Recruitingmanagement und Recruitingorganisation - Michael Witt - E-Book

Recruitingmanagement und Recruitingorganisation E-Book

Michael Witt

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Beschreibung

Mitarbeiter:innen sind nach wie vor das wichtigste Gut eines Unternehmens. Recruiting wird immer mehr zentrales strategisches Element von Unternehmen und HR-Abteilungen. Dennoch vermissen Recruiter:innen einen eigenständigen konzeptionellen Ansatz in Form eines Modells, wie es ihn in anderen Disziplinen des Personalwesens gibt. Das Buch beleuchtet verschiedene aktuelle Organisationsmodelle wie die agile Organisationsform, Holocracy, Orbit Organization, 3-Säulen-Modell etc. und bewertet sie für den Einsatz in der Recruiting-Organisation. Mit dem Recruiting-Lebenswelten-Modell stellt das Buch ein eigenes, hybrides Organisations-Modell vor, das in einem ganzheitlich denkenden Ansatz Recruiting organisiert und auch alle dort handelnden Disziplinen integriert. Im Fokus stehen dabei die Hauptdisziplinen der Personalbeschaffung: Employer Branding, Personalmarketing und Recruiting.

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[5]Inhaltsverzeichnis

Hinweis zum UrheberrechtImpressum1 Einleitung2 Lebenswelt3 Recruiting 3.1 Recruiting und Netzwerke3.1.1 Personen und Netzwerke3.1.2 Unternehmen und Netzwerke3.1.3 Internet und Netzwerke3.2 Recruiting und Digitalisierung3.2.1 Konsumentenorientierung3.2.2 Arbeitskräfte-Analytics3.2.3 Neuorganisation von Arbeit3.3 Recruiting und Kommunikation3.3.1 Der Kommunikationsbegriff3.3.2 Kommunikation in Unternehmen3.4 Recruiting und Prozesse3.4.1 Der Führungsprozess3.4.2 Der Leistungsprozess3.4.3 Der Unterstützungsprozess3.5 Recruiting und Organisationen3.5.1 Zentrale Merkmale von Organisationen3.5.2 Aufgaben einer Organisation3.5.3 Strukturen einer Organisation3.5.4 Organisationen und Systeme3.5.5 Organisationen und Management3.5.6 Alternative Organisationsformen3.6 Zusammenfassung4 Das Recruiting-Lebenswelt-Modell4.1 Problemstellung und Hinführung4.2 HR-Organisationen4.2.1 Das Harvard-Konzept4.2.2 Das Drei-Säulen-Modell von Dave Ulrich4.2.3 Moderne HR-Betriebsmodelle4.3 Das RLM stellt sich vor4.3.1 Grundannahmen4.3.2 Handlungsebenen und Dimensionen4.3.3 Die Recruiting-Managementebene4.3.4 Die Recruiting-Konzeptebene4.3.5 Die Recruiting-Methodenebene4.4 Das RLM als Operating Model4.4.1 Erfolgsfaktor Organisationales Lernen und Wissensmanagement4.4.2 Erfolgsfaktor Kollaboration 4.4.3 Das RLM als Service-Delivery-Modell5 Transformation und Change 5.1 Auslöser des organisationalen Wandels5.2 Change Management5.3 Recruiting-Transformation6 Resümee und AusblickGlossarLiteraturverzeichnisStichwortverzeichnisDer Autor
[1]

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ISBN 978-3-7910-5499-5

Bestell-Nr. 14157-0100

ePDF:

ISBN 978-3-7910-5501-5

Bestell-Nr. 14157-0150

Michael Witt

Recruitingmanagement und Recruitingorganisation

1. Auflage, Juli 2022

© 2022 Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft · Steuern · Recht GmbH

www.schaeffer-poeschel.de

[email protected]

Bildnachweis (Cover): © ink drop, Adobe Stock•

Produktmanagement: Dr. Frank Baumgärtner

Lektorat: Jana Fritz – TEXTECHT, Stuttgart

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere die der Vervielfältigung, des auszugsweisen Nachdrucks, der Übersetzung und der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, vorbehalten. Alle Angaben/Daten nach bestem Wissen, jedoch ohne Gewähr für Vollständigkeit und Richtigkeit.

Schäffer-Poeschel Verlag Stuttgart

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[7]1Einleitung

Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen.

Chinesisches Sprichwort

Den Wind der Veränderung spüren wir in dieser Zeit alle zusammen – und jeder für sich. Greifen wir uns die gesellschaftlich-politischen, die globalen sowie die unternehmerischen Treiber einmal heraus, so wird dieser Wind schon fast zum Orkan. Dabei still zu stehen ist nahezu unmöglich. Mit dem Errichten persönlicher Schutzmauern können wir uns diesem Treiben zwar noch eine Weile entziehen, es scheint aber eher ein machtloser Kampf gegen notwendige Windmühlen zu sein. Die Zeit wird zeigen, ob Windmühlen zu bauen und die stetige Veränderung anzunehmen und zu nutzen das neue Paradigma sein wird.

