augen, doch sonst sieht sie aus wie immer. Seltsam, dass man innerlich zerbrochen und äußerlich doch heil sein kann. Sie föhnt sich die Haare und cremt Gesicht und Hände ein. Auf Makeup verzichtet sie - es ist ihr egal, wie sie aussieht. Als sie nach dem Deo greift, stößt ihre Hand an Arnes Rasierwasser. Sie nimmt es vom Regal, öffnet die Flasche und hält sie sich unter die Nase. Auch wenn es pur doch noch anders riecht als in Verbindung mit Arnes Haut - der Duft droht, ihr die Beine unterm Bauch wegzureißen, panisch dreht sie den Verschluss wieder zu und stellt die Flasche zurück. Doch es ist zu spät, der Kloß im Hals, den sie bisher noch hat hinunterschlucken können, schnürt ihr die Luft ab und lässt sie würgen. Weinen kann sie nicht mehr, so hockt sie nur schwer atmend auf dem Klo, stützt den Kopf in beide Hände und wartet, dass auch diese Welle der Verzweiflung abflauen möge.

Als das Telefon klingelt, richtet sie sich auf und streicht mit beiden Händen die Haare zurück. Es ist 11.00 Uhr, Zeit für den Kontrollanruf ihrer Mutter. „Hi, Mama“, sagt sie also, statt sich mit Namen zu melden, doch statt des gewohnten ‚Guten Morgen, mein Schatz - wie geht es dir?‘ antwortet ihr zunächst nur Schweigen, untermalt von leiser Hintergrundmusik. „Hallo?“, fragt Lily und presst den Hörer ans Ohr. „Wer ist denn da?“ „Oh, Entschuldigung“, meldet sich eine Männerstimme, die sie schon mal gehört hat, aber nicht unterbringen kann, „ich war jetzt grad ein bisschen verwirrt… Hier ist Mads; Mads, Arnes Sohn.“

Lily sinkt zurück auf den Klodeckel. Ihre Gedanken fahren Karussell, sie fährt sich mit der freien Hand über die Augen und versucht, sich zu konzentrieren. Natürlich muss der Junge sich mit ihr in Verbindung setzen, schließlich hat sie selbst ihn von Arnes Tod benachrichtigt. Arne ist sein Vater, ja, aber wieso hat er eine so tiefe männliche Stimme, wie alt ist er denn eigentlich? Und im selben Augenblick hört sie Arnes Stimme, wie er lachend feststellt: „Himmel, meine Frau ist nur ein knappes Jahr älter als mein Sohn!“ Und sie ist gerade dreißig geworden, also ist dieser Mads 29! Er ist kein „Junge“ mehr, er ist ein Mann, und er hat die Stimme eines Mannes, und was für eine.

„Nein, ist schon gut, ich muss mich entschuldigen“, stottert Lily. Mechanisch massiert sie sich den schmerzenden Nacken. „Mads, ja - wo sind Sie.. äh, wo bist du jetzt?“ Mit dem Hörer am Ohr geht sie die Treppe hinunter in die Küche, die Bewegung hilft ihr, sich zu entspannen. „Ich hab ein Zimmer im Hotel ‚Achtern Diek‘“, sagt Mads, und erleichtert registriert Lily, dass das am anderen Ende des Ortes liegt. „Als ich deine Nachricht bekam, habe ich mich natürlich sofort auf den Weg gemacht, aber wegen der Messe war es nicht leicht, überhaupt ein Zimmer zu finden. Doch das nur nebenbei. Lily - ich darf doch `Lily`sagen, oder? - die Nachricht vom Tod meines Vaters war ein Schock, wie du dir denken kannst, und wenn ich darf, würde ich gern mehr über ihn erfahren. Da ich ihn nun nie mehr wirklich kennenlernen werde…“ - in der Pause, die nun folgt, hört Lily trotz des offensichtlich zugehaltenen Mikrofons, wie Mads sich kräftig räuspert, dann fährt er mit ruhiger Stimme fort: „… würde ich aber natürlich gern von dir einiges über ihn erfahren, wenn du dich dazu imstande fühlst, meine ich. Ich könnte es natürlich verstehen, wenn du sagtest, dass es dazu noch zu früh ist, aber…“ „Nein, nein“, antwortet Lily schnell, sie darf ihrem Widerwillen gegen ein Treffen mit Mads nicht nachgeben, „das ist wohl dein gutes Recht, und natürlich will ich dir gern von Arne… von deinem Vater erzählen, nur heute passt es gerade nicht so gut, weißt du, es ist im Augenblick viel zu regeln, wie du dir denken kannst.“ „Kein Problem“, sagt Mads, „ich habe mir Arbeit mitgebracht und kann mich beschäftigen, während ich warte. Aber ich bin abrufbereit. Wenn du dir also meine Handynummer notieren magst?“

Als Lily das Gespräch beendet, fühlt sie sich elend. Sie geht in die Bibliothek, setzt sich an ihren Schreibtisch und sieht hinaus in den Garten, in dem sich feucht schimmernde Bäume und Büsche unter dem auffrischenden Westwind ducken. Ihr Blick wandert zu Arnes Foto, das unter der Lampe mit dem grünen Glasschirm neben ihrem Computer steht. Sie nimmt es zur Hand, fährt mit dem Daumen darüber hin und blickt in die von Lachfalten gerahmten, grünen Augen ihres Mannes. „Er wird herkommen“, flüstert sie, „vielleicht morgen schon. Was soll ich nur mit ihm anfangen?“ Zärtlich streicht sie über sein dichtes, stahlgrau glänzendes Haar, fährt die Linien des leicht geöffneten Mundes nach und das glattrasierte Kinn mit dem angedeuteten Grübchen darin. Sie küsst die Spitze ihres Zeigefingers und drückt sie ihm auf die schmale Nase: „Ich weiß, er hat ein Recht darauf, aber gerade mit ihm will ich nicht über dich sprechen, verstehst du? Das fühlt sich an wie Verrat…“ Wieder wandert ihr Blick in den Garten hinaus, am kleinen Blockhaus vorbei zum Meer, das bei diesem Wetter mit Schaumkronen bedeckt sein muss, denn es schimmert hell und glänzend am fernen Horizont. - Sie stellt Arnes Bild zurück, zieht die Strickjacke eng um den Körper und geht zum Wandschrank, um nach seinem Fotoalbum zu suchen.

