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„Wo, bitte, geht’s nach Hause?“ „.. für jeden von uns gibt es auf der Welt einen Menschen, der sein Mensch ist, ...“ sagt die Boxer-Mix-Hündin Jule am Ende ihrer Geschichte in diesem Buch, das ein Buch über Tiere und für Tierfreunde ist, aber kein Tierbuch im eigentlichen Sinne. Vielmehr spielen, genau betrachtet, die Menschen die Hauptrolle, die sich offenbaren in ihrem Verhalten den Tieren gegenüber, indem sie ihnen wohlwollend und gütig, gedankenlos und gleichgültig oder gar grausam und herzlos begegnen. Sehr sensibel und einfühlsam werden hier die Geschichten von Hunden und Katzen erzählt, die ihr Zuhause suchen und finden – alle auf dem Umweg über das eine oder andere Tierheim. So wird der kleine Kater Benny bei seinem Zwischenstop im Katzenheim zum Chronisten verschiedenster Katzenschicksale; so findet Jule, als langweilig gewordenes Weihnachtsgeschenk im Tierheim „entsorgt“; letztendlich doch die ersehnte Geborgenheit, und so sammelt der spanische Jagdhund Samson nach seiner langen Irrfahrt durch die Sierra im Tierheim bei Madrid neue Kräfte für seine Reise nach Deutschland .... Obwohl dieses Buch in wohltuender Weise sowohl auf den Druck auf die Tränendrüsen als auch auf den mahnend erhobenen Zeigefinger verzichtet, ertappt der Leser sich immer wieder dabei, daß seine Gedanken die Tiere auf ihrem Weg nach Hause begleiten – auch lange, nachdem er das Buch aus der Hand gelegt hat.
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Seitenzahl: 211
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Titelseite
Benny
Jule
Carolinchen
Der Große Meister
Samson
Für euch, die Unvergessenen
Impressum
© Christiane Gezeck 2015
www.christiane-gezeck.de
Cover-Zeichnung: Elke Weinberg
Verlag und Vertrieb: Books on Demand Norderstedt
Technische Beratung: Reinhard Gezeck
Für Joschi (1997)
Mein lieber kleiner Benny!
Diese Geschichte ist Deine Geschichte, und ich schreibe sie auf, weil ich immer an Dich denke ……..
***********************
Der Tag, an dem der kleine Kater geboren wurde, war scheußlich. Der Himmel war grau und hing tief über den Straßenlaternen, die den ganzen Tag gebrannt hatten, weil sie nicht wussten, ob es nun Tag oder Nacht war. Schneeregen hatte den Hofplatz vor der Scheune aufgeweicht, und eigentlich war es überhaupt keine Zeit für kleine Katzen, ans Licht der Welt zu kommen.
Aber weder der kleine Kater und seine zwei Schwestern, noch ihre Mutter konnten etwas dagegen tun, und als alle drei liebevoll trockengeleckt und mit energischen kleinen Stupsern unter den warmen, mütterlichen Bauch geschoben worden waren, tranken sie zufrieden die ersten Schlückchen Milch, und weil Geborenwerden sehr anstrengend ist, schliefen sie mittendrin ein.
Und das ist das Beste, was neugeborene Kätzchen tun können, denn nach der Geburt liegt ihr feines Fell ganz dicht am Körper an, so dass es aussieht, als seien sie nackt, und sie müssen lange warten, bis es sie wirklich wärmt: Man friert schon, wenn man sie nur ansieht. Und ihre Augen sind noch so empfindlich, dass sie richtig zugeklebt sind und erst nach ungefähr zwei Wochen langsam aufgehen, und so sind Katzenbabies vollkommen hilflos. Lange Zeit können sie nur Milch bei ihrer Mutter trinken, sich gemütlich unter ihrem Bauch zusammenkuscheln oder traurig fiepsend nach ihr rufen, wenn sie mal eine Maus fangen geht, dem Katzenvater die Ohren leckt oder der Nachbarin die Krallen zeigt, weil sie wieder mal so neugierig war.
Der kleine Kater und seine Schwestern wuchsen sehr langsam heran, weil ihre Mutter nicht sehr viel Milch für die Babies hatte. Nach der Geburt ihrer Kinder war sie immer müde, mochte gar nicht gern aus dem Strohhaufen, der ihr Zuhause war, heraus und dachte sehnsüchtig an die Zeit, in der die Bauersfrau ihr abends eine Schüssel mit warmem Futter in die Tenne gestellt hatte. Seit die Bauersfrau nicht mehr da war, hatte Frau Katze schon mehrmals darüber nachgedacht, ob sie nicht umziehen solle, aber dazu hatte sie gerade jetzt nicht genug Kraft.
