Montags, 18.30 Uhr - Christiane Gezeck - E-Book

Montags, 18.30 Uhr E-Book

Christiane Gezeck

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Beschreibung

Wenn einem das Wasser bis zum Hals steht - was tut man dann? Man beginnt zu schwimmen. Und wenn man’s noch nicht kann, wird es allerhöchste Zeit, es zu lernen. Das gleiche gilt fürs Reden. Wer sich zeitlebens hinter dem urväterlichen Dogma „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“ versteckt, weil er sich dort in Sicherheit wähnt und man ja schließlich nicht sein Herz auf der Zunge trägt, wird nie erfahren, welch glückbringende Befreiung es bedeutet, „frei von der Leber weg“ reden zu dürfen - und dabei noch auf Verständnis und Zuneigung zu stoßen. Doch das erleben Katharina, Renate, Jana, Maria und Magda, als sie beginnen, wenn sie sich montags um 18.30 Uhr treffen. Katharina sieht sich selbst als „Kuli“ und droht, unter der Last des ihr aufgebürdeten Schicksals zusammenzubrechen; Jana, von der Willkür ihres dominanten Vaters gezeichnet, wird von Alpträumen geschüttelt; Renate versucht, allen Kränkungen zum Trotz auch ohne ihren Mann tief durchatmen und den Kopf oben behalten zu können. Und Maria und Magda? Was hat sie, die doch in sich zu ruhen scheinen und den Gleichmut gepachtet zu haben, veranlasst, sich hilfesuchend an diesen Kreis zu wenden? Sie lachen zusammen, sie weinen zusammen, sie trommeln sich die Seele aus dem Leib und sie erschaffen ein gewaltiges Gemälde, und irgendwann steht dem erhobenen Zeigefinger aus Omas Tagen ihr eigenes, neues (Lebens-)Motto gegenüber: „Schweigen ist Silber, Reden ist Gold.“

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Wer psychologische Romane verfassen und über Menschen schreiben will, hält sich am besten zwei Katzen.

Aldous Leonard Huxley

Inhaltsverzeichnis

Prolog

15. Februar

22. Februar

Renate

Katharina

1. März

Katharina

8. März

Norbert

Maria

Holger

15. März

Magda

22. März

Renate

5. April

Maria

12. April

Magda

Maria

19. April

Katharina

Renate

26. April

Zwei Jahre später - 15. August

PROLOG

„Ich geh da nicht hin.“

„Ach, komm. Sei kein Frosch.“

„Da sitzen lauter fremde Menschen und starren mich an.“

„Du bist ihnen doch mindestens ebenso fremd wie sie dir. Also starrst du einfach zurück.“

„Ich kann das nicht. Ich bin nicht gemacht dafür.“

„Wofür bist du nicht gemacht? Fürs Zuhören?“

„Doch, das kann ich gut. Aber mein Innerstes nach außen zu kehren, mein Seelenleben vor Menschen auszubreiten, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe - das kann ich einfach nicht. Und das will ich auch nicht! Du weißt doch, was Oma schon immer gesagt hat: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold!“

„Eben - das hat Oma gesagt. Vor einer kleinen Ewigkeit. Meinst du nicht, dass sich dieser Spruch inzwischen ins Gegenteil verkehrt haben könnte? Schweigen ist Silber, Reden ist Gold?“

„Hm ....?“

„Versuch‘s doch einfach mal. Montag, 18.30 Uhr!“

15. Februar

Die Stühle in dem halbdunklen Raum sind im Kreis aufgestellt, in seiner Mitte flackern auf Holztellern festgeklebte Kerzen, ihre Flammen verzerren sich in Schräglage, sobald sich jemand bewegt. Als Magda eintrifft, bleibt sie einen kurzen Augenblick in der Tür stehen, bis sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt haben. Ein Blick in die Runde scheint ihre Befürchtungen zu bestätigen: Der Kurs wird übervoll. Instinktiv orientiert sie sich nach rechts, was ihr die weniger besetzte Seite zu sein scheint, legt ihre Tasche auf einem Stuhl ab und schält sich aus der regennassen Jacke.

Sorgfältig achtet sie darauf, der rundlichen Frau auf dem Stuhl neben ihr nicht zu nahe zu kommen, denn die starrt mit fest zusammengekniffenen Lippen auf ihre Hände, die sie zwischen den Knien eingeklemmt hat. Magda murmelt ein leises „Guten Abend“, das schmallippig beantwortet wird, dann wendet sie sich der Frau zu, die munter plappernd in der Mitte des Stuhlkreises steht. Die wildgelockten Haare haben sich aus dem roten Gummiband gelöst, und in dem unförmigen grauen Strickmantel, der ihr bis an die Knie reicht und dessen Ärmel ihr immer wieder über die Hände rutschen, erinnert sie Magda an die Betreiberin des Öko-Marktes in ihrer Straße. Kaum spürt sie Magdas Blick auf sich ruhen, wendet sie sich um und geht mit weit geöffneten Armen auf sie zu.

