Raus aus der chronischen Erschöpfung - Bernhard Dickreiter - E-Book

Raus aus der chronischen Erschöpfung E-Book

Bernhard Dickreiter

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Beschreibung

Das "neuartige" Long-Covid-Syndrom und das Chronic-Fatigue-Syndrom (ME/CFS) sind zwei Namen für ein und dieselbe Erkrankung. Dr. med. Bernhard Dickreiter zeigt erstmalig die biologischen Veränderungen auf Zellebene auf: Was passiert bei dieser Erkrankung in den Zellen, in der Zellumgebung und in den Mitochondrien? Und warum führen diese biologischen Veränderungen in einen Zellenergie-Mangel, mit dem sich alle Symptome dieser Erkrankung erklären lassen? Anschaulich und umfassend erklärt Dr. med Dickreiter anschließend die einzelnen Bausteine eines von ihm entwickelten ganzheitlich-systembiologischen Therapiekonzeptes, mit dem die Selbstheilungskräfte der Betroffenen effektiv unterstützt werden. Mit vielen hilfreichen Hintergrundinformationen und praktischen Tipps.

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Seitenzahl: 243

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Impressum

Umschlaggestaltung von Gramisci Editorial Design, München/Claudia Geffert, unter Verwendung eines Fotos von Adobe Stock/contrastwerkstatt

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© 2023, Herbig in der Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG,

Pfizerstraße 5–7, 70184 Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-96859-541-2

Projektleitung: Nicole Janke

Redaktion und Lektorat: Ulrike Burgi, Köln, lektorat-burgi.de

Produktion: Vanessa Frömmig

E-Book Konvertierung: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten

Inhalt

Eine rätselhafte Krankheit

Die Bedeutung von Erschöpfung und Müdigkeit

Unsere Zellenergie: entscheidend für Vitalität, Gesundheit oder Krankheit

Das Zellenergie-Defizit-Syndrom

Warum tut sich die Medizin mit der chronischen Müdigkeit so schwer?

Wie unsere Selbstheilung funktioniert: biologische Grundlagen

Die Lehre der Evolutionsbiologie

Die Lehre der Zellbiologie

Die Lehre der Systembiologie

Zentral für unsere Gesundheit: die vier Grundregulationen

Problematisch: Prozesse, die die ATP-Produktion stören

Fundamental: die Mitochondrien

Die Mitochondrien und mögliche Störungen

Empfehlungen der Fachgesellschaften zum ME/CFS

Diagnostik

Therapie

Empfehlenswerte Diagnostik

Ganzheitlich-systembiologische Therapie zum ME/CFS (LCS)

Bausteine der Therapie

Physiotherapie nach der zellbiologischen Regulationstherapie

Rehabilitationstherapie bei ME/CFS (LCS)

Forschungen und Studien zu ME/CFS (LCS)

Die fatale »Pace-Trial-Studie«

Wegweisende aktuelle Studien

Notwendige Veränderungen und hoffnungsvolle Perspektiven

Anhang

Literaturnachweis

Eine rätselhafte Krankheit

Im Jahr 1855 erkrankt eine junge Frau lebensgefährlich am Krim-Kongo-Fieber. Sie wird diese Krankheit überstehen, aber sie wird nicht wieder gesund werden. Eine andauernde rasche Erschöpfung und chronische Müdigkeit machen aus ihr mit 38 Jahren eine Invalidin und fesseln sie fast 50 Jahre lang ans Bett. Mit 90 Jahren stirbt Florence Nightingale.

Die berühmte englische Krankenschwester (1820–1910) war wohl eine der ersten Patientinnen, bei der ein chronisches Müdigkeitssyndrom beschrieben wurde. Damals war die Bezeichnung »Chronic-Fatigue-Syndrom« in der Medizin noch nicht eingeführt, jedoch besteht angesichts des Verlaufs ihrer Krankengeschichte kein Zweifel, dass diese ungeheuer aktive Persönlichkeit durch ein Chronic-Fatigue-Syndrom zur lebenslangen Invalidin wurde.

»Seit zehn Jahren befinde ich mich in einer Verfassung, die ich als andauernd schwerkrank beschreiben würde. Dabei ist das Kuriose, dass man mir von der Erkrankung kaum etwas ansieht.« So äußerte sich Saranda T. in einem Interview, das ich anlässlich dieses Buches mit ihr geführt habe. Das chronische Leiden der heute 52-Jährigen begann vor zehn Jahren infolge einer akuten Epstein-Barr-Virus-Infektion. Nach einer langen Odyssee von Arzt zu Arzt wurde bei ihr das Chronic-Fatigue-Syndrom diagnostiziert. Ihre körperliche und geistige Leistungsfähigkeit ist massiv eingeschränkt – mittlerweile so sehr, dass sie ihre Wohnung nur selten verlassen kann und an manchen Tagen kaum noch aus dem Bett kommt.

Florence Nightingale und Saranda T. – über ein Jahrhundert hinweg teilen die beiden Frauen dasselbe Schicksal. Denn obwohl ihre Krankheit schon so lange bekannt ist, gibt sie der Medizin bis heute viele Rätsel auf.

