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Wege aus der Dunkelheit ... .... führen ins Licht. Und Licht bedeutet Wärme, Hoff-nung, Zuversicht und Geborgenheit. Für die Akteure der in diesem Buch vorgestellten Geschichten scheinen diese Begriffe jedoch ein Leben in einer anderen Welt zu beschreiben. Denn zu den täglichen Weggefährten des Zwergschnauzers Rocky, der tauben Katze Bella und ihrer Freundin Edna, der Fasanenhenne, wie auch der englischen Bulldogge Raquel gehören Not und Elend. Doch wird nicht auch ihnen noch auf die eine oder andere Weise das Licht am Ende des Tunnels leuchten? Ein Licht, dem sie sich nach der langen Wanderung auf den Wegen in der Dunkelheit anvertrauen dürfen? Dies ist die dritte Sammlung von „Geschichten für Tierfreunde“, die Christiane Gezeck zugunsten hilfsbedürftiger Tiere veröffentlicht. Genau wie beim ersten („Wo, bitte, geht’s nach Hause?“) und zweiten Band („Fortuna heißt Glück“) wird auch der Verkaufserlös des hier vorliegenden Buches wieder zu 100 % dem ALBA Tierschutz Madrid zugute kommen.
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Seitenzahl: 216
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Titelseite
Titel
HERBST-ZEIT
SORRY
Kluge Katze!
Bella und Edna
Für Susi
RAQUEL
Impressum
(Friedrich Schiller)
Vom Erlös des Buches profitiert wieder:
Umschlagzeichnung: Elke Weinberg
Wenn die Wolken Trauer tragen,
wenn Bäume sturmgeschüttelt klagen,
wenn Vögel nicht zu fliegen wagen,
wenn Nebel öde Felder plagen –
dann ist es Herbst.
Wenn Licht nicht durch die Himmel dringt,
wenn Leben schwer nach Atem ringt,
wenn Wasser braun und leblos blinkt,
wenn Sonne keine Wärme bringt –
ist es dann Herbst?
Wenn Dürre wohnt in jungen Trieben,
wenn Tiere tot an Stränden liegen,
wenn Tränen über Träume siegen,
wenn Menschen sich eiskalt belügen –
dann ist es Zeit ...
Als Santi ihm zum dritten Mal mit seinem Spielzeugauto den Rücken hinauf und über den Kopf fuhr, klemmten die Räder des Autos ein paar von den feinen Haaren hinter seinen Ohren ein, und es ziepte schrecklich, als es weiter über seine Stirn und die Nase auf den Fußboden hinunter fuhr. Aber er hielt ganz still und verbot sich auch das leiseste Wimmern, weil er nicht wollte, dass der Junge wieder bestraft wurde. Denn neuerdings kam jedes Mal, wenn er bei ihren wilden Spielen aufjaulte, Carmen ins Zimmer gestürzt, schrie und zeterte und schlug Santi auf den Kopf. Es nützte dem Kleinen nichts, dass er sich mit den Armen zu schützen versuchte, die Hände der Mutter fanden immer noch einen Platz, auf dem sie klatschend landen konnten, und das Weinen des Jungen tat Rocky immer viel mehr weh als der Schmerz, den Santi ihm versehentlich zugefügt hatte. Anschließend hätte Rocky das Kind dann immer gern getröstet und besänftigt, doch nach so einer Szene nahm Carmen ihren Hund auf den Arm, drückte ihr Gesicht in sein Fell und trug ihn ins Schlafzimmer, wo sie sich mit ihm auf dem Bett zusammenrollte und ihn fest umklammert hielt.
Heute ertrug er das Ziepen im Fell klaglos und mit zusammengebissenen Zähnen, und als Santi sich jetzt sein Lieblingsbuch griff, um Rocky noch einmal jedes einzelne Bild ganz genau zu erklären, drückte er sich sanft an den kleinen Körper, spürte seine Wärme und freute sich an dem frischen Duft, den die zarte Kinderhaut verströmte....
