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Als Kind entführt und mit Hilfe von Drogen zu absolutem Gehorsam gezwungen, hat Kämpfer 194 nur ein Ziel: seine Schwester zu beschützen, die ebenfalls von seinen Peinigern gefangen gehalten wird. Er wurde auf brutalste Art zum Killer ausgebildet und erfüllt jeden Auftrag seiner Kidnapper, immer in der Hoffnung, dadurch der Rettung seiner Schwester näher zu kommen. Als er auf Zaal Kostava angesetzt wird, zögert er nicht lange und nimmt den größten Schatz seines Widersachers gefangen: Zoya Kostava. Er braucht Informationen über ihren Bruder, die nur sie ihm geben kann. 194 setzt alle seine Fertigkeiten ein, die er im Laufe seiner grausamen Ausbildung gelernt hat, doch die zarte Zoya widersteht seiner Folter mit dem größten Mut, den er je gesehen hat. Und schon bald entwickelt sich eine unwiderstehliche Anziehungskraft, der Zoya und 194 hilflos ausgeliefert sind.
3. Band der Scarred-Souls-Serie von Tillie Cole
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Seitenzahl: 502
TILLIE COLE
RAVAGE
Bis zum letzten Herzschlag
Roman
Ins Deutsche übertragen von Silvia Gleißner
Als Kind entführt und mit Hilfe von Drogen zu absolutem Gehorsam gezwungen, hat Kämpfer 194 nur ein Ziel: seine Schwester zu beschützen, die ebenfalls von seinen Peinigern gefangen gehalten wird. Er wurde auf brutalste Art zum Killer ausgebildet und erfüllt jeden Auftrag seiner Kidnapper, immer in der Hoffnung, dadurch der Rettung seiner Schwester näher zu kommen. Als er auf Zaal Kostava angesetzt wird, zögert er nicht lange und nimmt den größten Schatz seines Widersachers gefangen: Zoya Kostava. Er braucht Informationen über ihren Bruder, die nur sie ihm geben kann. 194 setzt alle seine Fertigkeiten ein, die er im Laufe seiner grausamen Ausbildung gelernt hat, doch die zarte Zoya widersteht seiner Folter mit dem größten Mut, den er je gesehen hat. Und schon bald entwickelt sich eine unwiderstehliche Anziehungskraft, der Zoya und 194 hilflos ausgeliefert sind.
Für alle mit ein wenig Finsternis in der Seele
Wladikawkas
Republik Nordossetien-Alanien
Russland
Kinderheim
Vor fünfzehn Jahren…
Drei harte Klopftöne von unten holten mich aus dem Schlaf. Ich sah blinzelnd auf die Uhr an der Wand. Die anderen Jungen im Raum rührten sich nicht, aber das hieß nicht, dass sie nicht wach waren. Wir alle wussten, was das Klopfen zu bedeuten hatte: Sie kamen – zur Auslese.
Die Nachtmahre.
Eiseskälte erfüllte mich, als das lange, hohe Quietschen der sich öffnenden Haustür durch die gespannte Stille des Hauses drang. Dann kamen die Stiefel. Schwere Stiefel, die über die alten Holzdielen polterten.
In den Zimmern war es stockdunkel, wie immer um drei Uhr nachts. Sie kamen stets um diese Zeit. Ich wusste, der Grund dafür war, dass die Bewohner der kleinen Stadt es nicht hören oder sehen sollten, wenn sie kamen, um uns Waisen zu holen.
Flüsternde, gedämpfte Stimmen schienen jeden Zentimeter des Raums zu erfüllen; das war das Signal, das meine Füße brauchten, um sich in Bewegung zu setzen. Ich schob die dünne Decke auf meinem Bett weg, und meine nackten Füße trafen auf das eiskalte Holz. Ich erstarrte – nur kein Geräusch machen. Ich ballte die Hände zu Fäusten und schlich mit lautlosen kleinen Schritten zur Hintertreppe. Während ich an den schmalen, ordentlich aufgereihten Pritschen vorbeikam, hörte ich das Weinen und Schniefen der anderen Jungen. Sie lagen gelähmt vor Angst in ihren Betten. Der Gestank von Urin drang mir in die Nase: Manche Kinder hatten sich vor Angst in die Hose gemacht.
Aber ich ging weiter. Ich musste zu ihr.
Ich bewegte mich langsam, doch mein Herz raste, bis ich die verschlossene Tür erreichte, die uns Jungen von den Mädchen trennte. Ich holte die kleine Nadel aus der Geheimtasche in meiner Hose und schob sie lautlos ins Schlüsselloch. Ich konzentrierte mich darauf, zu fühlen, wie das Schloss aufging, während ich zugleich verzweifelt auf irgendein Geräusch, irgendein Zeichen lauschte, dass die Notsch Prisrak – die Männer, die nur als Nachtmahre bekannt waren – sich dieser Etage näherten.
Eine Schweißperle bildete sich auf meiner Stirn, doch ich biss mir auf die Lippe und konzentrierte mich auf meine Aufgabe. Meine Hand bewegte sich langsam und sicher. Ich stieß die Luft aus, als das Schloss aufschnappte und der Türknauf sich langsam unter meiner Hand drehte.
Ich warf einen Blick über die Schulter ins Dunkel, um sicherzugehen, dass mir niemand folgte. Manchmal gerieten ein paar der anderen Jungen in Panik und wollten mir folgen. Doch das ging nicht. Ich konnte nur zwei retten. Der Rest würde allein kämpfen müssen, hier, in diesem beschissenen Höllenloch. In diesem Haus, in das die Phantome in der Nacht kamen, zur Auslese.
Niemand hinter mir, also schlüpfte ich durch die offene Tür und schloss sie rasch wieder. Dann steckte ich die Nadel zurück in meine Geheimtasche und schlich über den Flur zu der engen Treppe. Vorsichtig stieg ich die Stufen hinunter zu einem weiteren schmalen Treppenabsatz. Ich sah die Tür, die zu ihrem Zimmer führte, knackte das Schloss und schlüpfte hinein. Kaum hatte ich den Saal der Mädchen betreten, hörte ich auch schon lautes Weinen, das mir im Blut brannte und den Magen umdrehte. Hier waren die kleinen Mädchen. Eines von ihnen war meine Schwester: meine beste Freundin und mein einziger Grund zu leben.
Ich ging achtsam vierzehn Schritte. In den Jahren, die wir hier schon eingesperrt waren, hatte ich mir den kurzen Weg eingeprägt. Ich erinnerte mich an alles. Mein Gehirn vergaß nie etwas. Nach dem vierzehnten Schritt streckte ich die Hand aus und spürte augenblicklich die kleinen Finger von Inessa, meiner kleinen Schwester.
Ich lächelte leicht und kämpfte die Tränen nieder, während ihre zitternden Hände mich unglaublich fest hielten. Wortlos holte ich sie aus dem Bett und hob sie auf meine Arme. Inessa vergrub den Kopf in der Mulde zwischen meinem Hals und meiner Schulter und schlang die dünnen Ärmchen wie einen Schraubstock um meinen Nacken. Ich nahm mir einen kurzen Moment Zeit, sie zu drücken. Doch dann zwang mich das Geräusch einer sich öffnenden Tür, das durch den Flur hallte, zum Handeln.
Ich rannte los.
Ich rannte, so schnell meine Füße uns tragen konnten.
Und während ich rannte, zerrissen Schreie die Stille der Nacht. Inessas Atem wurde schneller. Als ich die Tür zum Korridor erreichte, umklammerten ihre kalten Hände meinen Nacken noch fester, und sie flüsterte: »Notsch Prisrak.« Die Furcht in ihrer gedämpften Stimme ließ mir fast die Beine wegknicken, doch ich drängte weiter durch die Tür in das leere Treppenhaus. Diesmal waren aus der Richtung unseres geheimen Verstecks Rufe und Schreie zu hören.
Grauen erfasste mich. Ich wippte auf den Füßen, von reiner Angst gepackt. Ich versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, was ich tun, wohin ich gehen sollte, als aus dem Schlafsaal der Jungen ein Krachen zu hören war.
»Valentin?«, schniefte Inessa an meinem Hals. Sie zitterte am ganzen Körper. Ihr rasender Herzschlag vibrierte an meiner nackten Brust. Ich kniff die Augen zu und versuchte verzweifelt, mir ein anderes Versteck einfallen zu lassen. Die schweren Stiefel der Phantome klangen wie Donnerschläge, nein, schlimmer, wie eine Stampede von Elefanten, die uns von allen Seiten in die Enge trieben.
Dann fiel es mir ein – die Krankenstation in der Etage über uns. In Sekundenschnelle jagten meine Füße zwei Treppenabsätze nach oben. Inessa gab, während ich rannte, die ganze Zeit keinen Laut von sich. Meine Oberschenkel brannten vor Anstrengung, bis ich vor der alten Tür mit dem roten Kreuz auf der Glasscheibe zum Stehen kam. Doch das Poltern der Stiefel wurde lauter. Das Bumm Bumm der Schritte kam immer näher. Ich schwitzte und mein Herz hämmerte wie verrückt. Das lief so gar nicht nach Plan. Der Türknauf drehte sich. Und dann drang ein Klicken an meine Ohren, und die Tür zum Schlafsaal der Jungen ging auf.