Als der kleine Kater und seine Schwestern schon so groß geworden waren, dass sie alles sehen und hören und riechen konnten, was für Katzenkinder wichtig ist, trauten sie sich immer öfter aus ihrem Strohhaufen heraus. Sie jagten sich über die Tenne, leckten ihrer Mutter die Ohren sauber, machten Handstand auf ihrem Rücken und versteckten sich blitzschnell, wenn der alte Hund seine Nase durch die Tür steckte oder der Bauer mit seinen schweren Stiefeln über den Hof schlurfte.
Und dann kam der Tag, an dem der kleine Kater sich zum erstenmal auf den Hof traute! Durch die offene Tennentür schimmerte etwas so Helles, Leuchtendes, dass der kleine Kerl seine Neugier nicht mehr bezähmen konnte. Ganz unauffällig kullerte er einen Stein, mit dem er gerade seine Schwester hatte ärgern wollen, in Richtung auf die offene Tür, schlug ein paar Purzelbäume und landete - schwups! - mitsamt seinem Stein im Hof! Erschrocken kauerte er sich zusammen und kniff die Augen zu. Er drehte die Ohren in verschiedene Richtungen und hoffte, dass er unsichtbar sei. Sein Herz klopfte so laut, dass bestimmt gleich der große alte Hund kommen und ihn zurückjagen würde, und aus der Scheune hörte er, wie seine kleine Schwester ihn flüsternd bei seiner Mutter verpetzte... Sonst tat sich nichts. Tapfer öffnete der kleine Kater das rechte Auge - und machte es gleich wieder zu. Es war so hell hier draußen, dass er es nicht aushalten konnte, aber gleichzeitig spürte er eine solche Wärme auf seinem Fell, dass all seine Angst zu schmelzen schien. Zum ersten Mal in seinem Leben saß der kleine Kater in der Sonne, und er fand es toll! Etwas zupfte in seinen Barthaaren auf der rechten Seite, aber es war nur der Frühlingswind, der um die Ecke huschte, und direkt vor Katers Nase kam etwas Grünes zwischen den Hofsteinen hervor, etwas das zitterte, sich streckte, wackelte, ihn unterm Kinn kitzelte und irgendwie gut roch. Vorsichtig schnupperte er daran, leckte darüber hin und musste lachen, weil es in der Zunge kribbelte, und dann knabberte er es einfach ab - und fraß seinen ersten Grashalm.
Nach und nach erkundete der kleine Kater immer andere Seiten dieses riesigen Hofes, wanderte um die ganze Scheune herum, besuchte den Hund und fiel in die Giesskanne, fing fast einen Spatz und floh schreiend vor einer Ratte, nahm mal die eine und mal die andere Schwester mit und erzählte seiner Mutter aufgeregt, was er wieder entdeckt und angestellt hatte. Müde lächelte sie ihn an, ermahnte ihn, immer schön vorsichtig zu sein und schlief wieder ein.
Der kleine Kater und seine Schwestern waren immer noch sehr klein und hatten auch alle noch blaue Augen, woran man erkennt, dass ein Katzenbaby noch seine Mutter braucht, als sie eines Tages vom Spielen auf die Tenne zurückkamen und der Schlafplatz ihrer Mutter leer war. Alle drei riefen nach ihr, mal laut, mal leise, der kleine Kater forsch und fordernd, die Kätzchen ängstlich und klagend. Sie suchten lange und überall, doch sie fanden sie nicht. Hungrig und müde kuschelten sie sich schliesslich in ihrem Strohhaufen zusammen und beschlossen zu warten, bis ihre Mutter endlich mit etwas Essbarem kommen würde, doch schlafen konnten sie nicht, dazu waren sie zu traurig. Und obwohl der kleine Kater es seinen Schwestern verbieten wollte, zu weinen, obwohl er ihnen tröstend die Öhrchen leckte und seinen Kopf an ihren rieb, obwohl er ihnen von seinen letzten Abenteuern erzählte und genüsslich an einem Strohhalm kaute, dauerte es nicht lange, bis auch er weinend und ängstlich zwischen seinen Schwestern hockte und nichts weiter war als ein kleiner, hungriger, verlassener, armer Kater...