Sie muss nicht lange suchen, denn mehr als dieses eine Album hat Arne nie besessen. Aus seiner eigenen Kindheit hat es keine Fotos gegeben, denn Geld für eine Kamera oder gar einen Fotografen hatten seine Eltern nicht, und auf seinen Reisen als Halbwüchsiger und junger Erwachsener hat er Dias gemacht und später Videos, aber keine Papierfotos. Lediglich von seinem Sohn, Mads, hat er ein Album angelegt, in dem man allerdings vergeblich nach Aufnahmen von Arnes erster Ehefrau, Madeleine, sucht: Als Mads sich mit seinem Vater überwarf, hat er in einem Anfall von Raserei alle Fotos seiner Mutter an sich gerissen, um zu verhindern, dass noch jemals der Blick seines Vaters auf ihr Gesicht fiele. „Ich lasse nicht zu, dass du ihr Andenken auch dadurch noch schändest!“, hatte Mads geschrien und seinem Vater das geplünderte Album vor die Füße geworfen.

Lily sieht Arne wieder vor sich, wie er dort sitzt auf dem Ledersofa, tief versunken in die dunklen Polster, das aufgeschlagene Album auf den Knien. Obwohl sie sich bereits gedacht hat, dass es sich bei den fehlenden Aufnahmen um solche von Madeleine handeln müsse, fragt sie ihn, denn sie nimmt an, dass er selbst die Bilder entfernt hat. „Das war Mads“, seufzt Arne und blättert schweigend das Album von vorne bis hinten durch. Sie sitzt neben ihm und wagt nicht, ihn anzusprechen, denn seine Anspannung ist mit Händen greifbar.

Arne schließt das Album leise und legt es zurück auf den Tisch. „Mads war zwölf, als wir geschieden wurden und vierzehn, als seine Mutter starb“, beginnt er, „aber eigentlich hatten wir sie schon lange Jahre vorher verloren. Was Mads nicht wusste, war, dass Madeleine nymphomanisch und manischdepressiv war, eine explosive Mischung, deren Auswirkungen für ein Kind bzw. einen Heranwachsenden durchaus gefährlich sein können.“ Er greift nach seiner Teetasse, bläst in den bereits erkalteten Tee und stellt die Tasse wieder ab. „Vor unserer Scheidung, während eines der Vorgespräche mit der Richterin, wurde Mads gefragt, bei welchem Elternteil er zukünftig leben wolle, denn Madeleine hatte es zu verhindern gewusst, dass ihre Erkrankung zur Sprache kam. Und da Mads und ich bis zu dem Zeitpunkt ein ausgesprochen inniges Verhältnis zueinander hatten, sah ich seiner Entscheidung gelassen entgegen: Er würde bei mir leben wollen. Und so war es auch. Spontan und ohne zu zögern sagte er: ‚Bei meinem Vater.‘ Das Gericht nahm es zur Kenntnis, stellte ihm jedoch frei, diese Entscheidung nach einer angemessenen Bedenkzeit und Prüfung zu revidieren. Lachhaft, dachte ich. Ich war meiner Sache so sicher. Aber ich hatte die Tatsache, dass er die Sommerferien bei seinen Großeltern mütterlicherseits verbringen würde, unterschätzt. Als er zurückkam, war er wie ausgewechselt. Er begegnete mir mit offener Feindschaft, beschimpfte mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit, bezichtigte mich, seine Mutter gedemütigt und aus dem Haus getrieben zu haben und wurde sogar handgreiflich. Schließlich schrie er mir ins Gesicht, er wisse sehr wohl, dass und wie oft ich seine Mutter betrogen habe, und mit einem Vater, der seinen Schwanz in jede nur erreichbare… naja, also er wurde ordinär, und zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich ausholte und ihm eine verpasste. Es passierte einfach, und noch im selben Moment hätte ich auf die Knie fallen und ihn um Verzeihung bitten mögen, aber es war zu spät. Er stand wie erstarrt - kein Wort, keine Gegenwehr, keine Träne. Dann sagte er ganz leise, gefährlich leise: ‚Das war das erste und das letzte Mal, dass du mich geschlagen hast. Ich werde dir keine Gelegenheit mehr dazu geben‘, drehte sich um, packte seine Tasche und verließ das Haus, um es niemals mehr zu betreten. - Ja, diese Konsequenz hat er wohl von mir“, sagt Arne, doch sein Lächeln ist traurig und malt einen bitteren Zug um seinen Mund.

„Er beantragte also beim Gericht, zukünftig bei seiner Mutter leben zu dürfen. Diesem Antrag wurde stattgegeben. Madeleine war mittlerweile nach Hamburg gezogen, und da sie seit Mads’ Geburt nicht mehr berufstätig war, zahlte ich natürlich für sie und den Jungen. Doch es reichte nie, obwohl ich freiwillig mehr zahlte als vom Gericht festgesetzt, und im Nachhinein habe ich erfahren, dass ihre Eltern, denen sie weisgemacht hatte, sie habe auf jeglichen finanziellen Unterhalt von mir verzichtet, ihr noch einmal genauso viel zukommen ließen. Zu Mads hatte ich schon zu dem Zeitpunkt keinen Kontakt mehr: Er weigerte sich schlicht und einfach, auch nur mit mir zu telefonieren und ließ mir durch seinen Großvater ausrichten, ich möge mich zum Teufel scheren. Ich habe noch ein paar Mal versucht, ihn an der Schule oder nach dem Sport abzufangen, aber irgendwann hatte er sich ein Pfefferspray besorgt und mir damit deutlich gemacht, dass er es ernst meinte.“