»Meine dringendste Frage ist«, sagt Saranda T., »ob ich jemals wieder gesund werde und ein normales Leben führen kann. Eine Antwort darauf konnte mir bisher niemand geben.«

Während meiner früheren Tätigkeit als Chefarzt einer internistisch-orthopädisch-neurologischen Rehabilitationsklinik nahmen wir multimorbide (vielfacherkrankte) Patient:innen zum Beispiel nach Schlaganfall, Hüftoperationen oder Herzinfarkt zur stationären Behandlung auf. Die Begleitdiagnosen psychovegetative Erschöpfung, Depression oder Burnout-Syndrom kamen bei diesen Patient:innen oft vor. Die Diagnose Chronic-Fatigue-Syndrom jedoch so gut wie nie.

In unserem Klinik-Team hatten alle schon von diesem Krankheitsbild gehört, aber so richtig etwas damit anfangen konnte eigentlich keiner. Lediglich unsere Psychologin vermutete ab und zu bei einer Patientin oder einem Patienten ein Chronic-Fatigue-Syndrom. Während der gemeinsamen Klinikkonferenzen überraschte sie uns dann in der Patientenbesprechung mit Aussagen wie: »Frau Schulze leidet nicht primär an einer Depression oder an einer psychovegetativen Erschöpfung, sondern sehr wahrscheinlich an einem Chronic-Fatigue-Syndrom.« Diese von der Psychologin vermutete Diagnose wurde von uns Ärzt:innen zur Kenntnis genommen, ohne dass daraus unsererseits jedoch irgendwelche medizinischen Konsequenzen gezogen wurden.

Rückblickend waren wir im Kollegenkreis damals bei der Diagnose Chronic-Fatigue-Syndrom nahezu einheitlich der Auffassung: »Wer müde ist und lange genug eine Auszeit bekommt, der gelangt auch wieder zu Kräften. Oder es wird schlimmer, sodass bei dem Patienten irgendwann eine sehr schwere und ernste Erkrankung zum Vorschein kommt.« Aus diesem Grund gewährten wir den Betroffenen meist durch eine Verlängerung der Arbeitsunfähigkeit oder gar durch eine Zeitberentung eine längere Auszeit. Die Herausnahme aus dem Arbeitsprozess war mit der Vorstellung und der Prognose verbunden, dass es danach doch von selbst wieder aufwärtsgehen müsse. Doch mit dieser Einschätzung lagen wir schlicht und ergreifend falsch. Wir taten damit sowohl den betroffenen Patient:innen als auch der aufmerksamen Psychologin unrecht.

Unser Umgang mit den Chronic-Fatigue-Syndrom-Patient:innen war leider nicht ungewöhnlich, sondern an der Tagesordnung, und nach meinen Recherchen hat sich bis heute kaum etwas zum Besseren gewendet. Das Chronic-Fatigue-Syndrom wurde und wird in der Medizin selten als eigenständige Krankheit erkannt und ernst genommen. Patient:innen berichten, dass sie jahrelang als psychosomatisch erkrankt eingestuft und dementsprechend behandelt wurden, bis sie nach intensiven Recherchen an einen Arzt oder eine Ärztin gelangten, die sich mit diesem Krankheitsbild auskannte und die Diagnose Chronic-Fatigue-Syndrom stellen konnte. Dass sie so lange darauf warten mussten, ist dem Umstand in der Medizin geschuldet, dass eine chronische Müdigkeit ohne körperliche Befunde nach wie vor weitgehend den Psycholog:innen und Psychiater:innen überlassen wurde und noch wird.

Da der überwiegende Teil der Ärzt:innen für organische Störungen ausgebildet ist, verwundert es nicht, dass sie mit dieser Krankheit, bei der bisher keine organischen Störungen erkannt wurden, wenig anfangen können. Erschwerend kommt bei den Chronic-Fatigue-Syndrom-Patient:innen hinzu, dass die Vielzahl ihrer unspezifischen Beschwerden organisch schlecht einzuordnen ist. Diese für eine Diagnostik und Behandlung schon schwierige Situation, wird für die Patient:innen noch dahingehend verschlechtert, dass Müdigkeit als Hauptsymptom für die meisten Ärzt:innen wenig nachvollziehbar ist. Dem Symptom Müdigkeit liegt immer ein subjektives Empfinden zugrunde, das kaum objektiviert werden kann. Klagt jemand anhaltend über eine bleierne Müdigkeit, so gilt es als normal und verständlich, dass man ihm zu einer entsprechenden Auszeit rät. Aber genau dieser gut gemeinte Ratschlag bringt den Patient:innen mit einem Chronic-Fatigue-Syndrom keinerlei Besserung.

Die gängige Einstellung in unserer Gesellschaft lautet: »Wer müde und erschöpft ist, muss sich erholen und wird dann wieder leistungsfähig.« Deshalb werden die Betroffenen regelmäßig mit dem Satz konfrontiert: »Ruhe dich mal ordentlich aus, und danach geht es wieder aufwärts mit dir.« So verhält es sich im Normalfall. Gerade das trifft jedoch für die Chronic-Fatigue-Syndrom-Patient:innen nicht zu. Ihr Zustand verhält sich nach leichten Anstrengungen und nach Schlafzeiten gegen die bekannte Logik: Sie regenerieren sich durch Schlaf kaum oder gar nicht mehr.

Mit der bisherigen Betrachtung und Herangehensweise an das Chronic-Fatigue-Syndrom bleibt den Ärzt:innen nur eine wenig erfolgreiche und meist unbefriedigende Symptombehandlung. Deshalb sind nicht nur viele Betroffene, sondern auch sehr viele Ärzt:innen von der derzeitigen Diagnostik und Behandlung des Chronic-Fatigue-Syndroms frustriert.