Ich sauste durch die Tür der Krankenstation und machte sie fest zu. Das einfallende Mondlicht ließ vier schmale Betten erkennen. Es gab keine Möbel, in die man kriechen konnte, keine verborgenen Türen oder Schränke, um sich dahinter oder darin zu verstecken.
Laute Stimmen waren zu hören. In dem Wissen, dass die Phantome sich in unsere Richtung bewegten, rannte ich zu dem am weitesten entfernten Bett und stellte Inessa auf den Boden. Ihre Hand hielt meine ganz fest, doch ich hatte keine Zeit, sie zu trösten. Ich musste uns in Sicherheit bringen.
Ich ging auf die Knie, zog Inessa zu Boden und krabbelte unter das Bett. Inessa folgte mir – sie folgte grundsätzlich allem, was ich sagte oder tat, ohne Fragen zu stellen. Ich drückte mich in die Ecke, machte mich so klein, wie ich nur konnte, und nahm Inessa in die Arme. Ihr kleiner Körper schmiegte sich eng an mich. Wir blieben leise, ganz leise.
Wir atmeten flach. Inessa weinte lautlose Tränen, ihr kleiner Körper zitterte. Ich hielt sie ganz fest, hoffte und betete, dass die Phantome nicht zu uns kämen. Dass sie heute Nacht an uns vorbeigehen würden. Dass sie uns nicht in ihre Lastautos laden würden, die Gott weiß wohin fuhren.
Ich legte die Hand an Inessas Hinterkopf, drückte ihre Wange an meine Brust und schloss die Augen, während ich ihr einen Kuss auf das schwarze Haar hauchte.
Stille. Die Stille war so schwer, dass ich nicht zu atmen wagte, aus Angst, einen Laut zu verursachen. Dann jagte mir ein kurzes Quietschen vor der Tür zur Krankenstation weiß glühende Funken über den Rücken.
Inessa wimmerte an meiner Brust, deshalb legte ich ihr den Finger auf die Lippen, voll Verzweiflung, damit sie ja keinen Laut von sich gab.
Ich beobachtete den Boden auf der Suche nach irgendwelchen Anzeichen von Schatten, und mir sank das Herz, als ich sah, wie die Tür aufging und mehrere Stiefel hereinkamen. Die Männer sprachen leise miteinander. Georgier. Einige Wörter in deren Sprache waren mir nicht vertraut. Ich hielt Inessa noch fester und beobachtete wie ein Falke, wie die Stiefel im Zimmer umherliefen und vor jedem Bett stehen blieben.
Dann machten zwei Paar Stiefel abrupt kehrt und gingen auf den Flur hinaus. Meine weit aufgerissenen Augen konzentrierten sich auf die zwei Paar, die noch hier waren – zwei Paar Stiefel, die nun langsam, quälend langsam, auf dieses Bett zukamen.
Ich hielt den Atem an, zu verängstigt, um auch nur auszuatmen, als die Stiefel stehen blieben. Tränen stiegen mir in die Augen, und mir wurde klar: Das war’s.
Die Phantome hatten uns gefunden.
Und dann ging alles ganz schnell.
Blitzschnell wurde das Bett, unter dem wir uns versteckten, umgekippt, das Licht ging an und tauchte das Zimmer in blendend weiße Helligkeit. Ich zuckte zusammen, als Inessa in meinen Armen aufschrie, auch sie vom plötzlichen Licht geblendet.
Ich blinzelte mehrere Male, bis die Gesichter der Phantome deutlich wurden. Da war ein Mann, ein riesiger, finsterer Mann, und neben ihm stand eine Frau. Die Frau trug eine Art Militäruniform ganz in Schwarz – so wie alle Phantome – und hatte das Haar zu einem Knoten zurückgebunden. Und nun musterte sie uns mit schmalen dunklen Augen, die sich hauptsächlich auf Inessas Hinterkopf konzentrierten. Ich versuchte, meine Schwester fest an mich zu drücken und ihr Gesicht verborgen zu halten, doch als würde sie den Blick der Frau spüren, hob Inessa den Kopf und sah sich um. Und ich sah die Phantomfrau lächeln. Ein Lächeln mit schmalen Lippen. Sie blickte zu dem Mann an ihrer Seite auf und nickte.
Mir war sofort klar, was das bedeutete. Ich sprang auf, Inessa immer noch in meinen Armen, und rannte los. Geradeaus, so schnell ich konnte, doch als ich die Tür erreichte, streckten die beiden Wachen, die ich nicht mehr dort vermutet hatte, die Hände aus und packten mich an den Haaren. Ich biss die Zähne zusammen, als der Schmerz durch meinen Kopf jagte. Ich konnte Inessa nicht länger festhalten, ein riesiger Phantomkerl riss sie mir aus den Armen. Inessa schrie und streckte die Ärmchen nach mir aus. Rot glühender Zorn packte mich; ich schlug zu, und meine Faust traf den Mann in den Bauch.
Ich hörte nicht auf. Ich schlug zu, immer wieder, bis er losließ. Mein Blick war fest auf Inessa gerichtet, die ins Zimmer hineingezerrt wurde. Ich jagte vorwärts, doch da explodierte Schmerz in meinen Bauch. Meine Beine knickten bei dem Schlag ein, und mir blieb die Luft weg.
Doch immer noch kämpfte ich weiter. Inessa war starr wie eine Statue in den Armen des Phantoms und sah mit weit aufgerissenen blauen Augen zu. Eine Träne lief ihr über die Wange, und ich zwang mich, wieder in Bewegung zu kommen. Ich robbte auf meine Schwester zu und biss bei dem Schmerz in meinem Bauch die Zähne zusammen. Plötzlich traf mich noch ein Schlag, diesmal im Rücken. Ich sackte auf den kalten Boden. Blut lief mir aus dem Mund, und ich schmeckte Kupfer auf meinen Lippen. Doch mit einem weiteren Blick auf Inessa zwang ich mich weiter.
Irgendwo im Hinterkopf hörte ich die Phantome gedämpft reden, doch als Inessa die Hand ausstreckte, verdoppelte ich meine Anstrengungen. Immer weiter kroch ich auf meine Schwester zu. Doch als ich ihre Hand berühren wollte, wurde ich vom Boden hochgerissen. Ich versuchte mich freizukämpfen, doch der Mann, der mich festhielt, war einfach zu stark. Und ich war von den Schlägen geschwächt.
»Lass mich los«, zischte ich auf Russisch, meiner Muttersprache. »Ihr nehmt sie mir nicht weg.«
Die Frau trat in mein Sichtfeld. Ihre kleinen dunklen Augen starrten mich an, und ein Grinsen spielte um ihre schmalen Lippen. Meine Augen loderten, und ich fauchte: »Lass mich los!«
Da wurde aus dem Grinsen ein Lächeln, und ein Mann kam heran und blieb neben ihr stehen. Es war der Mann, der das Bett umgekippt hatte, um uns zu finden. Er musterte mich mit dunklen Augen, die mächtigen Arme verschränkt.
Ohne den Blick von mir zu wenden, trat die Frau wieder auf Inessa zu. Ich ließ sie nicht aus den Augen. Als sie Inessa erreichte, zuckte meine Schwester vor Angst zurück. Die Frau hob die Hand, als wolle sie zuschlagen.
Ich stieß einen Schrei aus.
Ich brüllte, trat und schlug um mich, um freizukommen. Die Frau ließ die Hand sinken, und ich sah Erkenntnis über ihr Gesicht huschen. Sie trat vier Schritte auf mich zu – ich zählte jeden einzelnen mit – und hob die Hand an mein Gesicht.
»Du tust alles, um sie zu beschützen, richtig?«, sagte sie auf Russisch, ihr starker georgischer Akzent schwang in jedem Wort mit.
Mein Kiefer verkrampfte sich, aber ich sagte nichts. Sie lachte, und der Mann neben ihr neigte den Kopf. Die Frau blickte zu ihm auf und sagte: »Wir nehmen beide. Sie ist eine Schönheit. Und er ist anders als alle, die ich je gesehen habe. So loyal und ungestüm.«
Der Mann nickte, und mein Blut gefror zu Eis. Die Frau hob die Hand und schnippte mit den Fingern. Sofort trug der Mann, der Inessa festhielt, meine Schwester hinaus, und auch der Mann, der mich gepackt hatte, setzte sich in Bewegung. Ich ließ meine Schwester nicht aus den Augen, als man uns zu einem Transporter brachte. Und ich ließ sie nicht aus den Augen, als die Phantomfrau ganz nah an mein Ohr kam und sagte: »Wenn du willst, dass sie am Leben bleibt, dann wirst du lernen, alles zu tun, was wir dir sagen. Du wirst einer von uns. Du wirst ein Nachtphantom, wie man uns hier nennt. Ein unsichtbarer Killer. Eins mit der Nacht. Du wirst mein wertvoller Ubijza, mein wirksamster Mörder.«
Und so war es.