Veränderung bedeutet auch Verantwortung: Verantwortung zu übernehmen für das eigene Handeln, für das Handeln gegenüber der Gesellschaft, unseren Partnern und Freunden sowie für das Handeln im Auftrag einer Organisation. Wir alle haben jedoch nicht nur Verantwortung zu tragen; wir müssen sie auch leben. Wir sind somit allesamt ein aktiver Part dieser Veränderung, in der der Wind einmal heftig bläst und sich ein anderes Mal zu einem lauen Lüftchen abschwächt. Wir müssen nur richtig damit umgehen und für uns die richtige Antwort auf die Frage finden: Bauen wir Mauern, oder bauen wir Windmühlen?

Spätestens jetzt sollte Ihnen klar geworden sein, dass es im vorliegenden Buch darum gehen wird, Windmühlen zu bauen und Mauern zu überwinden. Denn die Gesellschaft und unsere Arbeitswelt formieren sich neu, und das Recruiting entwickelt sich entsprechend mit. Es gilt dabei für alle Bereiche, sich neu zu organisieren, sich neu auszurichten und passende, zukunftsfähige Antworten auf die neuen unternehmerischen und organisationalen Gesetzmäßigkeiten zu finden. Denn es werden schlussendlich die Organisationen sein, die auf neue Entwicklungen und Veränderungen flexibel und adaptiv zu reagieren haben. Daher ist es an der Zeit, Verantwortung für das Recruiting zu übernehmen und es aktiv im unternehmerisch-organisationalen Kontext zu gestalten.

Megatrends bestimmen unsere Zukunft

Unsere unternehmerische und gesellschaftliche Zukunft wird in diesem Zusammenhang sehr treffend von unterschiedlichen Megatrends beschrieben. Megatrends zeigen hierbei die weitreichenden Entwicklungen der kommenden Jahre, meist der kommenden Jahrzehnte, auf und dienen somit als fundamentale Leitplanken der zu erwartenden Veränderungen. Das Zukunftsinstitut hebt für die 2020er Jahre fünf Megatrends hervor, die im unternehmerischen Kontext besonders bedeutsam werden sollen (vgl. hierzu Gatterer 2021). Sie alle haben direkt oder indirekt mit der Gestaltung oder der Organisation von Arbeit zu tun. Allen voran steht dabei die Individualisierung sowie die Konnektivität, die beide entscheidende Auswirkungen auf die [8]Arbeit, die Organisationen sowie unser gesellschaftliches Leben haben werden. Einerseits werden Programme genannt, die unter dem Stichwort der »Mass Customization«, also der frühen Integration von Kunden in Lieferketten, immer mehr in den Fokus rücken. Andererseits werden die digitale Vernetzung, 5 G, die Industrie 4.0 oder auch das Social Recruiting als hauptsächliche Treiber der Veränderung beschrieben. Nicht zuletzt wird eine neue Art der Wissenskultur hervorgehoben, die vor allem Antworten auf sich schnell ändernde und komplexe Entwicklungen geben soll.

Diese Ausführungen zeigen uns in einer verkürzten Draufsicht, dass etliche Strömungen existieren, die auf unterschiedlichen Ebenen die Organisation unserer Arbeitswelt direkt oder indirekt beeinflussen. Richten wir den Fokus im Sinne dieses Buches nun auf die Trends und Entwicklungen, die direkt für die Organisation von Arbeit formuliert werden, so stoßen wir auf die derzeit vorherrschenden programmatischen Begriffe »New Work« oder »Arbeiten 4.0«. Hierunter werden Themen wie Sinnstiftung, Partizipation, Vertrauen und Selbstführung subsumiert und als legitime Forderungen an die Gestaltung der Arbeitswelt der Zukunft formuliert. Selbstredend kommen Unternehmen sowie Organisationsformen dadurch in Zugzwang, und das Leadership steht vor neuen Herausforderungen. Neue Kulturelemente und Managementprinzipien, die neue Gestaltung und Mitgestaltung der eigenen Organisation sowie der eigenen Arbeitsweisen werden nun bottom-up getrieben und eingefordert. Die Mauern fallen, und die Windräder beginnen den Wind der Veränderung aufzugreifen. Die Vielfältigkeit, die Vernetzung der Welt und ihre digitalen Möglichkeiten bedingen, dass die Grenzen verschwimmen – intern wie extern, extrem schnell und zunehmend integrativ. Das stellt HR-Organisationen vor gänzlich neue Aufgaben.