Aber nicht nur die medizinische Situation dieser Patient:innen liegt im Argen, sondern auch die soziale. Ihr Leiden führt oft zu einschneidenden Einschränkungen im beruflichen und privaten Leben. Mehr als die Hälfte von ihnen bleibt für immer arbeitsunfähig, und lediglich knapp ein Drittel kehrt nach einem Chronic-Fatigue-Syndrom wieder in den angestammten Beruf zurück. Aufgrund einer ausgeprägten Schwäche können nahezu ein Viertel der Chronic-Fatigue-Syndrom-Patient:innen ihre Wohnung nicht mehr allein verlassen und dadurch nicht mehr selbstständig am öffentlichen Leben teilnehmen. Einige von ihnen sind auf Dauer bettlägerig und auf Pflege angewiesen.

Da sich die Forschung nur spärlich mit dem Chronic-Fatigue-Syndrom beschäftigte, gibt es für die Betroffenen bis heute nur wenig Hoffnung auf eine Besserung ihrer Situation. Das wenige Interesse der Forschung lag sicher daran, dass sich in Deutschland die Fallzahlen bislang nur auf ca. 300 000 und weltweit nur auf ca. 17 Millionen beliefen. In der Medizin stellt das eine kleine Gruppe an Patient:innen dar. Doch ausgerechnet durch die Corona-Pandemie können Chronic-Fatigue-Syndrom-Patient:innen wie Saranda T. wieder Hoffnung schöpfen. Denn das neu hinzugekommene Long-Covid-Syndrom entspricht den Kriterien des Chronic-Fatigue-Syndroms: Es ist eine Krankheit mit einer raschen Erschöpfung, einer chronischen Müdigkeit und einer Vielzahl an unspezifischen Symptomen.

Zusammen mit der Zahl der Long-Covid-Syndrom-Patient:innen erhöhte sich in Deutschland die Fallzahl des Chronic-Fatigue-Syndroms in kürzester Zeit um das Drei- bis Vierfache auf ca. 1,2 Millionen. Mit diesem Anstieg rückten die Probleme der medizinischen Versorgung dieser Patient:innen endlich in den Fokus der Medizin.

Auch in den Rehakliniken nahmen die Einweisungen mit der Diagnose Long-Covid-Syndrom sprunghaft zu. Ein Psychologe, der in der Rehabilitation schon lange Chronic-Fatigue-Syndrom-Patient:innen behandelte und im Long-Covid-Syndrom die gleichsinnige Erkrankung erkannte, wandte sich mit der Bitte um ein Gespräch an mich. Er hatte in einem meiner Bücher gelesen, was ich über Evolutionsbiologie, Zellbiologie und Systembiologie geschrieben hatte. Dies hatte ihn in seiner Annahme bestätigt, dass bei dieser Erkrankung körperliche Störungen eine erhebliche Rolle spielen.

Als Chefarzt in der Rehabilitation hatte ich es mit vielfach (multimorbiden) Erkrankten zu tun. Um diesen Patient:innen gerecht zu werden, war es für mich unabdingbar, mir tiefgründige Kenntnisse der modernen Biologie anzueignen. Schließlich bedeutet Biologie: die Logik des Lebens. Das Gespräch mit dem Psychologen über das Chronic-Fatigue-Syndrom und besonders sein Hinweis auf eine körperliche Störung weckten sofort mein Interesse, und ich vertiefte mich in das Thema. Mit der Zeit wurde mir bewusst, dass bei dieser Erkrankung die körperliche Störung auf Zellebene und insbesondere in einem Zellenergie-Defizit-Syndrom zu finden ist. Es muss in der universitären Medizin endlich mehr beachtet werden, dass es die Zellen sind, die uns jegliche Form von Leistung ermöglichen. Doch auch sie ermüden und benötigen eine ausreichende Regenerationszeit.

Die Biologie befähigt uns, einige dringende Fragen rund um das Chronic-Fatigue-Syndrom und um das gleichartige Long-Covid-Syndrom schlüssig zu beantworten. Mit diesem Buch möchte ich die biologischen Hintergründe dieser Erkrankung aufzeigen. Doch beginnen wir zuerst mit einer völlig normalen Reaktion unseres Körpers auf Leistung: Müdigkeit.

Die Bedeutung von Erschöpfung und Müdigkeit

Erschöpfung und Müdigkeit sind zunächst ganz normale, nicht krankhafte Körperreaktionen. Sie treten infolge von körperlichen und geistigen Anstrengungen auf, wie zum Beispiel nach einer langen Wanderung. Von den Muskelzellen wurde mehr Energie verbraucht, als nachgebildet werden konnte, und diese Schieflage erzeugt in den Muskelzellen einen Mangel an Energie: Wir fühlen uns müde und erschöpft. Während eines anschließenden erholsamen Schlafs wird der Energiehaushalt der Zellen wieder ausgeglichen, und wir erlangen unsere volle Leistungsfähigkeit zurück. Denn im Schlaf schaltet unser Körper um von Leistung und Energieverbrauch – Sympathikus – auf vermehrte Energiebildung und Regeneration – Parasympathikus. Anstrengungen und eine dadurch hervorgerufene Müdigkeit sind also keine Gegensätze, sondern bedingen sich gegenseitig: Vollbrachte Arbeit macht müde, und der Schlaf danach macht wieder fit. Normalerweise. Doch was passiert, wenn dieser natürliche Rhythmus gestört wird?