„Hallo, ich bin die Vera, ich freue mich, dass du da bist!“ Magda spürt, wie sie sich versteift, streckt Vera aber tapfer lächelnd eine Hand entgegen und sagt: „Hallo, ich bin Magda, ich glaube, wir haben telefoniert?“ „Aber ja, Magda! Natürlich, ich erinnere mich!“, jubelt Vera, drückt Magdas Hand herzlich und kraftvoll und wirbelt herum, um zwei Neuankömmlinge zu begrüßen.

Zu ihrem Stuhl zurückgekehrt, müht sie sich, ihre Tasche darunter zu verstauen, während sie aus dem Augenwinkel die beiden Frauen beobachtet, die Vera jetzt in Empfang nimmt. Die kleinere von beiden schreitet die Runde ab, reicht jedem der Wartenden die Hand und begrüßt sie herzlich lächelnd. Da sie die rechte Hand leicht angewinkelt vor die Brust drückt, reicht sie Magda die Linke, was sich fremd anfühlt.

Kurz bevor Vera die Tür zum Flur schließt, eilt noch ein Mann herein, wirft hastig einen Blick in die Runde und quetscht sich auf den Stuhl links von Magda. Er zerrt ein Taschentuch aus der Tasche, fährt sich über Stirn und Nacken und tupft sich dann die Spuckefäden aus den Mundwinkeln. Dann zupft er an den Manschetten seines Oberhemdes herum und versucht, sie bis auf die Hände zu ziehen. Schließlich steckt er beide Hände unter die Oberschenkel und bleibt darauf sitzen.

Magda schlägt die Beine übereinander, verschränkt locker die Hände vor der Brust und sieht Vera über den Rand ihrer Brille hinweg erwartungsvoll entgegen, als die jetzt ihren Platz am Fenster einnimmt. In dem Moment jedoch, in dem Ruhe einkehrt, springt sie auch schon wieder auf und kehrt mit einem großen Schritt in die Mitte des Stuhlkreises zurück.

Sie schickt einen funkelnden Blick in die Runde. Sie strahlt, sie glüht geradezu, drückt beide Hände aufs Herz und holt tief Luft. „Ich freue mich sehr, euch alle hier heute Abend begrüßen zu dürfen!“, beginnt sie, und fast scheint es Magda, als zittere ihre Stimme ein wenig. „Mit einer solchen Resonanz hatte ich nicht gerechnet, als ich mich mit meiner Idee, eine Gesprächsrunde ins Leben zu rufen, an die Volkshochschule wandte. Im Gegenteil, wir haben diesen Versuch gestartet mit der Befürchtung, dass dieser Kurs womöglich mangels Masse gar nicht zustande käme, und nun bin ich völlig erschlagen, wenn ich mich umsehe und in eins, zwei, drei ....“, mit ausgestrecktem Zeigefinger zählt sie das Rund des Kreises ab, „... siebzehn Paar Augen sehe und in ihnen die Frage lese, was euch hier wohl erwartet.“

Vera macht eine Pause, in der sie mit zusammengelegten Händen lächelnd von einem zum anderen blickt. „Ja, ‚Entspannung und Gespräch‘, so haben wir diesen Kurs genannt, und natürlich möchtet ihr wissen, was ihr euch darunter vorzustellen habt. Als erstes und wichtigstes möchte ich dies vorwegschicken: In meinen Kursen duzen wir uns. Das ,du‘ schafft Vertrauen, Vertrautheit, es bewirkt, dass wir liebevoll und fürsorglich miteinander umgehen, es schafft Nähe auf direkte, unverfälschte Art.“ Ein bedeutungsvoller Blick wandert über den Kreis der Zuhörer hin.

„Doch zunächst möchte ich euch kurz etwas zu meiner Person sagen, damit ihr überhaupt wisst, mit wem ihr es zu tun habt.“ Wieder nickt sie lächelnd von einem zum andern, lässt dann die Hände sinken und kehrt zu ihrem Platz am Fenster zurück. „Nun, wie ihr es ja auch schon dem Programmheft der VHS entnommen haben werdet, bin ich Sozialpädagogin, Diplomsozialpädagogin, um genau zu sein. Seit der Geburt meiner Tochter bin ich freiberuflich tätig, das heißt, ich arbeite mit der Volkshochschule zusammen, mit den Krankenkassen und anderen Organisationen, stehe aber auch jederzeit für Einzelgespräche oder -therapien zur Verfügung. Wenn also jemand von euch mehr für sich tun möchte, als wir ihm in dieser Runde bieten können, darf er sich selbstverständlich jederzeit vertrauensvoll an mich wenden. Es ist alles nur eine Frage der Absprache.“ Ein schneller Blick nach rechts und links zeigt Magda, dass alle siebzehn Augenpaare fest auf die im Schoß ruhenden, zusammengelegten Hände gerichtet sind.

