Rebeccas Küsse - Ulrike Voss - E-Book

Rebeccas Küsse E-Book

Ulrike Voss

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  • Herausgeber: konkursbuch
  • Kategorie: Erotik
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Julia ist liiert. Ihre Freundin hat ab und zu eine andere, sie auch, nichts Ernstes, beide kommen damit einigermaßen klar. Doch jetzt hat Julia nebenher auch noch ein virtuelles Verhältnis. Nur facebook, sagt sie sich. Bald raubt es immer mehr Zeit, chatten sie Stunden täglich. Nach einigen Monaten kommt es zu einer Begegnung zwischen der Facebookfreundin Rebecca und Julia. Rebecca trägt ein Kleid, wirkt sehr anders, als Julia sie sich vorgestellt hat – trotz der vielen Fotos, die hin und her geschickt wurden. Wie geht es weiter? Ist das Leben groß genug für mehrere große Lieben? Wer bleibt am Schluss bei wem? Ulrike Voss schreibt lebensnah und tabulos aus der Innenperspektive. Wieder gibt es viel Sex, Romantik, Verwicklungen, Thrill.

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ULRIKE VOSS

Rebeccas Küsse

konkursbuch 

VERLAG CLAUDIA GEHRKE

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Zum Buch

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Zur Autorin

Impressum

Zum Buch

Julia ist liiert. Ihre Freundin Gudrun hat ab und zu eine andere, sie auch, nichts Ernstes, beide kommen damit einigermaßen klar.Julia und Gudrun lieben sich. Doch jetzt hat Julia nebenher auch noch ein virtuelles Verhältnis. Nur Facebook, sagt sie sich. Bald raubt es immer mehr Zeit, sie chatten täglich. Es ist eine Sucht, doch Facebookfreundin Rebecca scheint keinen Wert darauf zu legen, dass sie sich auch im Realen treffen. Versuche Julias, eine Begegnung herbeizuführen, scheitern. Wer ist Rebecca? Werden sie sich begegnen? Ist das Leben groß genug für mehrere große Lieben? Ulrike Voss schreibt lebensnah und tabulos aus der Innenperspektive. Wie schon in ihren vorigen Romanen gibt es viel Sex, Romantik, Verwicklungen, Thrill.

„Gute Sexszenen, packende Spannung und auch schöner Platz zum Nachdenken über Beziehungen für die Leserin.“ (weiberdiwan)

1

Den Tag über hatte sich meine Laune von Stunde zu Stunde verschlechtert. Obwohl ich mir freigenommen hatte, waren nahezu stündlich Mails der Mitarbeiterin eingegangen, in denen sie mich bat, eine Kleinigkeit noch schnell zu erledigen, weil ich das oder jenes besser könne als sie.

Die »Kleinigkeit«, einen Flyer für die Tanzshow zu gestalten, für die unsere Agentur eine Tournee organisierte, und anschließend noch »schnell mal« Adressen zu recherchieren, an die wir diese Flyer versenden konnten, dauerte lange. Elke, unsere Mitarbeiterin, würde die doppelte Zeit brauchen, und der Flyer sähe nach Schülerzeitung aus. Wieso konnte ich nicht Nein sagen? Würden die Konzerte weniger besucht werden, wenn die Werbung unprofessioneller aussähe? Vielleicht hätte es sogar Charme. Wieso musste ich den Computer auch einschalten? Ich sollte lernen, konsequent unerreichbar zu sein. Wann war ich das letzte Mal unerreichbar gewesen? Das war Jahre her. Damals hatte ich Urlaub und mir gegönnt, das Handy nicht mitzunehmen. Es war mir schon damals, vor den Zeiten des immer aktiven Smartphones, sehr schwergefallen. Ich hatte die Arbeit vergessen können, in der Landschaft, der Bewegung, mit den anderen aus der Gruppe. Eine Rundwanderung. Abends gab es Besuche in Pubs und unterhaltsame Gespräche, an Gespräche über Arbeit erinnerte ich mich nicht. Oder bildete ich mir das im Nachhinein nur ein? Hatte ich damals die Gedanken genauso um die Arbeit schweifen lassen, während wir vor uns hinliefen in der welligen Moorlandschaft oder im Sand am Meer und uns immer wieder kurze Schauer durchnässten, Wind im Gesicht? Schönte ich die Zeit im Nachhinein?

In den Urlauben der letzten Jahre, ob mit Gudrun oder alleine, war ich erreichbar gewesen. Im Zeitalter der WhatsApp-Nachrichten sowieso. Seitdem Gudrun und ich die kleine Eventagentur gegründet hatten, waren wir beide im Prinzip immer ansprechbar. Dass ich mich darüber ärgerte, nicht abschalten zu können, änderte nichts daran. Jetzt rief Gudrun aus der Küche: »Wieso musst du immer diesen ganzen Krempel aufheben?«

Sie war dabei, gründlich auf- und umzuräumen. Am Morgen hatte sie begonnen, alle Schubladen in der Küche auszuleeren, dann aber die Lust verloren. Auf der Arbeitsfläche, auf dem Herd und Fußboden verteilt lag der Inhalt der Schubladen. Ich ließ eine giftige Bemerkung fallen: »Sollen wir zukünftig mit den Bestecken auf dem Fußboden essen?« Oft begann sie eine solche Aktion und verlor die Lust daran; die Sachen lagen danach wochenlang herum. Eben war sie mit demonstrativ mürrischem Ausdruck wieder in der Küche verschwunden und sortierte aus, was sie wegschmeißen wollte. Auf Facebook piepte es, eine Nachricht ging ein. Eigentlich hatte ich auch Facebook heute nicht öffnen wollen; als ich die Adressen recherchierte, hatte ich es doch getan.