Während Santi vor sich hinplapperte und Rocky mit erhobenem Zeigefinger unterrichtete, wanderten dessen Gedanken zurück zu der Zeit, als es Santi noch gar nicht gab. Immer noch erinnerte er sich ganz genau an den Sonntag zu Beginn des Frühlings, an dem die Frau, bei der er mit seiner Mutter und seinen Geschwistern lebte, Carmen und Miguel in den Garten führte. Eng umschlungen standen die beiden da, lächelten auf die sechs Welpen herab und bewegten sich nicht. Erst nach einer ganzen Weile, als alle Hundebabies längst auf dem Rasen tobten und den Besuch schon vergessen hatten, löste Carmen sich langsam von Miguel, trat einen Schritt vor und ließ sich in einer fließenden Bewegung auf dem Rasen nieder. Mit halb geschlossenen Augen beobachtete sie die Jungen, verhielt sich ganz still und sprach kein Wort. Ein Welpe nach dem anderen näherte sich ihr, beschnupperte sie, krabbelte auf ihr herum oder nagte an ihr, was sie alles lächelnd geschehen ließ. Auch Rockys Neugier hatte sie geweckt, und er näherte sich ihr gerade zielstrebig, als Miguel sein Gewicht verlagerte und sein Schatten über Carmen und die Hunde fiel. Rocky stutzte, drehte sich um und hob Miguel witternd die Nase entgegen. „Kein Grund zur Beunruhigung“ signalisierte dessen Haltung, und Rocky wollte sich gerade wieder seinen Geschwistern zuwenden, als Carmens Hand sich unter seinen runden kleinen Welpenbauch schob, ihn hochhob und an ihr Gesicht führte, wo sie mit geschlossenen Augen ihre Nase an seinem Hals rieb. „Der hier“, sagte sie und sah zu Miguel auf. „Der ist es! Er ist wachsam, er hat Mut, er ist intelligent. Nicht wahr, mein Kleiner, du wirst mich beschützen, du bist mein Fels in der Brandung... ich werde dich Rocky nennen!“
Sie ließ ihn nicht mehr los, und ehe er wusste, wie ihm geschah, hatten sie den Garten verlassen und befanden sich im Innenhof des Hauses, wo sich die Menschen an einen Tisch setzten, etwas Kühles tranken und mit vielen Papieren raschelten und knisterten. Rocky lag auf Carmens Schoß, und ihre Finger beschrieben sanfte kleine Kreise auf seinem Fell. Es fühlte sich unglaublich gut an, und betört von dem Duft ihres Kleides schlief er ein.
So kam es, dass er sich von seiner Familie nicht verabschieden konnte, denn er wachte erst auf, als Carmen und Miguel sich ins Auto gesetzt und die Türen zugeschlagen hatten. „Euro von der Sonnenhöhe....!“ lachte Carmen gerade. „So nennt man vielleicht einen Wein, aber doch keinen Hund! Sieh ihn dir doch mal an, sieht der vielleicht aus wie ‚Euro‘ oder so? Nein, nein, nein, mein Kleiner, du bist mein Rocky, das passt viel besser zu uns, stimmt’s?“
Die Autofahrt war lang – und es war die erste seines Lebens! Zwar hatte Miguel die Klimaanlage eingeschaltet, so dass ihm stets eine frische Brise um die Nase wehte, doch in den Kurven lehnte sich sein Magen unangenehm an den Rippen an, mal auf der linken Seite, mal auf der rechten, und das darin befindliche Mittagessen schien in Schwingungen zu geraten, hin und her und her und hin schwang es, bis es schließlich in eine Kreisbewegung überging... einmal – zweimal – dreimal sauste es durch seinen Magen, beulte ihn aus und blähte ihn auf, und dann konnte es nicht mehr bremsen, war auch durch heftiges Schlucken nicht mehr aufzuhalten... es suchte sich seinen Weg nach oben und beschloss seine Karriere als Springbrunnen.....
Bis heute hatte er sich nicht ans Autofahren gewöhnt, so dass Carmen, die ihn nur im äußersten Notfall allein zu Hause ließ, auf Bus und Metro umgestiegen war. Zwar musste er die Fahrten überwiegend auf ihrem Arm verbringen und durfte nicht in all dem verheißungsvollen Schmutz und Abfall schnüffeln, der ihn in den Metrostationen so lockte, doch jedenfalls wurde ihm nicht übel, und er durfte sein Mittagessen behalten.
Sein Leben in dem großen hellen Haus mit den riesigen Fenstern und Türen, vor denen sich federleichte Vorhänge bauschten, war nichts als Schmusen, Spielen, Fressen und Schlafen. Wenn Miguel nach dem Frühstück das Haus verlassen hatte, kuschelte Carmen sich noch einmal ins Bett. Sie drehte sich auf die Seite, legte Rocky in die Mulde vor ihrem Magen, drückte ihren Arm an seinen kleinen nackten Bauch und ihr Gesicht auf seinen Kopf und murmelte leise vor sich hin. So dösten sie gemeinsam, bis die Putzfrau kam. Während Carmen dann unter der Dusche stand und traurige Lieder sang, half Rocky Antonia beim Saubermachen. Der nasse Wischmob zum Beispiel war viel zu schwer für die arme Antonia, und Rocky musste mit anpacken und ihn unter die Stühle und in die hintersten Ecken ziehen. Nicht immer allerdings erwies sich Antonia dankbar für seine Unterstützung.