So fand sie am Abend der Bauer. Brummelnd bog er das Stroh auseinander, hob die kleinen Katzen in einen Korb, murmelte etwas wie "verdammtes Viehzeug", humpelte über den Hof und setzte den Korb auf den Trecker. Ohrenbetäubender Lärm liess die Katzenkinder versteinern. Während der Bauer auf seinem Trecker zum Ende des Dorfes knatterte, hätte man nicht sagen können, wo das eine Kätzchen anfing und das andere aufhörte, so eng hatten die drei sich zusammengekuschelt und Augen und Ohren versteckt.
Der Trecker rumpelte auf einen holperigen Hof, und der Bauer stellte von seinem Sitz aus den Katzenkorb auf eine Mauer. "Drei Stück sind's!" brüllte er durch den Motorenlärm einem Mädchen zu, das gerade aus der Haustür trat. "Jubel sie mal einer von Euren unter - vielleicht klappt's ja." Der Motor heulte auf, es stank entsetzlich, und als die drei in ihrem Korb gerade hofften, noch einmal davongekommen zu sein, fühlten sie sich durch die Luft gewirbelt und durchgeschüttelt, und dann beugte sich ein Kopf mit vielen, vielen Haaren zu ihnen herunter, und eine ganz weiche Stimme sagte:"Na, dann wollen wir doch mal sehen, wen wir hier haben..." Nacheinander wurden sie aus dem Korb genommen. Sie zitterten alle drei, aber es tat gar nicht weh, und wie sie so getragen wurden, war es eigentlich ganz angenehm, richtig warm und weich. Doch das Vergnügen war nur kurz, denn schwupp - schwupp - schwupp landete ein Kätzchen nach dem anderen im Stroh, auf einem fremden Boden, bei fremden Geräuschen und fremden Gerüchen - und einer fremden Katze.
Sie drückten sich aneinander und kniffen die Augen zu. Die Kleinste klapperte mit den Zähnen, und dem Kater knurrte der Magen so laut, dass er schluckte und sich noch kleiner machte. Er hörte ein säuselndes Geräusch über seinem Kopf, wagte aber nicht, zu blinzeln. "Soso", hörten sie es brummen, "Ihr seid also Rosis letzte Brut... Nicht viel dran an Euch, muss ich sagen. Naja, viel hatte die arme Rosi ja auch nicht mehr zu geben... Na was, is' das 'ne Begrüßung? Benimmt man sich so in seiner neuen Familie? Los, Augen auf, Kopf hoch - na, wird's bald?!" Schüchtern und zaghaft hoben die Kätzchen die kleinen Köpfe und blinzelten der Stimme entgegen. Was sie sahen, liess sie die Augen gleich wieder zukneifen, denn vor ihnen stand die hässlichste Katze, die sie sich vorstellen konnten: Groß und dürr, keine Haare auf dem Kopf; der rechte Reißzahn wuchs über die Unterlippe, das linke Auge fehlte; der Geruch, der zu ihnen herüber wehte, drehte ihnen die leeren Mägen um, und beim Anblick der Flöhe, die sich auf ihrer neuen Mutter tummelten, juckte es die drei augenblicklich am ganzen Körper. Die Katzenmädchen fingen an zu weinen, leise und verzweifelt, und der kleine Kater zog den Kopf zwischen die Schultern. "Schon gut, schon gut", brummte die alte Katze, "wir werden uns schon zusammenraufen... Nu' woll'n wir erstmal Essen fassen, was?" Gutmütig grunzend schlurfte sie auf die Tenne, hockte sich vor einen gewaltigen Teller und fing an zu schmatzen.
Pfötchen vor Pfötchen setzend, lautlos und geduckt, schlich der kleine Kater näher. Sollte er das wirklich wagen? Was, wenn das eine Falle war? Wenn sie nur darauf wartete, ihre Krallen an ihm zu wetzen? Sein Magen zog sich zusammen, ihm wurde übel. Vor Angst? Oder vor Hunger? - Hunger, Hunger, Hunger!! schrie sein Bauch, und mit zwei Sätzen landete der kleine Kerl am Tellerrand.