HR-Organisationen müssen sich anpassen

Auf HR-Organisationen prasseln diese neuen Aufgaben, oftmals als Anforderungen aus dem Management formuliert, wie permanente Leuchtfeuer ein. Manchmal unvorhergesehen, manchmal sehenden Auges, manchmal begründet und manchmal unbegründet. Egal aus welcher Richtung und mit welcher Güte dies geschieht: Der Druck auf die handelnden Personen im HR-Bereich erhöht sich zunehmend, sodass – wo noch nicht geschehen – die Zeit für Veränderung und die Übernahme von Verantwortung gekommen scheint. Einen Rückzug auf klassisch administrative Tätigkeiten können sich HR-Organisationen angesichts des weitreichenden Impacts ihrer Arbeitsinhalte nicht mehr leisten (vgl. Trost 2018, S. 13). Sie müssen beginnen zu handeln, sie müssen das Ruder in die Hand nehmen und zum Gestalter ihrer Organisation und ihrer HR-Communities werden (vgl. Weilbacher 2015, S. 36). Dieser Wandel wird in vielen Unternehmen bereits vollzogen und ist spürbar: HR-Prozesswelten verändern sich, HR-Produkte werden im Sinne einer kundenbezogenen Mass Customization immer stärker individualisiert, und Managementstrukturen werden insgesamt agiler und selbstorganisierter. Kurzum: Die HR-Organisation erhält Schritt für Schritt ein neues Target Operating Model und entwickelt adaptiv strategische Fähigkeiten.

Wenn wir den Betrachtungswinkel nun noch einmal zuspitzen, können wir feststellen, dass die Anforderungen auch im Employer Branding, im HR-Marketing und in Recruiting-Organisa[9]tionen steigen und mit ihnen die Grenzen verschwimmen. Die einstig organisational konstituierenden Kernaufgaben der häufig in Silos getrennten Abteilungen werden immer stärker als eine gemeinschaftlich zu erbringende Leistung gesehen. Diese Entwicklung lässt sich der zunehmenden Komplexität dieses Berufsbilds zuschreiben. Titelten wir 2015 noch fast ergriffen »Recruiting ist eine Kunstform« (Ullah/Witt 2015, S. 35), so müssen wir heute dagegenhalten, dass sich das Recruiting zu einem facettenreichen und vernetzten Arbeitsfeld entwickelt hat, das ohne strategisch-methodische Vorgehensweisen nicht mehr unternehmerisch handlungsfähig ist. Die oben genannten Megatrends machen sich in gesamter Tiefe und Breite vor allem in den bewerbermarktbezogenen Tätigkeiten der Recruiting-Operations bemerkbar: Das Staffing bekommt es mit T-Shape-Knowledges sowie Slush-Slush-Biografien zu tun, und die Recruiting-Headquarters werden zunehmend nach ihrem Purpose und ihrem ROI gefragt.

Das Set an Aufgaben und Anforderungen, die sowohl intern und als auch extern an die Personalbeschaffung eines Unternehmens herangetragen werden, zwingt Recruiting-Organisationen, ihre Strukturen und Arbeitsweisen zu hinterfragen, sie neu zu verstehen und neu zu organisieren. In diesem Bezug ist es aus meiner Sicht notwendig, die Arbeitsweise des Recruitings und seiner angrenzenden Disziplinen – Employer Branding und HR-Marketing – ganzheitlich in den Blick zu nehmen und in einer eigenständigen Dienstleistungsform zu etablieren.

Das Recruiting benötigt ein eigenes Organisationsmodell

Demnach sprechen wir von einer ganzheitlich wertschöpfenden Full-Service-Recruiting-Organisation, die in bereits bestehende HR-Organisationen implementiert werden muss. Dies gelingt jedoch nur, wenn hierfür ein eigenständiger konzeptioneller Recruiting-Managementansatz oder ein eigenständiges Recruiting-Organisationsmodell zur Verfügung steht, das auf einem theoretischen Fundament basierend für den operativen Einsatz entwickelt wurde. Während bei einem Organisationsmodell im klassischen Sinn eher die Organisationsstruktur und die Aufgabenverteilung abbildet werden, zeigt ein Managementmodell dagegen etwas weiter gefasst auch Arbeitsweisen und Umweltfaktoren auf. Vereinen wir Funktions- und Sichtweisen der beiden Modellvarianten, können wir von einem Metamodell sprechen, das für mein Dafürhalten ein Einstieg sein kann, Recruiting in einem organisationalen Kontext methodisch zu erfassen.