Wenn Carmen dann duftend und in raschelnde Kleider gehüllt aus dem Schlafzimmer kam, erteilte sie Antonia noch ein paar Anweisungen, griff nach ihrer Tasche und der Hundeleine und rief: „Rocky, es wird Zeit... wir haben viel zu tun!“ Meistens gingen sie dann zur Metrostation zwei Straßen weiter, dann musste er an der Leine gehen. Manchmal schlugen sie allerdings auch den Weg zum Park ein, da durfte er frei laufen, mit anderen Hunden spielen und sich austoben. Hin und wieder allerdings stiegen sie auch gleich in den Bus ein, der auf der anderen Straßenseite hielt, dann musste er brav bei Carmen auf dem Schoß sitzen. Die Metro war zwar schrecklich laut, oft genug drohte ihr Quietschen ihm den Kopf zu sprengen, und der Gestank, der in den Wagen herrschte, war auch nicht gerade appetitanregend. Trotzdem wurde ihm nicht übel dort, was er im Bus nur verhindern konnte, wenn er Carmens Schuhspitze fixierte und sich nicht gestattete, auch nur ein einziges Mal woanders hinzusehen.
Wenn sie ihr Ziel erreicht hatten, führte sie ihr Weg meistens erst einmal durch unzählige Geschäfte. An jedem dieser Geschäfte waren Schilder angebracht, die Hunden den Zutritt verwehrten, doch für Carmen und Rocky galten sie nicht: Carmen nahm Rocky auf den Arm und betrat das Geschäft. Mehrmals war sie von den Verkäuferinnen oder den Geschäftsinhabern darauf aufmerksam gemacht worden, dass Hunde draußen zu warten hätten, doch dann wurde Carmen laut, und Rocky auf ihrem Arm machte sich ganz klein: „Sie glauben nicht im Ernst, dass ich meinen Hund draußen anbinde, oder?“ Ihre Stimme hatte einen gefährlichen Unterton bei diesen Worten. „Wie lange würde er da wohl sitzen, was meinen Sie? Keine fünf Minuten, das versichere ich Ihnen! In dieser lausigen Stadt laufen Hundefänger ohne Ende herum, die sich alle zehn Finger lecken nach etwas so Kostbarem wie meinem Rocky ... Also, entweder Sie stellen eine Ihrer Angestellten ab, die während der Dauer meines Einkaufes draußen bei meinem Rocky Wache hält; oder Sie lassen ihn bei mir bleiben, während ich einkaufe.... oder Sie verlieren nicht nur eine Kundin, das verspreche ich Ihnen!“ Und so hatte Rocky das Privileg erhalten, auch in „Geschäften mit Schild“ einkaufen zu dürfen.
Nach dem Einkaufsbummel traf Carmen sich immer mit mindestens einer Freundin zum Essen. In den Restaurants setzte sie Rocky auf den Platz neben sich, bei den Freundinnen zu Hause durfte er auch auf die Terrasse oder in den Garten, was ihm natürlich viel lieber war. Wen auch immer sie trafen, keiner versäumte, Rocky gebührend zu begrüßen und zu bewundern, dafür sorgte Carmen. Dem Charme und dem Witz dieses springlebendigen, schwarzglänzenden Zwergschnauzerjungen mit den glitzernden Knopfaugen konnte keine der Frauen widerstehen, und so war Rocky immer dabei, immer willkommen, immer umworben. Er war ein fröhlicher, temperamentvoller, lieber kleiner Kerl.
Manchmal fuhren sie zur Siesta mit dem Taxi nach Hause. Dann war sein Magen leer und die Straßen frei, und die Fahrt dauerte nicht sehr lange, so dass der Springbrunnen nicht in Gang gesetzt wurde. Manchmal kamen sie aber auch erst am Spätnachmittag nach Hause, wenn das Licht schon weich und die Luft kühler geworden war. Dann war vielleicht Miguel schon aus dem Büro zurück, und er begrüßte ihn fröhlich springend und hüpfend. Oft hingen dann Miguels Jackett und Krawatte über der Sessellehne, seine Schuhe lagen davor, und während Carmen mit zwei Gläsern aus dem Esszimmer kam und sich zu Miguel auf das Sofa kuschelte, widmete Rocky sich den interessanten Gerüchen an Miguels Schuhen, inspizierte die Taschen seiner Jacke oder bändigte die aalglatte, sich immer wieder aufbäumende Krawatte.