„Nun ja“, fährt Vera vielleicht ein wenig zu hastig fort, „im Rahmen dieses Kurses, der ja ein Selbsthilfekurs ist, das heißt also Hilfe zur Selbsthilfe bieten soll, wollen wir uns zwei großen Themen widmen: der Entspannung und dem Gespräch. Was die Entspannung betrifft, so möchte ich euch mit verschiedenen Techniken bekanntmachen, die leicht zu erlernen und jederzeit und problemlos zuhause oder unterwegs anzuwenden sind. Ihr werdet überrascht sein, welche Auswirkungen eine tiefenwirksame Entspannung, angefangen bei der richtigen Atmung bis hin zur Muskelrelaxation, auf euer gesamtes Leben haben kann. Darauf dürft ihr euch wirklich freuen.“

Sie nickt bekräftigend und stellt beide Füße fest auf den Boden. „Und natürlich dürft ihr euch auch auf den zweiten, nicht weniger wichtigen Teil unserer Arbeit freuen: das Gespräch.“

Einige der Teilnehmerinnen schlagen die Beine übereinander oder wickeln die Füße um die Stuhlbeine, setzen sich gerade auf oder streichen sich die Haare aus dem Gesicht. Aus dem Augenwinkel bemerkt Magda, wie ihr Sitznachbar sich kurz mit dem Taschentuch über die Stirn fährt.

„Wie ich ja schon einigen von euch am Telefon sagte, haben wir uns verschiedene Ziele gesteckt: Wir wollen lernen, uns zu öffnen, das heißt, wir wollen nicht nur lernen, dem anderen unsere Aufmerksamkeit zu schenken, ihm aktiv zuzuhören und ganz bei ihm oder ihr zu sein, sondern wir wollen auch lernen, das in Worte zu fassen und in Form von Worten loszulassen oder sogar preiszugeben, was uns und unser Sein einengt, was uns in unserer geistigen und seelischen Bewegungsfreiheit und Entwicklung einschränkt oder hemmt und uns vielleicht schon seit langer Zeit belastet und beschwert.“

Vera macht eine Pause. Ihr Lächeln ist sanft und begütigend, sie nickt dem einen oder der anderen aufmunternd zu und seufzt dann tief auf: „Doch nun genug der Vorrede - lasst uns beginnen!“

Unruhe macht sich breit, man räuspert sich, ändert die Sitzposition, greift nach dem Taschentuch. Vera hält einen kleinen gefilzten Ball hoch. „Dies hier ist unser ,Redeball‘, ich habe ihn gestern mit meiner Tochter zusammen extra für euch gemacht.“ Sie erntet dankbares Lächeln. „Wer immer diesen Redeball in Händen hält, ist befugt und aufgefordert, zu .... na?“ Sie wendet sich erwartungsvoll nach rechts. „Na? Was tun wir wohl, wenn wir den Redeball bekommen?“, fragt sie die Frau in der roten Lederjacke. „Reden vermutlich“, antwortet die, und ihr Ton macht deutlich, dass ihr persönlich gerade nicht danach zumute ist.

„Richtig!“, freut sich Vera. „Wer den Redeball erhält, ist aufgefordert zu reden. Und damit wir uns erst einmal überhaupt kennen und mit Namen anreden lernen, schicken wir unseren kleinen Ball in der Runde herum. Namen können wir uns leichter und besser merken, wenn wir sie mit einem Begriff verknüpfen können, und so schlage ich vor, dass sich jeder zu seinem Namen einen Begriff überlegt, der mit demselben Anfangsbuchstaben wie sein Name beginnt. Also, ich sage jetzt einfach mal: ,Ich bin Vera-Veritas!‘“

Sie lacht laut auf und reicht den Filzball weiter an ihre rechte Sitznachbarin. Die junge Frau rutscht auf ihrem Stuhl hin und her, bekommt hektische rote Flecken auf den Wangen und flüstert dann: „Barbara-Rhabarber.“ Magda, die Mühe hat, überhaupt etwas zu verstehen, beißt sich auf die Lippen. „Okay, Barbara, ich fürchte, ich hab‘s nicht richtig erklärt“, begütigt Vera-Veritas schnell. „Vom Klang her hast du natürlich Recht, ,Barbara‘ und ,Rhabarber‘ haben wirklich viel Ähnlichkeit miteinander. Aber ich dachte eher daran, dass auch der Begriff, mit dem wir deinen Namen in Verbindung bringen können, mit demselben Buchstaben beginnen sollte wie dein Name, also mit ,B‘, verstehst du?“

Als sie sieht, dass die junge Frau bereits mit den Tränen kämpft, lenkt sie schnell ein: „Wie wär‘s mit, Barbara-Barbecue‘? Könnten wir uns damit anfreunden?“ Sie streicht Barbara sanft über den Arm, und während auf der anderen Seite des Kreises ein dicker Mann heftig applaudiert, nimmt Vera-Veritas Barbara-Barbecue den Filzball aus der Hand und reicht ihn weiter rechtsherum.

Von den siebzehn Personen, die da im Halbdunkel im Kreis herumsitzen, sind vierzehn Frauen. Magda lauscht den abenteuerlichsten Kombinationen - „Sybille-Sardelle“, „Christa-Chaos“ und „Monika-Mondgesicht“ sind nur einige davon - während sie plötzlich feststellt, dass sie nicht die geringste Idee hat, welchen Begriff sie mit ihrem eigenen Namen kombinieren könnte.

