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Der Tod holt sich immer, was ihm zusteht, und dieses Mal ist es deine Seele. Kenna wird Zeugin eines Mordes. Das glaub sie jedenfalls. Denn in Wahrheit hat sie einen Sensenmann bei der Arbeit gesehen. Asher ist dazu bestimmt, die Seelen der Menschen an ihrem Todestag zu ernten und sicher weiterzuleiten. Niemand darf von seiner Existenz wissen, erst recht nicht die Frau, die ihn einen Mörder nennt. Er versucht alles, um sie vergessen zu lassen - ohne Erfolg. Schneller als Kenna lieb ist, gerät sie in die Welt des Todes und droht dabei, selbst ihre Seele zu verlieren, denn ihr Name landet auf Ashers Ernteliste. Können die Gefühle, die zwischen ihnen erblühen, den Tod davon abhalten, sich ihr Leben zu nehmen?
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Seitenzahl: 546
Copyright © 2024 by
Lektorat: Julia Adrian
Korrektorat: Lillith Korn
Layout Ebook: Stephan Bellem
Umschlag- und Farbschnittdesign: Alexander Kopainski
Bildmaterial: Shutterstock
ISBN 978-3-95991-656-1
Alle Rechte vorbehalten
Playlist
Ihr lieben Buchmenschen,
Prolog
Leugnung
1. Kenna
2. Kenna
3. Kenna
4. Kenna
5. Kenna
6. Kenna
7. Kenna
Zorn
8. Kenna
9. Kenna
10. Asher
11. Kenna
12. Auftraggeber
13. Asher
14. Asher
Verhandlung
15. Kenna
16. Asher
17. Kenna
18. Auftraggeber
19. Kenna
Verzweiflung
20. Kenna
21. Asher
Akzeptanz
22. Kenna
23. Asher
24. Asher
25. Kenna
26. Asher
Rache
27. Kenna
28. Kenna
29. Kenna
30. Asher
31. Kenna
32. Asher
33. Kenna
Afterlife
Danksagung
Drachenpost
Für die Person,
die mir gezeigt hat,
dass manche
Freundschaften
geboren wurden,
um zu sterben.
Sucker for Pain ((with Wiz Khalifa, Imagine Dragons, Logic & Ty Dolla $ign feat. X Ambassadors) – Lil Wayne, Wiz Khalifa, Imagine Dragons, X Ambassadors, Logic, Ty Dolla $ign
Team – Lorde
Dusk Till Dawn (feat. Sia) – ZAYN
The Sound of Silence – Disturbed
Look What You Made Me Do – Taylor Swift
I WANNA BE YOUR SLAVE – Måneskin
Nightmares – Mathias.
Fear Nothing von Riverdale Cast (feat. Ashleigh Murray, Asha Bromfield & Hayley Law)
MACHINE – Neoni
Reaper (feat. Jordan Frye) – Silverberg
Twin Skeleton’s (Hotel In NYC) – Fall Out Boy
Raise the Dead – RAIGN
Sail – AWOLNATION
Monster – The Girl and The Dreamcatcher
shut up – Greyson Chance
Supermassive Black Hole – Muse
Next Level – A$ton Wyld
Born To Die – Lana Del Rey
Hunger – The Score
Bad Blood – MAYCE & Benjamin Kheng
Zombie (Acoustic Version) – Clödie
The Outside – Alycia Marie
Trumpets (feat. Kestra) – JB Stark
In Your Eyes (Remix) (feat. Doja Cat) – The Weeknd
Run Away – Anna Smith & Vincent Lee
Nothing Else Matters (feat. WATT, Elton John, Yo-Yo Ma, Robert Trujillo & Chad Smith) – Miley Cyrus
Back from the Dead – Besomorph, AViVA & Neoni
Revenge – XXXTENTACION
LoveKills!!! – 9th Wonder
Made to Die – Dorothy
To the Grave (feat. Mike Stud) – Bea Miller
Insane – Kendra Dantes
UH OH – Neoni
hunger – remme
Reaper – Glaceo & RIELL
BURIED ALIVE – Our last night
Throne – Bring me the Horizon
11 Minutes (feat. Travis Barker) – YUNGBLUD & Halsey
Let It Die – Ellie Goulding
The Reaper – Lenee
Bury me Alive – Neoni
FUNERAL – Neoni
Pay – Felicia Lu
Don’t Fear the Reaper – PI3RCE
Die 4 Me – Halsey
A Match Into Water – Pierce The Veil
I Know Places (Taylor’s Version) – Taylor Swift
Never Know – Bad Omens
THE DEATH OF PEACE OF MIND – Bad Omens
Meet you at the Graveyard – Cleffy
Voices In My Head – Falling in Reverse
Never Let Me Go – Florence + The Machine
Work Song – Hozier
Shh I Won’t Tell – Sabrina Carmen
Skeletons – KINGS & Drew Ryn
ich freue mich, dass ihr mit meinen Sensen dieses Abenteuer erleben möchtet. Doch bevor ihr euch in die Geschichte stürzt, möchte ich darauf aufmerksam machen, dass dieses Buch ein wenig anders ist als meine bisherigen. Wie genau meine ich das? Es ist an einigen Stellen sehr viel brutaler, sehr plastisch und ausführlich beschrieben. Ebenso ist der Erotikanteil expliziter. Einige Triggerthemen könnten sein:
Trauer, Tod, Blut, Erbrechen, Tierleid, detaillierte Gewalt …
Falls ihr euch unwohl dabei fühlt, dann ist dieses Buch vielleicht nichts für euch. Ich möchte euch das bestmögliche Leseerlebnis bieten und dazu gehört auch, dass ich euch diese Information vorab gebe. Allen anderen: die Sensenwelt erwartet euch.
Und wer jetzt beginnt, dem wünsche ich viel Freude mit Kenna und den Sensen.
Sensentastische Grüße,
Janina
Wir wurden geboren, um zu sterben. Das war der Lauf des Lebens. Doch ich hatte keine Ahnung, was noch dahintersteckte. Und wenn ich daran zurückdachte, würde ich alles dafür geben, niemals in die Welt der Sensen gestolpert zu sein. Denn am Ende war es meine eigene Seele, die geerntet werden würde …
Ich verstand den Tod nicht. Wie funktionierte er? Wonach suchte er sich die Menschen aus, um sie sich einzuverleiben? Hatte er ein Glücksrad, an dem er drehte und der Auserwählte musste sterben? Führte er Buch über seine Opfer? War der Tod männlich? Oder weiblich? Divers? Hatte er überhaupt ein Geschlecht?
Das Bild von Dads Sarg tauchte vor meinem inneren Auge auf und ein Schauder lief meinen Rücken hinab.
»Kenna?« Mom berührte mich am Arm.
Ich schreckte zusammen. Mein Blick zuckte zurück zum düsteren Wald, der sich hinter meinem Fenster erstreckte und mir vor Augen führte, wie es in meinem Herzen aussah.
»Mein Schatz, wie geht es dir heute?«, fragte Mom und strich mir über die ungewaschenen Haare. Seit Tagen war ich nicht mehr duschen gewesen und roch dementsprechend.
»Okay«, brachte ich hervor, mehr ein Krächzen als ein Wort.
»Wollte Liz dich nicht abholen? Zum Kuchenessen bei Granny?«
Ich dachte an das Date, das Liz und ich verabredet hatten. Nach Dads Beerdigung war das gewesen. Wie lange war das jetzt her? Drei Monate?
Ich hatte es vergessen.
»Ist heute etwa Mittwoch?«, fragte ich und blinzelte träge.
»Ja. Es ist gleich drei.«
Ich brauchte ein wenig, bis die Information mein Gehirn erreichte und ich realisierte, was meine Mom da sagte. Liz würde mich jeden Moment abholen und ich war nicht ansatzweise fertig.
»Scheiße«, flüsterte ich.
Mom tätschelte meinen Arm und lächelte mich liebevoll an. »Ich habe dir ein paar Sachen rausgelegt.« Sie deutete auf mein Bett. Dort lag eine Auswahl an Jeans, Tops und Flanellhemden.
»Danke, Mom.« Ich drückte sie flüchtig.
»Gerne. Mach dich in Ruhe fertig und ich beschäftige sie noch ein wenig, sollte sie viel zu früh kommen, so wie immer.«
Ich brummte zustimmend und Mom ging. Ich hörte sie die Treppe hinabsteigen. Schnell schlüpfte ich in ein paar frische Sachen und bändigte meine ekligen Haare mit Trockenshampoo. Es würde gehen. Hoffte ich jedenfalls. Unten hörte ich, wie die Tür geöffnet wurde, und beeilte mich mit meinem Make-up. Obwohl ich in letzter Zeit viel mit dem Tod zu tun gehabt hatte, musste ich ja noch lange nicht so aussehen.
Behutsam lief ich die Treppe hinunter, an deren Geländer ich mich festklammerte, um nicht umzukippen. Ich hatte heute noch nichts gegessen. Doch das durfte Mom nicht erfahren, sonst würde sie sich nur noch mehr Sorgen machen als ohnehin schon. Ich hatte es einfach vergessen, weil ich … Ja, was hatte ich gemacht?
Aus dem Fenster gestarrt? An nichts gedacht?
Oder vielleicht doch an zu viel?
Liz streckte den Kopf aus der Küche. »Kenna, du siehst gut aus.« Sie strahlte mich an und zwinkerte.