Wieder rief Gudrun aus der Küche, ihr Ton jetzt schärfer: »Den verstaubten alten Toaster habe ich doch schon beim letzten Mal aussortiert. Wir haben einen neuen! Wieso hast du den alten nicht weggeschmissen, sondern heimlich wieder zurückgeräumt? Da brauche ich ja gleich gar nichts zu machen. Räum doch deinen Dreck selbst weg!« Sie stürmte aus der Küche. Und zischte im Verbeigehen: »Wir werden hier bald in einer Messiewohnung hausen!« Ob es ihr Gemecker im Hintergrund war, das mich veranlasste, die Nachricht überhaupt zu lesen? Ich bekam so viele Nachrichten von unseren Agentur-Freunden, dass ich viele nicht einmal ansah. »Hab gerade Ihre Nippel unter dem Hemd bewundert!«

Nicht unsympathisches Foto. Während Gudrun geräuschvoll zurück in die Küche marschierte, checkte ich das Profil. Berufsangabe: Technikerin. Was sollte das für ein Beruf sein? Genaueres zu ihrem Beruf oder ihrer Ausbildung war nicht zu finden. Und ihr Name – R. Libelle – wieder eines dieser albernen Pseudonyme. Wir hatten auf unseren Seiten anfangs fast ohne hinzugucken bei Freundschaftsanfragen »ja« geklickt, um möglichst viele »Freunde« zu sammeln. Die sahen sich auch die Agenturseite an. Es gab schon einen älteren Nachrichtenaustausch mit dieser Frau. Ihre erste Nachricht stammte vom 13. Dezember. In der Zeit hatte noch Elke unsere Facebook-Profile betreut. R. hatte nach der Kontaktadresse zu einer Band, die wir betreuten, gefragt, sie wollte sie zu einer Privatfeier einladen. Hochzeit? Geburtstag? War sie reich? Firmenfest? Vermutlich hatte sie ein Konzert der Band in ihrer Gegend besucht und uns danach die Freundschaftsanfrage geschickt. Wieso schaute ich mir das überhaupt an? Ich schaltete den Lautsprecher aus. Die nächste Nachricht kam: »Sie waren mir auch auf anderen Fotos schon aufgefallen.«

Welches Foto hatte sie gemeint? – Nippel! Unverschämt. Stellte vielleicht eine beleidigte Nebenaffäre private Nacktfotos von mir auf Facebook?  Wer konnte das sein? Es gab doch seit einer Weile niemanden neben Gudrun. Oder hatte Gudrun was Nacktes hochgeladen? Hinter meinem Rücken? Dass sie so gemein war, konnte ich mir nicht vorstellen. Und nackt ging auch nicht auf Facebook. Gudrun nörgelte gerne und konnte tagelang jede Kommunikation verweigern, wenn sie sich für etwas rächen wollte, aber Rache-Aktionen über Facebook passten nicht zu ihr.

Während ich überlegte, auf welches Bild diese R. anspielte oder ob sie das einfach erfunden hatte, durchzuckte mich etwas wie Gewissheit: Mit dieser Frau werde ich im Bett landen. Ich verdrängte es sofort, das konnte nicht sein! War ich sexuell so unterversorgt, dass allein das Wort »Nippel« in der Nachricht einer mir unbekannten Frau ausreichte, um an Sex zu denken? Waren Gudrun und ich eigentlich noch zusammen?

Sie hatte es einmal so ausgedrückt: Wir wohnen zusammen. Das war vor etwa einem Jahr. In der Zeit hatte sie sich – das erste Mal, seitdem wir liiert waren, wie sie behauptete – ernsthaft mit einer anderen Frau eingelassen. Seit gut drei Jahren wohnten wir zusammen.

Ich antwortete auf die Nachricht: »Von welchen Bildern sprechen Sie?«

Umgehend schrieb sie: »Vor ein paar Tagen waren Ferienfotos von Ihnen zu sehen, nach einer Wanderung.«

Auf diese Bilder wäre ich nicht gekommen. Gudrun hatte mich überredet, die Spaziergangfotos zu posten, sie seien unterhaltsam, und es sei gut, manchmal privat wirkende Fotos auf unsere Seiten zu stellen, das mache uns und damit die Agentur sympathischer. Wir hatten am letzten Wochenende anlässlich meines Geburtstages einen Ausflug in die Gegend der Seddiner Seen gemacht. Das Wasser des Sees war fast schwarz. Krokusse leuchteten. Die fröhlichen Farbtupfer hatten meine Geburtstagslaune verbessert. Wir liefen am See entlang und durch den Wald, und Gudrun erzählte von einem medizinischen Buch, das sie vor Kurzem gelesen hatte. Es handelte von Ernährung, um Zuckerkrankheit und anderen Alterskrankheiten vorzubeugen. In ihrer Verwandtschaft gab es sowohl Diabetiker als auch zwei entfernte Tanten, die an Darmkrebs gestorben waren. Ob ihre neue Beschäftigung mit dem Thema Gesundheit daran liege, dass sie sich einer Midlife-Crisis nähere, fragte ich. Das ließ sie eine Weile verstummen, bevor sie von Neuem begann. Auf einmal regnete es. Gudrun stoppte ihren Vortrag mitten im Satz und drückte auf den Auslöser. Ich stand neben einer Kiefer, triefte, und die Kleidung klebte am Körper. Das Wasser lief an den Nadeln und an mir in Strömen herab, während die Sonne aufblitzte und uns in gespenstisches Licht tauchte. Anschließend aßen wir Aal grün in Kähnsdorf. Das Thema Gesundheit wurde vom Schwärmen über den Geschmack des fetten Fisches ersetzt. Waren auf diesem Foto Nippel zu sehen? Während ich mich das fragte und zu den Fotos scrollen wollte, kam die nächste Nachricht: »Sympathisch und mutig!«

Ich muss das abschalten, dachte ich. Doch ich antwortete: »Wie meinen Sie das?«

R.: »Ein Foto mit so verführerisch erotischer Ausstrahlung zeigt Mut!«

Erotische Ausstrahlung? Ich war einfach nass gewesen. Ich scrollte auf unserer Seite nach unten und sah mir das Foto mit fremden Augen an. Durch den Stoff des tropfenden Hemdes in der offenen Jacke bohrten sich ziemlich große und harte Nippel.