Funktioniert das Umschalten von Sympathikus auf Parasympathikus in der Nacht über längere Zeit nicht, hat das dramatische Folgen: Unseren Körperzellen steht immer weniger Energie zur Verfügung. Wir fühlen uns dauerhaft müde und erschöpft.

Einer der weitverbreitetsten Gründe für das nicht mehr natürliche Umschalten von Sympathikus auf Parasympathikus während der Nachtruhe ist eine andauernde Stressbelastung. Permanenter Stress bewirkt sowohl über den Tag als auch über die Nacht eine Daueraktivierung des Sympathikus. Unser Zellstoffwechsel befindet sich auch nachts in einem katabolen – verbrauchenden – Modus. Die dringend nötige Energiebildung und Regeneration der Körperzellen fallen weitgehend aus. Der Schlaf ist nicht erholsam. Oder anders: Wir schlafen, regenerieren aber nicht.

Doch nicht nur permanenter Stress verhindert einen erholsamen Schlaf, sondern auch nächtlicher Lärm oder ein Mangel an Schlaf durch zu spätes Ins-Bett-Gehen. Weiterhin können krankhafte Veränderungen wie nächtliche Atemstillstände – ein Schlafapnoe-Syndrom – oder sehr starke Schmerzen den erholsamen Schlaf beeinträchtigen. Nach statistischen Erhebungen klagen nahezu 80 Prozent der Menschen in Deutschland über einen schlechten oder mit einer Dauer von unter sieben Stunden über zu wenig Schlaf. Sehr viele von ihnen leiden tagsüber unter Beschwerden wie Tagesmüdigkeit, Leistungsminderung, Erschöpfung und Reizbarkeit. Diese Beschwerden, die in der Medizin als Symptome bezeichnet werden, sind Alarmsignale unseres Körpers, dass in ihm etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist. Werden diese Signale dauerhaft missachtet und ihre Ursachen nicht beseitigt, führt dies unausweichlich in eine Erkrankung.

Generell sind Symptome also Hinweise unseres Körpers, die wir verstehen und auf die wir mit entsprechenden Verhaltensänderungen reagieren sollten. Müdigkeit ist daher ein notweniges Symptom, das uns darauf hinweist, baldigst in die Ruhephase überzutreten und zu regenerieren, denn ein ausgeglichener Energiehaushalt der Zellen spielt Tag und Nacht eine entscheidende Rolle für unsere Gesundheit. So produziert das Immunsystem bei einer Grippe zum Beispiel spezielle Botenstoffe, die stark dämpfend auf das Gehirn einwirken und uns über längere Zeit sehr schläfrig machen. Wir werden gewissermaßen außer Gefecht gesetzt, um unnötige Aktivitäten zu vermeiden und den Energiehaushalt zu stabilisieren. Die eingesparte Energie steht somit dem Immunsystem zur Steigerung der Abwehrkraft zur Verfügung. Sie sehen: Unser Organismus setzt seine Energieressourcen sehr ökonomisch ein.

Letztlich geht es auch beim Thema Müdigkeit primär um Energie, genauer gesagt, um Zellenergie. Wird die Energiebilanz immer wieder ausgeglichen, so entstehen keine gesundheitlichen Probleme. Eine Müdigkeit nach körperlichen oder geistigen Belastungen zeigt uns die Grenzen der Belastbarkeit auf. So schützt sie uns vor einer krankmachenden Überlastung.

Müdigkeit verliert jedoch ihren Sinn, wenn sie übergeht in eine chronische Müdigkeit. Sie ist dann Anzeichen einer gesundheitlichen Störung oder einer manifesten Erkrankung. Tritt sie im Rahmen einer Krankheit wie zum Beispiel Krebs oder Multipler Sklerose auf, wird sie »Fatigue« genannt. Finden sich jedoch keine Krankheiten, die die chronische Müdigkeit erklären, wird sie in der Medizin mit Diagnosen wie psychovegetatives Erschöpfungssyndrom, chronisches Müdigkeitssyndrom, Burnout-Syndrom oder Chronic-Fatigue-Syndrom belegt. Alle diese Diagnosen haben eines gemeinsam: Bisher fehlt ihnen in der Medizin im Wesentlichen die Anerkennung, dass sie ebenso auf einer körperlichen Störung beruhen und nicht ausschließlich als psychische Störung zu betrachten sind. Einen weiteren, entscheidenden gemeinsamen Nenner stellt die negative Energiebilanz der Zellen dar.

Bei all diesen bisher primär als psychisch eingestuften Erkrankungen unterscheiden sich jedoch die jeweiligen Ursachen für eine negative Energiebilanz. Da bei ihnen die Zellenergie also eine sehr zentrale Rolle spielt, müssen wir uns jetzt zuerst einmal anschauen, was Zellenergie ist, wie sie in den Zellen produziert wird und welche vielfältigen Aufgaben die Zellen damit für unsere Gesundheit ausführen.