Die Jahre vergingen, und ich wurde zu einem Schemen in der Nacht.
Ich wurde der Bringer des Todes.
Ich war Qual.
Ich war Schmerz.
Ich war der verdammte Albtraum, den niemand je kommen sah …
… bis es zu spät war.
Manhattan, New York
Heute …
»Sychaara«, flüsterte ich geschockt, und Hoffnung ließ mein Herz aufbrechen, eine Hoffnung, die ich in den zwanzig Jahren seit dem Massaker nicht zu fühlen gewagt hatte. Die Hoffnung, dass mein Bruder am Leben wäre. Und nun, nach all den Jahren, war er am Leben.
»Miss?«, drängte Awto, mein Beschützer und Bodyguard, doch ich war wie zur Salzsäule erstarrt. Meine Beine waren taub vor Schock. Zaal, mein Zaal, war am Leben.
Meine Augen schwammen in Tränen, als ich Awto wieder ansah. »Und Anri? Gibt es Nachricht von Anri?«
Awtos Gesicht verdüsterte sich vor Enttäuschung. »Nein, Miss, kein Wort über Anri. Aber unsere Quelle hat erfahren, dass ein Kostava in die Stadt gekommen ist. Sie haben ihn beobachtet, und das sehr gründlich. Und …«
»Und was?«, unterbrach ich ihn, begierig auf jedes Wort, das Awto sagte.
»Und es ist Zaal, Miss.«
Ein Schluchzen drang aus meiner Kehle, und ich presste die Hand vor den Mund. Ich vergegenwärtigte mir Zaal. Sein acht Jahre altes Gesicht, das mich ansah, während er mich in den Armen hielt und mit mir vom Wald unseres Anwesens zum Haus ging. Mit breitem Lächeln sah er mich an, und ich zählte die drei kleinen Muttermale auf seiner linken Wange ab: »Eins, zwei drei.« Ich erinnerte mich an langes schwarzes Haar, das ihm über den Rücken fiel, und an seine grünen Augen, aus denen das Leben leuchtete. Und ich erinnerte mich an Anri, der neben uns herging, Gestalt und Haar ganz genau wie bei Zaal, nur dass er dunkelbraune Augen hatte, so wie ich.
Eine Hand legte sich auf meine Schulter und holte mich aus meinen Erinnerungen. Awto sah mich besorgt an.
»Miss, alles in Ordnung?«
»Ja«, flüsterte ich und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Es ist nur alles so … Ich habe gehofft und gebetet, dass er überlebt, dass sie beide überleben, aber als wir all die Jahre nichts von ihnen hörten, hatte ich die Hoffnung verloren. Es … das ist alles zu viel auf einmal.«
Doch dann wurde mir bange: »Bist du sicher, Awto? Ich weiß nicht, ob ich es ertragen könnte, wenn es ein Irrtum ist. Mein Herz ist seit über zwanzig Jahren gebrochen; noch mehr Schmerz hält es nicht aus.« Awtos sanfte braune Augen wurden weicher. »Wir sind sicher, Miss.«
Ich runzelte die Stirn. »Aber lebte er immer noch im Untergrund? Wer hat ihn all die Jahre geschützt? Wie wurde seine Identität offenbar? Ist er in Gefahr?«
Awtos sanfter Blick wurde bekümmert. Ich streckte die Hand aus und packte seinen Arm. »Awto? Sag es mir. Wo ist mein sychaara gewesen?«
Awto holte tief Luft und sagte dann leise: »Miss, die Jakhuas hatten Ihre Brüder, und sie haben sie benutzt.«
»Benutzt? Wie? Ich verstehe nicht.« Ich wollte Antworten.
Awto versteifte sich und sagte: »Miss, es gibt Dinge in unserer Welt, von denen Sie nichts wissen. Menschen, Orte, die nur in der Unterwelt existieren. Nur im Geheimen.«
Ich runzelte die Stirn. »Awto, was willst du mir damit sagen? Wo war mein Zaal? Was hat dieser Mann mit meinen Brüdern gemacht?«
Awtos Armmuskel unter meiner Hand war unbeweglich. Er holte tief Luft und erklärte: »Zoya, die Jakhuas haben Drogen entwickelt.«
»Was für Drogen?«, fragte ich.
»Gehorsamkeitsdrogen, Miss. Drogen, die die Erinnerungen ihrer Opfer auslöschen und sie dazu zwingen, schreckliche und widerwärtige Dinge zu tun.«
Ich schluckte, und mein Herz wurde schwer. »Nämlich?«, flüsterte ich.
Awtos Schultern sanken herab. »Töten. Morden. Alles, was ihr Meister von ihnen verlangt. Und damit meine ich alles. Ohne Rücksicht auf Moral.«
Galle stieg mir in die Kehle, doch ich schluckte sie hinunter. »Und Jakhua«, ich schluckte noch einmal, als mir die Stimme versagte. »Jakhua hat diese Droge an meinen Brüdern benutzt?«
Awto nickte, aber er wurde blass dabei.
»Was?«, drängte ich.
»Miss«, sagte Awto mit belegter Stimme. »Zaal und Anri wurden nicht einfach nur unter den Einfluss der Droge gebracht. Diese Droge wurde an Ihren Brüdern entwickelt.«
Ich sah ihn an und erstarrte. Meine Hände zitterten. Es schnürte mir die Kehle zu, doch ich schaffte es, zu fragen: »Er – Jakhua – er hat meine Brüder benutzt, um diese Droge an ihnen zu testen? Er hat an ihnen herumexperimentiert, als wären sie Laborratten?«
Heiße Tränen strömten mir über die Wangen, als Awto antwortete: »Ja, Miss. Da sie Zwillinge waren, hat er die Droge in sämtlichen Entwicklungsstadien an ihnen getestet und die Ergebnisse verglichen.«
Ich sprang auf, rannte zum Mülleimer und übergab mich.
Awto folgte mir und legte mir sanft seine betagte Hand auf den Rücken, um mich zu trösten. Doch ich fand keinen Trost bei dem Gedanken, dass meine Brüder, meine starken und tapferen, geliebten Brüder, mit diesem … diesem Gift vollgepumpt wurden, und das jahrelang, bis sie sich an nichts mehr erinnerten.
Ich wischte mir keuchend den Mund ab und wandte mich an Awto. »Ihre Erinnerungen? Zaals Erinnerungen?« Furcht erfüllte mich, als mir klar wurde, dass mein Bruder möglicherweise nicht wissen würde, wer ich war. Das musste der grausamste Witz Gottes sein: Ich warte zwanzig Jahre lang auf die Rückkehr meiner Brüder, nur um dann zu erfahren, dass einer meiner Brüder, meine einzige Familie, ein Fremder sein könnte.
»Wir haben gehört, dass seine Erinnerungen mit jedem Tag ein wenig mehr zurückkehren, und Zoya, wir glauben, dass er sich an Sie erinnert, aber …«
»Aber was?«, fragte ich beinahe unhörbar.
»Miss«, sagte Awto und trat näher, »er glaubt, Sie seien bei dem Massaker umgekommen. Er hat keine Ahnung, dass Sie überlebt haben. Er hat nie erfahren, dass Ihre Leiche nie gefunden wurde.«
Ich ließ den Kopf hängen, als ich daran dachte, wie Zaal sich nach all diesen Jahren der Finsternis an seine Familie erinnerte, in der Annahme ihres Ablebens. »Er ist ganz allein?«, fragte ich und stellte mir vor, was er wohl durchmachen musste.
Awto sagte nichts darauf. Als ich den Kopf hob, sah ich, dass er wie erstarrt dastand, sein fünfundsiebzigjähriger Körper steif vor Anspannung. Dieses Mal fragte ich nicht, was los war. Ich wartete einfach.
»Er ist nicht allein«, gab Awto nach langen angespannten Sekunden zu.
»Er hat Betreuer, die ihn gefunden haben? Leute, die loyal zu unserer Familie stehen?«
Awto schüttelte den Kopf, und seine Haut, die dünn wie Pergament war, wurde blass. Ich ging zu ihm und legte ihm die Hand auf den Arm. »Awto?«
Doch Awto sagte nichts weiter. Stattdessen griff er in seine Jackentasche und holte ein Foto heraus. Mein Herz fing zu hämmern an, als ich auf den weißen Rücken des Fotos starrte. Zaal. Ich wusste, dass auf diesem Foto mein Zaal zu sehen war.
Ich streckte die Hand aus, doch Awto zog sie zurück. Verärgert sah ich ihm in die Augen. Awto räusperte sich. »Zaal ist nicht allein, Zoya. Wir haben gehört, dass er sich verlobt hat und heiraten will.«
Mir blieb der Mund offen stehen, und ich schüttelte den Kopf. »Verlobt? Wie ist das möglich? Ich dachte, er ist von Jakhua gefangen gehalten worden? Wann hatte er da die Zeit, eine Frau zu finden? Ich verstehe nicht, wie das alles sein kann.«
Awto starrte auf das Foto in seiner Hand und hielt es mir dann hin. Meine Hände zitterten, als ich das Foto nahm. Ich drückte es an meine Brust und schloss die Augen. Ich hatte mich immer gefragt, wie Zaal wohl aussehen würde, wenn er älter wäre. War er so groß und stark, wie ich immer gedacht hatte? Trug er das schwarze Haar immer noch lang bis auf den Rücken wie die georgischen Krieger aus alten Zeiten? War sein Lächeln noch immer sorglos und unbekümmert und sein Wesen ruhig und zurückhaltend?