Ein solches Vorhaben wurde meines Wissens noch nicht unternommen. Zumindest gibt es dazu, wenn ich es richtig sehe, noch keine entsprechenden Publikationen. Natürlich existieren in der Recruiting-Praxis und in den vielzähligen Recruiting-Organisationen funktionierende und wertschöpfende Strukturen des Recruitings. Dies soll nicht die Frage sein. Recruiting zu professionalisieren und als eigenständige HR-Disziplin zu etablieren ist stattdessen ein persönliches Anliegen, das ich seit Jahren verfolge. Um dies bewerkstelligen zu können, benötigt das Recruiting eigene Modelle, Methoden und Tools. Mit einem eigenen Recruiting-Managementmodell möchte ich diese derzeitige methodische Lücke schließen und allen handelnden Recruiting-Disziplinen ein ganzheitlich zu verstehendes Recruiting-Metamodell anbieten.

[10]Das von mir entwickelte und in diesem Buch vorgestellte Recruiting-Lebenswelt-Modell (RLM) ist vornehmlich als Metamodell zu verstehen, das auf Basis eigener Analysen aktiver Recruiting-Organisationen sowie im Rahmen eigener theoretischer Überlegungen entstanden ist. Im Rahmen meiner Beratungstätigkeit habe ich das RLM bereits eingesetzt, um einen ersten Proof of Concept herzustellen sowie Teilüberlegungen in der Recruiting-Praxis zu spiegeln. Zum jetzigen Stand sind die konzeptionellen Überlegungen soweit fortgeschritten, dass ich das Modell als einsatzbereit, aber sicherlich nicht als evident final ansehe. Wissenschaftliche Überprüfungen haben bis dato nicht stattgefunden, obgleich einige grundlegende Überlegungen aus wissenschaftstheoretischen Ausarbeitungen jeweiliger Vertreter und Vordenker wichtiger Disziplinen erkenntnisstiftend und wegweisend waren. Das RLM versteht sich dennoch als Praxismodell und ist aus diesen Überlegungen heraus entstanden. Es verfolgt (zu diesem Zeitpunkt) nicht den Anspruch einer wissenschaftlichen Überprüfbarkeit. Pseudowissenschaftlichen Vorgriffen sei daher dieser Hinweis gegeben.

[11]2Lebenswelt

Die eben beschriebene, vor allem digitale Diversität, die sich derzeit in unserem Leben auftut, sollte unbedingt der neueren Managementlehre folgend als Chance und neue Herausforderung gesehen und verstanden werden. Die durch die Digitalisierung und den generellen Wandel entstehenden neuen Wirklichkeiten schaffen einerseits viele Möglichkeiten und Gestaltungsräume, die es zu erkunden und zu entwickeln gilt. Andererseits verschwimmen Grenzen zunehmend, und die hauptsächlich digital getriebenen Märkte wachsen immer mehr zusammen, sodass die Unternehmen unweigerlich darauf reagieren müssen. Dieser Wandel ist in vielen Organisationen in Planung oder bereits in vollem Gange: Das Management nähert sich immer mehr dem Druckerschen Ideal (vgl. Drucker 2002, S. 19 ff.) und wandelt sich endlich zum Servant Leader, was sich durch partizipative Managementmethoden manifestiert und in den »neuen« Organisationen zeigt: Die Organisationsstrukturen werden flexibler, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten dadurch selbstgesteuerter und autonomer und erbringen einen deutlich höheren Mehrwert in Richtung einer kundenzentrierten und selbstgesteuerten Produkt- und Dienstleistungserstellung.