„Magda-Magen“ denkt sie, weil der sich bei dieser Erkenntnis wie üblich in ihrem Inneren zusammenknäuelt. „Magda-Masern“, weil die Masern ihr die Sehfähigkeit ihres linken Auges geraubt haben. „Magda-Maultasche“, weil sie die so gerne isst. Und dann plötzlich hört sie Lenas Stimme ganz dicht an ihrem Ohr, sieht das Zwinkern in ihren Augen und fängt fast an zu lachen, als sie das verschwörerisch gemurmelte „Magda-Mausezahn“ hört - Trost und Aufforderung zugleich.

Die Männer heißen „Rüdiger-Rübezahl“ und „Holger-Hotzenplotz“, was Veras uneingeschränkte Bewunderung hervorruft, nur der kleine Mann neben Magda, der sich, je näher die Reihe an ihn kommt, desto heftiger über Gesicht und Nacken wischt, bleibt stumm, als er den Redeball in Händen hält. Sein Mund öffnet und schließt sich wieder, von der Seite kann Magda die Spuckefäden sehen, die sich in seinen Mundwinkeln dehnen und wieder zusammenziehen. Vera lächelt ihm aufmunternd zu.

Der kleine Mann setzt sich gerade hin, räuspert sich ein ums andere Mal und stammelt schließlich: „I...i....ich bin d...d...der Norbert, u....u...und mir f...f....fällt k...k...kein Begriff ein.“ - Betretenes Schweigen. Nur der dicke Holger-Hotzenplotz kann sich das Grinsen nicht verkneifen, erntet dafür allerdings einen tadelnden Blick von Vera-Veritas. „Ganz ruhig, Norbert“, sagt diese denn auch, „gaaaanz ruhig. Alles ist gut. Niemand drängt dich. Lass dir Zeit, Norbert, wir haben alle Zeit der Welt.“

Diese Beteuerungen scheinen wenig Eindruck auf Norbert zu machen, unaufhörlich fährt sein großes Taschentuch über sein kleines Gesicht, dann zupft er wieder an seinen Manschetten. „Nun?“, wendet Vera-Veritas sich hilfesuchend an die Runde. „Fällt jemandem etwas ein, das wir mit Norberts Namen in Verbindung bringen könnten?“

Nach kurzem Zögern meldet Sybille-Sardelle sich. Sie hebt den Finger wie in der Schule, zögernd und eigentlich doch nicht wirklich. „Ja ... bitte!“, freut sich Vera-Veritas, und es ist offensichtlich, dass sie Sybille-Sardelles Namen grad nicht parat hat. „Was schlägst du vor?“ Sybille-Sardelle lächelt verschämt, dann haucht sie: „Wie wäre es mit Norbert-Nordpol?“ Vera-Veritas ist begeistert, die Runde atmet erleichtert auf, und ab sofort ist Norbert ,Norbert-Nordpol‘, ob es ihm nun passt oder nicht. Magdas „Mausezahn“ erntet das zu erwartende Gelächter, und so fehlt nur noch die rundliche Frau neben ihr, die nun die Hände zwischen den Knien hervorzieht, vorsichtig den Blick hebt und dann mit erstaunlich tiefer Stimme sagt: „Ich bin Renate-Regen.“

„Wunderbar!“ Vera-Veritas klatscht in die Hände, bedankt sich bei allen Teilnehmern und wirft den Redeball leicht in die Luft. Als sie ihn wieder aufgefangen hat, wird sie ernst. „Ich bitte euch, euch die Namen gut zu merken, denn es wird ein Weilchen dauern, bis wir uns alle kennengelernt haben und uns mit Namen anreden können. Und um all unsere guten Ideen zu festigen, schlage ich vor, dass wir jetzt eine kleine Kreuz-und-quer-Runde, eine kleine Abfrage-Runde einlegen. Ich werfe unseren Redeball jetzt dir da drüben zu ...“, sie trifft Christa-Chaos mitten zwischen die Augen, „und sage dir, wie du heißt: Christa-Chaos!“ Christa-Chaos schnellt hoch, fischt den Redeball zwischen den Kerzen heraus und kehrt zu ihrem Stuhl zurück. Mit dem Ball in der Hand blickt sie suchend in die Runde.

„Schnell, Christa“, ruft Vera-Veritas, „das muss ganz schnell gehen. Zack - zack - zack!“ Christa-Chaos wirft den Ball Renate-Regen in den Schoß, ruft „Renate-Granate“ und presst die Lippen fest aufeinander, als das Gelächter über sie hereinbricht.

Aber jetzt kommt Schwung in die Runde: Renate-Regen ruft Eva-Elfe, Eva-Elfe gibt weiter an Norbert-Nordpol, Norbert-Nordpol stammelt Jana-Jaguar, die legt den Ball Maria-Mandarine in den Schoß, von Maria-Mandarine wandert der Ball zu Katharina-Kuli, von ihr zu Magda-Mausezahn und von dort zu Charlotte-Champagner. Vera-Veritas platzt fast vor Stolz auf ihre Truppe, und wirklich haben sich innerhalb kürzester Zeit so etwas wie Leichtigkeit und Vertrautheit ausgebreitet.