Das Foto an meiner Brust fühlte sich an, als würde es ein Loch durch meine Kleidung brennen. Ich atmete tief durch, hielt das Bild vor mich und richtete den Blick auf die beiden Gestalten, die darauf zu sehen waren.
Mein Herz schwoll, als ich den Mann sah. Den riesigen Mann mit olivfarbener Haut und langem, schwarzem Haar, das ihm bis auf den Rücken fiel. Seine grünen Augen leuchteten, und drei Muttermale prangten stolz unter seinem linken Auge.
Und er lächelte.
Und wie. Ein Lächeln so voller Liebe, mit dem mein Bruder – mein nun erwachsener und starker Bruder – eine Frau ansah, in reiner, hingebungsvoller Liebe.
Ich richtete den Blick auf die Frau, und plötzlich hatte ich einen Kloß im Hals. Sie war wunderschön. Langes blondes Haar fiel ihr über den Rücken. Sie war zart gebaut, überaus hinreißend, und sie sah mit tiefbraunen Augen zu Zaal auf und lächelte.
Es war ein surreales Gefühl. Mein Bruder, den ich tot geglaubt hatte, war am Leben. Am Leben und verliebt. Mein Herz war erfüllt und voll Wärme.
Als ich das Foto eingehender betrachtete, konnte ich Tattoos auf Zaals Haut erkennen, und bei genauerem Hinsehen erkannte ich Narben auf den bloßen Armen, die unter dem kurzärmligen Hemd zum Vorschein kamen. Ich musste die Augen schließen, als mich eine Woge des Kummers überkam. Was musste er in den Fängen dieses bösartigen Mannes durchgemacht haben?
Ich blinzelte und sah Awto an. »Wer ist die Frau?«
Awto antwortete nicht; stattdessen wippte er auf den Füßen hin und her und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.
»Awto?«
Kopfschüttelnd antwortete er: »Ich kann kaum glauben, dass es wahr ist, aber seine Verlobte ist …« Awto verstummte, und sein Kiefermuskel verkrampfte sich.
»Wer ist sie?«, verlangte ich in drängendem Tonfall zu wissen.
Ohne den Kopf zu heben, offenbarte er: »Talia Tolstaja.«
Ich war sicher, dass die Wände und der Boden meines Apartments um mich herum einstürzten, als ich den Namen hörte. Ich schüttelte den Kopf, überzeugt, mich verhört zu haben. »Kannst du das, bitte, wiederholen?«
Awto schüttelte den Kopf. »Sie haben ganz richtig gehört, Miss. Zaal, unser neuer lideri, unser Anführer, ist verlobt mit Talia Tolstaja, der Tochter von Iwan Tolstoj, einem der Roten Könige der Wolkow-Bratwa.«
Ich bekam weiche Knie, und Awto streckte die Arme aus und führte mich zur nächsten Couch. Ich ließ mich nieder und betrachtete das Foto mit neuen Augen. Diese Frau, diese Blondine, war die Tochter der Familie, die meinen Vater verraten hatte. Die Familie, die zu hassen und an der Rache zu üben meine Brüder, meine ganze Familie, sich zur Aufgabe gemacht hatten.
»Ich verstehe das nicht, Awto. Wie konnte er das unserer Familie antun? Wie konnte er den Namen Kostava schänden und entehren, indem er sich mit dieser Frau einlässt?«
»Miss Zoya, unser Kontakt hat uns mitgeteilt, dass, auch wenn er die Gründe nicht kennt – niemand kann ihren inneren Kreis infiltrieren –, die Wolkow-Bratwa für die Rettung Ihres Bruders verantwortlich war. Sie haben ihn in den Fängen von Jakhua gefunden und irgendwie befreit. Und unter ihrem Schutz hat er sich in das Tolstaja-Mädchen verliebt.«
Während ich auf das Foto starrte, tobte in meinem Herzen ein Krieg. Mein Bruder war am Leben, doch er hatte sich in unseren größten Feind verliebt. Ich konnte diese unmögliche Wahrheit kaum begreifen.
Awto legte mir tröstend einen Am um die Schultern. Ich schmiegte mich an seine Seite, doch als ich mich gerade entspannen wollte, fuhr Awto fort: »Lideri Zaal hat Levan Jakhua getötet. Mithilfe des knjaz der Wolkows, Luka Tolstoj, hat er den Mann getötet, der Ihre Familie ermordet hat. Die Jakhuas sind keine Gefahr mehr, Miss. Wir müssen uns nicht länger verstecken. Unsere Leute, Sie, sind frei.«
Überrascht straffte ich mich und ließ die Bedeutung seiner Worte sacken.
»Haben Sie gehört, Miss? Wir müssen uns nicht mehr verstecken.«
»Du meinst, ich kann das Apartment verlassen?«, flüsterte ich. Ich wagte nicht, die Worte laut auszusprechen, aus Furcht, dass sie falsch sein könnten.
»Ja. Und unsere Leute auch, Miss. Alle unsere Leute, die untergetaucht waren – die Leutnants, die Wächter –, unter ihnen verbreitet sich die Neuigkeit ebenfalls. Die Tatsache, dass unser lideri in Gestalt Ihres Bruders am Leben ist, verbreitet sich wie ein Lauffeuer unter ihnen.« Awto lächelte und fuhr aufgeregt fort: »Unser Klan kann wieder aufsteigen. Die Kostavas können ihren Platz hier in New York einnehmen. Endlich!«
Mein Blick fiel auf das Foto von Zaal und seiner geliebten Tolstaja, und mir wurde das Herz schwer. »Was, wenn er nicht der lideri sein will? Was, wenn das, was er unter Jahkua durchgemacht hat, seine Seele zu sehr verletzt hat? Was, wenn er nur ein Leben mit dieser Frau will, ohne unsere Leute zu führen?«
Awtos Lächeln schwand. »Er ist Zaal Kostava, vom berühmten und edlen Kostava-Klan. Er wurde für diese Rolle geboren.«
»Und doch sagst du, er hat seine Tage als Killer verbracht, geschaffen von einem bösartigen Mann.« Awtos Mundwinkel sanken bei meinen Worten, doch ich schüttelte den Kopf. »Keiner von uns ist noch der Mensch, als der er geboren wurde. Ich habe mich mein Leben lang versteckt. Zaal hat um sein Leben gekämpft, seit er acht Jahre alt war. Und Anri? Wo ist er? Was ich sicher weiß, ist, dass keiner von uns noch derselbe Mensch ist. Wie könnten wir auch? Alles, was wir kannten, wurde uns genommen und zerstört.«
Awto nahm meine Hand und drückte sie. »Unsere Leute haben sich über zwanzig Jahre lang vor Jakhua versteckt, manche wurden gefunden und auf entsetzlichste Weise umgebracht. Unsere Leute brauchen das; sie brauchen uns mit neuer Kraft. Sie brauchen Zaal als unseren lideri.«
Stille machte sich breit, während ich Awtos Worte im Geiste immer wieder wiederholte. Aber er hatte recht. Unsere Leute hatten über zwei Jahrzehnte lang in Angst gelebt. Nur die Hoffnung, dass meine Brüder überlebt hatten, hatte sie optimistisch bleiben lassen.
»Ich muss ihn sehen«, sagte ich, und die Anspannung wich aus Awtos Körper. »Ich muss meinem Bruder mitteilen, dass ich am Leben bin. Ich muss wissen, wo Anri ist.« Meine Augen füllten sich mit Tränen, und ich schniefte. »Ich muss meine Familie wiederhaben. Ich muss meinen sychaara sehen.«
»Das verstehe ich, Miss«, sagte Awto. Er griff in seine Tasche und holte ein Blatt Papier heraus. Er gab es mir und nickte. »Darauf stehen Zaals Adresse und die der Tolstojs. Jeden Dienstag und Donnerstagabend ist er im Haus der Tolstojs in Brighton Beach, Brooklyn. Wir legen einen Tag fest und bringen Sie dorthin, bald.« Awto drückte meine Hände fester, und mir wurde klar, dass heute Dienstag war. »Er wird es nicht glauben können. Seine Schwester, seine Blutlinie, ist noch am Leben.«
Ich nickte, beugte mich zu Awto vor und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Du bist ein guter Mann, Awto. Jetzt geh nach Hause und feiere die Neuigkeiten mit deiner Familie. Wenn alles, was du gesagt hast, stimmt, dann bin ich endlich sicher allein. Das ist ein Segen.«
Awto sah mich an, wie ein Vater seine Tochter ansehen würde, bevor er aufstand. »Ich organisiere einen Wagen, der uns Donnerstag nach Brooklyn bringt, zu dem Apartment, in dem Zaal mit seiner Verlobten wohnt.«
Ich lächelte Awto zu und nickte, als er das Apartment verließ. Ich hörte die Tür ins Schloss fallen und ließ mich wieder auf die Couch sinken. Als Awto und seine Familie mich als Kind fanden, an der Schwelle des Todes, unter den Leichen meiner toten Familie, hatten unsere Leute gejubelt. Ich war am Leben. Der Kostava-Klan, der für die Menschen in Georgien eine Art königliche Familie gewesen war, hatte einen lebenden Erben. Und Anri und Zaal waren vermisst. Vermisst, nicht tot. Eine Hoffnung, die immer schwächer geworden war, war plötzlich neu geboren.