R: »Sagen Ihnen meine Posts zu?«

Posts? Keine Ahnung, was diese Frau postete, ich klickte sie kurz an. Gedichte oder ein paar Zeilen Prosa von Frauen, und das jeden Tag. Was sie gestern gepostet hatte, war von Else Lasker-Schüler. Also anspruchsvolle Texte. Sah so aus, als wäre sie fleißig auf Facebook unterwegs. Passte das zu einer Technikerin? Vielleicht war die Berufsbezeichnung genauso erfunden wie ihr Name. Wieso sollte mich das interessieren?

»Ich schau mir Ihre Posts mal an, muss zugeben, dass ich noch nie auf Ihre Seite geklickt habe«, antwortete ich.

R.: »Danke! Dann einen guten Abend!«

Ich zwang mich, Facebook abzuschalten.

Gudrun hatte einen Karton mit Müll in den Flur gestellt. Ein großer Teil der Schubladeninhalte lag immer noch auf den Arbeitsflächen. Sie hatte sich auf unser Sofa und hinter ihren Roman zurückgezogen. Ich fragte, ob ich wieder einräumen könne.

Ihr Ton klang nicht mehr zickig, als sie antwortete: »Ja. Und kannst du bitte den Karton im Flur morgen gleich auf den Müllplatz fahren?«

Sie würde morgen wieder in unser Büro gehen; ich hatte mir den Kurzurlaub noch bis zum Wochenende gegönnt. Beim Blick in die Kiste fragte ich mich, wieso ich überhaupt nachsah. Es ist mir egal, was sie diesmal aussortiert hat, wieso muss ich auch immer so viel aufheben?, dachte ich. Der alte Toaster, ein erst halb verbrauchter Eimer weißer Farbe, seit Ewigkeiten nicht mehr benutzte Rührstäbe, alte Lappen, billiges Besteck – wir hatten wirklich viel zu viel Besteck, mittendrin zwei unbenutzte bunte Schürzen, die uns ihre Mutter vor ein paar Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte. Sie taten mir auf einmal leid, wie sie da inmitten des verstaubten Mülls lagen. Eigentlich wären die doch praktisch, dachte ich. Wie viele Öl- oder Bolognese-Spritzer hatte ich kaum aus meinen Hemden herauswaschen können.

Ich ging ins Wohnzimmer, versuchte, nicht an die paar Zeilen Facebook-Chat zu denken, und kuschelte mich zu Gudrun aufs Sofa, angeregt. Wann hatten wir beide eigentlich das letzte Mal Sex? Wäre es nicht schön, es mal wieder zu tun? Vielleicht heute, am letzten Tag von Gudruns Urlaub. Ich sprach es aus, statt einfach anzufangen. Sie sagte, sie wolle unbedingt ihr spannendes Buch zu Ende lesen. Doch dann zwinkerte sie mir versöhnlich zu und ergänzte: »In den nächsten Tagen, spätestens am Wochenende, könnte ich vielleicht auch.«

Hatte ihre Stimme den besorgt-beruhigenden Ton – im Sinne von »ich sage das jetzt, damit sie nicht weiter quengelt« –, den ich nicht ausstehen konnte? Ich ließ sie mit ihrem Buch alleine.

2

Am nächsten Tag brachte ich den Müll weg und nahm nichts heimlich heraus, obwohl mir unsere Schürzen wieder leidtaten, als sie in den riesigen Restmüllcontainer flogen. Gudrun war in der Agentur.

Sie kümmerte sich um die Kunden und die Homepage, ich war für Akquise der Veranstaltungsorte und Werbung für die jeweiligen Tourneen zuständig. Teilzeitmitarbeiterin Elke assistierte uns beiden bei allem, was anfiel. Gudrun als Frühaufsteherin war am Vormittag, ich am Nachmittag in unserem kleinen Büroraum, doch in letzter Zeit hatte es so viel zu tun gegeben, dass wir beide und manchmal auch Elke von morgens bis nachts an den zwei großen Schreibtischen ums Eck im Büro saßen. Unsere Freundinnen sagten jedes Mal, wenn eine von uns klagte: »Ist besser als zu wenig Arbeit! Dann läuft es doch bei euch!« Finanziell stand es im Moment nicht gut. Anders als in der Anfangszeit konnten die Künstlerinnen heute nichts mehr bezahlen. Wir mussten uns mit weniger Prozenten der Eintrittseinnahmen zufriedengeben, Garantiezahlungen waren kaum noch zu verhandeln, was bedeutete, dass wir für den gleichen Umsatz dreimal so viel arbeiten mussten.

Mit meinem Germanistikabschluss hatte ich nach dem schlecht bezahlten Volontariat in einem Kulturzentrum keine Stelle gefunden. Die Verwaltung des Zentrums übernahm ihre Volontärinnen nie, da sie sich nicht mehr an Lohn leisten konnte oder wollte. Ich begann, wie zu Studentinnenzeiten, abends in einer Kneipe zu arbeiten, und versuchte mich freiberuflich mit der Betreuung einer noch wenig bekannten Frauenband. Auftrittsorte und Kulturorganisatoren hatte ich in meinem Volontariat einige kennengelernt. Gudrun und ich waren frisch liiert. Kurz danach liefen Gudruns Lehraufträge aus, für das darauffolgende Semester bekam sie keinen neuen Vertrag. Sie sei, behauptete sie – ich glaubte es ihr nicht – sogar froh darüber. Sie hatte oft über Studierende geklagt, die nur am Abhaken ihres Pflichtprogramms für Bachelorprüfungen, aber nicht an den Inhalten interessiert waren. Arbeitslos träumte sie davon, eine Ausbildung als Schreinerin zu beginnen. Sie stellte sich vor, wie schön es wäre zu sehen, was man schafft, anders als in der Uni.