Hörbar ausatmend lehnt Arne sich zurück, und Lily klammert sich an seinen Arm, streicht ihm sanft über die Wange und legt den Kopf an seine Schulter. -

Jetzt ist es Lily allein, die das Fotoalbum durchblättert. Immer wieder bleibt ihr Blick an Arne hängen, an dem dreißigjährigen Arne mit Vollbart und in die Stirn fallendem, welligen Haar; an dem fünfunddreißigjährigen, durchtrainierten Arne, der mit dem siebenjährigen Mads Frisbie spielt, mit dem Jungen an der Hand in die Brandung rennt oder sich mit der Zigarette in der Hand die Augen beschattet, um dem Flug einer Möwe zu folgen; an dem Vierzigjährigen, der ernst und abgezehrt an einer Mauer lehnt, dessen Lächeln für den Fotografen über die Mundwinkel nicht hinauskommt, der die zurückliegenden Monate der Trennung und Scheidung von seiner Frau noch nicht verwunden hat. Das ist das letzte Foto dieses Albums, die letzten zehn oder zwölf Seiten blieben leer.

Lily geht es noch einmal durch, diesmal richtet sie ihr Augenmerk auf Mads. Offensichtlich hat Arne ihn meist zusammen mit seiner Mutter fotografiert, und diese Aufnahmen hat Mads herausgerissen - es gibt mehr leere Flecken als Fotos von Mads, doch es sind noch genug, um seine Entwicklung vom Kleinkind zum vorpubertären Jugendlichen nachzuvollziehen: Mads auf krummen Beinen mit dickem Windelpaket, wie die Sonne seine blonden Locken funkeln lässt; Mads in voller Fahrt auf dem Dreirad, winkend und strahlend über das ganze Gesicht, und Mads ängstlich lächelnd, als er an seinem sechsten Geburtstag zum ersten Mal auf das funkelnagelneue Fahrrad ohne Stützräder steigen soll; Mads mit einer überdimensionalen Schultüte an der Hand seines Großvaters; Mads, klapperdürr und mit vorstehenden Knien in Badehose im Strandkorb; Mads mit baumelnden Beinen am Klavier.

Lily konzentriert sich auf das Gesicht des Jungen, versucht, Arne in ihm zu finden, doch außer den grünen Augen und den welligen Haaren kann sie keine Ähnlichkeit feststellen, doch sie weiß, dass sie für so etwas sowieso keinen Blick hat. Das kleine Muttermal unter dem rechten Schlüsselbein allerdings findet sich sowohl beim Vater als auch beim Sohn, und Lily wundert sich, dass sich auch so etwas vererben kann. - Sie fährt zusammen, als das Telefon klingelt, doch ein Blick auf das Display sagt ihr, dass es nur ihre Mutter ist.

„Hallo, mein Schatz, wie geht es dir?“, fragt Marie-Luise Oehlert besorgt, als sie die müde Stimme ihrer Tochter hört. „Ich hab heut Morgen schon mal angerufen, aber da warst du wohl nicht da. Bist du ein bisschen spazieren gegangen? Frische Luft tut dir bestimmt gut…“ Wie immer gibt sie Lily keine Gelegenheit, ihre Fragen zu beantworten, sie beschränkt sich deshalb auf ein kurzes „Ja“ oder „Nein“ an entsprechender Stelle. „Hast du schon etwas gegessen, Lily? Du weißt, du hast noch eine Portion Rübeneintopf mit Kasseler und einmal Kartoffelsuppe im Kühlschrank, die Würstchen dazu sind in dem langen, flachen Gefäß auf der mittleren Schiene. Bitte, iss etwas, Lily, du musst bei Kräften bleiben! Und es ist keine schöne Vorstellung, dich dort so ganz allein in dem großen Haus zu wissen, ich fände es wirklich angenehmer und beruhigender für alle Beteiligten, wenn du zu uns übersiedeln würdest, Schatz, jedenfalls für ein paar Tage, bis alles vorbei ist…“ „Mama“, unterbricht Lily ihren Redefluss, „Mama, ich bin kein Kleinkind mehr, ich bin schon groß! Ich weiß, du meinst es gut, ja, danke für deine Fürsorge, aber ich bin zur Zeit keine gute Gesellschaft, ich möchte einfach allein sein, verstehst du? Und ich hab viel zu tun, zu organisieren und zu erledigen, und außerdem ist das Haus nun wirklich nicht groß genug, um sich darin zu fürchten, und ich hab schließlich Kassandra.“ Sie muss mindestens ebenso schnell reden wie ihre Mutter, wenn sie alles loswerden will, was sie zu sagen hat, und so gleichen ihre Telefonate immer mehr dem Gefecht zweier Maschinengewehre. „Aber, Schatz, so lass dir doch helfen!“ So schnell gibt Marie-Luise nicht auf. „Natürlich hast du jetzt viel zu denken und zu erledigen, aber dabei kann ich dir doch helfen. Für so etwas sind Eltern da, Lily, weißt du? Und das Gespräch mit dem Pastor zum Beispiel willst du doch nicht etwa allein durchstehen? Nein, Lily, kommt nicht in Frage, da werden Papa und ich dir zur Seite stehen, ob du nun willst oder nicht….“ Vergeblich hat Lily versucht, ihrer Mutter klarzumachen, dass es kein Gespräch mit dem Pastor geben wird, doch erst als sie die ihr noch verbliebene Energie zusammenrafft und die Stimme erhebt, dringt sie zu ihr durch: „Alles, was für die Trauerfeier zu organisieren ist, spreche ich mit dem Bestatter ab, Mama, der war heute Morgen schon hier, und heute Nachmittag treffe ich mich mit ihm, um die Räumlichkeiten und den Platz unterm grünen Rasen anzusehen. Nein, danke.. nein, das schaffe ich allein, Mama. Mama, bitte - ich bin erwachsen… ich bin Witwe, Mama…“ Sie hat es ausgesprochen, dieses Wort, das alle vorstellbaren und nicht vorstellbaren Schrecken umfasst, das ein Synonym ist für Trauer, Tränen, Einsamkeit, Abschied und Angst, und es drückt ihr das Herz ab und schnürt ihr die Kehle zu, so dass sie es herausschreien muss, um es über die Lippen zu bringen, und ohne ein weiteres Wort beendet sie das Gespräch, um sich dem Weinkrampf zu überlassen, der sie so heftig schüttelt, dass Kassandra von ihrem Schoß fällt.