Ich musste lächeln. Das mochte ich an ihr so gerne. Sie brauchte nicht viel machen, damit es mir besser ging. Wahrscheinlich wusste sie noch nicht einmal von ihrem Talent. Vielleicht wirkte es auch nur bei mir.
»Witzig«, erwiderte ich und verdrehte die Augen.
»Na ja, viel besser als letzte Woche, also lass mich nicht als Lügnerin dastehen.« Sie deutete mit einem ihrer langen Finger auf mich.
»Ist ja gut«, wiegelte ich ab.
Mom trug ein Lächeln auf den Lippen. »Es ist so schön, euch zusammen zu sehen.« Sie kam besser mit Dads Tod klar als ich. Die beiden hatten sich getrennt, als ich gerade zwei Jahre alt gewesen war. Wir hatten kaum Kontakt gehabt, zu Geburtstagen war eine Karte mit ein wenig Geld darin per Post gekommen. Eine richtige Beziehung hatten wir erst vor drei Jahren begonnen. Es war schön gewesen, einen Vater zu haben, wenn auch nur für kurze Zeit. Die Trauer um ihn war mein stetiger Begleiter, den ich nie loswerden würde. Wie eine dunkle Wolke, die über mir kreiste und mich verfolgte.
»Komm, lass uns fahren. Granny hat gebacken.« Liz packte meinem Arm und zog mich mit sich. »Bis dann, Laurena!«
Mom winkte und ich war froh, dass sie mich mit einem Lächeln verabschiedete.
Liz öffnete die Autotür, die sie niemals absperrte, verfrachtete mich auf den Beifahrersitz, gab Gas und fuhr mit einer so bahnbrechenden Geschwindigkeit durch die kleinen Straßen, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach ihren Schein würde abgeben müssen, sollte sie erwischt werden. Sie warf mir einen Pullover zu, der zwischen unseren Sitzen seinen Platz hatte. »Hier, nimm den, du zitterst wie ein Vogel zur Brunftzeit.«
»Ein Vogel zur Brunftzeit?«
Sie nickte. »Genau so.«
Ich bezweifelte, dass Vögel dabei wirklich zitterten, jedoch hatte ich die Temperaturen in der Tat vollkommen unterschätzt. Unser Atem stieg dampfend auf, während glitzernder Raureif das Gras krönte. »Danke. Für den Pullover und das Abholen.«
»Natürlich. Das ist doch klar. Wie gesagt, ich bin nur einen Anruf entfernt.« Sie warf mir einen Seitenblick zu, den ich auffing.
Wir hielten vor Grannys Haus und ich stieß die angehaltene Luft aus. Es wirkte wie eine Hexenhütte. Ich erwartete jedes Mal, dass gleich ein Besen um die Ecke geschossen kam, der mich abholte und an den Tisch flog. Doch leider kam er nie, wenn ich da war.
Liz schloss die Haustür auf. Es roch bereits nach Gebäck und ich schloss die Augen, um tief einzuatmen und innezuhalten.
»Ich liebe den Duft.«
Liz lächelte und betrat das große Wohnzimmer, in dem der Tisch bereits gedeckt war. »Ich auch.«
Granny kam aus der Küche und breitete die Arme aus, kaum dass sie uns sah. Ihr Haar war zu einem grauen Dutt zusammengefasst, aus dem lose Strähnen hingen, über ihrem Kleid trug sie eine geblümte Schürze und auf den Wangen Mehlspuren. Sie zog uns in eine feste Umarmung. »Wie lange ich euch nicht mehr gesehen habe. Ihr zwei Hübschen.« Sie war nicht meine Granny, sondern Liz’. Aber irgendwie gehörte sie auch zu mir. »Kommt, setzt euch, ich habe alles hergerichtet.«
»Danke, Granny!« Liz drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
»Das sieht toll aus«, sagte ich und bestaunte den dekorierten Kuchen und den reich gedeckten Tisch. Granny belud unsere Teller und Tassen, noch ehe unsere Pos die Stühle berührt hatten. Sie konnte verdammt gut backen.
Es war eine Wohltat, ihr und Liz dabei zuzuhören, wie sie über Belanglosigkeiten plauderten. Das Wetter, den Garten, Kuchen. Themen, die in meinem Leben gerade kaum eine Rolle spielten. Ich hätte nicht gedacht, dass ich sie derart vermissen würde.
Granny tätschelte meine Hand. »Ich verstehe zwar nicht, wie du so viel essen kannst, aber ich freue mich über deinen Appetit.« Sie lud mir ein drittes Stück von dem zuckergeladenen Kuchen auf, den sie extra für uns gebacken hatte. Ein glückseliger Ausdruck lag auf ihrem Gesicht, wobei sich ihre faltige Stirn straffte. »Der ist mir wirklich gelungen, oder?«
Da hatte sie recht, dieser Kuchen war ein Meisterwerk. Hausgemacht, mit ein bisschen Rum und angebrannten Mandelsplittern. Der pure Wahnsinn.
»Absolut«, erwiderte ich und schob mir eine Gabel voll in den Mund.
Liz lachte ungläubig auf und trank ihre Tasse leer.
»Schätzchen, möchtest du noch Kaffee?«, fragte Granny.
Liz nickte, sodass ihre blonden Haare durch die Luft schwebten. Sie wirbelten wie frisch gefallene Schneeflocken. Ich beneidete sie um diese natürliche, helle Farbe, denn ich war brünett. An manchen Tagen mochte ich mein Aussehen und an anderen verabscheute ich es wiederum. Aber ich sagte mir, dass niemand gänzlich zufrieden mit sich war, auch wenn es nach außen hin so wirkte.
Liz’ zartes Lächeln ließ mein Herz schneller schlagen. Es war schön, wenn sie sich wohlfühlte. »Ja, gerne. Danke Granny.«
Granny stand auf. Ihr Blumenkleid hatte ein paar Falten, die beim Sitzen entstanden waren. Die dekorativ hängenden Porzellanteller an der Wand wackelten ein wenig, als Granny an ihnen vorbeiging. Sie hatten beinahe das gleiche Muster wie die geblümte Couch darunter. Granny mochte Blumen und Pflanzen so gerne, dass sie überall um sie herum vertreten waren. Die Geranien auf dem Tisch, an denen ich vorbeischielen musste, damit Liz’ Kopf nicht vollkommen abgeschnitten war, blühten prächtig.
Granny wohnte außerhalb von Bone Hill, zwischen Wald und Wiese. Der Name der Stadt war zugegeben ziemlich düster.
Liz tippte mich an. »Hast du schon von dem Autounfall gehört?«
»Dem auf der Kreuzung?«
»Nein, den meine ich nicht.«
»Es gab noch einen?«
»Noch zwei! Hier.« Sie hielt mir ihr Handy unter die Nase.
Ich nahm es an mich und scrollte durch die Nachrichten.
»So wie du dich zu Hause eingeigelt hast, ist es kein Wunder, dass du nichts mitbekommst … Aktuell ist einiges los in der Stadt. Drei Unfälle allein diese Woche. Acht Tote.«
Ich blickte vom Bildschirm auf. »Acht?«
Liz verzog den Mund. »Der Letzte ist in ein Schaufenster gekracht und hat vier Leute unter sich begraben.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und las die Schlagzeile eines weiteren Artikels.
Gefährliches Blitzeis –
drittes Auto verliert auf spiegelblanker Straße die Kontrolle.
Die Polizei warnt vor nächtlichem Spontanfrost.
Liz drückte meine Hand. »Entschuldige, ich habe gar nicht darüber nachgedacht, ob es dich vielleicht …«
»Alles gut«, log ich. »Das ist wahrscheinlich der Grund, warum Mom aktuell Überstunden im Krankenhaus macht. Wenn so viele Leute verletzt werden oder …«, ich schluckte, zwang mich aber, das Wort auszusprechen, »… sterben.«
»Deine Mom macht einen großartigen Job.«
Ich nickte.
»Hier, iss noch was!« Liz klatschte motiviert in die Hände und lud mir mit der Kuchengabel ein Stück auf.
Ich atmete tief ein und aus, ließ die Gedanken nicht zu mächtig werden und nahm die Zuckerdose. »Oh.«
»Was ist? Keiner mehr da?« Liz wandte sich zur Tür. »Granny, Zucker ist auch alle!«
Granny antwortete nicht.
»Ich weiß doch, dass sie nicht mehr so gut hört, warum rufe ich dann nach ihr?« Umständlich wollte sie aus der Eckbank herausrutschen.
»Ich geh schon«, sagte ich und stand auf.
»Nichts da, du bist der Gast!«
Ich zog eine Augenbraue hoch. »Ich dachte, sie sei auch meine Granny.«
»Nun ja …«
»Ist sie? Oder ist sie nicht?«
Liz verdrehte die Augen. »Wie alt waren wir, als ich dir das angeboten habe? Fünf?«
»Sechs – aber wer zählt schon die Jahre?«
Liz lachte. »Ich weiß noch, wie du deinen Kuchen in den Teich hast fallen lassen und nicht mehr aufhören konntest zu weinen!«
»Woraufhin du Granny dazu gebracht hast, einen neuen zu backen. Wie könnte ich das jemals vergessen?« Der Geschmack des Sommers lag auf meiner Zunge, das Zwitschern der Vögel erklang in meinen Ohren und die Freude erfüllte mein Herz. Liz’ Hand lag in meiner, während der Duft von Apfelkuchen durch das Haus schwebte. An diesem Tag hatte die kleine Liz mir ins Ohr geflüstert: »Wenn du willst, kann sie auch deine Granny sein. Ich teile sie mit dir, weil du keine hast. Jeder sollte eine so tolle Granny haben.«
Ich hatte eingewilligt und seitdem gehörte sie zu uns beiden. Ich hielt meinen Arm hoch und präsentierte Liz stolz das Armband, das wir beide von Granny zu Weihnachten geschenkt bekommen hatten.