Nach der dritten Runde machen sich erste Ermüdungserscheinungen bemerkbar, und Vera-Veritas macht Rüdiger-Rübezahl Zeichen, ihr den Redeballl zuzuspielen. „Ich denke, wir haben heute schon ganz viel geschafft“, beginnt sie. Ihr Blick wandert über lächelnde Gesichter, leicht gerötete Wangen und glänzende Augen. „Wir haben uns neue Namen gegeben, die vielleicht, ganz vielleicht ja sogar wirklich in irgendeiner Beziehung zu unserer Person, unserem Schicksal oder unseren Wünschen stehen; wir haben uns einander zugewandt und uns vertraut gemacht, wir haben zusammen gelacht und hatten zusammen Spaß.“ Zustimmendes Nicken von allen Seiten. „Wir haben uns zusammengefunden unter dem Motto ,Entspannung und Gespräch‘. Nun, das Gespräch will, wie ich ja schon angedeutet habe, gut vorbereitet sein, aber die Entspannung möchte ich euch nicht vorenthalten, damit können und werden wir noch heute beginnen.“

Sie greift hinter sich und drückt eine Taste des CD-Players, der dort auf der Fensterbank steht. Gleich darauf ertönt Wellenrauschen, leise und gleichmäßig, das irgendwann übergeht in zart hingehauchte Klaviermusik, unmelodisch, aber harmonisch.

„Bitte setzt euch bequem hin“, fordert Vera-Veritas die Gruppe auf. „Stellt die Füße fest auf den Boden und erdet euch. Legt die Hände offen und locker auf eure Oberschenkel. Schließt die Augen. - Du bist ganz ruhig. Du bist ganz bei dir. Dein Atem fließt leicht und regelmäßig. Du atmest ein, du atmest aus, ein und aus, ganz gleichmäßig, ohne dein Zutun. - Und wir beginnen unsere Reise durch den Körper ...“

Ihre Stimme gleitet durch den Raum, sanft und geschmeidig, ohne Höhen und Tiefen, ohne Ecken und Kanten. Das Klavier leitet und führt nicht nur ihre Stimme, sondern auch die Bilder in Magdas Kopf, gegen die sie sich nicht wehren kann, die heranbranden wie die Wellen an den Strand. Sie sitzt hoch aufgerichtet, die Füße dicht nebeneinander und fest auf dem Boden, die Hände mit den Handflächen nach oben locker auf den Oberschenkeln ruhend. Sie lauscht auf ihren Atem, versucht, ihn so zu steuern, dass er gleichmäßig kommt und geht. Doch er entzieht sich ihr, macht sich selbständig und verstolpert sich. Sie öffnet den Mund und reckt den Kopf. Luft! Luft! Sie reißt die Brille herunter, fährt sich mit den Händen übers Gesicht. Es ist nass, tränennass. Mit hämmerndem Herzen wartet sie, dass Vera die Übung beendet und die Gruppe zurückführt ins Hier und Jetzt.

„Wir recken und strecken und räkeln uns nach Kräften“, fordert Vera sie auf und geht mit gutem Beispiel voran. „Schüttelt euch und rüttelt euch und genießt die Frische, die euch durchströmt!“ Als sich alle wachgerüttelt und - geschüttelt haben, leitet Vera die Abschlussrunde ein. „Wie geht es dir, wie fühlst du dich .... Maria-Mandarine?“ Jeden einzelnen befragt sie, jedem einzelnen wünscht sie eine gute Heimfahrt und eine gute Zeit. Jeder einzelne bedankt sich lächelnd, ruft, flüstert oder nickt ein „Tschüß“ in den Raum - und ist verschwunden.

Als Magda ihr Auto startet, ist sie entschlossen, ihre Anmeldung zu dem Kurs zurückzuziehen.

Maria

Maria schließt die Haustür auf und tastet nach dem Lichtschalter. Im Flur glimmt zögernd die kleine Lampe mit der Energiesparbirne auf. Mit der Hand am Schalter verharrt sie einen Augenblick, sieht ihren Mann, wie er dort auf dem Küchenhocker stehend die Birne austauscht und lächelt.

„Ich bin wieder da, Lieber“, flüstert sie und dreht sich zurück zur Tür, wo sie zunächst die Kette vorlegt und sich dann bemüht, die Tür abzuschließen. Es dauert immer eine kleine Ewigkeit, sie muss sich konzentrieren, um mit der linken Hand zielgerichtete Bewegungen auszuführen, auch die Kraft fehlt ihr oft, die ihr damals in der gesunden Rechten zur Verfügung stand. Aber sie ist zäh, sie gibt nicht auf. Langsam nimmt sie die Brille von der Nase und haucht die beschlagenen Gläser an, dann setzt sie sie genauso langsam wieder auf.