Nach dem Abendessen kam es manchmal vor, dass Miguel und Carmen sich umzogen, um noch einmal wegzugehen. Oft genug nahmen sie Rocky mit: In Bars, Restaurants und bei Freunden war er längst zu Hause. Doch manchmal, ganz selten, gingen sie irgendwohin, wo Hunde nun wirklich nicht erlaubt waren. Dann musste er allein bleiben. Das war für Carmen viel schlimmer als für ihn, und Miguel wurde regelmäßig ungeduldig, wenn sie zum vierten Mal zurückkam, um ihn zu umarmen und zu küssen und zu trösten und ihm zum 75. Mal zu versprechen, dass es auch bestimmt nicht lange dauern und sie sich sehr beeilen werde, um zu ihm zurückzukehren. Meistens jedoch blieben sie zu Hause, und wenn auch Rocky satt und müde war, kuschelten sich alle drei gemütlich aufs Sofa. Das leise Summen der Unterhaltung, des Radios oder des Fernsehers plätscherte dahin und verebbte in der Ferne, während der Tag noch einmal mit seinen Träumen winkte und sich dann leise lächelnd zurückzog.
Nachts schlief Rocky bei Carmen im Bett. Sie lag auf der Seite, zusammengerollt wie ein Baby, und hielt Rocky im Arm. Er hätte lieber am Fußende geschlafen oder auf dem weichen Teppich vor dem Bett oder auf dem Sessel am Fenster, doch Carmen drückte ihn an sich und flüsterte Beschwörungen an seinem Ohr. Als der Sommer kam und auch die Nächte kaum noch Abkühlung brachten, wurde es ihm trotz der Klimaanlage in Carmens Armen zu warm, und wenn er glaubte, dass sie eingeschlafen war, befreite er sich vorsichtig von ihr. Stück für Stück entwand er sich der Umarmung, sprang leise aus dem Bett und streckte sich auf den kühlen Fliesen im Badezimmer aus. Hach!!! Was für eine Wohltat! Er legte sich flach auf den Bauch, bettete den Kopf auf die Pfötchen und genoss die harte Frische der Steine. Meistens jedoch dauerte der Genuss nicht lang, denn ohne ihren Hund in den Armen erwachte Carmen schnell. Ihre Hände tasteten herum, schlaftrunken stieg sie aus dem Bett, tappte ins Badezimmer, griff Rocky unterm Bauch und trug ihn, Ermahnungen murmelnd, zurück ins warme Bett. Und während sie lächelnd wieder einschlief, sehnte sich Rocky leise hechelnd ins Badezimmer zurück.
Als Rocky ungefähr 2 Jahre alt war, wurde Carmen krank. Obwohl sie nie Auto fuhr und auch fast überhaupt nichts mehr aß, war der Springbrunnen in ihrem Magen ständig in Betrieb: Sie verbrachte die Tage im Bett, hatte einen Eimer daneben stehen und dunkle Ringe unter den Augen. Sie ließ es sogar zu, dass Miguel Rocky nachts auf den Sessel am Fenster umquartierte, was bedeutete, dass es ihr wirklich schlecht ging. Sie konnte das Haus nicht verlassen, so schwach war sie, und so musste Antonia Rocky in den Park führen, und das war toll. Denn Antonia ging auch lieber im Park spazieren oder saß plaudernd mit anderen Frauen auf einer Bank, als das Haus zu putzen oder Carmens Eimer auszuleeren, und so dehnte sie ihre Spaziergänge immer länger aus. Für Rocky bedeutete das jeden Morgen ausgiebiges Spielen und Toben, Rennen und Buddeln, Stöbern und Schnüffeln, und er genoss es in vollen Zügen. Erst, wenn Antonia wieder die Haustür aufschloss und ihnen Carmens ungeduldige Rufe entgegenwehten, packte ihn das schlechte Gewissen, und er sprang freudig winselnd zu ihr aufs Bett und leckte ihr Gesicht und Hände, was sie ihm nur zum Schein verwehrte.