Ihre Sehnsucht schien mir berechtigt. In ihren Fingern steckte Intelligenz. Wenn sie handwerklich etwas in Angriff nahm, beispielsweise ein Ikea-Küchenregal zusammenzubaute, gelang es ihr reibungslos. Sie hatte Schrauben und Bauelemente in der Hand, und sie fügten sich wie von selbst zusammen, während ich stundenlang mit der Gebrauchsanweisung zubrachte und nur mit Widerwillen begann und sehr langsam vorankam.

Ich überredete sie, statt einer neuen Ausbildung bei der Organisation der Events mitzumachen, und so gründeten wir eine Eventagentur.

Nachmittags redete ich mir ein, nur nachsehen zu wollen, ob Elke die anstehenden Veranstaltungen auf der Agenturseite noch einmal gepostet hatte. Die Nachricht von R. Libelle auf meiner privaten Seite war schon am Vormittag eingegangen. »Noch herzlichen Glückwunsch nachträglich zum Geburtstag! Bin übrigens gleich alt.« Einige Stunden darauf war eine weitere Nachricht eingegangen. »Habe jetzt noch ein älteres hübsches Foto gesehen.«

Hatte die nichts anderes zu tun, als durch meine Seite zu scrollen? Aber ich antwortete wie automatisch: »Danke für das Kompliment!«

Eine Sekunde später ihre Reaktion: »Und die Nippel wieder!«

»Wo haben Sie Nippel entdeckt?«

Sie erwähnte ein älteres Foto. Ich klickte Facebook weg.

Beim Kochen kreisten meine Gedanken um Gudruns Versuch, aus unserer Beziehung auszubrechen. Vor einem Jahr wollte sie sich trennen. Ich war ein paar Tage unterwegs gewesen, um mir eine Gruppe anzusehen, die neu bei uns war. Als ich zurückkam, lag ein Blatt Papier in meinem Zimmer. Ich hatte Mühe, ihre Handschrift zu entziffern. Das viele Schreiben am Computer verdarb Handschriften. Aber daran kann es nicht liegen, dachte ich, denn sie konnte lesbarer schreiben. Wenn sie einen Einkaufzettel schrieb, hatte ich nie Probleme mit ihrer Schrift. Vielleicht war sie in Eile gewesen, als sie den Zettel geschrieben hatte, wie kurz vor einer Flucht.

»Du warst mir die wichtigste Freundin bisher in meinem Leben. Aber ich habe mich verliebt, ich komme nicht dagegen an. Es ist mehr als ein One-Night-Stand (was du sicher schon viel öfter als ich gemacht hast).«

Hatte sie es mitbekommen? So oft war es ja nun auch nicht passiert, dass ich mit anderen im Bett gelandet war. Erzählt hatte ich davon nie! Ich las weiter.

»Ich kann nicht doppelgleisig leben. Nimm es mir nicht übel, aber ich möchte mich trennen.« Ich konnte es nicht fassen. Ein Zettel mit diesem Inhalt. Es konnte doch nicht wahr sein, dass sie wegen einer flüchtigen Verliebtheit gleich eine Beziehung anfangen und unsere beenden wollte! Ich hatte mich auch schon flüchtig in andere verliebt. Das passierte doch jedem, der mit offenen Augen durch die Gegend lief. Manchmal funkte es eben. Zwischen Gudrun und mir war es Liebe! Verbundenheit, die eine Vergangenheit und eine Zukunft hatte und nicht einfach so enden konnte. Ich heulte hemmungslos. Und schrieb ihr einen seitenlangen romantischen Brief in dem ich meine Liebe ausdrückte und Erinnerungen an die intensive Anfangszeit unserer Beziehung schilderte. Nachdem ich ihn selbst kaum lesen konnte, schrieb ich den Text ab, verschönerte ihn und fügte Absätze hinzu. Anschließend schmerzte mir das Handgelenk. Ich hatte seit Ewigkeiten nicht mehr mit der Hand geschrieben. Ich legte den Brief in ihr Zimmer, das damals noch unser gemeinsames Schlafzimmer war.

Ich versuchte, mich daran zu erinnern, wie es mir mit den anderen gegangen war. Es war nie von Bedeutung gewesen. Es hatte Spaß gemacht, wie Sport. Und es war genau viermal vorgekommen, wobei es immer bei einem Mal Sex geblieben war. Nach Events oder auf Partys; das letzte Mal vor Gudruns Brief lag mehr als ein halbes Jahr zurück. Und das Mal davor zählte eigentlich nicht. Es war auf einer Party nach der PorYes-Filmpreisverleihung gewesen. Gudrun hatte keine Lust gehabt, mich zu begleiten, sondern war direkt nach der Veranstaltung im Kino nach Hause gegangen. Ich war nach vergeblichen Überredungsversuchen und Nörgeln – »Du benimmst dich, als wärst du sechzig! Wir können doch mal wieder zusammen auf eine Party gehen und tanzen! Täte uns gut!« – allein hingegangen, sah mir die Liveshow-Acts an und trank aus Trotz zwei sehr alkoholhaltige Cocktails und dann ein Bier. Eine flüchtige Bekannte zog mich mit in ein öffentliches Herumgeknutsche im Backstage-Raum. Ich war angeregt, konnte mich aber nicht einlassen. »He, du traust dich wohl nicht«, sagte sie, »warte einen Moment, ich hole uns noch was zu trinken.« An der Bar standen sie Schlange. Ich stand unbeholfen herum und fühlte mich wie ein Klotz. Eine der Darstellerinnen auf einem Sofa in meiner Nähe bemerkte das, winkte mich heran und rückte zur Seite. Ich quetschte mich zwischen sie und eine kräftige Butch. »Danke! Eure Show war toll«, sagte ich – aber mehr fiel mir nicht ein. Worüber sollte ich reden? Ich wollte nicht neben dieser kräftigen Butch sitzen, die vorhin einen Handwerker gespielt hatte, der im Blaumann hereinkommt und dann natürlich eine Femme anmacht, die sich später in einen Kerl verwandelt. Anschließend taten sie so, als fickten sie. Diese Szene hatte mir am wenigsten gefallen.