Für ihre Enkelkinder, hatte sie gesagt.
Liz hob ihren Arm ebenfalls, sodass ihr Armband ein wenig herunterrutschte. »Alles klar, du hast gewonnen. Ab mit dir, geh unserer Granny helfen!«
Ich machte mich auf den Weg in die Küche.
»Du weißt, wenn ich irgendwann etwas von dir brauche, werde ich diese Geschichte vortragen!« Liz’ Stimme folgte mir.
»Nichts anderes habe ich erwartet.«
Sie stimmte mit Gemurmel zu. Im Hintergrund erklang das Kratzen der Gabel auf dem Teller. Doch das glückliche Lächeln gefror mir auf den Lippen, als ich zur Küche kam. Noch bevor ich die Tür aufstieß, spürte ich den Temperatursturz. Mir wurde eiskalt. Trotz des Pullovers, den Liz mir gegeben hatte. Vor Kälte und Grauen.
Granny lag auf dem Boden, ihr Kleid hatte sich entfaltet wie die Flügel eines Schmetterlings. Sie war stocksteif, beinahe wie paralysiert, während ihre offenen Augen hervorquollen. Über sie gebeugt stand eine Person mit einer dunklen Kapuze über dem Kopf. Und es sah so aus, als würde dieser jemand etwas aus Granny … aussaugen. Ein leuchtendes Ding stieg aus ihrem Mund direkt zu der Person über ihr.
Blut umrahmte die Szene, die grauen Haare von Granny waren rot getränkt, genauso wie der helle Holzboden.
Ich schrie. Das Zerschellen der Zuckerdose, die ich fallen gelassen hatte, nahm ich nur am Rande wahr. Dafür brannte sich das Gesicht des jungen Mannes wie ätzende Säure in meine Augäpfel. Er starrte mich erschrocken an, als hätte er nicht erwartet, dass er entdeckt werden würde. Dann verschwand er. Einfach so. Er hatte sich praktisch in Luft aufgelöst, doch ich konnte mich nicht rühren. Blinzelnd starrte ich auf die Stelle, an der der Mann eben noch gestanden hatte und jetzt nicht mehr.
Dann vernahm ich die Stimme von Liz hinter mir.
»Kenna, was ist passiert?« Ihre Hände berührten mich, als sie mich zur Seite schob und ich somit ihre Granny nicht mehr verdeckte. Sie kreischte markerschütternd auf und fiel neben ihr auf die Knie. Direkt in die Blutlache. Augenblicklich haftete die rote Flüssigkeit an ihrer Kleidung.
Ich bekam zwar mit, was Liz tat, doch konnte mich nicht rühren.
»Ruf einen Notarzt!«, rief sie mit tränenüberströmten Wangen.
Stocksteif stand ich da. Wie gelähmt.
»Verdammt, Kenna! Ruf Hilfe!« Erst nachdem Liz mir einen Stoß versetzt hatte, kam ich in Bewegung. Mit zitternden Händen wählte ich den Notruf. Während es klingelte, sah ich nur Granny. Ihre Augen starrten an die Wand, während ihr Körper durch die Herz-Lungen-Massage erbebte und das Blut weiter von ihr forttrieb. Ich wusste, dass sie uns nie wieder Kuchen backen würde.
Die Kollegin meiner Mutter, Susan, starb eine Woche darauf. Und der Chef meines Cousins folgte zwei Tage später. Auch der Besitzer der Tankstelle wurde tot aufgefunden. In der Zeitung wurde von einem jähen Temperaturabsturz in der Tankstelle berichtet, während Mom mir unter Tränen erzählte, dass es im Haus ihrer Freundin unfassbar frostig gewesen sei. Sie hatte sie gefunden, genauso wie ich meinen Dad vor drei Monaten. Auch dort war es eiskalt gewesen. Das ging nicht mit rechten Dingen zu, ganz davon abgesehen, dass ein Mann etwas aus Granny ausgesaugt hatte und sie daraufhin gestorben war.
Ich hatte niemandem von meinem Verdacht erzählt. Wobei Verdacht recht hoch gegriffen war. Viele fanden es zwar seltsam, dass sich die Todesfälle häuften – sie sprachen über das Wetter, eine Unglücksserie, sogar über einen Fluch, der auf der Stadt lag –, doch nur ich wusste, was dahintersteckte. Denn ich hatte ihn gesehen. Und er mich. Deshalb hielt ich es für besser, allein damit fertig zu werden. Ich wusste todsicher, dass ich ihn mir nicht eingebildet hatte. Aber vielleicht würden es meine Mom und Liz darauf schieben, dass mein Vater vor Kurzem verstorben war und ich jetzt durchdrehte. Doch ich wusste, was ich gesehen hatte. Da konnte mir niemand etwas erzählen.
Ich hatte ihn gesehen: den Mann.
Als ich nach dem Grund für Grannys Tod fragte, meinte der Arzt nur, dass es ein Herzstillstand gewesen sei. Das ganze Blut stamme von der Kopfwunde, die sie sich beim Sturz zugezogen habe. Wer’s glaubt. Der Fremde hatte sie ermordet, aber weshalb?
Ich konnte keine Nacht ruhig schlafen. Regelmäßig wachte ich auf und sah ihn vor mir, so als wäre er wirklich hier. In meinem Zimmer. Wenn ich jedoch blinzelte, war er verschwunden. Wie auch jetzt.
Ich rieb mir über das Gesicht und sehnte den Schlaf herbei, doch es klappte nicht. Ich war hellwach. Wenn ich schon nicht schlafen konnte, würde ich wenigstens produktiv sein. Ich setzte mich an den Schreibtisch und zeichnete das Gesicht des Mannes. Wieder und wieder. Wenn ich die Augen schloss, stand er vor mir. Ich füllte mehrere Blätter mit seinen Zügen. Ebenso mit der Szene, die sich in der Küche abgespielt hatte. Dass die Sonne aufging, registrierte ich kaum, mein Blick war einzig und allein auf die Striche gerichtet, die einen jungen Mann beschrieben. Er hatte ausgeprägte Wangenknochen und eine breite Nase, die seinem Gesicht einen harten Ton verliehen. Ich konnte nicht lügen, er war attraktiv, jedoch erfasste mich jedes Mal eine Gänsehaut, wenn ich daran dachte, was er getan hatte. Seine Haare fielen ihm ins Gesicht und der Ausdruck in seinen Augen war voller Erstaunen.
Es war ein gutes Porträt. Ich hatte ihn von Bild zu Bild besser einfangen können. Die älteren Versionen warf ich in den Müll. Aber wer war er? Oder besser noch, was war er?
Ich strich mit meinen Fingern über das raue Papier und riss es schließlich aus dem Zeichenblock. Mit meinem Handy machte ich ein Foto von der Zeichnung. Bei der Erinnerung an ihn kam mir die Eiseskälte in den Sinn, die ich in Grannys Küche verspürt hatte. Es ließ mir keine Ruhe, so viele Gedanken kreisten in meinem Kopf wie die Geier über dem Aas. Ich würde es nicht vergessen und nicht ruhen lassen. Immerhin wollte ich als Phantombildzeichnerin zur Polizei, um Täter wie ihn zu fassen.
Es klingelte, schnell lief ich nach unten und öffnete, froh darüber aus meinem Kopf zu entkommen. Jackson stand vor der Tür. Liz’ Bruder. Er war blond, breit gebaut und hatte unverkennbar Liz’ Grübchen, die kurz aufblitzten, als er mir ein schwaches Lächeln zuwarf. Doch seine Augen waren gerötet.
»Hey Kenny.«
»Jackson«, erwiderte ich ein wenig plump und brauchte einen Moment, bis ich mich gesammelt hatte. »Es tut mir ja so leid.«
Er seufzte. »Danke.«
»Wie geht es euch? Liz antwortet mir aktuell nicht.«
»Sie schläft viel.«
»Richte ihr aus, dass ich nur einen Anruf weit entfernt bin.«
»Danke, das werde ich ihr sagen. Wir sehen uns ja sowieso gleich bei der Beerdigung.« Jackson scheiterte an einem Lächeln.
Stimmt, die Beerdigung von Granny war ja heute. Die Tage vergingen so verdammt schnell, wenn jemand starb, der einem nahe stand. Alles verschwamm wie in einem Rausch, Zeit hatte keine Bedeutung mehr.
»Ich wollte Liz’ Pullover abholen, sie hat gesagt, dass du ihn hast? In der ganzen Hektik hat sie nicht mehr daran gedacht.«
Ach ja, sie hatte ihn mir im Auto gegeben, als mir kalt gewesen war.
Auf dem Weg zu Granny.
»Warte, ich hole ihn sofort«, sagte ich und tat etwas, das alles veränderte: Ich gab ihm mein Handy, auf dem noch die Zeichnung des Mannes zu sehen war.