Wenig später steht sie in der Küche, lässt das Wasser laufen und kühlt sich das glühende Gesicht mit einem nassen Geschirrtuch. Sie öffnet den Kühlschrank, sieht die von ihrer Mutter dort deponierten Mahlzeiten und lässt die Tür wieder zufallen. Sie würde jetzt keinen Bissen herunterbringen. Stattdessen kocht sie sich einen Kaffee, kehrt mit dem Becher in die Bibliothek zurück und greift erneut nach Arnes Fotoalbum.

Sie betrachtet das letzte Foto von Mads, auf dem er elf oder zwölf Jahre alt sein mag - Arne hat es versäumt, die Aufnahmen zu datieren. Noch sieht der Junge einigermaßen fröhlich aus, vielleicht eine Spur zu hochnäsig, doch das kann auch Einbildung sein, denn nach allem, was sie von ihm weiß, steht sie ihm nicht unvoreingenommen gegenüber. Zum Zeitpunkt, als diese Aufnahme entstand, war die Ehe seiner Eltern bereits am Ende, was sie Arnes Meinung nach jedoch vor dem Jungen hatten geheim halten können. Mads war aufgewachsen mit der Abwesenheit seiner Mutter, mit einer Mutter, die kaum einmal mehr als zwei oder drei Tage am Stück zuhause war. In diesen Tagen vergötterte sie ihren Sohn, überhäufte ihn mit Geschenken, mit Liebkosungen, mit geradezu aufdringlicher Aufmerksamkeit, nur um ihn am nächsten Tag ungeduldig abzuschütteln und dann frisch geschminkt mit ihrer kleinen Reisetasche unterm Arm ihren Sportwagen zu besteigen und zu verschwinden. Nie wusste der Junge, wohin sie fuhr, nie, ob und wann sie zurückkommen würde. - Je älter er wurde, desto mehr suchte er Sicherheit und Kontinuität bei seinem Vater.

Und so war es Arne, der seinem Sohn schließlich den definitiv endgültigen Auszug seiner Mutter zu erklären versuchte. „Weißt du, als deine Mutter und ich uns kennenlernten, waren wir ganz fest davon überzeugt, dass wir uns genug liebten, um unsere Liebe ein ganzes Leben lang andauern zu lassen. Besonders als du geboren wurdest, war unser Glück perfekt. Aber Menschen verändern sich, auch ohne dass sie es selber wollen, und das ist nicht vorherzusehen, weißt du. Bei manchen Leuten hält die Liebe das aus, bei anderen wächst sie sogar weiter und wird mit jedem Jahr größer und stärker, aber manchmal, wenn sich der eine Ehepartner in die eine und der andere in die andere Richtung entwickelt, bleibt die Liebe sozusagen auf der Strecke, dann verkümmert sie. Ich will damit sagen, dass man in einer Ehe leider keine Garantie dafür hat, dass die Liebe zwischen Mann und Frau wirklich ein ganzes Leben lang hält, und bei deiner Mutter und mir ist es nun leider so, dass uns die Liebe im Laufe der Jahre verloren gegangen ist. Dafür kann niemand etwas, verstehst du, daran ist weder deine Mutter schuld noch ich - es ist einfach irgendwie passiert. Aber ohne Liebe wollen wir nicht leben, nicht zusammen leben in einem Haus, weil das ein Leben ohne Freude und Wärme wäre, auch für dich, Mads, und vermutlich würden wir über kurz oder lang anfangen, uns zu streiten. Und so haben wir beschlossen, uns zu trennen. Und zwar jetzt, bevor wir vielleicht doch irgendwann noch richtig böse aufeinander werden.“

Mads hatte schweigend zugehört und erstaunlich gelassen reagiert, und Arne hatte den Verdacht, dass der Junge sehr viel mehr geahnt hatte, als seine Eltern vermuteten. Er tippte seinen Ball auf die Steinplatten der Terrasse, auf der dieses Gespräch stattgefunden hatte, und sah seinen Vater nicht an. Erst als Arne, an dessen gereizten Nerven das monotone „Dong“ des auf- und abspringenden Lederballs zerrte, den Ball abfing und festhielt, sah Mads auf. „Wirst du zu mir kommen, wenn du mich brauchst?“, hatte Arne seinen Sohn gefragt. „Wenn du dich allein fühlst, wenn du reden möchtest oder etwas wissen willst?“ Wortlos hatte Mads genickt, dann hatte er den Ball aus den Händen seines Vaters entgegengenommen und war gegangen.