»Hi, ich bin Fred«, sagte die Butch. Ihre Stimme klang erstaunlich aufregend. Endlich kam meine Bekannte mit dem Cocktail. Sie zog mich vom Sofa und in eine dunkle Ecke etwas abseits von den anderen, dann küsste sie mich. Sie hatte eine der riesigen Brillen auf, die damals gerade in Mode kamen, an die stieß ich dauernd mit meiner im Vergleich dazu kleinen Brille, doch sie fummelte geschickt an mir herum und schaffte es, dass ich scharf wurde. Die Lust versiegte wieder, mir wurde schwindelig von den Cocktails, und als sie nachfragte, ob sie was falsch mache, sagte ich: »Öffentlicher Sex ist nichts für mich.« Aber dann ging es doch weiter, auf einmal war ich mitten zwischen den anderen Frauen, machte wie bewusstlos mit. Anschließend gab es belegte Brote.

Außerdem hatte ich am Anfang unserer Beziehung noch ein paarmal Sex mit Andrea, der Frau, mit der ich vor Gudrun zusammen gewesen war, das Übliche, wenn eine Beziehung endet und eine neue beginnt. Gudrun war meine wichtigste, meine längste Liebesgeschichte. Verliebt war ich in die One-Night-Stand-Partnerinnen nicht. Im Gegenteil, danach war meine Lust auf Sex mit Gudrun umso größer gewesen und ein unbändiges Liebesgefühl erfasste mich. Einmal hatte ich für eine der Tänzerinnen geschwärmt, die wir betreuten – aber ernsthaft verliebt? Nein. Das flüchtige Funkenschlagen war ein beiläufiges Vergnügen; vielleicht erzeugte es Gedankenspiele. Wäre ich eine andere oder hätte mehrere Leben parallel, dann könnte ich mit dieser oder jener Frau in Liebe fallen.

Eine der Frauen wollte nach dem einmaligen Sex weitermachen, aber ich hatte es geschafft, ihr knapp mitzuteilen, ich sei liiert, und es müsse bei diesem einen Mal bleiben. Ich hatte es nett formuliert, vielleicht zu nett, ich schrieb ihr, dass sie eine tolle Frau sei und wenn es nicht Gudrun in meinem Leben gäbe … Auf ihre, im Tonfall bedrängender werdenden, Mails reagierte ich nicht mehr. Noch immer schrieb sie mir manchmal. Angestrengt beiläufig lud sie mich zu einer Veranstaltung ein oder fragte, wie es mir gehe. Ich war froh, dass sie unsere Adresse nicht kannte. Und nun war es Gudrun passiert.

Natürlich fragte ich Elke, fragte gemeinsame Freundinnen. Gudrun hatte Elke einige Aufgaben übertragen und gesagt, sie sei ein paar Tage nicht da. Ich brachte nichts weiter in Erfahrung und verzweifelte. Erst zwei Tage später tauchte sie wieder auf.

Sie las meinen Brief und war gerührt. Aber sie wisse nicht, ob das mit der anderen Frau nur ein kurzes Feuer der Verliebtheit sei oder sich etwas Längeres daraus entwickeln würde, sie brauche Abstand, um das herauszufinden. Und es falle ihr schwer, es mit zwei Frauen gleichzeitig zu tun.

»Was soll ›es‹ denn sein? Sex? Es geht doch zwischen uns nicht allein um Sex, uns verbindet viel mehr!«

Wir begannen ein endloses Gespräch durch die Nacht.

So viel wie in den darauffolgenden Wochen hatten wir vorher lange nicht mehr miteinander geredet.

 Die beiden Jahre davor waren wir im Sommer getrennt verreist. Wenn wir zusammen reisten, waren wir maximal eine Woche unterwegs. Es erschien uns wichtig für die Agentur, dass wir nicht beide gleichzeitig für längere Zeit abwesend waren. Wir planten, die getrennten Urlaube beizubehalten. Doch nach Gudruns melodramatischem Versuch, sich von mir zu trennen, wollte ich unbedingt mit ihr zusammen verreisen. Ich konnte sie überreden, und wir flogen für zwei Wochen in ein Häuschen auf einer kanarischen Insel, das wir zusammen mit anderen nutzten.

In diesem Urlaub war dann ich melodramatisch geworden. So wie sie würde ich nie wieder jemanden lieben, ich hatte gebettelt, dass wir zusammenblieben, einmal hatte ich sogar ein großes Küchenmesser in der Hand, als wollte ich mir etwas antun – was weit außerhalb meiner Vorstellungskraft lag. Doch ich fuchtelte weinend mit dem Messer herum. Noch Jahre später erzählte Gudrun ironisch von der aufgelösten, um ihre Liebe kämpfenden Julia mit dem großen Küchenmesser in der Hand.

Wir blieben zusammen. Sie sah im Laufe des Urlaubs ein, dass es kein Drama war, manchmal mit anderen Frauen Sex zu haben und sich ein bisschen zu verlieben. Sie solle es mir nicht sagen, bat ich. Keine Ahnung, ob noch etwas lief mit der Frau von damals.

Vor einigen Monaten behauptete sie, dass sie nicht mehr verstehen könne, was sie an der anderen gefunden habe, und sehr froh sei, nachträglich, dass ich um sie gekämpft hatte.

3

Ich werde seltener auf Facebook gehen, nahm ich mir vor. Ich werde das Piepen auf dem Smartphone ignorieren. Natürlich war ich permanent online. Zwei Tage später nahm R. Libelle wieder Kontakt auf.