Jackson warf einen Blick darauf, während ich den Pullover aus der Garderobe holte. Mom hatte ihn schon gewaschen und bereitgelegt.
»Warum hast du diesen Arsch gemalt?«, fragte er und griff blind nach dem Pullover.
»Welchen Arsch?«, fragte ich. »Warte, du kennst den Typen?«
Jackson lachte bitter auf. »Natürlich, das ist Asher Heriotza. Sohn eines schnöseligen Arbeitstiers, das die Hälfte unserer Gebäude weggerissen hat, nur um sein neues Immobilienbüro draufzubauen. Dafür hat er dann einen Park angelegt, als würde er denken, dass es als Wiedergutmachung ausreichen würde. Unsere Stadt sieht scheiße damit aus!«
In den letzten Wochen hatte ich nichts mitbekommen, der Bau dieses Gebäudes sowie der neue Park waren gänzlich an mir vorbeigegangen. Doch nun hatte ich einen Anhaltspunkt. Einen Namen.
»Okay …«, sagte ich.
»Zum Glück geben ihm meine Eltern nicht das Haus von Granny.«
»Das wäre auch wirklich schade.«
Er nickte, gab mir das Handy zurück und trat aus dem Türrahmen. »Danke für den Pulli. Ach, und wenn da nicht Asher drauf wäre, würde ich sagen, dass es eine verdammt gute Zeichnung ist.«
»Freut mich zu hören.«
Jackson schlenderte zum Auto und winkte mir noch mal zu, bevor er in einem genauso bahnbrechenden Tempo wie Liz losfuhr. Ich blieb kurz in der Tür stehen, während sich das Auto entfernte.
Auf meinem Handy war Asher.
Schnell rannte ich nach oben und setzte mich an den Laptop. Ich ging ins Internet. Der Name schoss von meinen Fingern auf die Tastatur und ich wartete gespannt darauf, was ich über ihn finden würde. Ein Bild ploppte auf und ich erstarrte. Eiskalt lief es mir den Rücken hinab und raubte mir die Luft. Ich fühlte mich in die Küche von Granny versetzt und schluckte den Kloß hinunter, der sich in meiner Kehle gebildet hatte.
Das war er.
Ich klickte auf das Bild. Es war mit einem Artikel verknüpft, der über die Familie berichtete. Der Titel lautete:
HERIOTZA-BRÜDER ÜBERLEBEN HORROR-CRASH.
Die Söhne von Dean Heriotza, Immobilienkönig, haben einen folgenschweren Unfall überlebt, bei dem der Fahrer des entgegenkommenden Fahrzeuges und eine junge Frau noch am Unfallort verstarben.
Das klang wirklich furchtbar. In einen Autounfall verwickelt zu sein, musste traumatische Folgen mit sich ziehen. Weiter unten entdeckte ich noch einen Artikel.
Trauerfall bei den Heriotzas –
Ehefrau des Immobilienmagnats plötzlich verstorben,
Umstände unklar.
Das Foto darunter zeigte die Familie: zwei junge Männer, eine noch jüngere Frau und einen älteren Herren. Sie waren alle schwarz gekleidet und trugen Sonnenbrillen, um die Trauer zu verdecken, die sie mit Sicherheit empfunden hatten. Einen von ihnen hatte ich gezeichnet. Asher. Der Mann mit dem Bart und den strengen Gesichtszügen musste Mr. Heriotza sein. Ich kannte ihn, doch von woher, konnte ich nicht sagen.
»Kenna?«, rief Mom von unten hoch. »Bist du fertig? Wir müssen los!«
Ich warf einen letzten Blick auf das Foto. Kam es mir nur so vor? Oder umgab Asher Heriotza der Tod, wohin auch immer er ging?
Erst seine Mom, dann der Autounfall, jetzt Granny.
»Kenna?«
»Komme!«, rief ich und klappte den Laptop zu.
* * *
Auf dem Friedhof standen bereits zahllose Leute in Schwarz, als Mom und ich aus dem Auto stiegen. Die Beerdigung von Liz’ Granny – von meiner Granny – war gut besucht. Sämtliche Nachbarn, der Kirchenchor, sogar ihr Tee-Club war da.
Mom begleitete mich.
Ich strich das schwarze Kleid glatt und überprüfte meine Haare ein letztes Mal, bevor wir das Friedhofstor hinter uns ließen. Wir gingen Hand in Hand auf die Menge zu. Dabei fühlte sich jeder Schritt so Atem raubend an, als wäre es meine eigene Beerdigung. Zwischen all dem Schwarz stachen Liz’ blonde Haare heraus. Sie war ungeschminkt. Ihre Wangen glänzten von den bereits vergossenen Tränen. Ein stechender Schmerz durchzog meinen Körper, als würde jemand eine Axt in meinen Brustkorb rammen und ihn spalten.
Mom drückte meine Hand, als würde sie spüren, dass es mir nicht gut ging.
Die Beerdigung bekam ich wie durch einen Schleier mit, weil ich mich fragte, ob es der Wirklichkeit entsprach, ob Granny tatsächlich in diesem Sarg lag, oder es nur ein schlechter Scherz war. Obwohl ich die Wahrheit kannte, wollte ich es nicht wahrhaben. So sehr, dass ich alles infrage stellte. Dass ich sogar überlegte, was gewesen wäre, wenn es statt Granny meine Mom erwischt hätte. Augenblicklich blieb mein Herz stehen. Es war nur eine Vorstellung und trotzdem war sie so beängstigend, dass ich nicht wusste, wie ich aus dieser gedanklichen Hölle entfliehen konnte.
»Mom?«, flüsterte ich und blickte zu ihr.
In ihren Augen spiegelten sich ebenfalls Tränen, auch wenn sie Granny nicht so gekannt hatte wie ich.
»Ich bin unendlich froh, dass ich dich habe.«
Sie verzog beinahe schmerzhaft das Gesicht. »Ich bin auch froh, dass du da bist, Kenna.« Sie legte einen Arm um mich.
Ich konnte sie nicht verlieren. Niemals.
Der geblümte Sarg, der Granny gefallen hätte, war bereits in die Erde hinabgelassen worden, die Gäste warfen Rosen obendrauf und verabschiedeten sich leise murmelnd von den Angehörigen, die in einer Reihe standen und die Beileidsbekundungen steif entgegennahmen.
Mit zitternden Händen umklammerte ich den Strauß, den ich für Granny mitgenommen hatte, und warf ihn auf den Sarg. Er rutschte rechts hinab und blieb neben den anderen Rosen liegen, die ihr alle Gesellschaft leisten würden.
Ich drückte die Hand von Liz’ Mutter, die eiskalt in meiner lag, und erhielt ein Lächeln. Es war freundlich, aber sie musste sichtlich kämpfen, um es zustande zu bringen.
Jackson war der nächste. »Oh, Kenny …«
Ich umarmte ihn, ließ mein Kinn auf seine Schulter sinken und verharrte in der Position. Er löste sich und ich drückte seinen Arm, bevor ich mich seinem Vater zuwandte. Dessen Händedruck war fest und er wirkte im Gegensatz zum Rest der Familie gefasst. Ein knappes Nicken war sein Dank.
Liz wurde von ihm im Arm gehalten. Ihr Blick blieb bei mir hängen und sofort schluchzte sie auf. Sie löste sich von ihm. Ich nahm sie in die Arme, während sie ihr Gesicht an meine Schulter drückte.
»Schön, dass du hier bist«, sagte sie.
»Ich bin für dich da«, murmelte ich an ihr Ohr, strich über ihren Rücken und hielt sie fest. »So wie Granny. Auch sie ist noch bei dir. In deinem Herzen und in deinen Erinnerungen.«
Sie schniefte. »Danke, Kenny.« So standen wir weitere Minuten dort und versuchten, den Schmerz durch die Anwesenheit der jeweils anderen zu vertreiben. Es funktionierte nicht so wie erhofft.
Die Schlange hinter uns kam ins Stocken, aber ich konnte sie noch nicht loslassen. Meine Freundin brauchte mich. Und ich würde für sie da sein. »Ich muss jetzt tapfer sein«, raunte Liz mit brüchiger Stimme.
»Wenn du bereit dazu bist.«
Sie nickte und gab mich frei. Ihre Wangen glühten, als hätte sie sich einen Sonnenbrand zugezogen.
Ich trat beiseite. Alles fühlte sich so unsagbar seltsam an, dass ich nicht richtig zuordnen konnte, woher dieses Gefühl kam. Ich ließ die Trauergesellschaft hinter mir.
Die Gräber zu meiner Rechten zogen meine Aufmerksamkeit auf sich. Hinter ihnen ragte ein kahler Baum auf, dessen Äste so verzweigt waren, als stammte er aus einem alten Kindermärchen. Aber das war nicht das Einzige. Dort, halb verdeckt hinter dem Stamm, stand ein Mann in einen dunklen Mantel gehüllt.
Ich kam keinen weiteren Schritt voran, denn er war es.
Asher Heriotza.
Sein Blick traf den meinen und meine Atemwege zogen sich zusammen, als hätte er eine Schlinge herumgezurrt. Schnell blinzelte ich, um sicher zu gehen, dass ich mir das nicht einbildete. Doch hinter dem Baum stand niemand mehr. Mit ein paar unsicheren Schritten wagte ich mich vor, um mir sicher sein zu können, dass er wirklich nicht da war.