Irgendwann kam der Zeitpunkt, da gab es gar keine Kuhle mehr vor Carmens Magen, wenn sie auf der Seite lag. Stattdessen wölbte sich dort eine kleine Beule, die auch noch anfing zu boxen. Doch seltsamerweise ging es Carmen von da an besser: Sie konnte wieder aufstehen, sie konnte wieder essen, und sie wurde wieder fröhlich – jedenfalls, solange sie nicht vor der Spiegelwand im Badezimmer stand. Sie nahm sogar ihre Einkaufstouren wieder auf, womit Rockys Ausflüge in den Park vorläufig endeten, und oft, wenn sie Rocky Miguel zum Trotz mit in ihr Bett nahm, drückte sie ihr Gesicht in sein Fell und flüsterte: „Weißt Du, mein Kleiner, wir werden dir auch eine süße kleine Frau suchen, mit der du Kinder machen kannst. Du hast ja Glück, du musst sie nicht kriegen .... deine Frau ist es, die aussehen wird wie ein alter Kartoffelsack, sie wird dick und fett werden und behäbig und unbeweglich ... naja, aber dafür kannst du ja nichts, mein Schatz, du wirst wunderschöne, kluge, süße kleine Babies haben, und wenn du willst, werden wir eins davon behalten. Du darfst sagen, ob du eine Tochter oder einen Sohn behalten willst.... nein, lieber doch nicht, es reicht, wenn hier ein Baby den ganzen Tag schreit... wenn es jedenfalls eine Tochter wird, Rocky, so ein süßes kleines Mädchen, das wir dann bei ‚Annabelle‘ einkleiden.... ganz in weiß, was meinst du? Sie wird Fatimah heißen, und sie wird das hübscheste, klügste, bezauberndste kleine Mädchen der ganzen Stadt, ach, was sag‘ ich, des ganzen Landes sein....“ Und während sie so vor sich hin träumte, kraulte sie Rockys Kopf, und erst als sie anfing, sich sein rechtes Ohr um den ausgestreckten Zeigefinger zu wickeln, wurde Rocky wieder aufmerksam und beschloss, dass er dringend mal in den Garten musste.
Irgendwann in der Nacht schrie Carmen plötzlich auf, und Miguel sprang mit einem Satz aus dem Bett und in die Hose. Er rannte hin und her, telefonierte, streichelte Carmen, telefonierte wieder, suchte seine Schuhe, hüllte Carmen in ihren Morgenmantel, griff nach einem Koffer, der schon lange hinter der Schlafzimmertür gestanden hatte und drückte ihn dem Taxifahrer in die Hand, der wartend vor der Haustür stand. Die Tür fiel ins Schloss, ohne dass einer sich von Rocky verabschiedet hätte. Er saß noch eine Weile wartend vor der Haustür, dann schlenderte er ins Badezimmer, streckte sich auf den Fliesen aus und genoss die Ruhe im Haus.
Ein paar Tage hielt diese Ruhe an. Antonia kümmerte sich um Rocky und Miguel, der allerdings kaum zu Hause war. Ab und zu brachte er Kleidung von Carmen mit, in der Rocky sich wohlig schnaufend vergrub, bevor Antonia sie in die Waschmaschine steckte. Dann wurden riesige Blumensträuße angeliefert, die Miguel persönlich im ganzen Haus verteilte und dekorierte, und irgendwann stand Carmen wieder in der Eingangshalle – schmal und blass und durchsichtig, mit einem leise schmatzenden Bündel auf den Armen. Als Rocky freudig winselnd aus dem Garten hereingerannt kam, drückte sie das Bündel Miguel an die Brust und sank schluchzend in die Knie, während Miguel zischte: „Halt die Schnauze, Rocky, du weckst den Kleinen auf...“ Mit beiden Armen umfing Carmen ihren Hund, lachte und weinte, als seien sie beide gerade aus tödlicher Gefahr gerettet, murmelte zärtliche Liebkosungen und drückte ihn an sich, dass ihm die Luft wegblieb. Rocky leckte ihr das Gesicht, wedelte enthusiastisch mit dem Schwanz und entwand sich ihrem Griff. Das Bündel auf Miguels Arm gab kleine gurgelnde Laute von sich, Miguel wiegte es sacht und redete mit geneigtem Kopf und sanfter Stimme mit ihm, und Rocky sprang ihm an den Beinen hoch – er wollte sehen, was sie ihm mitgebracht hatten!
Doch Miguel schüttelte ihn ab und drehte sich weg, während er zwar leise, aber barsch sagte: „Vergiss es, Kleiner! Babies sind für Hunde tabu, kapiert?“ Rocky verstand das nicht, ließ sich aber vor Miguel nieder und beobachtete ihn mit schräg gelegtem Kopf, wie er, das Bündel leise schüttelnd, in der Eingangshalle seine Kreise drehte.