Letztendlich scheinen all diese Entwicklungen in die »richtige« Richtung zu deuten und mit Blick auf eine operationale unternehmerische Ebene auch mehr Gewinner als Verlierer hervorzubringen. Versuchen wir diese Entwicklungen in einen größeren Zusammenhang zu stellen, dann werden aus einer gesellschaftlichen Perspektive, aber auch ganz klar aus Recruiting-Sicht, immer mehr Fragen nach dem persönlichen Nutzen laut, gemäß dem Motto: »What’s in it for me?«. Diese Fragestellungen gehen meiner Meinung nach deutlich über die Grenzen der grundständigen Gestaltung von Arbeitswelten hinaus, da es sich hierbei um eine gesellschaftliche Gesamtsicht handelt, in der Organisationen ein entscheidender Teil sind. Fokussieren wir ganz im Sinne unseres Grundanliegens wieder die Arbeitgeber, so lässt sich feststellen, dass vor allem in den letzten Jahren die jüngeren Generationen, also die Gen Y und die Gen Z, Fragen dieser Art ganz proaktiv an Arbeitgeber herangetragen und die Unternehmen diesbezüglich einem unerwarteten Stresstest unterzogen haben. Nicht nur die räumliche und inhaltliche Dimension einer Tätigkeit ist von Interesse, sondern es werden auch Antworten nach wert- und sinnstiftenden Elementen erwartet. Dies zwingt Organisationen zur Suche nach der eigenen Identität. Viele Unternehmen reagieren folgerichtig mit der Justierung ihres Employer Branding und geben dem sogenannten »Reason Why« bedeutend mehr Gewicht. Für mich zeigt allein dieses Beispiel, dass es noch einer anderen, jedoch schwerer zu greifenden Ebene in der Gestaltung und im Management von Recruiting-Organisationen bedarf. Diese Ebene versucht aus einer vornehmlich theoretischen Betrachtung heraus Fragen nach Sinn, Identität und Orientierung zu ergründen und Handlungshinweise für die Recruiting-Praxis zu geben. Mit einem konzentrierten Blick auf das Recruiting würde ich auf dieser übergeordneten Ebene alle Recruiting-Bemühungen verorten, die sich vor allem auf den Menschen selbst und seine ganzheitlichen Fragestellungen ausrichten. Daher war und ist für mich klar, dass ein Recruiting-Organisations- und Managementmodell immer in einem größeren Rahmen mit mitunter schwer [12]zu fassenden Denkansätzen erarbeitet und eben auch begründet werden muss. Für dieses Vorhaben, Recruiting in einem größeren Kontext mit Sinn, Identität und operativen Handlungen zu konzipieren, habe ich – noch eine tiefergehende Diskussion und Definition vorausgesetzt – den Begriff »Lebenswelt« gewählt. Dieser Begriff soll meinem jetzigen Verständnis nach aufzeigen, dass Recruiting immer in einer größeren Dimension handelt und es einer übergeordneten Betrachtungsweise mit übergeordneten Zusammenhängen und Gegebenheiten bedarf, die jedoch nicht immer einer expliziten Erwähnung bedürfen. Das soll im Rahmen eines Recruiting-Metamodells theoretisch erörtert werden und in der Praxis implizit operative Anwendung finden.

Der Begriff »Lebenswelt«

Für die nun anstehende theoretische und notwendige Herleitung des Begriffs »Lebenswelt« muss der passende methodische Rahmen gefunden und richtig angewendet werden. Dies stellt auf der einen Seite eine Möglichkeit dar, das Recruiting, das im Grunde selbst über keine evidenzbasierten Methoden verfügt, entsprechend anzureichern. Auf der anderen Seite birgt es die Gefahr, pseudowissenschaftlichen Unkenrufen Vorschub zu gewähren. Nichtsdestotrotz will ich den Versuch unternehmen, den Begriff »Lebenswelt« herzuleiten um ihn anschließend für den Einsatz im Recruiting zu definieren. Für die anfängliche Definition drängt sich eine Disziplin in den Vordergrund, die »eine Wissenschaft [ist], welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und in seinen Wirkungen ursächlich erklären will« (Boudon 1980, S. 13) – die Soziologie. Sie arbeitet sehr nah am Kern menschlichen Handelns, was dem oben formulierten Anspruch einer größer angelegten kontextbezogenen Sichtweise auf Recruiting durchaus entspricht.

Beginnen wir mit einer inhaltlichen Annäherung an den Begriff »Lebenswelt«, so lässt sich schnell feststellen, dass er »einer der zentralen Begriffe sowohl der klassischen wie auch gegenwärtigen soziologischen Theorie [ist]« (Treibel 2007, S. 172). Dieses Zitat beinhaltet zwei wesentliche und zugleich erschwerende Aspekte für unser avisiertes Vorhaben auf. Erstens: Der Lebensweltbegriff wird aus Sicht der Soziologie je nach Beobachtungszugang und Erkenntnissinteresse unterschiedlich abgegrenzt. Und zweitens: Er unterliegt einem historischen und somit theoretischem Wandel. Dies macht eine klare Begriffsbestimmung ungleich schwerer. Ich möchte daher keine vergleichende soziologische Diskussion aufbauen, sondern vielmehr versuchen, den Lebensweltbegriff möglichst klar und verständlich zu fassen.