»Hallo, gute Nacht!«

Ich reagierte nicht.

»Was machen Sie gerade?«

Jetzt antwortete ich: »Nichts Besonderes. Buchhaltung.« Ich hatte einen Urlaubstag zum Abheften unserer Belege genutzt. Gudrun und ich hassten buchhalterische Sortierarbeiten. Zur Jahreswende hatten wir uns vorgenommen, unsere Quittungen und Rechnungen ab diesem Jahr einmal monatlich zu ordnen. Ende März hielten wir uns noch an den Vorsatz. Ich ergänzte: »Das Minus auf dem Konto besichtigen.«

»Bei mir geht’s gerade«, antwortete sie.

Daraufhin schrieb ich: »Ich gehe jetzt offline und lese oder mache einen Nachtspaziergang. Hier ist bald Vollmond. Habe keine Lust, mich weiter mit den Löchern auf unseren Firmen-Kontoauszügen zu befassen.«

Sie: »Gute Idee, befassen wir uns lieber mit anderen, weiblichen …«

Es verselbstständigte sich schon an diesem Abend. Ich mailte der Unbekannten: »Ja, Sie haben recht, beschäftigen wir uns lieber mit Unausgesprochenem, ich wünsche passende Träume.«

Sie antwortete: »Wie soll ich da schlafen?«

Ich war mitten in der Nacht erwacht und sah Gudrun an. Ihre Schulterblätter hoben und senkten sich. Wir hatten vergessen, die Heizung niedriger zu stellen. Sie hatte ihre Decke heruntergeworfen. Im Mondlicht schimmerte die Haut, der runde große Po, die Hüfte hinauf, zur Taille hinunter. Ich wollte sie lieben. Ich brauchte Sex! Meine Hand war auf dem Weg zu ihr. Die Unsicherheit kam. Ich zog die Hand zurück. Gudrun als Frühaufsteherin war oft schon um zehn, elf im Bett, ich kam selten vor eins oder zwei zu ihr. Kaum war ich eingeschlafen, konnte es passieren, dass Gudrun aufwachte, sich unruhig hin- und herwälzte und mich weckte. Manchmal fragte ich mich, ob es gut gewesen war zusammenzuziehen. Ob wir nicht wieder auseinanderziehen sollten?

Ich erinnerte mich an unser erstes Mal. Wir kannten uns schon einige Monate. An meinem Geburtstag war sie nach einer kleinen Party geblieben, und es ging los. Mittendrin entzog sie mir ihre Klit – flüsterte, sie habe es nicht gerne, wenn sie »direkt da« angefasst würde –, sie kam nicht und ich auch nicht. Wir sahen uns bald wieder. Ich war es, die den ersten Orgasmus hatte, weil sie einfach nicht aufgehört hatte, mich zuerst mit Fingern und schließlich unter Zuhilfenahme eines Vibrators, den sie unter dem Bett entdeckt hatte, zu peinigen. Eigentlich wollte ich doch sie lieben, wollte ihr einen unvergesslichen Orgasmus bereiten – doch sie ließ mich nicht. Ich kam durch den Vibrator, mit dem sie mich unerbittlich vögelte. Es war einer der einfachen Massagestäbe, kein Delfin und keine Madonna oder was sonst in war in der Zeit. Ich kam und übergoss ihre Hand, den Stab und sie. Sie lachte auf, als sie es geschafft hatte. Danach kamen wir uns näher – und natürlich fand ich heraus, wie ich sie nehmen musste; nicht zu direkt, nicht zu hart, doch ich konnte die ganze Hand in ihr versenken, wenn ich ihr Zeit ließ. Es hat eine Weile gedauert, bis ich sie das erste Mal kommen sah, ihre Muskeln sich um mein Handgelenk krampften, es packten und losließen und packten und ich glücklich und erschöpft bewunderte, wie lange sie kam, wie ihre Gesichtszüge entglitten und sie Grimassen zog, köstlich, und als ich mich langsam, vorsichtig zurückzog, hat sie einmal kurz geschrien.

Wann war das Anfangen schwer geworden? Sie würde wieder früh aufstehen, ich sollte sie nicht wecken, aber hatte ich nur deshalb innegehalten? Früher hatten wir uns nahezu jede Nacht zum Einschlafen geliebt. Auch wenn es routiniert geworden war – effektiv – wir uns zum Einschlafen in erprobten Bewegungen schnelle Orgasmen bereitet hatten und es nicht mehr so aufregend war wie am Anfang. Aber wir hatten Sex. Jahrelang.

Und dann war auf einmal die eine gleich eingeschlafen, oder die andere und der Sex hatte sich unauffällig davongeschlichen. Das ist normal, redete ich mir ein. Das ist so in jeder längeren Liebesbeziehung. Tritt nicht anderes an die Stelle? Vertrauen. Gemeinsam lachen, den Alltag teilen, die Nähe, all das, was selbstverständlich erscheint. Aber sich auszumalen, wie es wäre, wenn es nicht mehr da wäre, bewies die Liebe. Ich konnte mir nicht vorstellen, ohne sie zu sein. Den ironischen Lippenschwung, den tragischen Gesichtsausdruck, und dass mir noch immer manchmal im ersten Moment verborgen blieb, ob sie etwas ernst meinte oder dazu ansetzte, sich über mich lustig zu machen.

Das Mondlicht wanderte. Sie schlief ruhig weiter, außer den Wellen des Atmens keine Bewegung. Details unsere Beziehung fielen mir ein, wie sie sich nicht nur über mich, sondern auch über andere lustig machen konnte, zuerst über ihre Studentinnen, später über unsere Kundinnen, über gemeinsame Freundinnen und Ex-Freundinnen. Wie oft wir zusammen lachten. Anfangs war ich in ihrer Gegenwart besonders ungeschickt, ließ Reis anbrennen, kippte Gläser um, stolperte. Ich war verliebt. Wir lachten zusammen über uns.