Wie die berühmte Prinzessin im Turm hatte man mich mein ganzes Leben lang versteckt und wie eine Göttin behandelt. Wir waren häufig umgezogen, bis ich fürchtete, die erstickende Einsamkeit, die mein Leben geworden war, würde mich verrückt machen. Man behandelte mich mehr wie ein kostbares Juwel als wie einen Menschen – zu wertvoll, um an den Feind verloren zu gehen. Die letzte Säule der Hoffnung für die Kostava-Dynastie aus Tiflis.
Bis jetzt.
Ich sprang auf und eilte zu den schweren schwarzen Vorhängen meines Apartments, die immer zugezogen waren. Ich schob sie zur Seite, nur ein klein wenig, und starrte hinaus in die dunkle, kalte Nacht, auf der Suche nach irgendeinem Lebenszeichen. Menschen gingen vorbei, kümmerten sich um ihre Angelegenheiten, doch abgesehen davon konnte ich keine Gefahr erkennen.
Ich ließ die Vorhänge los und schloss die Augen. »Es gibt keine Gefahr mehr«, sagte ich laut, um mich davon zu überzeugen, dass die Bedrohung für mein Leben nicht länger existierte.
Ich ging zum Wandschrank, holte meinen langen dunklen Kapuzenmantel heraus und zog ihn über meine schwarze Hose und die schwarze Seidenbluse. Mein langes schwarzes Haar schob ich nach hinten. Das Papier mit den Adressen fest in der Hand, marschierte ich zur Tür. Ich musste das tun, und zwar allein. Nachdem ich zwanzig Jahre lang auf diese Nachricht gehofft hatte, konnte ich nun keine Sekunde länger warten, meinen Bruder zu sehen.
Ich verließ das Apartment fast nie, trotzdem kannte ich das Gelände wie meine Westentasche. Als Awto mich vor Jahren nach New York gebracht hatte, hatte er dafür gesorgt, dass ich mir jede Straße, jede U-Bahnstation einprägte. Ich musste vorbereitet sein, falls ich allein fliehen musste. Ich war darauf trainiert, mit den Schatten zu verschmelzen.
Ich öffnete die Tür auf die Manhattan Street. Schnee fiel und tauchte die dunklen Asphaltstraßen in Weiß. Ich zog die Kapuze über den Kopf, stieg die Stufen des Apartmenthauses hinunter und verlor mich in der anonymen Menschenmenge auf der Straße. Mit gesenktem Kopf ging ich zur U-Bahn und betrat die belebte Station. Ich setzte mich auf einen freien Platz und gestattete mir, das Foto hervorzuholen und das glückliche Paar zu betrachten.
Die lange Reise nach Brighton Beach ging viel schneller, als ich mir vorgestellt hatte. Ich war auf den Bruder fixiert, den ich für immer verloren geglaubt hatte,gemischt mit der berauschenden Vorfreude darauf, dass ich ihn noch in dieser Stunde wiedersehen würde.
Der Zug kam zum Stehen, und ich verließ eilig die Station. Ich war noch nie zuvor in Brighton Beach gewesen, und als ich auf die Straße hinaustrat, schnappte ich nach Luft, als ich die Umgebung sah. Ich fühlte mich wie in einer anderen Welt. Die grauen Gebäude waren leer und baufällig. Die Straßen waren dunkel und schmutzig. Kalter Wind pfiff durch die mit Brettern zugenagelten Häuser und halb verfallenen Restaurants und Läden. Kein Vergleich zum Reichtum und der Schönheit von Manhattan.
Ich ignorierte den eisigen Schauer, der mir über den Rücken lief, und zwang meine Füße zum Gehen. Die Sohlen meiner schwarzen Stiefel knirschten auf dem Schnee. Ich hielt mich im Dunkel der unbeleuchteten Straßen, wurde eins mit der Nacht, bis ich eine Reihe eleganter Stadthäuser erreichte. Das Haus in der Mitte stand stolz inmitten der verwahrlosten Umgebung. Sein gepflegter Zustand verriet mir, dass seine Besitzer Geld hatten.
Mein Herz hämmerte.
Das Haus der Familie Tolstoj.
Die Fenster waren hoch und breit, und jeder konnte sehen, dass die Menschen, die hier wohnten, etwas Besseres waren als der Rest. Als Schatten sich hinter den Fenstern bewegten, blieb mir das Herz stehen. Ich kniff die Augen zusammen und spähte durch den fallenden Schnee. Ein großer Mann mit breitem Brustkorb, der eine Frau mit langem, braunem Haar im Arm hielt. Ich hielt den Atem an, als eine blonde Frau vor sie trat. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt und scherzte und lachte mit der Brünetten.
Talia Tolstaja.
Ich schnappte nach Luft, während ich die Verlobte meines Bruders anstarrte, und dann blieb mir vollends die Luft weg, als zwei große Arme sich von hinten um ihre Schultern legten. Die Arme waren olivfarben und mit Tattoos übersät, und ich wusste, ich sah Zaal.
Ich betete, er möge ins Blickfeld der Fenster kommen, doch sein Gesicht kam nicht in Sicht.
Ich musste ihn sehen.
Ich schlang die Arme um meine Mitte, meine Kapuze sicher über dem Kopf, dann atmete ich tief durch und trat hinaus auf die stille Straße.
Es war Zeit, dass er erfuhr, dass ich hier war.
Dass seine Blutlinie überlebt hatte.
»Steh auf.«
Kälte riss mich aus dem Schlaf. Eisiges Wasser klatschte auf meinen Körper und ließ mich augenblicklich vom Boden, wo ich gelegen hatte, aufspringen. Ich kam brüllend auf die Füße, und mein nackter Körper zitterte von der kalten Luft, die über meine Haut strich.
Ich ballte die Fäuste, als ich mich zu dem gwardij umdrehte, dem georgischen Bewacher meines Käfigs. Für mich war er nicht mehr als ein swinja, ein Schwein. Alles erbärmliche Schweine, die die Uniform der Phantome trugen und auf harte Kerle machten. Ein Schlag von mir, und sie wären mausetot.
Die anderen machten auf Tod.
Ich war der Tod.
Der Wärter wich zurück, als ich an die Metallstäbe des Käfigs kam. »Stillgestanden, Biest!«, befahl er und gab sich hart. »Sie wird bald hier sein.«
Dann grinste er mich an, und ich machte mich auf das Serum gefasst. Er drückte den Knopf an seiner Fernbedienung. Sofort zog sich der Metallkragen um meinen Hals zusammen, und die Nadeln auf der Innenseite stachen in meine Haut. Ich biss die Zähne zusammen, als der Schmerz des Serums in meine Adern fuhr.
Dann kam die Hitze. Das Serum brannte, während es durch meine Muskeln raste, und ich warf den Kopf in den Nacken, als das Gift seine Wirkung entfaltete. Als würde ich aus meinem Körper gerissen, ein Beobachter, der gezwungen war, nur zuzusehen, fühlte ich, wie mein freier Wille schwand. Der Drang zu töten wurde zum einzigen Impuls in meinem Kopf. Das Einzige, was ich fühlen konnte. Das Einzige, was ich war: ein Killer.
Schritte im langen Korridor, und ihr Klang versetzte mich zurück in die Vergangenheit, in jene Nacht, die Nacht, als sie mich holten.
Mich und sie.
Blitzartig verschwand die Erinnerung, und ich stieß einen Schrei aus, während rasender Zorn in mir pulsierte. Ich sah den Wärter jenseits der Gitterstäbe grinsen und machte einen Satz nach vorn, rammte die Schulter gegen das Metall. Die Käfigtür schepperte, und er wich vor Furcht einen Schritt zurück. Der Kragen wurde noch enger, meine Adern pochten unter dem Druck.
Ich trat zurück und wollte noch einmal losstürmen. Doch als ich die Füße in Bewegung setzen wollte, ließ mich eine Stimme auf der Stelle erstarren.
»Halt!«, fauchte die Frau.
Meine Herrin, der ich gehorchen musste.
Meine Augen blieben auf den Boden gerichtet, und dann tauchte ihre schwarzen Stiefel in meinem Blickfeld auf. Meine Haut prickelte, als sie die Hand durch die Gitterstäbe streckte und über meine Brust fuhr.
»Geh!«, befahl Herrin dem Wärter. Ich hörte ihn davonhasten, und wir waren allein. Herrin öffnete die Käfigtür, und ich registrierte, wie sie hereinkam und die Tür hinter sich zuschlug.