Tatsächlich. Kein Asher zu sehen.
Aber er war da gewesen. Gerade eben noch und dann war er genauso plötzlich verschwunden wie in Grannys Haus …
»Kenna?« Mom legte mir ihre Hand auf die Schulter. »Ich werde den hier kurz zu Susan bringen«, sagte sie und hob den Blumenstrauß in die Höhe, den sie für ihre Freundin mitgebracht hatte. Ich nickte ihr zu und Mom bog in einen Gang ab, den Strauß fest an sich gepresst. Susans Grab war mit Blumen überhäuft, als würden diese den schmerzvollen Tod freundlich, beinahe schön schmücken wollen. Doch die Blumen würden verenden, so wie es jedes Lebewesen tat. Die Schönheit würde verschwinden und nur die einst lebendigen Erinnerungen verbleiben. Und selbst die verblassten mit der Zeit.
Mom kniete sich hin, zupfte ein paar welke Blätter aus den Blumen und legte ihre eigenen dazu.
Dad hatte sich kein Grab gewünscht, sondern eine Bestattung in dem See, in dem er stets geangelt hatte. Das hatte er in seinem Testament festgehalten. Deshalb konnte ich ihn nicht besuchen. Der See war zu weit weg.
Ich schlenderte über den Friedhof, passierte Gräber und eine weitere Trauergesellschaft, um die ich einen großen Bogen machte. Die Masse an Schwarz war erdrückend. Hinter einer Eibenhecke standen drei Männer und rauchten.
»Ich freue mich schon auf meinen freien Tag«, sagte ein hochgewachsener Mann mit weißem Bart, offensichtlich ein Totengräber.
»Das ist schon die dritte Beerdigung diese Woche«, stimmte ihm einer seiner Kollegen zu, der sich müde über das Gesicht fuhr.
Drei Beerdigungen? Wir hatten erst Dienstag.
»Mein Rücken tut weh«, jammerte der Dritte.
Der Totengräber mit dem weißen Bart stieß den Rauch aus. »Echt heftig, wie viele gerade sterben.«
»Wie die Fliegen.«
Ich wollte mich unbemerkt davonstehlen, doch das Blätterrascheln ließ die Männer innehalten. Peinlich berührt verstummten sie, als sie mich bemerkten. Sie räusperten sich, traten schnell ihre Zigaretten aus und gingen. Ich schluckte und lief in die andere Richtung, während ich ihre Aussagen beiseiteschob. Aber sie hatten recht. Es starben ungewöhnlich viele Menschen. Und mittendrin: Asher Heriotza.
Im Artikel, den ich über ihn gefunden hatte, war erwähnt worden, dass die Heriotzas hier ihr Familien-Mausoleum erbaut hatten. Es war nicht schwer zu finden, da es alles auf dem Friedhof überragte. Von ein paar Büschen umrandet stand die dunkle, aus Stein erbaute Grabstätte auf einem Sockel, der mit Totenköpfen verziert worden war. Beinahe so, als würden die Särge von einem Berg aus Schädeln und Knochen getragen werden. Das Vordach wurde von Säulen gestützt, die kunstvoll ineinander verschlungen waren.
Die drei Stufen hinauf und die zwei Flügeltüren waren angsteinflößend. Von hier aus wirkten sie, als würde sich ein furchtbares Schicksal dahinter verbergen, mit dem ich keine Bekanntschaft machen wollte. Über dem Eingang stand etwas in einer anderen Sprache. Darunter ein weiterer Text, den ich nicht entziffern konnte.
Einzig »Hier ruht die Familie Heriotza«konnte ich lesen. Es war in die Türen der Stätte eingeschlagen worden. Die Buchstaben waren mit Schwarz ausgefüllt, sodass sie noch klarer hervorstachen.
Ich musste herausfinden, was Asher Heriotza mit den ganzen Todesfällen zu tun hatte, und ich würde erst ruhen, wenn ich es wusste.
Liz grinste, als ich die Plastiktüte aufriss und sich ein paar Chips auf meinen Beinen verteilten. »Ich dachte, wir wollten sie essen und sie nicht tragen.«
Augen verdrehend sammelte ich sie ein und steckte sie mir in den Mund.
Liz kruschelte in der Tüte und zog sich ebenfalls einige Chips heraus.
Ich hatte sie zu einem Film überredet. Na ja, eigentlich hatte sie eher mich dazu überreden müssen, denn wir guckten einen Horrorfilm. Während ich mich die meiste Zeit schreiend hinter meinen Händen versteckte, lachte Liz sich krumm und buckelig. Sie hatte überhaupt kein Problem mit Dämonen, Serienkillern oder anderen blutigen Geschehnissen. Wenn wir uns einen Film über Götter oder Superhelden angesehen hätten, in dem bis auf den Tod gekämpft wurde, wäre ich die Erste gewesen, die dabei war. Ich liebte gute Kampfszenen, wenn sie nicht mit einer gruseligen Hintergrundmusik und Jump Scares aufbereitet worden waren. Das machte ich nur für meine Freundin, die ein wenig Aufmunterung gebrauchen konnte. Auch wenn dies einen Herzinfarkt meinerseits beinhaltete. Aber das war ihr Ding – alles mit gruseligem Touch. Davon hatte Bone Hill in den letzten Wochen mehr gesehen, als wir benötigten. Von zwei weiteren Todesfällen war in der Zeitung berichtet worden und erneut stach die Eiseskälte ins Auge, die in den Artikeln erwähnt wurde.
»Liz, ich …«
»Mhh?«, fragte die, abgelenkt vom Film und mit Popcorn im Mund.
Ich zögerte, weil ich nicht genau wusste, wie ich anfangen sollte. »Hast du schon mal einen Film gesehen, in dem jemand einen anderen getötet hat, indem er etwas aus ihm … rausgesaugt hat?«
»Du meinst einen Vampir?«
»Nein, kein Blut. Etwas … anderes.«
»Gehirnmasse? Zombies essen das gerne. Aber saugen? Die schlürfen das eher wie einen Cocktail aus dem Schädel.«
Mir wurde schlecht, als sich das Bild vor meinem inneren Auge festigte. »Ich meine etwas Immaterielles …«
Liz hob die Braue. »Die Seele oder was?«
»Wie sieht die denn aus?«
»Kommt darauf an, was sich der Regisseur drunter vorstellt. Manchmal sind es Geister, manchmal ein Leuchten.«
»Ein Leuchten?«, fragte ich.
»Welchen Film meinst du denn?«
»Äh …«
Liz warf ein Popcorn nach mir, dass sich in meinen Haaren verfing. »Hau raus, vielleicht kenne ich ihn ja.«
Ich fischte das Popcorn hervor und schob es mir in den Mund. »Hab den Namen vergessen, deshalb frage ich ja nach der Seelen-Sache«, log ich hastig. »Was für Wesen gehören dazu?«
»Die Seelen aussaugen?«
»Ja.«
Liz’ Grinsen wurde breiter, wobei ihr beinahe eines der Popcorns aus dem Mund fiel. Ihre Antwort war so unverständlich, dass ich erneut nachfragen musste.
»Was?«
»Der Sensenmann«, sagte Liz und trank einen Schluck Cola. »Oder Gevatter Tod. Gibt viele Namen für ihn. Den meinst du, der sammelt die Seelen der Toten ein.«
»Ein Sensenmann.«
»Es gibt hier in der Nähe sogar eine Kirche, in der eine Sensenmannfigur steht. Jedes Mal, wenn er mit seiner Sense mäht, so heißt es, wurde gerade eine Seele geholt, voll krass!«
Ich nickte, zu nachdenklich, um zu sprechen.
»Ich würde da zu gerne mal hin und mir den anschauen.« Liz lachte auf und ein warmes Gefühl legte sich über mein Herz. Es tat gut, dass sie wieder lachen konnte. Granny hätte nicht gewollt, dass sie ewig trauert. Und wenn ein Horrorfilm diesen Effekt auf sie hatte, war ich bereit, noch hunderte mit ihr zu gucken – auch wenn ich mich kaum auf den Film konzentrieren konnte, da meine Gedanken immer wieder zu Asher abdrifteten, der Liz’ Granny getötet hatte. Vielleicht.
Ein Schauder lief mir den Rücken hinunter, als ich an seine Augen dachte, die mich panisch angestarrt hatten.
Liz rüttelte an mir. »Da, schau! Meinst du zufällig den Film?«
Der Bildschirm hatte zwei schwarze Balken am Rand, die mir augenblicklich verrieten, dass dieser Film uralt war. Ein Sensenmann näherte sich einem schreienden Mann und schlitze ihm mit seiner Sense die Kehle auf.
»Und jetzt holt er sich die Seele.«
Der Sensenmann fing das leuchtende Etwas mit der knochigen Hand ein, das aus der Brust des blutüberströmten Mannes aufgestiegen war, um es zu essen. Angewidert verzog ich das Gesicht. Das war die Seele?
»Bäh.«
War Asher ein Sensenmann?