"Na, kleiner Mann, Du traust Dich ja was", schmatzte die alte Katze. "Aber für das hier bist Du noch zu klein, das ist Kartoffel, verstehst Du: K-a-r-t-o-f-f-e-l, damit kann Dein Bauch noch nicht umgehen. - Na gut, kommt her, Ihr Würmer ... Mami gibt Euch erstmal was Schönes!" Sprach's, und warf sich ächzend auf die Seite, damit die Kätzchen aus ihren Zitzen trinken könnten. Zwar recht zögernd, doch von ihren knurrenden Mägen unaufhaltsam getrieben, näherten sich die beiden Katzenmädchen der ihnen angebotenen Milchquelle. Doch gerade, als der kleine Kater sich zu ihnen hocken wollte, sah er, wie eine ganze Flohfamilie vom Bauch ihrer neuen Mutter einträchtig auf den Kopf seiner jüngsten Schwester übersiedelte, und sofort fing es an, ihn überall zu jucken. "Och", flüsterte er schüchtern, "ich glaub', ich bin schon groß genug für Kartoffeln... Ich möchte die Dinger auch mal probieren..." Ein gutmütiges Lachen begleitete ihn auf seinem Weg zu dem großen Teller, der inzwischen schon von anderen Katzen fast geleert worden war. Vorsichtig und schnuppernd schob er mit seinem rosa Näschen die Brocken auf dem Teller hin und her, leckte daran, nahm ein Bröckchen auf, liess es wieder fallen und konnte sich nicht entschliessen, wirklich etwas davon zu fressen. Fraßen große Katzen sowas immer? Er konnte sich nicht erinnern, seine Mutter jemals etwas so Seltsames fressen sehen zu haben, aber ein Blick auf seine kleinen Schwestern, die inzwischen damit beschäftigt waren, sich kräftig zu kratzen, machte ihm Mut: Mit weit aufgesperrtem Mäulchen hapste er in die gelblichen Brösel auf dem Teller, freute sich, wenn noch so etwas Weißes dran klebte, das nach Milch schmeckte, und hatte in Windeseile den ganzen Rest verdrückt. "Na, Jungchen, war das nicht vielleicht ein bisschen ausverschämt?" krächzte eine heisere Stimme hinter ihm, und noch ehe er sich richtig umgedreht hatte, flogen ihm zwei Pfoten um die Ohren, dass er erschreckt aufschrie. "Lass den Kleinen in Ruhe, Rufus!" Mit einem einzigen Satz war die alte Katze vor ihm und stoppte den Ansturm der fliegenden Pfoten. "Das is' einer von Rosis, verstehst Du, und jetzt gehört er zu mir!" Ein tiefes Brummen in ihrer Kehle liess Rufus einen Schritt zurückweichen. "Is' ja gut, Klemmi, is' ja gut . Muss 'nem dummen Kater ja gesagt werden, nich'? Is' ja gut, Klemmi, is' ja gut..." Mit diesem Singsang im Maul trollte er sich, den struppigen Kopf nachdenklich hin- und herwiegend. "Hat sich was mit 'Klemmi', Du alter Schwede! 'Clementine' heiß ich immer noch, und daran wirst auch Du nichts ändern, klar? - Armer alter Kerl", sagte sie dann, als sie den kleinen Kater hinter ihrem Rücken herausangelte und ihm tröstend das Gesicht leckte, "wird langsam ein bisschen wunderlich. Is' auch nich' mehr der alte, seit seinem Unfall damals...", und ohne es zu merken, leckte sie ihre eigene Pfote und hatte den kleinen Kater vergessen.
Nach und nach lernten die drei Geschwister ihr neues Zuhause kennen. Bald wussten sie, wem sie trauen durften und wem sie lieber aus dem Weg gehen mussten, sie merkten, wann und wo es etwas zu futtern oder zu stiebitzen gab, und obwohl Clementine wirklich nicht mehr die jüngste war, brachte sie ihnen das Mäusefangen bei, die Hundesprache und die Menschensprache, was alles sehr wichtig ist für junge Katzen.
II.
Der Sommer kam, und es wurde heiß. Manchmal war es so heiß, dass man nicht mal mehr mit den Ohren zucken mochte, um eine Fliege zu verscheuchen. Alle Katzen des Hofes verkrochen sich tagsüber, manche in der Scheune, manche hinterm Haus, andere im Garten, und wieder andere hatten ihre Stammplätze im schattigen Hof. Erst wenn der Abendwind auffrischte und sich leichter Dunst vor die Sonne legte, kam das Mädchen mit den großen Tellern voller Futter aus dem Haus, und dann erst fingen die Katzen an, sich zu recken und zu strecken und sauberzulecken.