Sie legte die Finger auf meinen Arm und fuhr damit nach oben, bis sie den schwarzen Metallkragen berührte, den ich für immer tragen musste. »194«, flüsterte sie und strich mit den Fingern über meine Wange. Ich wollte ihr die Arme aus den Gelenken reißen, ihr das dürre Genick brechen – aber das Serum ließ mich stillstehen. Es verhinderte, dass ich ungehorsam zu meiner Herrin war.
»Heb den Blick und sieh mich an!«, befahl sie auf Russisch, und mein Blick zuckte auf Kommando nach oben. Ich sah sie an. Mein Blick bohrte sich in ihren. Ihr dunkles Haar war zu einem festen Knoten nach hinten gebunden, und ihr hartes Gesicht sah mich finster an.
Dann grinste sie. Dieses spöttische Grinsen, das ich so sehr hasste.
»Du warst ein paar Tage außer Gefecht, 194. Wir mussten den Standort wechseln. Du hast ein neues Ziel.« Mein Blut pulsierte schneller, denn ich wusste, ich sollte töten. Das Serum bewirkte, dass ich töten wollte. Wenn ich tötete, brachte mir das Erleichterung. Aber das wusste sie nicht. Das Miststück würde nie erfahren, dass das Serum bei mir nur vorübergehend wirkte. Sie würde nie erfahren, dass ich nicht zu hundert Prozent fügsam war wie einige andere Versuchsobjekte.
Herrin kam näher und presste ihre Titten an meine nackte Brust. Ihr Mund kam an mein Ohr, während ihre Hand über meinen Bauch glitt und an meinem Schwanz landete. Sie krümmte die warmen Finger darum und fing an, ihn zu massieren, woraufhin er durch das Serum hart wurde. »Du wirst töten, 194, du wirst töten, oder sie wird bezahlen.«
Ich biss wütend die Zähne zusammen, als ich ihre Drohung hörte. Herrin trat zurück und fing an zu lachen, als sie meinen Gesichtsausdruck sah. Aber sie nahm die Hand keinen Augenblick von meinem Schwanz. Sie packte ihn hart und bewegte die Hand schneller, bis mein Atem in kurzen, harten Zügen ging.
Herrin musterte mich mit glänzenden Augen und genoss ihre Macht über mich, und dann kam sie noch näher und flüsterte: »Fick mich. Hart. Nimm mich wie das Biest, das du bist.« Ihre Zunge leckte über meine Ohrmuschel. »Nimm mich wie das hässliche Biest, zu dem ich dich gemacht habe!«
Reine Wut packte mich, und ich fühlte die langen Narben in meinem Gesicht und auf meinem Kopf förmlich brennen bei ihren Worten, aber ihr Befehl ließ meinen Körper einen Satz nach vorn machen und sie an den Haaren packen. Kraftvoll drückte ich sie mit dem Gesicht an die Wand und zerrte ihr Kleid hoch. Sie trug nichts darunter – wie immer –, also zwang ich ihr grob die Beine auseinander und rammte meinen Schwanz in sie hinein.
Ich war so grob und hart, wie ich konnte – ich wollte, dass sie litt –, doch der Schrei aus ihrem Mund rührte nicht von Schmerzen her. Die Schlampe liebte es. Sie liebte Schmerz und Qual. Sie liebte es, mich dazu zu zwingen, dass ich mich ihrem Willen beugte. Sie liebte es, mich zu besitzen.
Herrin hatte mich gut gedrillt. Das war es, was ich tat. Ich tötete. Ich vögelte. Und ich konnte jeden Bastard zum Reden bringen.
Ich packte ihr Haar fester, sodass ihr Kopf nach hinten gerissen wurde, griff mit der anderen Hand an ihre Hüfte und stieß immer wieder hart in sie.
Ich wollte ihr wehtun, aber je härter ich es versuchte, umso mehr fuhr sie auf meine Wildheit ab.
Ich grunzte vor Anstrengung. Ihre Muskeln spannte sich um meinen Schaft. Ich wollte, dass es noch dauerte. Ich wollte sie bluten lassen, ihr das Haar ausreißen und ihr mit den Zähnen das Fleisch aus der Kehle fetzen, aber sie hatte mir nur befohlen, sie zu vögeln, also konnte ich nichts weiter tun, als die bösartige Schlampe zu vögeln.
Meine Oberschenkel fingen zu prickeln an, und der Druck meines Höhepunktes raste mir über den Rücken. Herrin spürte meinen Drang zu kommen, denn sie befahl: »Komm ja nicht, bevor ich es dir sage, Biest!« Meine Kinnmuskeln spannten sich bei ihrem Befehl an, aber mein Körper gehorchte, obwohl meine Hoden prall waren und vor Verlangen nach Erlösung schmerzten. Ich stieß härter in sie, und ihr Atem ging immer schneller. Qual jagte durch meine Lenden und meinen Schwanz, weil ich keine Erleichterung finden konnte, aber ich nahm es hin. Dieser Schmerz würde meine Rache befeuern, wenn die Zeit kam.
Denn sie würde kommen.
Herrin fing an zu stöhnen, lauter und lauter, bis sie meinen Schwanz umklammerte wie einen Schraubstock und sie einen Befehl schrie: »194, komm jetzt!«
Ich warf den Kopf zurück im Schmerz meines Höhepunktes – wie Rasierklingen, die aus meiner Haut gezogen wurden.
Herrin liebte das. Sie liebte es, mich zu foltern und meinen Kopf zu manipulieren. Bei jedem neuen Schwall Samen brüllte ich auf, bis Herrin sich umdrehte, sich grob von meinem Schaft befreite und den Rücken an die Wand presste.
Meine Hände ballten sich zu Fäusten, begierig darauf, die Finger um ihren Hals zu schließen. Aber sie grinste wieder ihr provozierendes Grinsen und zog ihren schwarzen Rock zurück über die Knie. Sie richtete ihr Haar, kam dann auf mich zu und schlug mir hart mit der Hand ins Gesicht, bevor sie sanft meine Wangen umfasste.
»Nächstes Mal besorgst du es mir härter. Schließlich habe ich dich zu einem Wilden gemacht.« Sie beugte sich zu mir und flüsterte: »Also benimm dich gefälligst auch wie einer.«
Ich verzog die Lippen und knurrte warnend. Sie ging ohne Angst einmal um mich herum, und mein Blick verfolgte jede ihrer Bewegungen, bis sie in ihre Tasche griff und das rechteckige Gerät herausnahm, das sie jedes Mal mitbrachte.
Mein Herzschlag hämmerte in einer Mischung aus Erleichterung und Grauen, als das Display zum Leben erwachte. Da war 152. Sie schlief gerade, zusammengerollt auf dem Boden ihrer Zelle, ihr dünner Körper in das weiße, durchsichtige Hemd gehüllt, das sie immer tragen musste.
Ich hielt meine Atmung unter Kontrolle, während ich sie in ihrem tiefen Schlaf betrachtete. Das lockige Haar fiel ihr über den Rücken. Dann zoomte Herrin den Bildschirm auf 152s nackte Beine, und alles in mir erstarrte. Blutergüsse. Blutergüsse in Form von Handabdrücken überall an ihren Beinen. Kratzer und noch mehr blaue Flecken an ihren Hüften.
»Kannst du es sehen, 194? Kannst du sehen, was der letzte Kerl mit ihr gemacht hat?«
Wer?, brüllte es in meinem Kopf, während ich den Bildschirm keine Sekunde aus den Augen ließ. Aber Herrin nahm das Gerät wieder weg und steckte es in die Tasche.
Mehrere Sekunden vergingen in Schweigen, bis Herrin vor mir stehen blieb. »Deine Zielperson ist ein Mann, der hier in New York lebt. Der Scheißkerl hat sich mit einem sehr wichtigen Partner von uns angelegt.« Herrin strich mit den Fingern über meinen Kragen, als sie das sagte. »Er hat einen Mann ermordet, der extrem wichtig war für uns, für mich. Und ich habe ein Versprechen gegeben. Ich habe ihm versprochen, falls dieser Mann den, der so wichtig für uns war, getötet hat, würde er ebenfalls sterben. Er würde langsam sterben, qualvoll und unter den Händen meines wertvollsten, sadistischsten und tödlichsten ubijza.« Sie grinste und strich mit den Fingerspitzen über meine Lippen. »Das, 194, bist du. Du wirst derjenige sein, der ihm den Tod bringt.«
Herrin seufzte und trat zurück. »Wie es scheint, hat mein Bruder deine 152 gesehen. Und ich fürchte, ich muss sagen, dass er sehr daran interessiert ist, sie zu sich zu rufen, um sie für sich zu haben. Und wir wissen, dass er alles bekommt, was er verlangt. Schließlich ist er Herr über unsere Leute.«
Feuer loderte in meinem Blick bei dem Gedanken, dass 152 zum Meister befohlen würde, dass sie mir genommen würde, und ich wollte auf etwas einschlagen, etwas töten, und zwar schnell. Herrin wusste, wie ich mich fühlen musste, und sie verschränkte die Arme und sagte: »Wenn du ihn töten kannst, und zwar … kreativ, dann sorge ich dafür, dass deine kostbare 152 in der Nähe bleibt. Ich sorge dafür, dass sie nicht weggebracht wird.«
Ich folgte Herrin mit dem Blick und spürte, wie mir bei ihrem Versprechen das Herz leichter wurde. Es war ein Versprechen, das sie mir bei jedem Mordauftrag gab. Es gab immer ein nächstes Mal, bevor 152 zu mir zurückkäme, doch ich konnte nicht aufgeben, denn nächstes Mal konnte immer zu diesem Mal werden – und dann würde ich zuschlagen.