Es war am Abend eines Bilderbuchtages gewesen, als Arne ihr von Madeleines Tod erzählt hatte. Nach einem ausgiebigen Frühstück auf der hinteren Terrasse hatten sie am späten Vormittag die Fahrräder aufgeladen und waren losgefahren, irgendwohin. An der St.-Laurentius-Kirche in Tönning hatten sie den Wagen stehen lassen, hatten sich in die Sättel geschwungen und eine wunderschöne Tour nach Friedrichstadt gemacht. Am Mittelburgwall hatten sie sich ein köstliches Labskaus gegönnt und den Matjes mit einem kühlen Bier begossen, und mit einem Augenzwinkern hatte Arne Lily auf einen jungen Mann am Nachbartisch aufmerksam gemacht: „Ich glaube, du hast da gerade eine Eroberung gemacht“, hatte er ganz leise gesagt und ihr mit einer vorsichtigen Kopfbewegung die Richtung angedeutet. Verstohlen hatte sie einen Blick hinüber geworfen und war dem des Mannes begegnet. Doch die Intensität, mit der er sie anstarrte, hatte sie irritiert, und sie hatte ihre Hand ganz fest in Arnes geschmiegt und dem Tischnachbarn soweit wie möglich den Rücken zugekehrt. „Der ist mir irgendwie zu aufdringlich“, hatte sie Arne ins Ohr geflüstert, und später dann waren sie vom Rad auf das Schiff umgestiegen und hatten wieder einmal die Grachtenfahrt durch die Holländersiedlung genossen: Die Treppengiebel der alten Häuser, die sich fast schutzsuchend aneinander drängen, die schweren Friesentüren in ihrer Vielfalt und Farbenpracht, dazu die mit überquellenden Blumenkästen geschmückten Häuserfronten - Lily liebt diese kleine Stadt. Es war die Zeit der Seerosenblüte, und die Versuchung, auch die Treene mit ihrem Blütenmeer noch anzusteuern, war groß, doch im Westen schien sich ein Gewitter zusammenzubrauen, und sie hatten noch eine Stunde Fahrradtour zurück nach Tönning vor sich. So gab es noch einen Cappuccino auf dem alten Marktplatz, und gerade hatten sie die Räder wieder auf dem Fahrradträger befestigt und den Wagen gewendet, als das Gewitter mit sintflutartigen Regenfällen über sie hereinbrach. Die Scheibenwischer arbeiteten auf Hochtouren, mussten vor den Wassermengen jedoch kapitulieren, und irgendwann steuerte Arne einen Parkplatz an, stellte den Motor ab und lehnte sich zurück.

Sie können die Fenster nicht öffnen, da der Regen von allen Seiten niederzuprasseln scheint, und so beschlagen die Fenster von ihrer Atemluft. „So hat man Madeleine gefunden“, sagt Arne plötzlich, und Lilys Herz setzt für einen Augenblick aus. „In ihrem total beschlagenen Auto an einem nebligen Novembermorgen vor 15 Jahren. - Jedenfalls hat sie auf die Art verhindert, dass der Junge sie fand.“ Arne starrt mit leeren Augen hinaus, dann wendet er sich Lily zu. „Darf ich’s dir erzählen?“, fragt er, und die Scheu in seiner Stimme rührt sie. „Ich hab noch nie drüber gesprochen, aber ich hab das Gefühl, dass da endlich etwas raus muss…“ Statt zu antworten, legt sie ihm ihre kalte Hand an die Wange. Er hält sie kurz fest, haucht einen Kuss hinein und nimmt sie dann zwischen seine beiden Hände, die sich wie immer warm und trocken anfühlen.

„Als Madeleine in ihre Hamburger Wohnung gezogen war, lief das Leben für Mads und mich zunächst in ruhigen Bahnen. Ich war zwar beruflich ziemlich eingespannt, aber Mads kam mit der Haushaltshilfe, die ich eingestellt hatte, prima zurecht. In der Schule lief alles gut, er hatte eine tolle Clique von Freunden, und an den Wochenenden waren wir zwei zusammen unterwegs, fuhren Motorrad, bastelten zuhause herum oder brachten den Garten auf Vordermann. Wir gingen zusammen ins Kino oder zum Torfrock-Konzert - ja, da staunst du, was?! - wir kochten zusammen, ich brachte ihm Autofahren bei, er führte mich in die Geheimnisse des Breakdance ein.

Man kann sagen: Wir lebten glücklich und zufrieden bis - ja, bis zu den Sommerferien. Die verbrachte Mads nämlich wie immer bei seinen Großeltern mütterlicherseits auf Sylt. Er fehlte mir während dieser vier Wochen, er fehlte mir wirklich, und ich freute mich wie ein Stint auf seine Rückkehr. Doch schon als ich ihn in Husum vom Zug abholte, als er mir auf dem Bahnsteig entgegenkam, lang und schlaksig, mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf, wusste ich, dass etwas mit ihm geschehen war: Er war nicht mehr derselbe. Er sah mich nicht an, er antwortete einsilbig und unwillig auf meine Fragen, er war kalt wie ein Eisblock. Zuhause verzog er sich sofort auf sein Zimmer und erschien auch nicht zum Essen. Ich wartete erst mal ab, ob ihm dieses Spiel vielleicht irgendwann langweilig werden würde, doch schließlich platzte nicht ihm, sondern mir der Kragen, und ich stellte ihn zur Rede. Was dann kam, weißt du: Er beschimpfte und beschuldigte mich, seine Mutter laufend betrogen und dadurch aus dem Haus getrieben zu haben.“

Arne fährt sich mit der Hand übers Gesicht, es knistert fast, so trocken ist seine Haut. Einen kurzen Moment lang schließt er die Augen, dann sieht er Lily wieder an. „Mit der Ohrfeige, die ich ihm an dem Abend verpasste, hab ich ihn vertrieben und verloren“, sagt er leise. Inzwischen hat Lily wärmere Hände als er, sie lehnt sich an seine Schulter und zieht seinen Arm wie einen Schal um sich herum. „Als er ging, wusste ich, dass er nicht zurückkommen würde. Ich wusste auch, dass er nicht zu mir ins Auto steigen würde, wenn ich ihm hinterher führe, selbst wenn ich ihm schwören würde, ihn nur zum Bahnhof fahren zu wollen. Also rief ich Frau Seemann, meine Haushälterin an und bat sie, Mads ‚ganz zufällig‘ aufzulesen und zum Bahnhof zu fahren, damit er jedenfalls nicht noch auf die Idee kam, nach Hamburg trampen zu wollen. Denn dass er zu seiner Mutter fahren würde, war mir klar.“