Inzwischen war Carmen im Bad gewesen und wirtschaftete nun in der Küche herum. „Habt Ihr etwa vergessen, für Rocky einzukaufen?“ rief sie Miguel zu, der mit dem Baby auf dem Arm auf der Terrasse stand. „Ich kann hier nur Dosenfutter finden... wo ist denn wohl das Herzragout... oder die Hähnchenschnitzel....?“ Ihre Stimme klang schrill und vorwurfsvoll, und als sie die Kühlschranktür zuwarf und sich mit zusammengekniffenen Lippen zu Miguel umdrehte, fing das Baby an zu weinen. Zitternd hing das feine Stimmchen in der Luft, ratlos und suchend, und Rocky wurde so wehmütig ums Herz, dass er sich Miguel zu Füßen setzte und mit zurückgelegtem Kopf in den Klagegesang einfiel. „Der Hund wird nicht sterben, wenn er mal ein paar Tage lang Dosenfutter frisst“, sagte Miguel, und seine Stimme verriet, dass er um Ruhe bemüht war. „Jetzt hat Dein Sohn Hunger, scheint mir. Vielleicht sollten wir erstmal ihn zur Ruhe bringen....“ „Und? Wo ist sein Fläschchen? Hast du die Tasche nicht mitgebracht? Hat Antonia nichts eingekauft? Himmel, kaum ist man ein paar Tage weg, findet man sich im eigenen Haus nicht mehr zurecht...“ Ihre Stimme kippte, und sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. „Liebling, wenn Du stillen würdest, wäre doch alles so viel einfacher! Willst Du’s nicht doch versuchen? Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät....“ „Nein!“ Carmen fuhr herum und stampfte mit dem Fuß auf die Fliesen. „Ich habe Dir gesagt, ich stille nicht, und dabei bleibt es! Schlimm genug, dass mein Bauch Falten schlägt und für immer verdorben ist, ich lasse mir nicht auch noch den Busen ruinieren!“ Sie riss den Wasserkocher von der Platte, füllte ihn auf und knallte ihn wieder an seinen Platz. „Was ist nun? Holst Du jetzt die Tasche oder nicht?“ Mit dem Kind auf dem Arm drehte Miguel sich um, trat an den Wagen und zerrte einen bunten, quadratischen Koffer vom Rücksitz. Er stellte ihn in der Küche auf die Arbeitsplatte, öffnete ihn mit einer Hand und begann, Fläschchen, Milchpulver, Sauger und Lätzchen herauszuziehen, während er mit sanfter Stimme seinem Sohn erzählte, was er tat. „Und jetzt macht die Mami Dir ein schönes Fläschchen, dann kriegst Du eine frische Windel, und dann machst Du das erste Schläfchen in Deinem eigenen Bettchen...“ „Mach Du ihm das Fläschchen“, sagte Carmen, während sie eine Dose Hundefutter nach der anderen aus dem Schrank holte und grimmig musterte. „Wo steht geschrieben, dass dafür die Mutter zuständig ist, hm? Einer muss sich ja wohl auch um den Hund kümmern, ist ja schließlich auch ein Lebewesen, für das wir die Verantwortung übernommen haben, oder?“
Wortlos studierte Miguel die Anweisung auf der Dose mit Milchpulver. Mit den Zähnen hielt er den Deckel des Fläschchens fest, während er es mit der freien Hand drehte und öffnete. Er mixte Milchpulver und Wasser, drehte das Fläschchen auf dieselbe Weise wieder zu und hielt es unters kalte Wasser, wobei er seine Frau aus dem Augenwinkel beobachtete, wie sie zornig und leise vor sich hin schimpfend mit dem Dosenöffner und Rockys Napf hantierte. Fachmännisch prüfte Miguel die Temperatur der Milch, dann ließ er sich auf dem Sofa nieder, legte sich das Baby im Arm zurecht und ließ es nach dem Schnuller schnappen. Lächelnd sah er auf das kleine Wesen hinunter, als Carmen zu ihm trat, seine Hand mit dem Fläschchen zur Seite stieß und dem Kind ein riesengroßes Lätzchen unter das zarte Kinn schob. „Er spuckt sowieso alles wieder aus, das weißt Du doch“, sagte sie, nahm Rocky auf den Arm und ging in den Garten.