„Ich habe dir etwas mitgebracht.“ Ihre Linke sucht nach der Jackentasche, gleitet hinein und holt ein grünes Plastikfeuerzeug heraus. „Es lag vor dem Radiogeschäft auf dem Bürgersteig, und es funktioniert noch, glaube ich.“ Sie legt es auf das wollene Deckchen des kleinen Garderobentisches und beginnt, den Reißverschluss ihrer Jacke zu öffnen.

„Das scheint eine nette Runde zu sein“, sagt sie leise, als sie die Straßenschuhe gegen die leichten Hausschuhe tauscht. „Es sind sogar drei Männer dabei!“ Über die Schulter hinweg wirft sie ihm ein kleines Lächeln zu, schaltet in der Küche das Licht ein und öffnet den Hängeschrank über der Spüle. Das untere Regal ist gefüllt mit Senfgläsern, zwei Schichten à zwanzig Stück, fein säuberlich aufeinander gestapelt. Sie nimmt eines heraus, lässt lauwarmes Wasser hineinlaufen und nimmt es mit ins Wohnzimmer. Im Vorbeigehen rückt sie die neben der Anrichte aufgestapelten Fotokalender zurecht, der Stapel ist so hoch, dass er manchmal droht umzukippen.

Es ist frisch hier im Zimmer, selbst an diesem trüben Tag Mitte Februar hat sie die Heizung bereits mittags abgesenkt, doch unter der Fleecedecke, die Lea ihr zum Nikolaus geschenkt hat, wird ihr schnell warm. Sie nimmt einen kleinen Schluck Wasser, sieht über den Rand des Glases hinweg zu ihm hinüber und sagt: „Es sind 17 Kursteilnehmer, Lieber, stell dir das vor! 14 Frauen und 3 Männer. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir bereits am nächsten Montag nur noch 12 sein werden. Soll ich dir sagen, wer meiner Meinung nach gleich nach dem ersten Abend die Fahne streichen wird?“ In Gedanken geht sie die Runde noch einmal durch, lächelt den Teilnehmern freundlich zu, ermuntert hier, besänftigt dort - und verabschiedet sich, wo es unumgänglich scheint. „Sie sind noch nicht soweit, Lieber, weißt du?“ Sie nippt an ihrem Wasser, lässt die einzelnen Gesichter an ihrem geistigen Auge vorüberziehen und sagt: „Und zwei sind dabei, die werden niemals soweit sein.“

Erschrocken hält sie inne. Die Worte stehen im Raum und lassen sich nicht zurücknehmen, doch dann schaut sie ihn an, sieht das Funkeln in seinen Augen und das Versprechen, dass er sich kümmern wird. Natürlich. Wie immer. „Danke, Lieber!“ Erleichtert lächelt sie zu ihm hinüber. „Ich wusste es.“

22. Februar

„Wie schön, euch zu sehen!“ Vera-Veritas lächelt jedem einzelnen zu, während sie sich entspannt zurücklehnt und die Hände im Schoß ruhen lässt. Renate blickt sich um. Von den siebzehn Stühlen, die Vera-Veritas aufgestellt hat, sind außer dem, an dem Veras Tasche hängt, nur elf besetzt. Sie selbst traf soeben als letzte ein, stand schon vor verschlossener Tür und musste um Einlass bitten - es kann also theoretisch niemand mehr kommen.

Fünf von siebzehn, das sind ... wie viel Prozent? Ihr normalerweise unbestechlicher Verstand hält sich gerade bedeckt. Mutwillig? Sie beschließt, dem nachzugehen, sobald sie die Gelegenheit dazu hat. Während sie ihre Tasche unter dem Stuhl verstaut und das kurze aschblonde Haar mit beiden Händen zurückstreicht, versucht sie, diese Aufgabe abzuspeichern, gibt jedoch irritiert auf, als sie Rüdiger-Rübezahls Blick auf sich gerichtet fühlt. Sie begegnet diesem Blick, erwidert ihn, ohne mit der Wimper zu zucken und drückt den Rücken gegen die Stuhllehne, während Rüdigers Augen unter der heute etwas schmierigen Stirnlocke zum Fenster hin abdriften, als er die Arme verschränkt und betont lässig die Beine übereinander schlägt.

Sie wendet sich Vera zu, die sie gerade willkommen heißt. „... und bevor wir uns jetzt gleich noch einmal mit Hilfe unseres Redeballs unsere Namen ins Gedächtnis rufen, möchte ich zu gern wissen, wie euch unser erster gemeinsamer Abend ,bekommen‘ ist“ - sie schreibt mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft - „und ob ihr vielleicht sogar hin und wieder daran zurückgedacht habt. Ich würde mich freuen, wenn jede beziehungsweise jeder von euch ganz kurz schildern könnte, wie es euch gerade geht, was euch beschäftigt, ob euch etwas belastet und was ihr euch vom heutigen Abend wünscht. Das nennen wir ,das Blitzlicht‘, und das wollen wir in Zukunft vor jedes unserer Treffen stellen.“

Sie schickt einen Block und einen Stift auf die Reise, das heißt sie bittet Eva-Elfe, die heute rechts von ihr sitzt, die vorbereiteten Spalten auszufüllen und den Block dann weiterzugeben. Eva-Elfe tut sich schwer, muss noch mehrmals mit Vera-Veritas tuscheln und sich Rat holen, dann reicht sie den Block erleichtert lächelnd an Christa-Chaos weiter. Christa greift gierig nach Stift und Papier, lässt die Augen hin- und herhuschen und füllt die Spalten mit kühnen Schwüngen und Strichen. Ohne ihn anzusehen, drückt sie Holger-Hotzenplotz beides vor die Brust.