Ich schaltete die Helligkeit meines Handys herunter und gab in der Suchleiste den Begriff Sensenmann ein. Unterschiedlichste Artikel, Websites und Kaufoptionen wurden mir vorgeschlagen. Nachdem ich mich durch den Großteil hindurchgeklickt hatte, kam ich zu dem Ergebnis, dass auf jeder dieser Seiten etwas anderes stand. Es gab kaum Gemeinsamkeiten und wenn, dann waren sie so absurd, dass sie für mich keinerlei Wert hatten. Google würde mir nicht verraten, ob es übernatürlich Wesen gab, die leuchtende Sachen, wahrscheinlich Seelen, aus sterbenden Grannys saugten. Bestimmt nicht.
Also gab ich den Namen Asher Heriotza ein und scrollte durch die Zeitungsartikel über den Unfall und die Beerdigung. Der Instagram-Link zu seinem Profil sprang mich an und ich klickte darauf. Nach drei Bildern von sich selbst kam ein Post, der auf die Seite seines Unternehmens verwies.
Die Heriotzas luden die Öffentlichkeit am zwölften Oktober zur Eröffnungsgala ihres neuen Bürogebäudes ein. Es gab einen Dresscode und dazu ein paar Eckdaten, wann und wo das Ganze stattfinden sollte.
Ich scrollte zurück zu den Bildern von Asher und flüsterte seinen Namen. Spürte ihn auf der Zunge. Der Geschmack von Tod überkam mich.
»Was machst du da?« Liz’ Frage kam so überraschend, dass ich beinahe mein Handy fallen gelassen hätte.
Ich presste mir die Handfläche auf die Brust und atmete hektisch ein und aus. »Das kannst du nicht machen, Liz. Ich sterbe doch sowieso bei diesem verdammten Film!«
Liz musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen. »Der ist doch mega. Ich verstehe dich nicht. Wie kannst du keine Horrorfilme mögen? Aber warte mal, ist das da Asher auf deinem Handy?«
Eine Ausrede musste her, ich konnte ja schlecht behaupten, der Typ hätte Granny die Seele ausgesaugt. »Also …« Ich machte eine lange Pause, die verriet, dass ich keine Ahnung hatte, was ich sagen sollte.
»Sag bloß, du findest den heiß?« Sie riss mir das Handy aus der Hand und scrollte durch die Beiträge. Bevor ich sie aufhalten konnte, likte sie einen nach dem anderen.
»Was tust du da?«, fragte ich entgeistert.
»Er ist süß. Zum Anbeißen.« Sie zuckte mit den Schultern und reichte mir das Handy zurück. Selbst wenn ich die Likes entfernen würde, bekäme er die Benachrichtigung, dass ich – oder in dem Fall Liz – sie verteilt hatte. Das war alles andere als unauffällig.
Egal. Ich hatte meine Wahl getroffen.
Ich würde auf diese Gala gehen und Asher Heriotza beobachten.
* * *
Ich stand vor dem Schrank und starrte hinein. War ich denn verrückt geworden? Was wollte ich da? Glaubte ich ernsthaft, dass Asher ein Mörder war? Nein, halt, ein Sensenmann. Der Tod höchstpersönlich!
Das war doch Quatsch …
Andererseits … er war da gewesen. In Grannys Küche. Blieb nur eine Lösung: Ich würde auf diese Gala gehen und sehen, wie er auf mich reagierte. Ob er auf mich reagierte. Erkannte er mich, war klar, dass ich mir sein Auftauchen in Grannys Küche nicht nur eingebildet hatte.
Ich brauchte etwas Passendes zum Anziehen, doch ich hatte nur ein Kleid, das dem Anlass gerecht war. Es hing ungetragen in einer Plastikumhüllung in der hintersten Ecke des Schrankes. Eigentlich war es für den Abschlussball gedacht gewesen. Dad und ich hatten es zusammen gekauft. Doch einen Tag, bevor er mir zum Bestehen der Schule hätte gratulieren können, war er gestorben. Den Ball hatte ich nie besucht.
Ein heftiges Gefühl zurrte meinen Brustkorb zusammen. Denn da hing es nun im Dämmerlicht und wartete darauf, dass ich eine Entscheidung traf. Ging ich zur Gala? Stellte ich mich Asher? Und wenn ja, würde ich es über mich bringen, das Kleid von Dad zu tragen? Das letzte, nein, das einzige Geschenk, das ich je von ihm bekommen hatte? Ich presste die Lippen zusammen und traf meine Entscheidung, indem ich es vom Haken nahm. Das Sonnenlicht ließ das Kleid funkeln, als wäre es lebendig. So, als würden sich die Glitzerpartikel selbstständig über das Kleid bewegen, hin und her fließen wie Wasser. Sanft strich ich über den Stoff und dachte an den Moment im Laden, als mein Dad mich darin gesehen hatte, das Strahlen in seinen Augen tausendmal schöner, als es das Kleid jemals zustande brächte.
Ich schlüpfte hinein, zog den Reißverschluss hoch und atmete aus. Es passte wie angegossen. Es fühlte sich vorherbestimmt an. Als ginge es hierbei nicht nur um Granny, sondern auch um Dad.
Nachdem ich alles Überlebenswichtige in die kleine Clutch gepackt und mir einen letzten prüfenden Blick im Spiegel zugeworfen hatte, verließ ich das Haus und schloss meinen Pick-up auf. Im Gegensatz zu Liz sperrte ich mein Auto ab, auch wenn sie sich regelmäßig darüber lustig machte, weil ihrer Meinung nach niemand ein so altes Auto stehlen würde. Der Lack war an einigen Stellen abgeblättert und ich musste ihn wirklich dringend waschen.
Ich zog an der Tür und achtete darauf, den Dreck vom Auto weder an das Abendkleid noch an die Boots zu kriegen, die ich darunter trug. Ich gab die Adresse des Veranstaltungsortes in mein Handy ein und startete den Motor. Die Temperaturen waren herrlich kühl, ich liebte den Herbst. Er hatte etwas Magisches an sich.
Ich fuhr durch ein Waldstück, in dem sich dichter Nebel über die Straße gelegt hatte. Die Bäume zogen an mir vorbei, während ich mich tiefer in den Sitz sinken ließ. Unser Haus lag relativ abseits. Ein typisch amerikanisches Haus aus Holz, zweistöckig und mit Kieseinfahrt, am Rande einer Straße, die durch einen Wald führte. Hier in den Hills, über der Stadt, gab es nur wenige Häuser. Die Besitzer blieben meist unter sich. Wir kannten und grüßten einander, aber das war es auch schon. Einsam, fand Liz. Idyllisch, sagte Mom. Mir war es recht, nicht von vielen Menschen und Trubel umgeben zu sein, so wie unten in der Stadt, wo mir beinahe kein Gesicht bekannt war.
Ich bog nach links ab und fand eine Parklücke in einer Seitenstraße, drei Blocks entfernt vom Tower der Heriotzas, der heute eingeweiht wurde und der trotz der Entfernung die gesamte Gegend in goldenes Licht tauchte. Er überragte alle Gebäude, funkelte und glitzerte in der Nacht.
Eilig raffte ich mein Kleid zusammen und sprang über die Pfützen hinweg, dankbar dafür, dass der Regen noch nicht wieder eingesetzt hatte, sodass ich trocken zur hell erleuchteten Glasfassade laufen konnte, hinter der bereits zahlreiche Menschen mit erhobenen Sektgläsern standen.
»Hallo und herzlich willkommen.«
Der Hosenanzug, den die Frau am Empfang trug, stand ihr verdammt gut und erinnerte mich an den Film Men in Black. Fehlte nur noch das Blitzdings.
»Danke schön«, sagte ich und trat unbehaglich auf die Tür zu. War es wirklich so einfach, hier reinzukommen?
»Entschuldige bitte.«
Ich hielt den Atem an.
Die Frau vom Empfang lächelte freundlich. »Ich glaube, du hast das hier verloren.« Sie hielt das Armband in der Hand, das Liz und ich von Granny geschenkt bekommen hatten. Der Verschluss musste sich geöffnet haben.
Ich nahm es eilig entgegen. »Oh! Vielen lieben Dank!«
Ich schenkte ihr noch ein letztes Lächeln, bevor ich das Armband rasch in meine Tasche packte und eintrat. Erleichtert atmete ich aus. Sie hatte mich nicht rausschmeißen wollen. Obwohl die Gala öffentlich war, hatte ich Bedenken gehabt.
Der Eingangsbereich des Gebäudes war hell und verdammt groß. Über mehrere Etagen hinweg erstreckte sich leerer Raum. Dort befanden sich keine Büros, sondern nur Fenster und ein paar riesige Lampen. Sie hatten die Form von Lilien. Einige hingen weiter unten, andere hoch oben, sodass es wie ein Blumenstrauß wirkte.
»Schön, Sie willkommen heißen zu dürfen.« Mister Heriotza kam auf mich zu. Ich wusste, dass er es war. Das Bild von ihm aus der Zeitung war mir im Gedächtnis geblieben.
Er reichte mir seine Hand, seine Haut war eiskalt und der Druck, den er um meine Finger legte, erschreckend fest. Als hätte ich sie freiwillig in einen Schraubstock gelegt und kräftig zugezogen.
Angstschweiß stand mir auf der Stirn. Dieser Mann besaß trotz des strahlend weißen Lächelns keinen Funken Freundlichkeit. Es wirkte aufgesetzt. Wie eine Maske, die mir ein unbehagliches Gefühl bereitete.