Wieder macht Arne eine Pause, klopft seine Hemdtaschen ab und holt die Packung Zigaretten schließlich aus dem Handschuhfach. „Entschuldige“, sagt er, „aber das muss jetzt einfach sein.“ Der Regen hat nachgelassen, endlich, und Arne öffnet die Fahrertür, spannt einen gigantischen Regenschirm auf und hängt ihn darüber. Er dreht sich auf seinem Sitz nach links, um nach draußen rauchen zu können, was zur Folge hat, dass er über die Schulter zurück zu Lily spricht. „Sie hat mir nicht einmal Bescheid gesagt.“ Leise sagt er das, fast tonlos. Nur an der Art, wie er den Rauch aus dem heruntergezogenen rechten Mundwinkel bläst, erkennt Lily, was Madeleine mit dieser Unterlassung angerichtet hat. „Natürlich hab ich ihr sofort eine sms geschickt, um ihr mitzuteilen, dass Mads unterwegs war zu ihr. Ich hatte mir ausgerechnet, welchen Zug er nehmen würde, mir die Ankunftszeit aus dem Internet gesucht und sie gebeten, ihn abzuholen, schließlich kam er mitten in der Nacht in Hamburg an. Und ich hatte es für selbstverständlich gehalten, dass sie mir antworten würde, sobald unser Sohn bei ihr eingetroffen wäre, doch ich hatte mich getäuscht: Keiner von beiden hielt es für nötig, mir eine Nachricht zukommen zu lassen, und so versuchte ich natürlich am nächsten Tag, sie telefonisch zu erreichen. Ich rief sie immer abwechselnd an, und irgendwann hatte ich so viele Runden um den Esstisch gedreht, dass man die Laufstraße heute noch sieht, und dann hielt ich es nicht mehr aus und rief meine ehemaligen Schwiegereltern an - ich kann dir gar nicht sagen, wie viel Überwindung mich das gekostet hat…“

Seine Zigarette ist aufgeraucht, er schnipst sie in die Pfütze vor seinen Füßen. Er wendet sich ihr wieder zu, und Lily stellt erschüttert fest, dass selbst dieser sonst so sportliche, durchtrainierte Mann schwerfällig wirken kann.

„Auf seine herablassende Art teilte mein Ex-Schwiegervater mir mit, dass mein Sohn entgegen all meiner Bemühungen heil bei seiner Mutter gelandet sei und mich wissen lasse, dass er nicht gewillt sei, weiterhin in Kontakt zu mir zu stehen. Ja, so drückte er sich aus. Desweiteren würde wohl selbst ich im Laufe der Zeit zu der Erkenntnis gelangen, dass ein Kind zu seiner Mutter gehöre, weshalb Mads nun den Versuch, bei mir zu leben, abbrechen und dem Gericht diese Entscheidung umgehend mitteilen werde. Ich sei also gut beraten, mich fortan von ihm fernzuhalten.“

Ein bitteres Lächeln umspielt Arnes Mund bei der Erinnerung an die Arroganz dieses Mannes, den er viele Jahre seines Lebens ‚Schwiegervater‘ nannte. „Es ging nicht lange gut“, fährt er jetzt fort. „Dass ich mich nicht ‚fernhielt‘, weißt du, und wie meine Versuche, entgegen aller Wünsche und Warnungen mit meinem Sohn in Kontakt zu treten, endeten, auch. Wie Mads’ Leben in der Wohnung seiner Mutter ausgesehen haben mag - denn von einem Leben mit seiner Mutter darf man wohl nicht sprechen - kann ich nur erahnen. Fakt ist, dass er in diesen eineinhalb Jahren zweimal die Schule wechselte, bis er schließlich von seinem Großvater, stellvertretend für seine Mutter, im Internat von Sankt Peter Ording angemeldet wurde, womit er wieder in meine Nähe zog. Allerdings erhielt ich zeitgleich ein Schreiben vom Jugendamt, in dem mir mitgeteilt wurde, dass mein mittlerweile vierzehnjähriger Sohn keinerlei Kontakt zu mir wünsche und jeglichen Versuch, den ich etwa in dieser Richtung unternehmen würde, den zuständigen Behörden melden werde. - Hier bei mir war er ein richtig guter Schüler gewesen, weißt du, gehörte dem oberen Drittel an, ohne sich dafür besonders anstrengen zu müssen, aber in Hamburg hatten seine Leistungen rapide nachgelassen, und seine ‚Freunde‘ hatte er sich offensichtlich mit reichlich vorhandenem Taschengeld gekauft.“

„Ich sah ihn manchmal vom Strandcafé aus, wenn sie Beachvolleyball spielten oder einfach nur rumhingen. Er war in die Höhe geschossen, hatte sich die Haare wachsen lassen und bewegte sich ein bisschen wie… hm, ja, wie ein Orang Utan.“ Arne grinst entschuldigend, dann fährt er fort.

„Als man Madeleine fand, am 17. November morgens gegen sechs Uhr, war ihr Wagen so beschlagen wie unserer vorhin, deshalb kam ich überhaupt drauf, dir das alles zu erzählen. Das bedeutet, dass sie lange im Wagen gesessen und geatmet haben muss, und sie kann noch nicht lange tot gewesen sein, als man sie fand, sonst wäre der Wagen ausgekühlt und ihr Atem wäre als Kondenswasser von den Scheiben getropft. Ein Mann, der in aller Herrgottsfrühe seinen Hund ausführte, wurde aufmerksam auf den Wagen, weil er am Norderdeich stand, in der Kurve, wo die Straße nach Nordosten abknickt, weißt du, und die Scheinwerfer brannten noch und strahlten hinaus aufs Meer. Sie war vollgepumpt mit Alkohol und Barbituraten, beides fand sich neben ihr auf dem Beifahrersitz, und angeblich soll sie einen Abschiedsbrief für ihre Eltern hinterlassen haben, in dem sie alles erklärt, aber das habe ich nur der Andeutung einer Polizistin entnommen, die mir natürlich keine Auskunft geben durfte, weil Madeleine und ich ja nicht mehr verheiratet waren.“

Lily hat seine Erzählung nicht unterbrochen. Still und konzentriert hat sie ihm gelauscht, und immer, wenn er zu ihr hinübersieht, begegnet er dem eindringlichen Blick aus ihren großen, tiefblauen Augen.