Es war Frühling. Das milde Sonnenlicht hüllte sie ein und tastete sich auf ihrer winterblassen Haut entlang, ließ sie wohlig erschauern und wärmte langsam und mitfühlend ihre angespannten, verkrampften Muskeln. Den Hund an die Brust gepresst stand sie da, starrte auf das blühende Mandelbäumchen, drückte das Gesicht in das schwarze, struppige Fell und ließ die Sonnenwärme den Rücken hinauf- und hinunterrieseln. Mit halb geschlossenen Augen spürte sie ihr nach, wie sie sich ausbreitete in ihr, klitzekleine Wellen schlug und ihr Innerstes umspülte, bis sie zu den Augen aufstieg und ihr die Tränen übers Gesicht rinnen ließ.
Als Miguel seinen Sohn gewickelt und im Körbchen im Wohnzimmer schlafen gelegt hatte, trat er zu Carmen in den Garten und schloss sie sanft in die Arme. Zitternd lehnte sie sich an ihn, rieb das verquollene Gesicht an seiner Schulter und überließ sich dem Schluchzen, das sie schüttelte und rüttelte und von dem sie nicht einmal wusste, woher es kam. Vorsichtig entwand Miguel ihren verkrampften Händen den nass geweinten Hund und setzte ihn auf den Boden. Dann legte er seiner Frau den Arm um die Schulter, drehte sie sacht herum und führte sie ins Wohnzimmer, wo sie sich widerstandslos aufs Sofa betten und mit ihrer Jacke zudecken ließ.
Das Leben im Haus veränderte sich. Nachts schleppte sich Carmen mit verquollenen Augen zwei- bis dreimal in die Küche, mixte ein Milchfläschchen an und fütterte das Baby. Oft schliefen sie alle beide ein dabei, dann musste Rocky Carmen wecken, damit ihr das Kind nicht vom Schoß glitt. Kaum hatte sie den Kleinen gewickelt und in sein Bettchen gelegt, glitt ihre schmale Hand unter Rockys Bauch, hob ihn auf und trug ihn in ihr Bett, wo sie sich auf die Seite kuschelte, den Hund an sich drückte und sofort einschlief. Auch die Tage schien Carmen mehr oder weniger im Bett zu verbringen. Sie stand auf, um Antonia hereinzulassen und sie zu ermahnen, keinen Krach zu machen. Dann ging sie wieder ins Bett. Wenn Santi das nächste Fläschchen verlangte, mixte Antonia es an und brachte das Baby mitsamt dem Fläschchen der Mutter ans Bett. Erst danach stand Carmen auf und ging duschen. Da sie das Haus kaum noch verließ, lief sie tagein tagaus in einem riesigen, ausgeleierten T-Shirt von undefinierbarer Farbe herum, band die irgendwie stumpfen Haare mit einem Gummi zusammen und hockte sich aufs Sofa vor den Fernseher, wo sie geistesabwesend die Füße unter sich zog und erbarmungslos an den Fingernägeln kaute. Wenn Antonia sie überredet hatte, wenigstens einen kleinen Salat oder ein Sandwich zu essen, trollte sie sich anschließend wieder in ihr Bett, aus dem sie auch Rocky nicht entließ. Oftmals versorgte Antonia dann das Baby, weil sie Carmen nicht wach bekam.
An den Wochenenden versorgte Miguel seinen Sohn, und auch wenn die kurzen Nächte ihre Spuren in seinem Gesicht hinterließen, glühte er doch vor Stolz, wenn Santi wieder hundert Gramm zugenommen, wieder ein Stündchen länger geschlafen oder noch ein bisschen lauter gelacht hatte. Miguel liebte es, Besuch einzuladen und seinen Sohn vorzustellen, wie er es auch genoss, ihn im Kinderwagen auszufahren und von Passanten bewundern zu lassen. Manchmal konnte er Carmen überreden, ihn auf diesen Spazierfahrten zu begleiten, doch ihr graues, angestrengtes Gesicht und der stets wachsame, besitzergreifende Hund an ihrer Seite vertrieben die Bewunderer seines Sohnes ganz schnell, und so ging Miguel dazu über, Santi allein auszufahren. Carmen erhob keinen Einspruch.