»Danke, ich freue mich, hier zu sein. Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Eröffnung.«
Er neigte den Kopf. »Vielen Dank. Einen angenehmen Aufenthalt wünsche ich.«
Bevor ich etwas erwidern konnte, nahm er neue Gäste in Empfang. Jetzt erinnerte ich mich auch, woher ich ihn kannte. Er war einmal bei Dad gewesen. Sie hatten vor der Haustür heftig diskutiert, als ich mit meinem Auto vorgefahren war. Mr. Heriotza war mit angespanntem Gesicht in seinen Sportwagen gestiegen und davongerast. Dad hatte mir damals nicht erzählen wollen, worum es in dem Streit gegangen war. Wahrscheinlich hatte Mr. Heriotza ihm das Haus abkaufen wollen.
Ich schüttelte mich so unauffällig wie möglich, um diese unangenehme Begegnung und die Erinnerung abzustreifen.
Vielleicht sollte ich Mom sicherheitshalber schreiben, wo ich war. Falls etwas passierte. Man wusste ja nie. Ein Schauder lief mir den Rücken hinab, wenn ich nur daran dachte, was alles geschehen konnte. Schnell tippte ich eine kurze Nachricht an Liz sowie an Mom und packte das Handy anschließend weg. Zumindest wussten sie nun, wo ich war, sollte ich nicht mehr auftauchen.
»Hier, bitte für dich«, sagte einer der Servicekräfte und reichte mir ein Glas Sekt. Bevor ich dankend ablehnen konnte, war er weg. Ich mochte keinen Sekt. Wo konnte ich den jetzt loswerden, ohne dass es irgendwem auffiel? Auf der Toilette.
Eilig lief ich auf den Gang zu, der mit einem kleinen Toilettensymbol gekennzeichnet war. An der Wand lehnte eine Person, die mich aufmerksam musterte. Ich blieb stehen. Er war es. Der Mann, der Granny getötet hatte. Asher Heriotza. Sein Blick blieb an mir hängen, verharrte kurz auf mir, bevor er weiter durch den Raum strich.
Hatte ich mich doch getäuscht? Oder war da ein Funken Erkenntnis in seinem Blick gewesen? Der Sekt in meiner Hand war vergessen, die Toilette auch. Alles war vergessen, außer die brennende Neugier.
Ich steuerte direkt auf ihn zu.
Er unterhielt sich mit einem anderen Mann, der, den Bildern im Internet zufolge, sein Bruder war. Erst als er den Kopf drehte, realisierte Asher, dass ich mich näherte. Seine Haltung versteifte sich. Dieses Mal flackert die Erkenntnis eindeutig auf.
Er erkannte mich.
Er war bei Granny gewesen!
Und auf dem Friedhof!
Seine Pupillen weiteten sich. War das Panik? War es Furcht?
»Entschuldige mich«, sagte er zu seinem Gesprächspartner und wollte doch tatsächlich entkommen. Mit großen Schritten holte ich ihn ein, gerade als er den Gang zu den Toiletten betrat.
»Hey, du!«
Er blieb stehen und wandte sich mir zu. Seine Kieferpartie war durchgehend angespannt, während eine Hand in seiner Anzughose steckte und die andere ebenso wie ich ein Sektglas hielt. Sein schwarzes Hemd war oben aufgeknöpft, wodurch ich den Ansatz seiner Brust erkennen konnte. Ein höfliches Lächeln zierte seinen Mund, aber es wirkte – wie bei seinem Vater – gefühlskalt.
»Ja?« Er senkte das Kinn ein wenig. Den Übergang von Pupille zur Iris konnte ich nicht ausmachen. Zu dem Fakt, dass er mich um gut zwei Köpfe überragte, war er auch noch ziemlich nah. Ich trat einen Schritt zurück und straffte die Schultern, wodurch der Stoff meines Kleides ein wenig spannte.
»Hallo.«
Ein Lächeln zupfte an seinem Mundwinkel. »Interessant, jemanden in meinem Alter hier zu sehen. Die anderen Gäste sind eher …«
»Alt?«, schlug ich vor und musste mir das angestrengte Schlucken verkneifen, das verraten würde, wie nervös ich war.
»Genau das.«
So charmant er auch war, ich durfte nicht vergessen, dass er Granny getötet hatte.
Anscheinend bemerkte er die Veränderung in meinem Gesicht, denn er trug einen verkniffenen Zug um den Mund. »Ist etwas nicht in Ordnung?«
Ich atmete tief ein. »Sag du es mir.«
Er zog die Augenbrauen zusammen. »Hab ich was verpasst? Kennen wir uns? Oder ist das nur die neuste Art, jemanden anzumachen? Falls ja, lass dir gesagt sein, das wirkt nicht.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und fühlte mich nackt unter seinem Blick, als hätte ich keinen Schutz vor ihm. »Ich weiß, was du getan hast!« Fest blickte ich ihm in die Augen und stellte mir dabei vor, wie Dolche aus meinen herausschossen, direkt auf ihn zu.
Asher verzog missbilligend den Mund. »Lass uns draußen sprechen. Hier sind zu viele Leute.«
»Zu viele Zeugen, meinst du.«
Er schnaubte.
Ich reckte das Kinn. »Keine Chance, ich bin nicht so blöd und folge dir in irgendeine dunkle Gasse, wo du wer weiß was tun kannst …«
Er kniff sich in die Nasenwurzel. »Ich werde nichts tun.«
»Ach und das soll ich dir einfach so glauben?«
»Ja.«
»Dazu gibt es keinen Grund.«
»Was soll ich deiner Meinung nach denn verbrochen haben?«, fragte er belustigt. Provokant. »Ja, ich muss gestehen, dass ich gestern im Parkverbot stand und im Supermarkt beinahe etwas geklaut hätte. Aber als ich es gemerkt habe, bin ich zur Kasse zurück und habe bezahlt. Keine Ahnung also, was du meinst.«
Ich starrte ihn an. Er war ja so witzig …
»Hör zu«, sagte er. »Du bist hier, weil du Antworten willst, oder? Die kriegst du. Aber nicht hier drin.«
»Was nützen mir Antworten, wenn ich tot bin?« Mein Zischen vibrierte zwischen meinen Zähnen.
Er seufzte. »Meinst du, ich wäre so leichtsinnig? Hier ist überall Presse! Wir wurden mindestens von vier Journalisten fotografiert. Solltest du verschwinden, wäre ich der letzte, der dich gesehen hat.«
Beruhigte mich das? Als ich mich zu einer der Journalistinnen wandte, klickte und blitzte es. Sie hatte tatsächlich ein Bild von Asher und mir gemacht. Er hatte recht. Die Presse schien dieses überzogene Event hautnah einfangen zu wollen. Und dabei waren die Blicke eindeutig auf die Heriotzas gerichtet. Besonders auf die Söhne.
»Na schön, wir gehen raus.« Ich nickte und deutete vor mich, um ihm zu zeigen, dass er vorgehen sollte. Sein Rücken vor mir war mir lieber als sein Atem im Nacken.
Er nickte ebenfalls und schob sich an mir vorbei. Kaum hatten wir das Gebäude verlassen, redete ich drauf los.
»Du weißt genau, wovon ich spreche, das kann ich in deinen Augen sehen. Du hast die Großmutter meiner besten Freundin auf dem Gewissen!«
Er lachte leise. »Das ist aber nicht nett, wildfremde Menschen des Mordes zu beschuldigen.«
»Ich beschuldige ja nicht irgendwen, sondern denjenigen, der es getan hat. Du Mörder!«
Er lachte weiterhin. Nahm mich nicht ernst. »Sei froh, dass ich es amüsant finde.« Er nippte sparsam am Sekt.
»Ich finde nichts daran amüsant!« Ich brachte so viel Mut auf, wie ich hatte, und machte einen großen Schritt auf ihn zu, sodass wir uns näher standen als zuvor, und richtete meinen lila lackierten Nagel auf ihn. »Ich habe ganz genau gesehen, wie du etwas aus Granny ausgesaugt hast!«
Asher verzog angeekelt das Gesicht. »Etwas aus Großmüttern zu saugen ist nichts, was ich für gewöhnlich mache. Keine Ahnung, was du für Pillen genommen hast, aber ich kenne ein paar Freunde, die dir bestimmt welche abkaufen würden.«
Wie ein Reh im Scheinwerferlicht blinzelte ich hin an. »Ich nehme keine Pillen, meine Mom würde mir den Kopf abreißen. Aber du. Du warst in der Küche, ich habe dich gesehen. Dich und niemanden anderen. Dein Gesicht verfolgt mich bis in meine Albträume. Und auf dem Friedhof warst du auch!«
Asher kniff die Augen zusammen. Die Lockerheit hatte sich aus seinem Blick verabschiedet. Sie war einer Vorsicht gewichen, die mich ahnen ließ, dass ich auf der richtigen Fährte war. »Tut mir leid, dass mein Gesicht so unansehnlich für dich ist. Es wäre also besser, wenn du dich von mir fernhältst.«
»Ich weiß, was ich gesehen habe! Und du erkennst mich, weil du mich ebenso gesehen hast wie ich dich!«
»Du solltest dir genau überlegen, ob du weiterhin so viele Fragen zu Sachen stellen willst, die ich nicht getan habe.« Seine Stimme war so eisig, dass ich mich augenblicklich verspannte und die Luft anhielt. Die Eiseskälte von Grannys Küche legte sich über meinen Körper und ließ mich frösteln. Er betrachtete mich genauestens aus seinen dunklen Augen, so als wüsste er, dass mein Herzschlag dem eines Kolibris glich.