Unsere Zellenergie: entscheidend für Vitalität, Gesundheit oder Krankheit

Trotz der existenziellen Bedeutung der Energie, insbesondere der Zellenergie, kommt dieses Thema in der Medizin selten zur Sprache. In der Physik versteht man unter Energie die Fähigkeit, Arbeit zu verrichten, Wärme abzugeben oder Licht abzustrahlen. Und genau das geschieht in unseren Zellen. Sie sind gewissermaßen permanent am Arbeiten und halten uns dadurch lebendig. Aber mit welcher Energie arbeiten die Zellen?

Schematische Darstellung einer Zelle

© Kosmos-Verlag unter Verwendung einer Illustration von Shutterstock

In erster Linie verwenden die Zellen eine chemische Energieform, durch die alle Arbeitsprozesse bewältigt werden. Sie arbeiten nahezu ausschließlich mit der chemischen Energieform »Adenosintriphosphat« (ATP). Das ATP ist eine chemische Verbindung (Molekül), mit der jede Körperzelle ihre Aufgaben verrichtet. Dieses Prinzip hat sich in der Evolution bewährt, und so arbeiten von den einzelligen Bakterien bis zu den Körperzellen der Tiere und der Menschen alle Zellen mit ATP. Das ATP ist also der Kraftstoff unserer Zellen. Ihre Leistungsfähigkeit und letztlich auch ihr Überleben hängen unabdingbar von ausreichend ATP ab.

Zur Produktion von ATP befinden sich in jeder Zelle kleine Zellorganellen, die sogenannten Mitochondrien. Lediglich die roten Blutkörperchen (Erythrozyten) bilden hier eine Ausnahme. Sie sind die einzigen Zellen ohne Mitochondrien und gewinnen ihre Energie nur aus der Vergärung von Glukose zu Milchsäure. Die Anzahl der Mitochondrien in den Körperzellen richtet sich nach deren Energiebedarf, im Durchschnitt sind es zwei- bis dreitausend. Die höchste Anzahl mit annähernd zehntausend Mitochondrien besitzen die Nervenzellen im Gehirn, gefolgt von den Herzzellen mit etwa fünftausend. Zur Einschätzung: Der Anteil der Mitochondrien am Gesamtgewicht des Herzmuskels beträgt nahezu 35 Prozent. Durch die permanente Leistung liegt der ATP-Verbrauch der Herzzellen um ein Vielfaches höher als der ATP-Verbrauch einer Knochen- oder Hautzelle.

Das Mitochondrium: die Zentrale der Energiegewinnung

© L. Darin

In den Mitochondrien werden im sogenannten Citrat-Zyklus Glukose, Fettsäuren oder Aminosäuren mithilfe von Sauerstoff komplett abgebaut und die dadurch gewonnene Energie zur Produktion von ATP verwendet. Das ATP setzt sich aus drei Bausteinen zusammen: der Nukleinbase Adenin, dem Zuckerbaustein D-Ribose und Phosphat.

Der Abbau von einem Zuckerbaustein (ein Molekül Glukose) findet mithilfe von Sauerstoff – aerobe Energiegewinnung – in den Mitochondrien statt und ergibt 38 ATP. ATP kann im menschlichen Organismus aber nur in geringem Maße gespeichert werden. Beim Abbau von ATP zur Energiegewinnung entsteht das Abbauprodukt ADP (Adenosindiphosphat). Um rasch wieder die geringen ATP-Speicher aufzufüllen, wird deshalb das ADP nicht weiter abgebaut und entsorgt, sondern rasch und fortlaufend wieder zu ATP umgewandelt. Dieser Stoffwechselkreislauf ergibt ein enormes, dauerhaftes Recycling von ADP zu ATP. Nur durch dieses Recycling ist die Menge an ATP, die jeder Mensch pro Tag produziert und verbraucht, überhaupt zu bewerkstelligen. Schließlich entspricht die tägliche Menge an benötigtem ATP etwa dem Körpergewicht des jeweiligen Menschen!

Anaerobe und aerobe (Citrat-Zyklus-) ATP-Produktion

© Markus Weber/Guter Punkt GmbH & Co KG

Neben der aeroben Energiegewinnung gibt es auch die anaerobe: der Abbau von einem Molekül Glukose ohne Sauerstoff außerhalb der Mitochondrien durch Vergärung in der Zelle. Diese anaerobe Energiegewinnung ergibt allerdings nur 2 ATP. Die Vergärung von Glukose stellt bei Sauerstoffmangel, bei funktionsgestörten oder komplett zerstörten Mitochondrien das sofort einsetzende Notprogramm der Zellen für eine »Ersatz-Energiebildung« dar.

Dieses Notprogramm bedeutet jedoch für die Energiegewinnung pro Molekül Glukose einen gewaltigen Absturz. Anstatt 38 ATP entstehen auf diese Weise lediglich 2 ATP und damit ca. 95 Prozent weniger Energie. In der Folge kommen zunächst die Zellen mit einem hohen Energieumsatz wie Herz- und Hirnzellen rasch in ein extremes Energiedefizit, das bis zum Absterben, also zu einem Herz- oder Hirninfarkt (Schlaganfall) führt. Aus diesem Grund ist ein Ausfall der Sauerstoffzufuhr in die Mitochondrien mit dem Leben nicht vereinbar.