Herrin ging zur Käfigtür und griff nach etwas auf dem Boden. Dann kam sie mit Kleidung, einem Notebook und einem Schlüssel in den Händen zurück. Sie legte alles vor mir auf den Boden und sagte: »Du hast zehn Minuten, bevor dich ein Transporter zum Abladepunkt bringt. Die Adresse der Unterkunft, die du nutzen wirst, steht im Notebook. Die Adresse der Zielperson auch.« Herrin kam noch näher, bis sie an meine Brust gedrückt dastand, und stellte sich auf die Zehenspitzen. Ihre Lippen streiften über meine. »Töte ihn langsam, 194. Du hast Wochen, um ihn bezahlen zu lassen, wertvolle Zeit, die du brauchen wirst. Er wird überaus gut geschützt, steht unter dem Schutz einer mächtigen Familie, die niemals von unserer Existenz erfahren darf. Also nutze alles und jeden in seinem Umfeld gegen ihn. Benutze und befrage jeden, den du brauchst, um an ihn heranzukommen. Verstehst du? Du nutzt alle nur möglichen Mittel.« Sie hielt inne und lächelte dann an meinem Mund. »Und dann töte alle. Lass sie mit Blut bezahlen.«
»Ja, Herrin«, antwortete ich automatisch. Herrin drückte ihre Lippen auf meine, doch ich erwiderte den Kuss nicht. Von allen beschissenen Dingen, die sie mich mit ihr zu tun zwang, war das Gefühl ihrer schmalen Lippen auf meinen das schlimmste. Ich hatte keine Ahnung wieso. Ich wusste nur, dass ihre Nähe mich abstieß.
Herrin trat mit einem Lachen zurück und drückte auf einen Signalknopf, um einen Wärter zu rufen. Als der den Käfig erreichte, drehte sie sich ihm zu und befahl: »Füll seinen Kragen mit neuen Ampullen, die ich speziell dafür bestellt habe. Nimm ausreichend viele und programmiere den Kragen so, dass er zweimal pro Tag eine Dosis abgibt. Wir brauchen ihn so beeindruckend wie möglich.«
»Jawohl, Herrin«, antwortete der Wärter gehorsam.
Herrin blieb an der Käfigtür stehen und sagte: »Ich werde unsere Zeit zusammen vermissen, wenn du weg bist, 194. Vielleicht statte ich 152 in deiner Abwesenheit einen Besuch ab und sehe, ob sie mir so wirksam Vergnügen bereiten kann wie du. Immerhin seid ihr vom selben Blut.«
Ich verlor die Beherrschung. Mein Kopf wandte sich ruckartig in ihre Richtung, und mein Körper war bereit, zuzuschlagen. Herrin runzelte die Stirn, und ich zwang mich dazu, vorzugeben, dass das Serum mich immer noch im Griff hatte. In Wahrheit hielt die Wirkung dieser Ampullen immer nur kurze Zeit an. Am Ende konnte ich den Nebel, den sie brachten, jedes Mal vertreiben.
Ich senkte den Blick zu Boden und hörte Herrin endlich davongehen.
Der Wärter hielt seine Picana – eine Art Viehtreiber – in der Hand und befahl: »Anziehen. Wir müssen los!«
Ich hatte immer noch das Bild von 152 im Kopf, wie zerbrochen auf dem Boden liegend, mit Blutergüssen an den Beinen, als ich mich rasch anzog und mir schwor, meinem neuen Ziel mein Schlimmstes anzutun.
Während ich dem Wärter über den Korridor meines neuen Gefängnisses folgte, öffnete ich das Notebook und las den Namen des Mannes, der schon bald vor Schmerz schreien würde.
Zaal Kostava.
Brooklyn.
New York.
Hier war ich noch nie gewesen. New York. Brooklyn. Brighton Beach. Ich hatte meine Tage auf der ganzen Welt verbracht, wo immer Meister seine Geschäfte abwickelte – und Feinde hatte. Das war der Punkt, an dem ich ins Spiel kam. Meister wollte immer seinen besten Mann für den Job – und das war ich. Doch diesmal war es anders. Das hier war ein Mordauftrag der Herrin. Ein persönlicher Mordauftrag. Und auch persönlich für mich, da ich dadurch für 152s Sicherheit sorgte.
Meister wollte sie haben. Aber das durfte ich nicht zulassen.
152 war eine Schönheit. Das war der Grund, warum Herrin uns vor all den Jahren geholt hatte. Schon als 152 noch ein Kind war, konnte Herrin in ihr das Potenzial für eine mona sehen. Und Herrin hatte sie jahrelang benutzt. Sie hatte sie missbraucht und ihr das Leben zur Hölle gemacht.
Eine Hölle, der ich ein Ende bereiten würde.
Ich glitt in die Schatten und machte mich auf den Weg zu einer der Adressen, die ich für meinen Auftrag erhalten hatte. Als ich mich der Straße näherte, bemerkte ich, dass alle fünfzehn Minuten ein Auto vorbeifuhr. Es fuhr langsam und hatte verdunkelte Fenster. Die Zielperson war offenbar jemand Wichtiges in dieser Gemeinde. Sein Haus war gut bewacht.
Es würde ein Geduldspiel. Ein Geduldspiel, bis einer seiner Leute einen Fehler machte und ich ihn mir greifen konnte, oder jemanden aus seinem Umfeld.
Hebelwirkung.
Ich stand in einer Gasse, einem eleganten Stadthaus gegenüber, und sah schweigend zu, wie ein Wagen anhielt und ein großer blonder Kerl hinten ausstieg und jemandem im Inneren die Hand hinhielt. Ich blinzelte, um seine Züge besser zu erkennen, aber der Kerl war zu hellhäutig, um mein Ziel zu sein. Danach stieg eine Frau aus dem Wagen. Sie hatte langes braunes Haar und blaue Augen.
Ich prägte mir die Leute ein und wartete weiter. Fünfzehn Minuten später kam ein anderer Wagen. Diesmal stieg ein großer dunkler Kerl mit schwarzem Haar, das ihm bis auf den Rücken fiel, aus. Meine Nasenflügel weiteten sich, als er sich umdrehte und sein ernstes Gesicht in Sicht kam. Grüne Augen sahen auf jemanden hinunter, der gerade aus dem Wagen stieg.
Er.
Der Mordauftrag.
Zaal Kostava.
Ich achtete darauf, mich nicht zu bewegen. Ich verließ mich auf mein jahrelanges Training und blieb so still wie die Nacht. Aber ich beobachtete. Ich sah, dass drei Wachen um den Wagen standen. Dann war eine Frau an seiner Seite. Blond. Braune Augen. Ein Ring an der linken Hand.
Seine Frau? Seine Verlobte?
Mein Blick folgte den beiden, als sie die Stufen hinauf ins Haus gingen. Die Fenster waren groß, und ich legte den Kopf schief, konzentrierte mich auf die Schatten und studierte ihre Bewegungen.
Die Wachen in den Autos patrouillierten die folgenden zwei Stunden weiter. Männer in lässiger Alltagskleidung, die ihre Runden um den Block drehten, die Hände immer in den Taschen – zweifellos an ihren Waffen.
Zwei Stunden, in denen ich mich keinen Zentimeter rührte. Das war der Grund, wieso ich der beste Mörder, der Todesbringer, war. Ich versagte nie. Und ich versagte nie dabei, meine Opfer vor Schmerzen schreien zu lassen. Aber erst nachdem sie beim Anblick meines entstellten Gesichts aufgeschrien hatten. Ich verkörperte ihre sämtlichen wahr gewordenen Albträume.
Plötzlich bemerkte ich eine Bewegung links von mir. Eine Gestalt, ganz in Schwarz, näherte sich der Straßenseite, wo ich mich verbarg. Ich musterte sie aufmerksam und erkannte, dass es eine Frau war.
Sie hatte die Arme um die Taille geschlungen, und eine große Kapuze verbarg ihr Gesicht. Mit leisen Schritten eilte sie die Straße entlang. Ich ließ sie nicht aus den Augen, als sie ins Dunkel glitt. Sie wollte ungesehen bleiben.
Immer näher kam sie und blieb dann nur wenige Schritte von mir entfernt stehen. Sie nahm mich hinter sich nicht wahr. Das taten sie nie.
Ich beobachtete. Ich sah, wie ihr Atem schneller wurde, und hörte sie ausatmen. Schneeflocken landeten auf ihrem schwarzen Mantel, doch die Frau blieb reglos.
Ihre Aufmerksamkeit galt dem Haus, das ich beobachtete. Aber sie machte keine Anstalten, weiterzugehen. Ich sah zu, wie sie in ihre Tasche griff. Noch deutlicher fiel mir auf, dass ihre Hand zitterte.