Nachdem wir uns einige Jahre kannten, zogen wir zusammen.

Ich brauchte Sex, bildete mir ein, schnell schlecht gelaunt zu sein, wenn wir längere Zeit keinen Sex hatten.

Sie war sehr ordentlich, ich eher unordentlich.

Unsere früheren Wohnungen waren sehr unterschiedlich. Ich bewunderte ihr großes Wohnzimmer, dazu die Küche, fast ein zweites Zimmer. Beide Räume mit wenigen Möbeln stilvoll eingerichtet, alles aufeinander abgestimmt, es gab nur das Nötigste, Arbeitstisch, ein Teppich, Bett, Sofa. Keinen Krempel. Vorhänge in der Farbe des Teppichs, dunkelrot. Wo hatte sie eigentlich ihre Bücher stehen? Das habe ich bereits vergessen. Sie genoss meine höhlenhafte Chaoswohnung, die sie »gemütlich« fand. Nur ab und zu gab es kritische Bemerkungen: »Du könntest mal wieder staubsaugen!« Sie hatte mich oft in ihre Wohnung zum Essen eingeladen, sie kochte gerne. Immer standen Blumen auf dem Esstisch, und es gab farblich passende Servietten. Ich weiß noch, wie verunsichert ich war, als ich das erste Mal bei ihr zum Essen war. Der elegante Tisch, eine Tischdecke, ich fürchtete, mein Rotweinglas umzukippen. Sobald wir die Teller geleert hatten, die sie wie in einem Restaurant dekoriert hatte, trug sie das Geschirr in die Küche und kam nicht zurück, weil sie gleich spülte. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ihr nachgehen, Hilfe anbieten? Einfach sitzen bleiben?

In der ersten Zeit unseres Zusammenlebens versuchte ich, mich ihrer Ordnung anzupassen, doch inzwischen war ich nachlässiger geworden. Streit über Ordnung und Chaos gab es in der letzten Zeit sicher einmal in der Woche. Es waren sinnlose Streite über nichts. Ich warf ihr an den Kopf, manisch penibel zu sein, weil sie auch in unserer gemeinsamen Wohnung, wenn sie kochte, Töpfe und Herd putzte, noch bevor wir aßen, während das Essen auf den Tellern abkühlte, und sie direkt nach dem Essen, gemütliches Plaudern jedes Mal unterbrechend, zurück in die Küche eilte, um die Spülmaschine einzuräumen. Sie hatte darauf bestanden, dass wir uns eine anschafften. Einmal schrie ich sie an, dass die Teller auch eine Stunde später in die Maschine geräumt werden könnten, sie müsse ja nicht mehr mit der Hand spülen.

Manchmal, wenn sie verreist war und ich am Tag, bevor sie zurückkam, stundenlang die, in der Zwischenzeit verwahrloste, Wohnung putzte – was mich viel mehr Zeit kostete und in überflüssigen Stress versetzte, als wenn ich jedes Mal gleich aufgeräumt hätte – sah ich mich mit ihren Augen und fand mich schrecklich. Ihre Art Ordnung verursachte weit weniger Stress. Und sie kam jedes Mal aus der Küche zurück, wenn sie die Teller weggeräumt hatte, und wir plauderten weiter. Wieso regte ich mich auf?

Ich konnte nicht wieder einschlafen und schlich aus dem Zimmer. Vielleicht sollte ich wirklich einen Spaziergang machen. Ich zog mir etwas über den Schlafanzug und ging die Treppe hinunter vors Haus. Der Mond war nicht mehr zu sehen, er musste in diesem Moment untergegangen sein. Sein Schein war noch da und ließ den Himmel dunkel leuchten. Im Freiraum zwischen den Häusern am Ende der Straße lag das tiefe Grün des frühen Morgens. Der Märzhimmel. Sicher würde Gudrun bald aufwachen. Was sollte sie denken, wenn ich fort wäre? Ich ging wieder hoch, öffnete das Fenster und bewunderte den Himmel. Das Grün wurde Rosa; die Stille, bevor der Morgen losging. Noch waren keine Vögel zu hören. Ich fühlte mich frei und leicht. Dann ging das Singen los, ein Vogel ließ sich auf der Brüstung des kleinen Balkons der Nachbarwohnung nieder und begann zu singen.

Gudrun kam aus dem Schlafzimmer und fragte, was los sei, wieso ich schon so früh auf sei. Dann legte sie sich wieder hin. Ich folgte ihr. Sie drehte sich um, sah mich an, sagte »jetzt« und küsste mich. Sie drückte sich an mich, ihre Schlafhitze sprang über. Wir liebten uns, endlich. Sie knetete meine Nippel hart und groß und biss sie, während ihre Hand meine Lippen öffnete und mit ihren vertrauten ruhigen sanften und unerbittlichen Bewegungen begann. Draußen wurde es langsam hell, während ich mich um sie wand und sie nicht aufhörte, bis sie mich so weit hatte. Ich brauchte lange. Die Sonne kam und brachte die gegenüberliegenden Fenster zum Reflektieren. Ich stöhnte und fiel in ihre Arme, »ruhig«, sagte sie, »ruhig, lass dir Zeit.« Im hellen Fensterviereck der gespiegelten Sonne nahm ich sie, wie sie es am Morgen mochte, kurz und hart. Ihre Klit umkreisend.

Das Wochenende hatte begonnen.