Rocky hatte schnell verstanden, dass man auf Santi gut aufpassen musste. Wenn er nicht bei Carmen im Bett ausharren musste, hatte er es sich zur Angewohnheit gemacht, vor dem Kinderbett zu liegen und dem Atem, dem Glucksen, dem Lachen und dem Plappern des Kleinen zu lauschen. Er merkte es stets als erster, wenn sich das Kind nicht wohlfühlte. Dann richtete er sich mit den Vorderpfoten an Santis Bett auf und steckte die Nase zwischen den Gitterstäben hindurch. Ein kurzes Schnuppern genügte meist, um ihm zu sagen, ob es ein vorübergehendes Unwohlsein war oder ob er Hilfe holen musste, und mit der Zeit verließ sogar Miguel sich auf Rocky als Babysitter und war sofort zur Stelle, wenn Rocky von der Tür zum Kinderzimmer aus diesen kurzen, hellen Ruf ertönen ließ: „Santi braucht Euch!“ hieß das, und Miguel reagierte sofort. Allerdings ließ er nur schwer erkennen, dass er Rocky für seine Hilfe dankbar war, denn jedes Mal schickte er den Hund mit groben Worten und weit ausholenden Gesten aus dem Zimmer: „Hunde haben im Kinderzimmer nichts zu suchen, das ist unhygienisch! Also – marsch, raus hier, verschwinde!“ Und während Carmen Rocky die kleinen Babyhändchen hinhielt, damit er sie mit seiner flinken Zunge von Keks- oder Bananenresten säubere, schob Miguel ihn mit dem Fuß zur Seite, wenn er sich der Decke, auf der Santi hin- und herrollte, zu sehr näherte. Und das, obwohl Rocky dem Kleinen erst vor kurzem das Leben gerettet hatte: Auf unerklärliche Weise hatte Santi sich unter die schwere Decke verkrochen und den Kopf fest in den dicken Stoff gebohrt, so dass er nicht mehr vor und nicht zurück konnte. Seine strampelnden Beinchen trieben ihn immer weiter in das weiche Dunkel, er bekam kaum noch Luft und seine Schreie wurden zu einer Art Gurgeln, vollständig gedämpft von der dicken Decke über Nase und Mund. Nur Rockys Aufmerksamkeit, seinem gellenden Alarm und dem heftigen Zerren an dem Stoff über dem Kinderkopf war es zu verdanken, dass Miguel den Kleinen noch rechtzeitig hervorziehen konnte. Mit dem schon bläulich verfärbten, würgend nach Luft japsenden Jungen auf dem Arm stürzte er auf die Terrasse, schaukelte das Kind heftig hin und her, schluchzte selbst immer wieder auf und schrie schließlich nach Carmen. Während Santi seinem Schrecken und Entsetzen an der Brust seines Vaters lautstark Ausdruck verlieh, übertraf Miguels Panik die seines Sohnes noch um einiges, und wutschnaubend ging er auf seine Frau los und überbrüllte seinen Sohn: „Wo zum Teufel bist du gewesen? Wie konntest du den Kleinen unbeaufsichtigt lassen? War das Absicht? Willst du ihn umbringen? Dann mach nur weiter so, dann schaffst du’s ... Das darf einfach nicht wahr sein! Ich glaub‘ es nicht... legt das Kind auf die Decke und verschwindet... Hast du überhaupt sowas wie Verantwortungsgefühl?“ Wortlos drehte Carmen sich um, griff Rocky unter den Bauch und hob ihn hoch. Sie schloss die Schlafzimmertür ab, rollte sich auf dem Bett zusammen und drückte den Hund fest an sich.
Mit der Zeit schien jedoch auch Carmen sich mit ihrem Sohn anzufreunden. Als Santi anfing, zu lachen und zu plappern, als seine kleinen dicken Finger begannen, nach allem zu greifen, was Carmen ihm vorhielt, als er sich vom Rücken auf den Bauch und wieder zurückrollen konnte und auf Händen und Knien schaukelte, ruhten ihre Augen immer öfter auf ihm, und in ihr Gesicht kehrte ein bisschen Frieden zurück. Sie setzte sich zu ihm auf den Fußboden, nahm seine kleine Hand und führte sie über Rockys Kopf. „Eiiii!“ machte sie dazu und freute sich, wenn der Junge lachte. Anfangs hatten die kleinen dicken Finger sich immer wieder in dem seidenweichen, schwarzen Hundefell festgekrallt, doch dann war ein Klaps auf die Kinderhand niedergesaust, der sie noch lange danach hatte rot glühen lassen, und Carmens Stimme hatte ein messerscharfes „Nein!“ gefaucht. Das klägliche Weinen des Kleinen ließ Rocky jedes Mal erschauern, und er begann schnell, ihm die dicken Kullertränen von den runden Bäckchen zu lecken, und schon nach kurzer Zeit lachte Santi wieder und gluckste getröstet vor sich hin. Wenn allerdings Miguel zu Hause war, überließ Carmen den Jungen ihm.