Aus der genannten historischen Perspektive heraus lassen sich vor allem zwei soziologische Vordenker benennen, die den Lebensweltbegriff in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt und inhaltlich geprägt haben: Edmund Husserl (1859 – 1938) und Alfred Schütz (1899 – 1959). Edmund Husserl wird oft als Begründer der Phänomenologie genannt und hat unter diesen Gesichtspunkten den Begriff »Lebenswelt« mit einem Bezugsrahmen zwischen Menschen und Welt definiert, der später auch von Alfred Schütz übernommen und in ein breiter gefasstes Lebensweltkonzept überführt wurde. Husserl geht bei seiner Lebensweltdefinition von einer Welt der reinen Erfahrung aus. Dies liegt in seiner Kritik an der damaligen Soziologie begründet, [13]die sich seines Erachtens weg vom Alltag des Menschen bewegt hat. Daher spielt die subjektive Wahrnehmung in seinen Überlegungen eine zentrale Rolle. Wahrnehmungen finden nach Husserl immer vor dem Hintergrund persönlicher Erfahrungshorizonte statt und erschließen gleichwohl verschiedene Sinngebiete. Sinngebiete definiert er als eine Variation von Zuständen zwischen den beiden Extremen von passivem Traum und aktiver Handlung.

Schütz übernimmt diese Überlegungen weitgehend, vor allem stützt er sich auf die Subjektivität der Lebenswelt. Er sucht aber, seinem eigenen Ansatz folgend, den Zugang zum Lebensweltbegriff über den Weg des sozialen Handelns. Nach Schütz ist die Lebenswelt der »Wirklichkeitsbereich [...], den der wache und normale Erwachsene des gesunden Menschenverstandes als schlicht gegeben vorfindet« (Schütz/Luckmann 2003, S. 30). Für die Konkretisierung der Lebenswelt benennt Schütz (vgl. a. a. O., S. 53) weiterführend insgesamt sieben Bedingungen: (1) Es müssen Menschen körperlich anwesend sein, (2) die anwesenden Menschen habe alle ein ähnliches Bewusstsein, (3) Außenweltdinge sind für alle gleich, (4) Wechselwirkungen und Wechselbeziehungen können zwischen der eigenen Personen und auch anderen Personen stattfinden, (5) die Personen können sich verständigen, (6) Die Naturwelt (Sozial- und Kulturwelt) ist der Rahmen und für alle gleich, und (7) jede Situation ist nur zu einem geringen Teil von jedem selbst geschaffen. Diese augenscheinlich leicht daherkommende Aufzählung beheimatet in einer tiefergehenden theoretischen Betrachtung eine Vielzahl soziologischer Theorien und Grundannahmen, die vor allem auf grundständige Konzepte der Soziologie Bezug nehmen. Festhalten können wir, dass die Lebenswelt für Schütz eine kulturell geformte sowie historisch geprägte Welt als Hintergrund für unser Handeln und Wissen als Ganzes annimmt oder vielmehr bereitstellt. Diese Welt, die er später auch »Alltagswelt« nennt, wird als gegeben angenommen und nicht hinterfragt. In dieser Alltagswelt erfahren Menschen durch eigene Interaktion und Kommunikation Wissen und Sinn, bedienen sich aber auch den Bedeutungen der hintergründig drüber hinaus angelegten Sinnprovinzen und Wissensbestände der Lebenswelt. Einfacher ausgedrückt agiert der Mensch in der Alltagswelt und ist umgeben von der Lebenswelt. Schütz hat so in seinem Lebensweltkonzept eine Art Hierarchie etabliert und spricht in diesem Zusammenhang von den »Strukturen der Lebenswelt« (Schütz/Luckmann 2003).

Die unterschiedlichen Perspektiven der Lebenswelt

Die eingangs erwähnte Divergenz von Zugängen, die sich zum Lebensweltbegriff in der soziologischen Diskussion ergeben, lassen sich mitunter recht schwer fassen. Daher greife ich auf eine methodische Brücke zurück und will auf ein methodisches Vorgehen kommen, das in meinem grundständigen Berufsfeld, der Sozialen Arbeit Anwendung findet. Dieses Vorgehen ermöglicht es uns meines Erachtens, zum einen den Lebensweltbegriff in seiner soziologisch-theoretischen Heimat zu belassen und zum anderen die Operationalisierung des Begriffs »Lebenswelt« in einem besser zu fassenden Praxiskontext herzuleiten. In der Sozialen Arbeit wird aus operativen Gesichtspunkten neben dem Lebensweltbegriff ein weiterer Begriff in die methodische Diskussion eingeführt: die »Lebenslage«. Die Sozialarbeiterwissenschaft definiert den Begriff »Lebenslage« als »den Spielraum, den einem Menschen die äußeren Umstände nachhaltig für die Befriedigung der Interessen bietet, die den Sinn seines Lebens bedeuten« (Weisser 1956, [14]S. 986). Für die genauere Betrachtung der Lebenslage ist es angezeigt, sie vom Begriff der Lebenswelt abzugrenzen bzw. die Zusammenhänge beider Begrifflichkeiten aufzuzeigen. Hierbei greifen wieder die Theorien der Soziologie: Die Lebenslage soll die tatsächlichen Lebensbedingungen eines Menschen beschreiben. Aus dem oben aufgeführten Zitat geht hervor, dass der Fokus auf den »äußeren Umständen« liegt. Diese Umstände umfassen dabei alle materiellen wie immateriellen Rahmenbedingungen. Die Lebenswelt hingehen ist die subjektive Wahrnehmung dieser Rahmenbedingen, die jedem in seiner Lebenslage zur Verfügung stehen (vgl. Kraus 2006, S. 120 f.). Um dies noch besser zu verdeutlichen, müssen wir eine konstruktivistisch geleitete Unterscheidung zwischen Realität (Lebenslage) und Wirklichkeit (Lebenswelt) treffen: Dabei wird die physikalische Welt als Realität bezeichnet und die subjektiven Erlebnisse in der Welt als Wirklichkeit. Dies bedeutet, dass die Realität dem Menschen nur über seine eigene, subjektive Wahrnehmung zugänglich ist (vgl. Berger/Luckmann 1980). Konkret heißt das, dass mein Fahrrad und mein Körper der Lebenslage zugeordnet werden können, meine subjektive Wahrnehmung beider aber der Lebenswelt (ebd.). Somit ist die Lebenswelt ein Konstrukt aus Wirklichkeiten, das sich aus den Bedingungen der Lebenswelt konstituiert. Dieser begrifflichen Unterscheidung folgend können wir im Sinne einer Definition festhalten: »[D]ie Lebenswelt [gilt] als die Wirklichkeit eines Menschen, hingegen die Lebenslage als seine ihn umspannende Realität« (Kraus 2006, S. 127).