„Weißt du was?“, fragt Arne jetzt und startet den Wagen. „Es hat aufgehört zu regnen. Wir fahren jetzt nach Hause, mixen uns einen Drink und genießen den Sonnenuntergang in deiner Bude.“ ‚Deine Bude‘ - das ist Arnes Bezeichnung für Lilys heiß geliebtes Blockhaus, und sie hat es längst aufgegeben, ihn zu überrufen. Zu ihrem achtundzwanzigsten Geburtstag hat er sie zunächst auf einen Kurztrip nach Kopenhagen entführt, und als sie zurückkamen, stand am Ende des Grundstücks, genau dort, wo sie es sich immer erträumt hatte, eine Blockhütte: Zwar noch kahl und nackt, aber fix und fertig aufgebaut, mit einer echten Klöntür und Fensterläden und Blumenkästen vor den Fenstern, und auf dem Tablett, auf dem Arne ihnen den Geburtstagssekt servierte, lag ein Gutschein für die Inneneinrichtung: „Ich bin gespannt, was du draus machst“, hatte er gesagt und sie zärtlich und erwartungsvoll geküsst.

Während sie jetzt über regennasse Straßen nach Hause fahren, kommt die Sonne wieder durch und lässt die Nässe in dunstigen Schwaden vom immer noch heißen Asphalt aufsteigen. Weder Arne noch Lily ist nach Reden zumute, sie hängen ihren Gedanken nach und dem, was Arne soeben erzählt hat, und schweigen einträchtig. Hin und wieder legt Lily ihre Hand auf seine, dann streicht er ihr zärtlich mit dem Handrücken über die Wange. Ihre Blicke treffen sich, das Lächeln in ihren Augen spricht von Frieden und Verständnis.

„Madeleine war ein bezauberndes Mädchen“, erklärt Arne, als sie mit einem Martini Bianco on the Rocks mit Olive und Zitrone nebeneinander auf dem kleinen, blauweiß gestreiften Biedermeier-Sofa sitzen und den Blick zum Horizont wandern lassen. Lily hat die Einrichtung des Häuschens sehr schlicht gehalten, auf das Nötigste beschränkt. So gibt es neben dem Sofa lediglich zwei kleine Abstelltische aus weiß gebeiztem Buchenholz, ein ebenfalls weiß gebeiztes Bücherregal und zwei kleine, schlicht blau bezogene Hocker, auf denen sie die Füße ablegen, wenn sie es sich gemütlich machen wollen. Die zarten Vorhänge aus weißem Mousseline werden gehalten von blauen Satinbändern, und die beiden Tischlampen mit den weiß gravierten Glasschirmen stehen zwischen Töpfen mit Usambaraveilchen auf den Fensterbänken. Das einzige Bild, das sie aufgehängt hat, ist ein Kroyer-Druck: „Wartet auf uns“. Es zeigt zwei Jungen von hinten, wie sie nackt und Hand in Hand rufend und winkend zu ihren Freunden ins Wasser stürmen.

„Sie war achtzehn, ich dreiundzwanzig, als wir uns kennenlernten. Dieses Kennenlernen war für mich ziemlich schmerzhaft, denn sie fuhr auf ihren Rollerblades geradewegs in mich hinein. Sie schrie und kreischte und fuchtelte wild mit den Armen, und als wir beide am Boden lagen und versuchten, uns irgendwie wieder voneinander zu trennen, gestand sie mir, dass es das erste Mal für sie sei und sie keine Ahnung habe, wie man mit diesen Dingern bremste. Das hatte ich gerade zu spüren bekommen. Naja, es war mir glücklicherweise nichts passiert, außer dass sie mir mit ihrem Helm, den sie vernünftigerweise trug, eine anständige Kopfnuss verpasst hatte, und ich muss gestehen, dass es mir gefiel, wie sie da so auf mir lag…“ Lily spürt einen heftigen Stich bei dieser Vorstellung, und sie muss sich zwingen, ihm einen nur kameradschaftlichen Rippenstoß zu verpassen, als sie ihm zuzischt: „Hör auf, mir von deinen Verflossenen vorzuschwärmen!“ Er zieht ihren Kopf zu sich heran und küsst sie so innig, dass sie eigentlich gut auf die Fortsetzung der Geschichte verzichten und stattdessen an ihrer eigenen weiterschreiben könnte, doch da löst Arne sich von ihr, sieht sie lange an und legt dann seine Stirn an ihre. „Du bist wunderschön, Lilily“, sagt er ganz leise. „Wunderwunderschön - und ich liebe dich sehr.“ ‚Lilily‘ nennt er sie, wenn sie sich besonders nah sind: „Es steht stellvertretend für ‚Little Lily‘ oder für ‚Lily-Liebling‘ - du darfst es dir aussuchen“, hatte er gesagt, und natürlich hatte sie sich für letzteres entschieden.