Der kleine Kater hatte seinen Platz in einer Mauernische am Hof. Die Mauer war so alt und so dick, dass er sich gut in das kühle Loch schmiegen konnte, in dem ein großer Stein fehlte, und dort verbrachte er die besonders heißen Tage, die, an denen alles nur flimmerte und staubte und die Augen blendete. Nachts ging dann das gesamte Katzenvolk auf die Jagd, und einmal wäre der kleine Kater fast mit dem Fuchs zusammengestoßen, der auf dem Weg zum Hühnerstall war. Mit so einem wilden Kerl wollte er sich aber doch lieber nicht anlegen, drückte sich an der Mauer längs in den Garten und fing sich eine Maus.
An einem Mittwochmorgen fuhr ein funkelnagelneuer, knallroter Wagen auf den Hof. Der Motor machte nicht halb soviel Lärm wie der alte Trecker des Bauern, und wenn zwar auch dieses Auto schrecklich stank und man als Katze kaum noch zu atmen wagte, so zeigte sich doch an seiner Hinterseite eine wunderschöne Höhle, als die Frau, die ausgestiegen war, dort einen großen Karton herausgenommen und die Höhle nicht wieder zugemacht hatte.
Der kleine Kater liebte Höhlen. Besonders solche, in denen er sich richtig lang ausstrecken und alle Viere in die Höhe recken konnte. Zu groß durfte so eine Höhle aber auch wieder nicht sein, dann war es ungemütlich oder man bekam sogar Angst. Diese Höhle hier, hinten in diesem funkelnagelneuen, knallroten Wagen, war genau richtig - nicht zu groß und nicht zu klein, nicht zu hell und nicht zu dunkel, nicht zu kalt und nicht zu warm... also, sollte so ein kleiner Kater nicht vielleicht seinen Mittagsschlaf in dieser wunderschönen Höhle halten? Kaum war die Frage gestellt, war sie auch schon beantwortet, und im schummerigen Schatten des Kofferraums lag wohlig zusammengerollt ein schwarz-braun-beige gemustertes Knäuel, das kaum zu atmen schien.
So tief schlief der kleine Kerl, dass er sich auch von sich nähernden Stimmen nicht stören liess. "Fahr vorsichtig", rief das Mädchen von der Haustür, und die Frau antwortete: "Ich ruf' Dich an, wenn ich zu Hause bin!" und schlug den Deckel des Kofferraums zu.
Stocksteif vor Schreck saß der kleine Kater plötzlich im Finstern. Noch ehe er einen Laut von sich gegeben hatte, ertönte ein entsetzliches Brummen, dann wurde er nach vorne geschleudert und dann wieder nach hinten, er versuchte, sich irgendwo festzuhalten und schrie schliesslich aus Leibeskräften:"Clementine, halt, Clementine! Ich bin hier drin! Hol mich raus! Hilfe, Hilfe, Clementine!" Lange rief und schrie und weinte der kleine Kater, und jedes Mal, wenn das Brummen sich veränderte und er wieder erst nach vorne und dann nach hinten flog und dann alles fast still war für kurze Zeit, hielt er den Atem an, überzeugt davon, dass jetzt Clementine käme, um ihn zu befreien...
Nach einer langen Zeit wurde der kleine Kater müde vom vielen Rufen und Schreien und Weinen. Zum Glück können Katzen im Dunkeln sehen, nicht so gut wie im Hellen, aber doch ziemlich viel. So konnte er sich jedenfalls die Zeit damit vertreiben, seinen Käfig zu betrachten, sich die Krallen am Teppich zu wetzen und an einem alten Handschuh rumzukauen, den er fand. Langsam bekam er nämlich auch Hunger, und vor allem Durst, und jetzt wurde er auch irgendwie wütend, weil ihn keiner hörte und alle das wahrscheinlich auch noch witzig finden würden, dass er sich so hatte überrumpeln lassen... und als plötzlich grelles Tageslicht seine Augen traf, frische Luft auf ihn einströmte und alles Brummen und Rütteln aufgehört hatte, da sprang er mit einem Riesensatz und einem wilden Schrei einfach drauflos! Sein Schrei wurde fast im selben Augenblick erwidert von der Frau, die ahnungslos den Kofferraum geöffnet hatte, und voller Angst suchte er nach einem Versteck. Er quetschte sich durch eine dichte Dornenhecke, riss sich ein Ohr auf und fühlte einen Schmerz in der linken Vorderpfote, rannte weiter im Schatten der Hecke, jagte mit drei Sprüngen über eine Straße und kauerte sich keuchend im Graben zusammen.