„Wir anderen können die Zeit wunderbar nutzen“, lässt Vera-Veritas sich wieder vernehmen, „indem wir zum Beispiel einmal unsere ganze Aufmerksamkeit unserem Atem zuwenden. Wie atmen wir eigentlich? Automatisch, werdet ihr sagen, und ja, natürlich habt ihr Recht. Aber ist das gut so, werden wir unserem Atem, diesem kostbarsten unserer Güter, damit wirklich gerecht?

Unsere Atemluft ist unser Lebenselixier, ohne Luft zum Atmen würden wir jämmerlich zugrundegehen. Wir können flach atmen, mit kurzen, oberflächlichen Atemzügen, wie man sie macht, wenn man eine Hyperventilation vermeiden will. Oder wir können ganz tief durchatmen, bis in die äußerste Lungenspitze hinein, wenn wir uns zum Beispiel von etwas befreien möchten oder unsere Erleichterung auch körperlich spüren möchten.

Hätte unser Atem, unsere Atemluft, es deshalb nicht verdient, aufmerksam und wohlwollend, ja geradezu voller Hochachtung wahrgenommen und genossen zu werden? Lauscht einmal auf euren Atem, beobachtet einfach nur sein Kommen und Gehen. Ihr nehmt ihn auf in euer Haus, das euer Körper ist. Ihr heißt ihn willkommen, ihr seid dankbar für seinen Besuch, er ist ein gern gesehener Gast. Doch die Zeit seines Verweilens ist begrenzt, er muss wieder fort. Aber - was nimmt er nicht alles mit sich, was schafft er nicht alles hinaus aus eurem Haus? Lauter Abfall, lauter Gift, Schadstoffe und Ballast nimmt er mit sich fort. Er befreit euch von einer Last, er macht euch leicht und stark. Ihr verabschiedet euch von ihm, ihr bringt ihn zur Tür, ihr winkt ihm nach … und neuer Besuch kündigt sich an ....“

Gerade spürt Renate einem Gefühl nach, das sich in ihren Waden einzunisten und ihr zu sagen scheint, dass sie die Beine in die Hand nehmen und laufen soll, als Magda-Mausezahn, die auch heute Abend wieder neben ihr Platz genommen hat, ihr vorsichtig lächelnd den Block mit dem daran geklemmten Stift aufs Bein legt.

Mit gerunzelter Stirn studiert Renate dieses sogenannte „Blitzlicht“. Ganz oben auf der Seite, in der Kopfzeile der Tabelle, steht: Blitzlicht der Selbsthilfegruppe ,Entspannung und Gespräch‘ vom Montag, 22. Februar. Das Blatt ist unterteilt in sechs unterschiedlich breite Spalten, die, fein säuberlich unterstrichen, von 1 bis 6 durchnummeriert sind und folgende Überschriften tragen: „1. Name“, „2. Es geht mir gerade...“, „3. Zum vorigen Treffen möchte ich sagen (Lob/Störung):“, „4. Mein Thema heute ist:“. „5. Das ist mir ... wichtig“ und „6. Ich wünsche mir:“. Ratlos tippt sie sich mit dem Stift ans Kinn. Mit der Beantwortung dieser sechs Punkte kehrt sie ihr Innerstes nach außen, gibt sie in einer einzigen Zeile mehr von sich preis als ... als ... ja, wann hätte sie jemals so viele Details von sich preisgegeben, und dann noch derartig spontan und unkontrolliert? Sie schlägt die Beine übereinander, drückt die Mine aus dem Kugelschreiber und beginnt, die Spalten auszufüllen. „1. Renate-Regen; 2. so lalá; 3. weder noch; 4. hab keins; 5.??; 6. Ordnung (innen und außen).“

Als sie schon Block und Stift weitergeben will, zögert sie. Erst jetzt riskiert sie einen Blick auf die Eintragungen ihrer Vorgänger. Als sie bei Magda-Mausezahns Bemerkungen angekommen ist, hebt sie den Blick. Er begegnet Magdas Grinsen: Bis auf den Namen und den Wunsch unter 6., den Magda mit „endlich Ruhe“ umschrieben hat, haben sie beide identische Einträge vorgenommen. Gerade kann Renate noch verhindern, dass sie mit hochgerecktem Daumen das Siegeszeichen signalisiert, dann reicht sie die Liste weiter an Katharina-Kuli.