Es gibt jedoch nicht nur extreme Situationen wie einen totalen Mangel an Sauerstoff oder einen kompletten Ausfall der Mitochondrien. Je nach Erkrankung sind die Defizite an Sauerstoff unterschiedlich ausgeprägt. Auch die Funktion der Mitochondrien kann durch Erkrankungen mehr oder weniger stark beeinträchtigt sein. Entsprechend unterschiedlich sind das Ausmaß des Zellenergie-Defizits und seine Auswirkungen. Geringe Defizite können noch weitgehend kompensiert werden, stärkere Defizite führen zu unterschiedlich ausgeprägten Beschwerden oder gar zum Tod.

Aber gesundheitliche Probleme dieser Art entstehen nicht nur durch eine unzureichende Versorgung der Mitochondrien mit Sauerstoff. Oft liegt dem Zellenergie-Defizit auch eine Störung der Mitochondrien selbst zugrunde. Denn sie reagieren sehr empfindlich auf Umweltgifte, auf bestimmte Medikamente, auf unterschwellige Entzündungen, auf Bewegungsmangel, auf Mikronährstoffmangel usw. Deshalb sollten bei bestimmten Erkrankungen unbedingt Funktionsstörungen der Mitochondrien (Mitochondriopathien) in Betracht gezogen und abgeklärt werden.

Eine Zelle ohne ausreichend funktionstüchtige Mitochondrien ist buchstäblich wie ein Handy mit einem schwachen Akku, das sich nicht mehr voll aufladen lässt. Dieses Bild entspricht den oft vorgetragenen Schilderungen von Chronic-Fatigue-Syndrom- und Long-Covid-Syndrom-Patient:innen über ihr Krankheitsgefühl: »Mein Akku ist leer und lädt sich nicht mehr auf.« Für diese bildhafte Darstellung bietet sich in der Medizin der Begriff Zellenergie-Defizit-Syndrom an.

Das Zellenergie-Defizit-Syndrom

Der Begriff Zellenergie beziehungsweise Zellenergie-Defizit-Syndrom wird bisher in der universitären Medizin überraschend wenig in Betracht gezogen und diskutiert. Noch verharrt die vorherrschende Sicht- und Denkweise bei gesundheitlichen Problemen überwiegend in biochemischen Zusammenhängen und damit in der Verordnung von Medikamenten. In der Akutmedizin ist das unbestreitbar das richtige Vorgehen – aber bei chronischen Erkrankungen bedarf es dringend einer Erweiterung dieser Sicht- und Denkweise: Bei diesen multikausal ausgelösten Erkrankungen müssen die Erkenntnisse der modernen Biologie in die praktische Medizin Eingang finden. Schließlich löst zum Beispiel ein Mangel an Zellenergie vielfältige Beschwerden bis hin zu manifesten Erkrankungen wie dem Burnout-Syndrom, dem Chronic-Fatigue-Syndrom und dem Long-Covid-Syndrom aus.

Diese Krankheiten gehen mit einer Vielzahl von Symptomen einher, die in der Medizin als unspezifisch bezeichnet werden. Unspezifisch bedeutet: Die Auslösung oder die Ursache der Beschwerden sind unbekannt. Damit verbleibt in der Therapie jedoch nur die symptomatische Behandlung, eine ursächliche Therapie wird nicht ermöglicht. Alle diese unspezifischen Symptome können aber sehr wohl durch ein Zellenergie-Defizit-Syndrom nachvollziehbar erklärt werden.

Jede motorische oder geistige Leistung, die wir vollbringen, ist immer eine Leistung vieler beteiligter Körperzellen. Das gilt auch für die Funktionen unserer verschiedensten Organe wie zum Beispiel die Herzfunktion, die Verdauung, die Ausscheidung und die Hormonproduktion, die ebenfalls auf funktionsfähigen Zellen beruhen. Um zu funktionieren, benötigen die Zellen – wie bereits beschrieben – ausreichend ATP. Demnach ist für die Vitalität, die Leistungsfähigkeit, die Gesundheit und für das Gesundwerden des Menschen ausreichend ATP unabdingbar.

Bei einem ATP-Mangel fährt jede Zelle zunächst ihre Funktionen herunter, sie stellt ihre Arbeit ein. Mit der Restenergie versucht sie, ihre Strukturen – die Mitochondrien, die Zellwand, den Zellkern, die Zellorganellen usw. – und damit sich selbst am Leben zu erhalten. Bei einer Verstärkung des ATP-Mangels ist zunehmend auch dieser Strukturstoffwechsel betroffen, und den Zellen droht schließlich das Absterben. Somit gibt es je nach Ausprägung des Zellenergie-Defizit-Syndroms fließende Übergänge, die von leichten Einschränkungen der Zellfunktionen bis hin zum Zelltod reichen können.

Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen treten bis zu einem Mangel von ca. 10–20 Prozent des normalerweise zur Verfügung stehenden ATPs noch keine wesentlichen, für den Menschen bemerkbaren Probleme auf. Bei einem Mangel von mehr als 20 Prozent kommt es zunehmend zu Leistungseinbußen, zu rascher Erschöpfung, zu andauernder Müdigkeit und zu unspezifischen Symptomen. Bei einem Mangel von über 40 Prozent verspüren die Patient:innen einen massiven Leistungsabfall und eine andauernde extreme Müdigkeit sowie vielfältige weitere Beschwerden. Ein noch stärkerer Abfall von ATP über 60 Prozent hinaus ergibt gravierende Einschränkungen, durch welche die Betroffenen invalide und letztlich vom Tode bedroht sind. Diese graduellen Ausprägungen des ATP-Mangels hängen von vielen Faktoren ab, wie zum Beispiel der Schwere der Schädigung beziehungsweise des Funktionsverlustes der Mitochondrien, der Verfügbarkeit an Sauerstoff, der Enzymausstattung.