Sein Herz raste, in seiner Brust stach es, und seine Beine zitterten wie Grashalme im Wind. Während er sich seine Pfote besah und langsam und vorsichtig an dem Dorn zog, den er sich eingetreten hatte, kreisten seine Ohren in alle Richtungen auf der Suche nach vertrauten Geräuschen. Nichts, nichts war zu hören, was ihm irgendwie bekannt vorkam. Ein ganz kleines bisschen hob er die Nase in die Höhe und schnupperte... nein, auch die Gerüche waren fremd. Kein Hühnergegacker war zu hören, kein Kuhduft wehte zu ihm herüber, nur von ganz, ganz ferne zog der Geruch eines fremden Katers an ihm vorbei.
Er zog den Kopf ein und machte sich klein. Kaum wahrnehmbar robbte er Zentimeter für Zentimeter auf einen überhängenden Busch zu, unter dem er sich fast unsichtbar zusammenkauerte. Er musste warten, bis es dunkel wurde.
Bestimmt war er zwischendurch eingeschlafen, denn er schreckte hoch, als eine dicke Maus ihm fast über den Schwanz hoppelte. Er brauchte gar nicht nachzudenken: Ganz automatisch schoss seine Pfote vor, fuhr die Krallen aus und warf die Maus hoch in die Luft. Und jetzt, da er richtig wach war, spürte er seinen Magen schmerzhafter als je zuvor, was der armen Maus einen schnellen Tod bescherte - nicht einen Haps liess er übrig von ihr!
Gut erzogen, wie er war, säuberte er sich sorgfältig die Barthaare und das Gesicht, bevor er beschloss herauszufinden, wohin es ihn verschlagen hatte.
Langsam und unauffällig streckte er den Kopf aus dem Graben. Es war wirklich fast dunkel jetzt, hier und da brannte sogar ein Licht. Direkt vor ihm lag ein großes Haus auf einem wunderschönen Grundstück: Keine freie Rasenfläche, keine kunstvollen Blumenbeete, nur Wildnis, verwachsene Büsche und riesige Wildkräuterflächen. Ein Jagdparadies für einen hungrigen Kater! Er liess respektvoll einen dicken Igel vorbei und schlich dann lautlos aus dem Graben. Fast willenlos folgte er seiner Nase, die ihn zielsicher zu einem alten Apfelbaum führte, unter dem ein großer Teller mit duftendem Fleisch in leckerer, brauner Soße stand, saftig und frisch und soviel...!!! Fast hätte er alle Vorsicht außer acht gelassen und sich gierig auf diese Köstlichkeit gestürzt, wenn nicht im allerletzten Moment ein strenger Geruch ihn davon abgehalten hätte.
Stocksteif blieb er hocken und wartete. Da! Da kam er. Riesig, mit massigen Schultern und gewaltigem Bauch, mit endlosen Schnurrhaaren und buschigem Schwanz stand er vor ihm. Im Dämmerlicht glänzte sein Fell silbern in elegantem Grau, seine Kopfhaltung war vornehm und seine Stimme tief und voll, als er den kleinen Kater jetzt ansprach: "Nanu, ein Neuzugang? Ja, wohin gehören wir denn wohl, junger Mann?" Er zog leicht die Nase kraus und setzte sich in Erwartung einer gebührenden Antwort. "Ich... ich.... weiß auch nich'..." stotterte der kleine Kater und nahm den Kopf zwischen die Schultern. "Ich bin heute erst angekommen..." fügte er hinzu und wunderte sich selbst über diesen Satz. "Soso, und wo wohnen wir denn?" fragte der Graue, und der kleine Kater schwieg verlegen. "Was-was-was-was-was!!! Keine Antwort? Ist das ein Benehmen? Nennt man das Respekt? - Oder haben wir vielleicht die Adresse vergessen, hm, junger Mann?" Der Graue hatte die Stirn in Falten gezogen und die Stimme deutlich erhoben, und der kleine Kater merkte, dass er etwas sagen musste, wenn er nicht gar zu unhöflich erscheinen wollte. "Nnnein, nicht vergessen", sagte er leise und schluckte schnell dreimal hintereinander. "Ich bin sozusagen verlorengegangen...", und ziemlich stotterig erzählte er dem Grauen die ganze Katastrophe.