Das Licht beginnt, sich abendlich zu verfärben, es wird weich und honigfarben. Der Wind hat sich gelegt und die Sicht ist so klar, dass sie in der Ferne das Meer blinken sehen. Er legt ihr den Arm um die Schulter, zieht sie sacht an sich und lässt ihre Gläser klingen. „Auf uns!“, sagt er, und das spitzbübische Lachen, das sie so sehr liebt an ihm, kehrt zurück. „Auf uns!“, bekräftigt sie, und dann: „Erzähl weiter.“

Er streckt die langen Beine aus, legt die Füße auf den blauen Hocker und dreht das Glas zwischen den Händen. „Natürlich musste sie mich entschädigen für diesen Unfall, und eine Einladung auf einen Cappuccino war ja wohl das mindeste, was ich erwarten durfte, und so gingen wir schnurstracks ins nächstbeste Café - das heißt ich ging und sie humpelte. Sie hatte sich bei dem Sturz das Knie blutig geschlagen, denn sie trug zwar einen Helm auf dem Kopf, aber weder Ellenbogen- noch Knieschützer. Du weißt ja, dass ich kein Blut sehen kann, und das war damals nicht anders, und so war es reiner Selbstschutz, als ich die Bedienung im Café um ein sauberes Geschirrtuch bat - und es auch bezahlte, denn wir nahmen es mit! -, um Madeleines Knie zu verbinden, was sie aber als ausgesprochen fürsorglich empfand und mich zum Dank dafür unvermittelt küsste.“

Das Schweigen, das sich zwischen ihnen ausbreitet, als Arne jetzt seinen Gedanken nachhängt, hätte in Lily wohl wieder die Eifersucht aufkeimen lassen, wäre da nicht der bittere Zug um seinen Mund gewesen. „Damals empfand ich das natürlich als großes Kompliment, als Auszeichnung geradezu. Ich wusste ja noch nicht, dass das die ersten Anzeichen ihrer Problematik waren, die letztendlich über uns und unsere Familie entscheiden sollte.“

„Madeleine war schön. Es gibt nur noch dieses eine Foto von ihr, das ich dir, glaube ich, irgendwann mal gezeigt habe, und das ist eine Momentaufnahme, die nichts aussagt über ihren lebhaften Gesichtsausdruck, über das Funkeln ihrer Augen, über ihre Gestik, ihre Mimik… sie hatte ein sprühendes Temperament, ja, ich glaube, das ist der richtige Ausdruck dafür: sprühend.“

Vor ihrem geistigen Auge sieht Lily das Foto von Madeleine, das einzige, das sie jemals zu Gesicht bekommen hat. Es ist das Bild einer lachenden jungen Frau mit schmalem, fein geschnittenen Gesicht: In der hohen Stirn kräuseln sich die kupferfarbenen Locken, deren Fülle auf der linken Seite hinters Ohr gestrichen ist, auf der rechten mit funkelndem Schimmer die Wange umschmeichelt. Die braunen Augen unter den dichten Wimpern erscheinen übergroß und glänzend, auf der zierlichen Nase tummeln sich versprengte Sommersprossen. Die vollen Lippen sind lachend geöffnet und geben den Blick frei auf zwei Reihen ebenmäßiger, strahlend weißer Zähne.

„Sie war höchstens einen Meter und fünfundsechzig groß, zierlich und springlebendig. Man könnte es vielleicht auch ‚zappelig‘ nennen. Ihre rotgolden glänzende Löwenmähne war ständig in Bewegung, flog mal über die eine und mal über die andere Schulter, wurde mal im Nacken und mal oben auf dem Kopf zusammengerafft, fiel ihr ins Gesicht als Vorhang, hinter dem sie sich kichernd verbarg, oder wurde hinter die Ohren gestrichen, wenn sie, was selten vorkam, mal ernsthaft nachdachte. Auch die Art, wie sie sich kleidete, war absolut individuell, das fiel sogar mir auf: Sie kombinierte die gewagtesten Stile, Farben und Materialien, und wenn ich dir jetzt sage, dass sie zum Beispiel eine superweite, glänzende Pluderhose - keine Ahnung, wie man so einen Stoff nennt - in Grün, Rot und Gold kombinierte mit einem groben, irgendwie löchrigen Leinenhemd in pink, unter dem ein lila Shirt hervorblitzte, dann hört sich das für dich wahrscheinlich gruselig an, zumal sie dazu einen riesigen, dunkelgrünen Samthut trug, aber wie Madeleine sich darin bewegte, war es, als habe sie all das gerade zum Leben erweckt, als sei jedes einzelne Stück erst in dem Augenblick zu voller Schönheit erblüht, als es Madeleines Körper bekleidete…“

Jetzt wird Lily langsam böse. Sie löst sich aus seinem Arm und blitzt ihn an: „Sag mal, merkst du eigentlich, was du gerade mit mir machst? Du schwärmst mir hier in aller Ausführlichkeit, mit Worten, die du meines Wissens in Bezug auf mich noch nie gebraucht hast, von deiner ersten Frau vor, als handle es sich um eine Fleisch gewordene Lichterscheinung, um ein ätherisches Wesen, dem du dich zu Füßen geworfen und das du angebetet hast, und ich…“ „Lily!“, unterbricht er sie und greift nach ihren vor seiner Nase herumfuchtelnden Händen. „Lilily! Du weißt sehr wohl, was sie aus sich und mir gemacht hat und was sich unter der Oberfläche verbarg…“ „Nein, weiß ich nicht“, sagt Lily patzig und kommt sich gerade vor wie ein Schulkind, das man zu Unrecht getadelt hat, „du hast dich ja bisher immer geweigert, mir reinen Wein einzuschenken!“

„Okay, dann werde ich dir jetzt die ganze Geschichte erzählen. Aber beschwer dich nicht, wenn’s zu lange dauert.“ - Doch bevor er beginnt, füllt er noch einmal ihre Gläser, bietet ihr die Schale mit den Oliven an und streicht ihr sanft über die Wange. „Du bist sicher, dass du es hören willst?“, fragt er. „Alles?“ Sie wendet den Kopf und sieht ihm in die meergrünen Augen, lange und fest sieht sie ihn an. Dann nickt sie. „Ja, ich bin sicher. Und ja: alles.“ Sie zieht die Schuhe aus und die Beine hinauf aufs Sofa. Mit dem Glas in der Hand kuschelt sie sich in seinen Arm, lehnt den Kopf an seine Schulter und lauscht, ohne ihn zu unterbrechen.