Überraschenderweise wird in jeder Zelle etwa die Hälfte des gesamten ATPs allein für den Aufbau einer elektrischen Zellwandspannung (Membranpotenzial) benötigt. Diese Membranpotenziale werden durch sogenannte Ionenpumpen permanent aufrechterhalten und bei einer Entladung wiederhergestellt. Das Funktionieren der Ionenpumpen ist für alle Zellen (über-)lebenswichtig.

Durch chemische Anziehungskräfte und durch Konzentrationsunterschiede wandern (diffundieren) immer wieder geladene Mineralien (Ionen) wie zum Beispiel Natriumionen, Kaliumionen, Kalziumionen oder Magnesiumionen durch die Zellwand aus der Zelle hinaus oder umgekehrt in die Zelle hinein. Diese passive Ionen-Wanderung führt ohne das Eingreifen der Ionenpumpen zu einer massiven Absenkung der Zellwandspannung, was die Zelle erheblich beeinträchtigt und sogar zu ihrem Absterben führen kann. Deshalb befördern die Ionenpumpen unter großem ATP-Verbrauch die mineralischen Ionen über spezielle Ionen-Kanäle aus der Zelle hinaus oder von draußen herein.

In der Zellwand einer jeden Zelle befinden sich Tausende Ionenpumpen, die unterschiedlich spezialisiert sind: So gibt es Natrium-/Kaliumpumpen – sie befördern drei Natriumionen (Na+) aus der Zelle hinaus und zwei Kaliumionen (K+) hinein – und Kalzium-/Magnesiumpumpen – sie befördern ein Magnesium (Mg++) hinein und ein Kalzium (Ka++) hinaus. Jede gesunde und leistungsfähige Zelle zeigt dadurch auf der Innenseite ihrer Zellmembran eine negative und auf der Außenseite ihrer Zellmembran eine positive Ladung. Durch diesen Ladungsunterschied entsteht an der Zellmembran einer gesunden Zelle ein Membranpotenzial (Zellwandspannung) von etwa 80 Millivolt. Ein Membranpotenzial von dieser Höhe wird normalerweise immer erhalten oder wiederhergestellt, denn es schützt die Zelle vor einer Reizüberflutung und vor dem Eindringen unerwünschter geladener Teilchen.

Wird eine Zelle – zum Beispiel eine Nerven- oder Muskelzelle – durch einen Reiz erregt, so muss das Membranpotenzial durch den eintreffenden Reiz zuerst einmal von 80 Millivolt auf mindestens 30 Millivolt gesenkt werden. Erst ab dieser Erregungsschwelle von 30 Millivolt kommt es zu einer vollständigen Entladung (Depolarisation) des Membranpotenzials und somit überhaupt zu einer Reizantwort. Die Nervenzelle schickt dann zum Beispiel eine Information weiter oder die Muskelzelle kontrahiert sich. Bei einem schwachen Reiz mit einer Entladung der Membranpotenziale bis lediglich 50 oder 31 Millivolt erfolgt von der Zelle keinerlei Reizantwort. Die Schwelle von 30 Millivolt nennt man deshalb die Erregungsschwelle oder die Schwelle für »Alles oder Nichts«.

Membranpotenzial und Erregungsschwelle

Im Umkehrschluss schützen stabile Membranpotenziale von 80 Millivolt vor einer Reizüberflutung. Nicht jedes Geräusch wird als störend wahrgenommen, nicht jeder Lichtreiz erregt den Sehnerv, nicht jeder Umgebungsreiz macht uns nervös. Schließlich beträgt der Sicherheitsabstand von 80 Millivolt bis zu der »Alles-oder-Nichts«-Schwelle von 30 Millivolt immerhin 50 Millivolt. Und genau diese 50 Millivolt sind die im Volksmund bezeichneten »breiten Nerven«. Bei einem anhaltenden ATP-Mangel der Zellen kann aber zum Beispiel nur noch ein Membranpotenzial von 50 Millivolt dauerhaft aufrechterhalten werden. Bis zur Erregungsschwelle von 30 Millivolt ergibt sich also lediglich ein Sicherheitsabstand von 20 Millivolt. Das sind die sogenannten »dünnen Nerven«.

Woher kommt unsere Nervenstärke?

Hier zeigt sich, wie wichtig ausreichend ATP für die Zellgesundheit ist: Ohne genügend ATP sind wir rasch erschöpft und chronisch müde. Alles regt uns auf und strengt uns an, wir sind nervös. Da jeder Reiz von den Zellen durchgeschaltet wird, sind wir zum Beispiel zunehmend licht- und lärmempfindlich. Häufig kommt es zu Muskelkrämpfen und zu Herzrhythmusstörungen, da die Membranpotenziale – und damit die elektrische Stabilität – auch dieser Zellen durch einen ATP-Mangel vermindert sind. Und genau diese Vielzahl von Beschwerden werden sowohl von Chronic-Fatigue-Syndrom- als auch von Long-Covid-Syndrom-Patient:innen angegeben. Bei der Frage nach der Entstehung eines Chronic-Fatigue-Syndroms oder eines Long-Covid-Syndroms sollte deshalb dringend ein ursächliches Zellenergie-Defizit-Syndrom in Betracht gezogen werden. Aber dazu müssen wir in der Medizin die Biophysik der Zellwandeigenschaften (Membraneigenschaften) unbedingt miteinbeziehen.