Ein Foto kam zum Vorschein. Als sie es vor die Augen hob, erhaschte ich einen Blick auf das Bild: meine Zielperson und seine Frau.
Ich verzog befriedigt den Mundwinkel. Die Frau bedeutete der Zielperson etwas. Damit hatte sie sich zu meiner Beute gemacht.
Plötzlich stockte ihr der Atem, und als ich zum Haus blickte, konnte ich die Leute, die ich beim Hineingehen beobachtet hatte, deutlich hinter den Fenstern stehen sehen. Die Frau hielt das Foto fest, und ich sah, wie sie den Atem anhielt.
Sie wartete darauf, den dunklen Kerl zu sehen.
Urplötzlich wurde es eng um meinen Hals, und ich zuckte vor Entsetzen zusammen. Meine Kinnmuskeln spannten sich an, und ich schloss die Augen, als der Kragen sich zusammenzog und die Vorrichtung in der Metallklammer sich in meinen Hals bohrte. Ich biss die Zähne zusammen, als die Nadeln langsam meine Haut durchstießen. Und dann kam es. Das Brennen des Serums, das meine Adern flutete.
In der Zeit, die mir noch blieb, bevor die dadurch gesteuerte Raserei einsetzte, holte ich mein Notebook heraus und prägte mir den Namen der Unterkunft ein. Dann richtete ich den Blick auf die Frau in Schwarz und wusste, was ich als Nächstes tun würde.
Die Nadeln zogen sich aus meiner Haut zurück, dann kam es. Roter Nebel senkte sich wie ein Vorhang über meine Augen. Meine Muskeln wölbten sich, als das Gift in jede einzelne Ader drang. Wut. Unkontrollierbare Wut packte mich, und mit ihr der Drang, Schmerzen zuzufügen. Schreie zu hören. Blut zu vergießen.
Herrin und ihren Befehlen zu gehorchen.
Kurz bevor ich mich in der Finsternis verlor, in der Rolle des Todesbringers, die ich, wie ich wusste, annehmen würde, glitt mein Blick noch einmal zu der Frau in Schwarz. Ich duckte mich und machte mich bereit, zuzuschlagen.
Im selben Augenblick, als die Frau tief durchatmete und auf die Straße trat, um sie zu überqueren, entfaltete das Gift seine volle Wirkung. Meine Augen weiteten sich, als ich meinen freien Willen ins Nichts schwinden fühlte – mein Körper reagierte schlimmer als üblich und unterwarf sich der Droge, wie Herrin es beabsichtigt hatte.
Die Bestie in mir war frei.
Und ich griff an.
Ich griff die Frau vor mir an.
Ich hakte den Arm um ihren Hals und drückte ihr die Hand auf den Mund. Sie wollte sich befreien und versuchte unter meiner Hand zu schreien. Ich zerrte sie zurück in die Schatten und drückte mit dem Arm um ihren Hals zu. Sie wehrte sich die ganze Zeit, trat um sich und kratzte mit den Fingernägeln über die Hand vor ihrem Mund.
Meine Muskeln brannten, als die Furcht von ihrem Körper Besitz ergriff, mein Herz schlug schnell, genoss das Gefühl, als das Leben aus ihrem Körper wich. Als ihr Körper den Kampf verlor, lockerte ich meinen Griff. Sie sackte bewusstlos in meine Arme. Das Foto in ihrer Hand fiel zu Boden. Ich sah es an, und das Gesicht meiner Zielperson starrte mir entgegen.
Ich lächelte.
Ich lächelte mit der Frau in meinen Armen.
Denn sie würde bezahlen.
Sie würde bezahlen, mit Schmerz und Blut … und dann würde ich zu ihm kommen.
»Hast du dir schon Gedanken gemacht, wo du heiraten wirst, Tal?«, fragte Kisa meine Schwester, als wir alle im Haus meiner Eltern saßen.
Talia rückte näher an Zaal heran und legte den Kopf an seinen gewaltigen Bizeps. »Vielleicht einfach hier im Haus. Eine kleine Feier.« Talias Miene wurde traurig, und sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe nur euch, und …« Sie räusperte sich, während Zaal sich anspannte, seine scharfen Züge unbewegt. »… und ihr wisst ja, Zaal ist allein.«
Zaal saß stocksteif da, das lange dunkle Haar fiel ihm ins Gesicht. Talia schob es nach hinten und legte ihm die Hand an die Wange. Zaal wandte sich ihrer Hand zu, und sie küsste ihn. Sofort wich alle Anspannung von ihm.
Er kämpfte. So wie ich gekämpft hatte.
Mir wurde das Herz schwer, denn ich hatte wenigstens meine Familie gehabt. Er hatte niemanden außer uns. Wir waren nicht von seinem Blut. Es war nicht dasselbe.
Eine Hand fuhr über meine Brust, und als ich den Blick senkte, lächelte Kisa mich an. Ich beugte mich vor, küsste meine Frau auf den Scheitel und strich mit der Hand über ihren Bauch, wo nun unser Baby wuchs. Kisa legte den Kopf an meine Schulter. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so zufrieden gefühlt.
»Immer noch keine Nachricht, ob ich eine Nichte oder einen Neffen bekomme?« Ich sah zu Talia auf, die mir zulächelte.
»Nein, wir wollen uns überraschen lassen«, antwortete Kisa. In diesem Moment kamen mein Vater und Kirill herein. Kirill trug wie immer einen schwarzen maßgeschneiderten Dreiteiler. Sein scharfer Blick begegnete meinem, und er wies mit dem Kopf zum Büro meines Vaters.
Dann drehte Kirill sich zu Zaal um. »Arbeitszimmer.«
Ich drückte Kisa noch einen Kuss auf die Stirn, stand auf und folgte meinem Vater und dem Pakhan ins Büro. Zaal, nach mir – nach dem knjaz – die Nummer zwei, war direkt hinter mir. Nachdem wir eingetreten waren, ließ sich der Pakhan hinter dem Schreibtisch nieder und wir auf den Stühlen davor.
Zaal saß rechts, mein Vater links von mir. Während der letzten paar Monate hatte Zaal sich langsam an seine Rolle als eidgebundenes Mitglied unserer Bratwa gewöhnt. Ich nahm ihn überallhin mit, um unseren Leuten zu zeigen, dass ein neuer König sich den Wolkows angeschlossen hatte. Zaals schiere Körpergröße und Kraft zeigte allen, dass wir von Tag zu Tag stärker wurden. Und auch ich fühlte mich stärker mit ihm an meiner Seite.
Mein Vater war zwar eine Weile skeptisch gewesen, was Zaal anging, doch langsam kam er damit klar, einen Kostava in unseren Rängen zu akzeptieren. Und ich hätte nicht glücklicher sein können. Die Wolkow-Bratwa hatte immer drei Könige gehabt; mit Zaals Aufnahme erfüllte mich der Gedanke, dass ich eines Tages die Position des Pakhan einnehmen würde, nicht länger mit Furcht – ich hätte einen vertrauenswürdigen Bruder, der mir helfen würde, ein Anführer zu sein, wenn es an mir war, den Platz des Pakhan zu einzunehmen.
Kirill holte eine Flasche Wodka hinter dem Schreibtisch hervor und schenkte vier Gläser ein. Wir tranken, und Kirill füllte nach.
Dann schob er die Gläser wieder zu uns, lehnte sich auf seinem Sessel zurück und erzählte: »Gestern ist ein nicht registriertes privates Kleinflugzeug gelandet. Unser Mann auf dem Flugplatz brachte sich an der Betankungsstation in Position, als das Flugzeug ankam.«
»Und niemand hat das mit dir geklärt?«, fragte mein Vater stirnrunzelnd.
Kirill schnippte mit der Hand und trank seinen Wodka, bevor er den Kopf schüttelte. »Es wurde nicht um Erlaubnis ersucht, andererseits haben die Leute keinen Respekt mehr davor, wie die Dinge in meinem Territorium gehandhabt werden. Keinen Respekt mehr vor den alten Sitten.« Er verschränkte die Hände vor dem Bauch und fuhr fort: »Aber das heißt nicht, dass sie nicht für ihren Mangel an Respekt und Ehre bezahlen werden.«
Stirnrunzelnd fragte ich: »Wer war es?«
Kirill beugte sich vor, sah mir in die Augen und sagte: »Ah. Genau das ist das Rätsel, Luka. Wie es scheint, weiß niemand etwas oder erinnert sich.«
»Dann bringen wir diejenigen, die das Flugzeug in unseren Luftraum gelassen haben, eben dazu, sich zu erinnern. Was immer dazu nötig ist.« Ich ballte die Hände auf den Armlehnen zu Fäusten. Der Gedanke, Gewalt ins Lager unserer Feinde zu tragen, ließ mein Blut vor Aufregung brennen.
Kirill lächelte kalt bei meiner Reaktion und fülltemein Glas nach. Ich kippte es hinunter, um ruhig zu bleiben und mir nicht ständig vorzustellen, wie ich Blut vergoss.