»Du meinst, ich soll dir nicht unterstellen, dass du ein Mörder bist?«
Er presste seine Kiefer hart aufeinander. »Ich würde nicht weitersprechen, sonst kann ich für nichts garantieren.«
»War das eine Drohung?«, fragte ich und blähte meine Nasenflügel auf.
»Interpretier es, wie du möchtest.«
»Weil du mir den Tod bringen wirst? Weil du der Joe Black von Bone Hill bist?«
Die Filmanspielung saß. Asher versteifte sich. Meine Vermutungen setzen ihm zu, ließen seine Augen funkeln.
Ich machte weiter. »Vielleicht sollte ich fragen, was für ein Wesen du bist?«
Er seufzte und kniff sich erneut in die Nasenwurzel, als würde ich ihm höllische Kopfschmerzen bereiten. »Ach, Kenna, warum kannst du es nicht gut sein lassen …« Asher machte einen Schritt auf mich zu.
Woher kannte er meinen Namen? Panik überkam mich, als der Abstand zwischen uns kleiner wurde. Kalter Angstschweiß sammelte sich an meinen Handinnenflächen.
»Wieso weißt du, wie ich heiße?«
Er antwortete nicht.
»Meinen Namen! Woher kennst du ihn?« Die Härchen in meinem Nacken stellten sich auf und die Furcht sackte mir bis in den Magen. Sie wog schwerer als die Neugier. Ich wollte hier weg. Abrupt drehte ich mich um und eilte davon. Besser, ich verschwand von hier. Kaum hatte ich die Ecke der Seitenstraße erreicht, lief ich los, als sei der Teufel persönlich hinter mir her, was sich mit diesem bodenlangen Kleid als verdammt schwierig herausstellte. Einige Male stolperte ich über den Saum, konnte mich jedoch fangen, bevor ich Bekanntschaft mit dem Teer machte. Zwei Straßen hatte ich erst hinter mich gebracht, fehlte noch eine bis zu meinem Auto. Das war eine ganz furchtbare Idee gewesen.
Wer oder was Asher auch war, er bedeutete Gefahr. Ich sollte schnellstmöglich von hier verschwinden! Mein Auto kam in Sichtweite und eine Welle der Erleichterung durchspülte mich. Mein Herz klopfte wild gegen meinen Torso und feuerte mich an, schneller zu werden.
Ein Luftzug rauschte an mir vorbei und ein unruhiges Gefühl machte sich in mir breit. Plötzlich griffen Hände nach mir und ich schrie auf.
Mit einem heftigen Ruck wurde ich zurückgerissen und blieb mit meinen Füßen im Kleid hängen, stolperte und fiel tiefer in die Arme meines Angreifers, weshalb ich mit meinen Ellenbogen nach hinten hieb.
Ein Ächzen ertönte. Treffer.
Doch die fremden Arme schlangen sich fester um mich und zerrten mich von den Beinen.
»Lass mich runter!«, brüllte ich und trat um mich. Meine Arme waren bewegungsunfähig, weshalb ich die Füße nutzte. Allerdings wurde mein Kleid dadurch so hin und her gewirbelt, dass es mir die Sicht versperrte. »Hilfe!«
Einzig und allein die Arme meines Angreifers, die mich wie ein Schraubstock hielten, waren für mich ersichtlich. An einem der Finger prangte ein großer Ring mit einem Totenkopf. Ich hörte, wie eine Tür geöffnet wurde, und fünf Sekunden später kam ich unsanft auf der Rückbank eines Autos auf. Ich drehte mich herum. Dabei riss mein Kleid. Verdammte Scheiße, ich hatte einem Mörder gegenübergestanden, wurde entführt und nun war auch noch zu allem Überfluss das glitzernde Kleid von Dad kaputt. Wann hatte ich zuletzt so einen schlechten Tag gehabt? Aber die wichtigere Frage war: Wie kam ich hier wieder raus?
Ich drehte mich zur Tür und hoffte, dass der Mann, der mich hier hineingefrachtet hatte, verschwunden wäre und ich entkommen konnte.
Mit brennenden Armen rappelte ich mich auf.
Asher Heriotza stieg selbst in das Auto ein. Es hatte nicht nur eine Rückbank, sondern gleich zwei, die sich gegenüberstanden und viel Platz für Passagiere boten. Er setzte sich auf einen der Plätze, verriegelte die Tür mit der Fernbedienung und faltete die Hände zusammen. »Wir haben ein kleines Problem«, teilte er mir mit aggressionserregend ruhiger Stimme mit.
»Ach, wirklich?«, fragte ich gepresst und spürte, wie die Wut meinen Körper übermannte, sich rasend schnell in meinen Venen ausbreitete. »Vielleicht, dass du mich in ein Auto verschleppst und die Granny meiner besten Freundin auf dem Gewissen hast, aber sonst … sehe ich kein Problem!«
»Ich habe die Großmutter nicht getötet und dich habe ich … Na ja, wirkt vielleicht so, als würde ich dich entführen wollen, aber das habe ich nicht vor«, meinte er.
Ich lachte trocken auf. »Ach, wirklich nicht? Nein, du hast recht. Du willst mich sicher auch ermorden!« Die letzten Worte schrie ich ihm ins Gesicht. Er zeigte keinerlei Reaktion, sondern blieb verdammt ruhig. So ruhig, dass ich nur noch wütender wurde. Mit ausgestreckten Armen stürmte ich auf ihn zu und schubste ihn gegen die Sitzbank. Er ließ es mit sich machen und wehrte sich nicht, so wie ich es erwartet hätte.
Erneut schubste ich ihn.
»Ich werde heute nicht sterben!«, rief ich.
»Nein, das wirst du definitiv nicht«, versicherte er mir und richtete sich auf. Er strich sich die Haare aus dem Gesicht, die bei meiner Attacke aus ihrer perfekten Balance gekommen waren. »Da bin ich todsicher«, schob er hinterher. Dachte er etwa, das sei witzig? »Ich habe dich hierhergebracht, damit alles in Ordnung kommt.« Er wirkte ein wenig hilflos und seufzte.
»Das klingt für mich sehr nach Serienmörder, wenn ich ehrlich sein darf.« Erzürnt ließ ich mich auf der Sitzbank ihm gegenüber nieder und funkelte ihn abwartend an. »Okay, an welchem Punkt wirst du mich aus diesem Verhörauto rauslassen? Und das lebend?«
»Niemand darf von uns wissen.« Seine Stimme hatte eine Ernsthaftigkeit angenommen, die mich schlucken ließ.
»Uns?« Es gab noch mehr von seiner Sorte? Noch mehr … Ja, was eigentlich? War meine Theorie wirklich richtig?
»Deshalb musst du mich vergessen.«
»Keine Chance! Ich kenne deine Taten, wieso sollte ich dich damit davonkommen lassen?«
Er atmete tief ein und beugte sich vor. »Pass auf, Kenna. Und das meine ich genau so, wie ich es sage: Wenn du nicht vergisst, wirst du den nächsten Tag nicht mehr erleben.«
Ich schluckte angestrengt. Meine Stimme war zu einem Krächzen verkommen. »Du sagtest, dass ich nicht sterben würde!«
Er nickte.
»Dann hast du gelogen.« Enttäuschung und Angst schwappten über den Hoffnungsschimmer und ertränkten meine Aussicht auf ein Entkommen.
»Nein, das habe ich nicht, aber solltest du stur bleiben, liegt es nicht länger in meiner Verantwortung, das zu entscheiden.«
»Was soll ich denn vergessen? Dass es falsch ist, was du getan hast? Wie soll ich das einfach ignorieren können?« Obwohl mein Leben davon abhing, war es keine Entscheidung, die mir leichtfiel. Ich wollte zur Polizei. Wie konnte ich etwas akzeptieren, das allem entgegensprach, an das ich glaubte?
»Dein Leben hängt von der Entscheidung ab.« Ashers Stimme war nachdrücklich.
»Ich soll die Wahrheit also aufgeben«, sagte ich und fuhr mir über das Gesicht.
»Ja, alles, was du über mich weißt. Du warst viel zu nah dran.«
Ich seufzte. »Wenn ich dir zustimme, versprichst du dann, meine Mom, Liz’ Familie und mich in Ruhe zu lassen?«
Ein trauriges Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Ja.«
»Für immer«, setzte ich nach.
»Es gibt kein für immer. Nicht für euch.«
»Ach, aber für dich schon?«
Er schwieg, der Blick unergründlich. Ruhig und abwartend. Er wartete auf meine Entscheidung.
Die Wahrheit oder das Leben.
»Na schön.« Ich wählte das Leben.
»Sehr gut, Kenna.« Aus einer kleinen Box, die am Boden stand, zog er etwas heraus. Eine fliederfarbene Blume, die von dunkellila Glitzerpunkten überzogen war. So etwas konnte man unmöglich im Blumenladen kaufen, die musste in irgendeinem Labor gezüchtet worden sein. Was hatte das mit dem Vergessen zu tun?
»Du musst nur an der Blume riechen, dann kannst du gehen.«
Ich starrte Asher an. Es war so bizarr, dass ich ein wenig brauchte, bis ich verstand, dass es kein Scherz war. »Ich soll an dieser Blume schnuppern und schon kann ich gehen?«