Während er so von seinem Elend sprach, wurde ihm erst so richtig bewusst, in was für einer fatalen Lage er sich befand, und seine Stimme begann zu zittern. "Nana, nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird", versuchte der Graue ihn zu trösten. "Dann sind wir jetzt wohl ziemlich hungrig, junger Mann, was? Na, ein bisschen was von meinem Abendessen kann ich wohl entbehren, glaube ich", und mit einer leichten Bewegung deutete er auf den Teller. "Nun, Baron, das wollen wir aber nicht zur Gewohnheit werden lassen, nicht wahr", ertönte da eine Stimme aus dem Hintergrund. "Ah, Großer Meister, schön Sie zu sehen!" Der Graue wandte sich einem alten, majestätischen Kater zu, der wie aus dem Erdboden gewachsen plötzlich an seiner Seite saß. "Darf ich bekanntmachen.... äh, junger Mann, wie heißen wir denn eigentlich?" Erschrocken musste der kleine Kater gestehen, dass er noch nie mit Namen gerufen worden war, was die beiden alten Herren in gutmütiges Lachen ausbrechen liess. "Tja, sowas soll's geben bei der Landbevölkerung", meinte der Große Meister mitleidig. "Ich kannte da mal eine Dame - ich glaube, sie war sogar verwandt mit mir -, die verbrachte Jahre ihres Lebens auf einem Bauernhof, ohne auch nur ein einziges Mal...", und in diese Erzählung vertieft wandten die beiden Herren dem kleinen Kater den Rücken zu, steckten die Köpfe zusammen und waren sehr beschäftigt miteinander.
Gern hätte der kleine Kater jetzt bewiesen, dass Clementine ihn wirklich gut erzogen hatte, aber sein Magen zog sich immer schmerzhafter zusammen, knurrte entsetzlich und schien mit jeder Minute mehr zu schrumpfen..... er konnte es einfach nicht länger aushalten! Mit wenigen Schritten hatte er den Teller erreicht, fraß gierig im Stehen und achtete nicht mehr auf das, was die beiden erzählten....
"Nun, mein Lieber, ich glaube, unser namenloser Freund sollte seinen größten Hunger wohl gestillt haben", raunte der Große Meister dem Baron zu, und laut hüstelnd drehten sie sich um. Der kleine Kater machte einen erschrockenen Satz zurück und sah ihnen verlegen entgegen. "Nun, junger Mann, geht es uns besser?" fragte der Baron gönnerhaft. "Viel gibt es da für uns beide wohl nicht mehr zu teilen, Großer Meister." "Tut mir leid", flüsterte der kleine Kater, "'tschuldigung... aber ich hatte den ganzen Tag noch nichts..." und zu allem Überfluss entflutschte ihm auch noch ein lauter Rülpser. "Mir scheint, es hat ihm geschmeckt!" Der Baron lachte laut auf, doch dann wurde er ernst. "Nun, junger Mann, heute haben wir einem Gast aus einer Notlage geholfen. In Zukunft jedoch, und das wollen wir uns doch gleich mal hinter die Ohren schreiben, sorgt hier jeder für sich selbst, verstanden? Sollte dem Großen Meister oder auch mir selbst vielleicht mal nicht so gut sein, d.h. sollte uns eventuell mal unser gesunder Appetit im Stich lassen - nun, dann soll es uns recht sein, wenn sich auch mal ein namenloser Gast einfindet, aber im Prinzip...!", und die folgende Geste mit der gut gepflegten Pfote liess keinen Zweifel offen. "Ja, natürlich, ich verstehe, vielen Dank!" sagte der kleine Kater, und es war ihm klar, dass die beiden Herren nun unter sich sein wollten. "Auf Wiedersehen", fügte er leise hinzu, "und nochmals vielen Dank!"
Gerade hatte er sich umgedreht und versucht, sich über die Richtung klar zu werden, die er einschlagen sollte, als die Stimme des Großen Meisters ihn zurückrief: "Ich höre, Du bist noch fremd hier, Knabe? Nun gut, ich werde Dir einen Rat geben: Schlag Dich an den Rand der Siedlung in Richtung Osten durch, da findest Du einen Schlafplatz in einem Carport..." Mit einer tiefen Verbeugung bedankte sich der Kater von neuem, senkte den Kopf und schlich davon.