Lebenswelt und Recruiting

Für das Recruiting kann die konzeptionelle Adaption der eben vollzogenen inhaltlichen Diskussion nur im Rahmen eines ebenso theoretischen Denkansatzes erfolgen. Dafür bieten die beiden Begriffsdefinitionen genügend Möglichkeiten und lassen ausreichend Spielraum zu. Mit Blick auf das operative Recruiting können wir entlang des Lebenslagebegriffs die Realitäten zuordnen, die den Menschen umgeben. Dazu zählen beispielsweise Arbeitsplätze, Dienstfahrzeuge, Produktionsmaschinen oder freiwillige betriebliche Zusatzleistungen (Fringe Benefits). Betrachten wir weiterführende Recruiting-Konzepte wie zum Beispiel die Candidate Experience, die Arbeitgeberpositionierung oder in einem größeren Kontext den Sinn der Arbeit, scheinen wir den klaren Bezug zum Lebenslagebegriff zu verlieren und uns eher einer subjektiven Wahrnehmung und somit dem Lebensweltbegriff zu nähern. In der Lebenswelt subsumieren sich damit Recruiting-Ansätze und Recruiting-Konzepte, die keinen klaren Handlungsbezug zur Realwelt haben und dort nur bedingt operationalisiert werden können. Das Zusammenspiel von Lebenswelt und Lebenslage scheint unter dieser Prämisse im Recruiting zu funktionieren und kann daher auch für ein Metamodell herangezogen werden.

Definition

Recruiting-Lebenswelt

Die Recruiting-Lebenswelt bildet sich aus einem Zusammenspiel von operationalen Realwelten, in denen Recruiting Anwendung findet, und einem komplettierenden Rahmen, der Sinn und Wissen bereithält.

[15]3Recruiting

Wenn wir über Recruiting sprechen, dann sprechen wir über eine HR-Disziplin, die sich in den letzten Jahren zu einer erfolgskritischen Ressource von und für Unternehmen entwickelt hat und innerhalb von Personalabteilungen zu einer etablierten und respektierten Größe herangewachsen ist. Die Gründe liegen auf der Hand: Fachkräfteengpässe sind nicht nur ein Marketinggag findiger Recruiting-Dienstleister, sondern in vielen Branchen Realität. Der Wandel hin zum Bewerbermarkt und die dort vorherrschende und Unternehmen immens fordernde Volatilität machen aus der Not eine Tugend, sodass Spezialisierungen und Spezialkenntnisse für die Gewinnung neuer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter notwendig bzw. unumgänglich sind. Das Berufsbild der Recruiterin bzw. des Recruiters ist bekannt und anerkannt. So ist es auch nicht verwunderlich, dass immer mehr HR-Absolventinnen und -Absolventen diesen Beruf anstreben, der übrigens schon lange nicht mehr als Einstieg in die HR-Welt gilt. Diese fortschreitende und flächendeckende Etablierung des Berufsfeldes führt dazu, dass sich die Arbeitsmethoden und das grundlegende Verständnis des Berufes ändern und die Frage nach der Professionalisierung steigt. Hier muss sich das Recruiting jedoch bei anderen Disziplinen und Arbeitsmethoden bedienen, da es bis dato keine wirklich eigenständigen berufsspezifischen (und evidenzbasierten) Arbeitsmethoden hervorgebracht hat. Aus diesen Gründen mag es auch nicht verwundern, dass es keine einheitliche Definition für solch ein unternehmensrelevantes Arbeitsfeld gibt.