Immens wichtig für unseren Energiehaushalt

Die Zellwand ist so aufgebaut, dass sie auch ohne Einsatz von Ionenpumpen durch Trennung von geladenen Teilen eine Zellwandspannung (Membranpotenzial) von maximal 30 Millivolt erreicht. Damit wären wir nicht lebensfähig. Durch den Einsatz der Ionenpumpen mithilfe von ATP aus der anaeroben Energiegewinnung (2 ATP) ist eine Steigerung des Membranpotenzials lediglich auf etwa 35 Millivolt möglich. Damit wären wir immer noch nicht lebensfähig. Durch den Einsatz der Ionenpumpen mithilfe von ATP aus der aeroben Energiegewinnung wird das Membranpotenzial auf etwa 80 Millivolt gesteigert: Wir sind vital, leistungsfähig und gesund.

Halten wir also fest:

Ohne die Funktion der Ionenpumpen und damit ohne Membranpotenziale stirbt jede Zelle rasch ab.Mit einem leichten bis mittelschweren Mangel an ATP und dadurch relativ niedrigen Membranpotenzialen entstehen vielfältige, unspezifische Beschwerden. Die Ionenpumpen laufen langsamer, Natriumionen sammeln sich innerhalb der Zellen an und binden viel Wasser. Das führt zu einem Anschwellen der Zellen, was wiederum viele Zellfunktionen behindert. Weiterhin steigen Kalziumionen im Zellinneren an, die ebenfalls negative Wirkungen entfalten und die ATP-Produktion weiter absenken. Um diesen Teufelskreis zu verhindern, müssen die Ionenpumpen permanent mit ausreichend ATP versorgt werden.

Interessanterweise greifen Viren sehr oft speziell die Mitochondrien und damit die ATP-Produktion der Zellen an. Das betrifft auch die Abwehrzellen des Immunsystems, denn auch diese Zellen benötigen ausreichend ATP für eine gute Abwehr. Anscheinend erkennen Viren die Funktion und die Bedeutung der Mitochondrien, weshalb es nicht verwunderlich ist, dass sie nicht nur die Zellen selbst, sondern ebenso deren Mitochondrien angreifen und die ATP-Produktion behindern. Dadurch wollen sie die Leistungsfähigkeit der Immunzellen schwächen. Patient:innen, die bereits vor einer Virusinfektion eine eingeschränkte mitochondriale Funktion aufweisen, erleiden dadurch rascher einen anhaltenden und schweren Erschöpfungszustand.

Viele Ärzt:innen berichten, dass die meisten ihrer Long-Covid-Syndrom-Patient:innen vor der akuten Covid 19-Infektion einer chronischen Stressbelastung ausgesetzt waren. Chronischer Stress bedeutet einen katabolen – einen verbrauchenden – Stoffwechsel, einen relativen ATP-Mangel und damit ein schwaches Immunsystem, das sich gegen die Angriffe von Viren viel weniger zur Wehr setzen kann als ein gesundes Immunsystem.

Warum tut sich die Medizin mit der chronischen Müdigkeit so schwer?

Brechen wir uns zum Beispiel ein Bein oder einen Arm, so erhalten wir nach der Röntgenuntersuchung eine eindeutige Diagnose. Erleiden wir einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall, so wird nach kurzer Zeit im Krankenhaus eine auf die betroffenen Organe bezogene Diagnose gestellt. Wir sind es gewohnt, dass uns die behandelnden Ärzt:innen in den meisten Fällen eindeutig mitteilen können, an welchem Organ oder Körperteil wir erkrankt sind. Dafür – für die Diagnostik und Therapie körperlicher Erkrankungen – ist der überwiegende Teil der Ärzt:innen primär ausgebildet. Doch genau aus diesem Grund tun sich viele von ihnen mit dem Symptom chronische Müdigkeit und den Erkrankungen wie Chronic-Fatigue-Syndrom und Long-Covid-Syndrom so schwer, da hier bislang Nachweise für entsprechende Störungen im Körper fehlen. Mit diesen Erkrankungen, über deren körperliche (somatische) Ursachen so wenig Wissen vorhanden ist, konnte man in der Ärzteschaft schlicht und ergreifend wenig anfangen.

Bereits eines der Leitsymptome – die chronische Müdigkeit – ist für die meisten Ärzt:innen schwer nachvollziehbar. Dem Symptom Müdigkeit liegt immer ein subjektives Empfinden zugrunde, das nicht nachgewiesen werden kann und deshalb nicht zu objektivieren ist. Der Arzt oder die Ärztin kann dem Patienten glauben – oder auch nicht. Erschwerend kommt hinzu, dass die Chronic-Fatigue-Syndrom- und Long-Covid-Syndrom-Patient:innen zusätzlich über eine verminderte körperliche und geistige Leistungsfähigkeit, über eine rasche Erschöpfung, mangelnde Regeneration, Schlafstörungen und weitere unspezifische Beschwerden klagen, die bisher ebenfalls alle nicht körperlich erklärbar sind.