Es war sehr nett vom Großen Meister, ihm diesen Tip zu geben, das wußte er wohl. Nur: Was war eine Siedlung? Und wo war Osten? Und was bedeutete das Wort "Carport"? - Rätsel über Rätsel, und während der kleine Kater noch versuchte, darüber nachzudenken, merkte er, wie müde er nun, da er satt war, von diesem aufregenden Tag geworden war.
Ja, er musste einen Platz zum Schlafen finden, es wurde allerhöchste Zeit. Erst wenn er ausgeschlafen und sich ausgeruht hatte, konnte er mit frischen Kräften darangehen, den Weg nach Hause zu suchen.
Vorsichtig und leise schlich er durch fremde Gärten, machte einen Bogen um jede Laterne und vermied es, erleuchteten Fenstern zu nahe zu kommen. Einmal stiess er auf einen Teich, aus dem er in tiefen Zügen trank, aber einen Schlafplatz, einen, an dem er sich richtig sicher fühlen konnte, fand er nicht. Schliesslich kam er an eine Art Schuppen, in dem ein Auto stand, und obwohl er von denen eigentlich die Nase voll hatte, lockte ihn ein Stuhl, der in der einen Ecke dieses Schuppens stand und der mit einer weichen Decke ausgepolstert war.
Der kleine Kater war zu müde, um noch vorsichtig zu sein. Er sprang auf den Stuhl, rollte zweimal hin und her, legte den Schwanz über die Augen und schlief ein....
"Hey, wer bist Du?" Eine piepsige Stimme weckte ihn in den frühen Morgenstunden. Noch ehe er wußte, wo er war, geschweige denn sagen konnte, wer er war, fuhr die Piepsstimme fort: "Ich mag keine fremden Kater in meinem Carport... Geh weg, oder ich schreie!" Vor ihm saß eine junge Katze, hellsilbern schimmerte ihr Fell, stellenweise fast rosa überhaucht. Ihr Näschen glitzerte in zartem Rot, ihre Augen hatten das dunkelste Grün, das er je gesehen hatte. "Das ist mein Carport, hörst Du, geh weg hier..." forderte sie noch einmal, wich aber vorsichtshalber ein paar Schritte zurück. So sah er, dass sie humpelte. "Was ist mit Deinem Bein?" fragte er, ohne sich ihr vorzustellen. "Das geht Dich gar nichts an, geh endlich!" piepste die Katze. Gehorsam sprang er vom Stuhl, und die Kleine wich weiter zurück. "Entschuldige, ich wußte nicht, dass Du hier wohnst", sagte der kleine Kater und setzte sich. "Ich bin gestern erst angekommen, und ich kenne mich hier noch nicht aus." "Naja, kann ja mal passieren", räumte die Katze ein, "aber nun weißt Du's, und nun geh!"
Langsam machte er sich auf den Weg aus dem Carport, drehte sich aber nochmal um und fragte: "Hast Du einen Namen?" "Klar hab' ich einen Namen." Die kleine Katze schien empört. "Bellinda heiß ich - und Du?" Er tat so, als habe er ihre Frage nicht gehört, und als er ging, schickte sie ihm halb entrüstet, halb enttäuscht ein leises "Flegel!" hinterher.
Bald würde die Sonne aufgehen, und der kleine Kater musste sich überlegen, wie er nach Hause zu Clementine und seinen Schwestern kommen konnte. Er suchte die Stelle, an der er aus dem Wagen gesprungen war, doch als er sie gefunden hatte, stellte er fest, dass sie auf der anderen Seite der Straße lag. Und auf dieser Straße rollte jetzt ein Auto hinter dem anderen her, manchmal fuhren sogar zwei nebeneinander, und sie machten schrecklichen Lärm, und die Luft zitterte, wenn sie an ihm vorbeisausten, und der Gestank war unerträglich. Wie sollte er dort hinüberkommen? Und was sollte er machen, wenn er hinübergekommen wäre? Wohin müsste er dann gehen?
Er hob die Nase in den Wind und schnupperte. Ganz langsam drehte er sich rundherum, schnupperte immer wieder, hob die Nase noch ein Stückchen höher und sog die Luft tief ein. Nichts! Aus keiner Richtung kam ein Geruch, der ihm auch nur irgendwie vertraut vorgekommen wäre. Nur fremde Gerüche und fremde Geräusche umgaben ihn, und ratlos blieb er am Straßenrand sitzen.