Beim Kaffee planten wir den Tag. Ich war gut gelaunt. Endlich wieder Sex. Wann war es das letzte Mal dazu gekommen?, das musste ewig her sein, und dann fiel es mir ein. Es war noch vor Weihnachten gewesen. Ein Vierteljahr ohne Sex, das konnte doch nicht wahr sein! Ich sagte es. Gudrun lachte mich an, sagte: »Kann passieren, aber geht doch noch, haben wir doch eben bewiesen!«

Und damals hatten wir nicht einmal richtigen Sex, auch das war mir eingefallen. Dieses letzte Mal stand mir auf einmal plastisch vor Augen. In dem Moment – ihr weicher Po an meinen Bauch gedrückt, mein Mund an ihrem Ohr –, als ich begann, sie zu öffnen, und zugleich etwas Zärtliches flüsterte, ich glaube sogar, ich flüsterte einfach »ich liebe dich«, da fragte sie: »Hast du eigentlich die Vollkasko gekündigt?«

Ich hatte das tatsächlich vergessen, es hätte vor Ende November passiert sein müssen. Der Termin war abgelaufen. Ich hatte angeboten, den aktuellen Papierkram zu erledigen. Wir würden wieder die hohe Summe abgebucht bekommen. Weil ich sofort ein schlechtes Gewissen hatte, reagierte ich überempfindlich, brüllte: »Wir sind doch beim Sex. Typisch, du magst es nicht mehr!«

Ich hätte einfach antworten können: »Pardon, das habe ich vergessen.« Damit wäre die Sache geklärt gewesen, und wir hätten weitergemacht. So zog sie sich schließlich zurück, sagte »ich schlafe jetzt«, drehte sich weg und schlief erstaunlich schnell ein.

Wieso musste mir das jetzt einfallen. Es war schön gewesen eben. Sich beim Sex zu streiten, sicher würde Gudrun mit mir darüber lachen, wenn ich sie jetzt daran erinnerte. Aber ich hielt mich zurück. Wenn sie es doch als Kritik verstünde, wäre der schön begonnene Tag verdorben. Und es kam vor, dass sie sogar Äußerungen als feindlich und gegen sie gerichtet empfand, die nichts mit ihr zu tun hatten.

Rausfahren, ein Spaziergang, Essen gehen, lesen, fernsehen. Und noch einmal Sex.

Ich schaffte es, Smartphone und Computer das gesamte Wochenende über nicht einzuschalten.

4

Zwei Wochen darauf meldete sich R. wieder, am Vormittag, Arbeitszeit. »Mal am Tage. Immer diese Geldsorgen. Ich habe mir Gedanken gemacht. Könntet ihr nicht neben den Frauenbands und alternativer Avantgarde-Kunst Firmenfeste mit Unterhaltungsprogramm bestücken? Für Jubiläen und so. Die zahlen sicher gute Fixpreise für die Organisation.«

Wir unterhielten uns über die Arbeit unserer Agentur. Wie schnell eine Stunde vergehen konnte. Elke fragte mich etwas, ich klickte meine eigentliche Arbeit an, und als Elke wieder an ihrem Computer saß, klickte ich zurück zu R., die zwischenzeitlich mehrere neue Nachrichten geschickt hatte.

Ich: »Und was arbeitest du?«

Sie war nicht mehr online.

In den folgenden Wochen schickte sie mir fast jeden zweiten Tag einen Link, zu Songs auf YouTube oder zu Texten in ihren Posts. Ich begann, mich auf die ausgesuchten Texte und Lieder zu freuen. Ich bildete mir ein, das hätte keine Bedeutung, schon gar keine im Verhältnis zu Gudrun. Manchmal unterhielten wir uns, sie schrieb von Büchern, die sie las und empfehlen würde. An eineml Freitagnachmittag saß ich mit leerem Kopf am Computer, mir fiel kein Ort mehr ein, den ich noch für eine, vor Kurzem mit Mühe neu akquirierte, Tanzgruppe anfragen könnte. Auch bei Elkes Recherchen war nichts herausgekommen. Alle, die ich anrief, wimmelten mich ab, und das ging schon tagelang so. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr arbeiten zu können, alles erschien mir sinnlos, zu mühsam, das Jahr drohte, wenn es so weiterginge, ein Minusjahr zu werden, und das könnten wir nicht auffangen. Wir würden aufgeben müssen. R. war online. Ich erzählte ihr von meiner Leere. Ihr, der völlig Unbekannten, und nicht Gudrun, mit der ich eigentlich dringend darüber hätte sprechen müssen.

Als ich ihr das alles geschrieben hatte und auch, dass ich manchmal nicht schaffte, mit meiner Partnerin darüber zu reden, war mir leichter zumute.

Am Tag darauf fand ich einen Ort.

Einmal las ich Gudrun eines der geposteten Gedichte vor. Es war von einer mir unbekannten Autorin. R. hatte es an einem ungemütlich feuchtkalten Tag mit dem Kommentar »Vorausschau auf Zeiten mit besserem Wetter« online gestellt.

Weißt du noch

Es ist schon viele Sommer her

Oder war es letzten Sommer

Ach, du weißt es nicht mehr.

Wir wollten uns lieben

Im hohen Gras

Es gab keinen Schatten

So warteten, warteten wir

Aufs Ermatten

Des höllheißen Tages

Wie durch Glas

Lilablaues Kirchenfensterglas

Von allen Kirchen der Welt gestückt

Stierte der Himmel

Auf unsere unverbrämten

Lüsternen Körper,

Bis wir uns schämten.

Dann schliefen wir,

Zusammengerückt.

Weißt du noch?

Es ist schon viele Sommer her.

Oder war es letzten Sommer

Ach, ich weiß nicht mehr.

»Wo hast du das her?«

»Aus Facebook.«

Gudrun sorgte zwar dafür, dass wir regelmäßig Bilder und kurze Berichte hochluden, aber es ging ihr nur um die Sichtbarkeit der Agentur. Sie selbst schaute sich kaum etwas an. »Dass du da dauernd herumsurfst, begreife ich nicht«, war ihr Kommentar. Die Anspielung darauf, dass unser letzter Sex inzwischen auch schon wieder drei Wochen oder länger her war, hörte sie nicht heraus. Aber sie fügte gnädig hinzu: »Ist ganz nett, das Gedicht.«