Als auch Katharina ihre Eintragungen vorgenommen und die Liste an Vera zurückgegeben hat, kehrt Stille ein. Nach einem langen, freundlichen Blick in die Runde faltet Vera die Hände auf dem in ihrem Schoß ruhenden Papier und beginnt: „Unsere Gruppe heißt ,Entspannung und Gespräch‘, und wie ihr euch denken könnt, haben wir diese Reihenfolge mit Bedacht gewählt. Einem ehrlichen, intensiven Gespräch sollte nach Möglichkeit eine Entspannung vorangehen, denn im besten Falle bleibt die Entspannung den Gesprächsteilnehmern erhalten und lebt im Gespräch fort, selbst wenn es dabei um Probleme, Konflikte oder gar Nöte gehen sollte.“

Sie schließt kurz die Augen, dann lächelt sie: „Natürlich können wir nicht erwarten, dass wir dieses gehobene Niveau gleich in unserer ersten Gesprächsrunde erreichen. Aber wir können uns ihm Schritt für Schritt annähern, und ich schlage vor, dass wir das jetzt mit einer Entspannungsübung versuchen.“

Erwartungsvolles Schweigen, dann leises Hin- und Herrutschen auf den Stühlen, als die Teilnehmer Veras Beispiel folgen, die Füße etwa handbreit nebeneinander stellen, um sich zu erden, den Rücken gegen die Stuhllehnen drücken und die Augen schließen. Die Hände liegen mit den Handflächen nach oben locker auf den Schenkeln. Nach einem kurzen, metallischen Klacken ertönt das bereits bekannte Meeresrauschen, dem sich Veras Aufforderung, den Atem fließen zu lassen, anschließt.

Der Tag hatte es in sich, und obwohl Renate inzwischen montags und donnerstags nur noch bis mittags arbeitet und das Büro meist pünktlich um 13.00 Uhr verlässt, kann sie sich über Langeweile nicht beklagen: Exakt um 14.30 Uhr, keine Minute früher und keine Minute später, steht sie vor der Tür der KiTa, um ihre putzmuntere, weil gerade ausgeschlafene Enkeltochter in Empfang und mit zu sich nach Hause zu nehmen. Wann immer das Wetter es zulässt, gehen sie zusammen zum See hinunter, füttern die Enten oder lassen Schiffchen schwimmen, oder sie versuchen, sich ein Weilchen auf dem Spielplatz zu vergnügen, auf dem allerdings nur noch die Wippe wirklich funktionsfähig ist.

Wenn es aber - wie heute - aus allen Schleusen schüttet, bleibt ihnen nur, Zuflucht in Renates kleiner Wohnung zu nehmen, in der dann weder Bücherregale noch Kochtöpfe noch Badezimmer- oder Vorratsschränke vor Mias unermüdlich forschenden Händen sicher sind. Und ausgerechnet heute verspätete sich ihre Schwiegertochter um mehr als eine halbe Stunde, so dass es bereits nach 17.00 Uhr war, als sie den beiden nachwinken und endlich mit dem Kochen beginnen konnte. In Eile zubereitetes Essen ist schwer verdaulich, die Lektion hat sie gelernt, und so hat sie sich heute mit Rührei im Gemüsebett zufriedengeben müssen. Dennoch schluckt sie, als sie an den wöchentlichen Besuch der Waage denkt.

Gerade ermahnt sie sich energisch, sich endlich zu entspannen und Veras Führung zu überlassen. Vor diesem Moment hat sie sich gefürchtet. Wie immer, wenn es heißt ,entspanne dich‘, bricht ihr der Schweiß aus allen Poren. Auf dem äußersten Stuhlrand balancierend, presst sie die Sohlen ihrer Stiefel am Ende ihrer irgendwie gerade viel zu kurzen Beine auf den Boden. Das nennt man „sich erden“. Sie versucht, sich zu erden, obwohl sie nicht weiß, immer noch nicht weiß, was man sich darunter vorzustellen hat, wie sich das anfühlen sollte. Sie spürt dem nach, was sich ihrer Vorstellung nach am ehesten mit dem Begriff „sich erden“ verbinden ließe und was sich ihrer bemächtigt, wenn sie in ihrem Garten dem Unkraut zu Leibe rückt, die herabhängenden Zweige der Obstbäume hochstemmt oder die Kartoffeln anhäufelt, doch sie spürt nichts.

„Ich muss mich entspannen“, denkt sie, und ihr Herz schlägt hohl in ihren Schläfen. „Ich will mich entspannen“, fleht sie, „bitte, ich will mich jetzt entspannen ... Ich bin ganz ruhig, hörst du, ganz ruhig bin ich, ruhig, ganz ruhig ...“ Sie spürt, wie ihr ein Schweißtropfen von der Schläfe an der Außenseite der Wange herabrinnt, doch so sehr es auch kitzelt, sie weiß, dass sie sich jetzt nicht bewegen darf. Sich jetzt zu bewegen, würde bedeuten, sich als Versager zu outen, öffentlich einzugestehen, dass sie nicht imstande ist, sich zu entspannen. Dass sie es einfach nicht kann.