Eine Definition von Recruiting

Die gängigen Definitionen, die sich in den etablierten Lehrbüchern des Personalmanagements finden, beschreiben Personalgewinnung ganz allgemein als Aufgabe »die zur Deckung des Personalbedarfs dient« (Berthel/Becker 2013, S. 322). Als Erweiterung dieser sehr allgemein gefassten betriebswirtschaftlichen Beschreibung werden für das Recruiting weitere Zielhorizonte hinzugefügt. Demnach soll Recruiting die passenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zur richtigen Zeit am richtigen Ort zur Deckung des Personalbedarfs bereitstellen. Leider kann Recruiting dieses Versprechen schon seit geraumer Zeit nicht mehr einhalten. Der Bewerbermarkt folgt neuen Gesetzmäßigkeiten, und Unternehmen sind dort zum Nachfrager nach oder gar zum Bitsteller von Qualifikationen und Fähigkeiten geworden. Der 100-%-Fit lässt sich auf diesen verknappten Märkten nicht mehr realisieren, und die gewünschte Orientierung an Zeitleisten ist für viele Stellenbesetzungen eher ein Griff in die Lostrommel als ein planbares Momentum geworden. Dies muss in einer Definition und in einem modernen Verständnis von Recruiting Berücksichtigung finden. Daher haben Robindro Ullah und ich in unserer Recruiting-Definition zum einen den Zeithorizont ersatzlos gestrichen und zum anderen »Mitarbeiter« durch »Kandidaten« ersetzt. Dies soll auf eine systemische Vorfilterung, sprich auf eine kandidaten- oder unternehmensinduzierte Vorselektion hinweisen. Dieser Definition will ich mich auch in diesem Buch anschließen:

[16]Definition

Recruiting

»Das Recruiting umfasst die Durchführung sämtlicher Aktivitäten, die notwendig sind, um eine Vakanz mit dem für dieses Stellenprofil am besten geeigneten Kandidaten zu besetzen« (Ullah/Witt 2018, S. 81).

Aus funktionaler Perspektive bietet sich in aller Regel ein sehr ähnliches Bild, und Recruiting wird auf ein paar wenige Funktionen respektive Arbeitsschritte reduziert: das Schalten von Jobinseraten, das Führen von Interviews und das finale Besetzen von Stellen. Bei Weitem spiegelt dies nicht die Komplexität dieses Arbeitsfeldes wider, allein schon, wenn man an die Integration benachbarter Disziplinen wie Employer Branding und HR-Marketing denkt. Ebenso ist die darin enthaltene doch sehr verkürzte prozessuale Sicht auf das Recruiting-Geschehen eher hemmend als fördernd. Recruiting ist in sich ein sehr offenes Arbeitsfeld, das sehr durchlässig für viele Disziplinen, Stakeholder und Methoden ist. Dies zeigt sich mit einem ganzheitlichen Blick in seinen Funktionen und ebenso in seinen Prozessen. Daher ist es vielleicht zielsicherer, von einer Recruiting-Dienstleistung respektive von Recruiting-Wertschöpfung zu sprechen, da hier sämtliche werthaltigen Handlungsschritte umfänglich impliziert sind.

Recruiting-Wertschöpfung

Ganz allgemein lässt sich Wertschöpfung am besten damit erklären, dass von der wirtschaftlichen Gesamtleistung eines Unternehmens die erbrachte Vorleistung abgezogen wird. Wertschöpfung dient dann aus betriebswirtschaftlicher Sicht als Indikator dafür, wie es um die Leistungsfähigkeit eines Unternehmens bestellt ist. Recruiting versucht analog dazu mit eigenen, spezifischen KPIs (zum Beispiel der Cost of Hire) seine Leistungsfähigkeit zu messen und zu bewerten. Jedoch sind sogenannte Vollkostenrechnungen in der Praxis immer schwierig oder meistens nicht realisierbar, da relevante Kostenträger sich in Summe nicht trennscharf erheben lassen. Die heutige Zeit lehrt uns zudem, dass dieses Verständnis von Wertschöpfung, bei dem in aller Regel die klassischen Produktionsfaktoren zum Tragen kommen, nicht mehr ausreicht bzw. den komplexen Anforderungen nicht mehr standhält. Wertschöpfung gestaltet sich mittlerweile aus vielen Faktoren, Wertschöpfungsketten und -prozessen, sodass sie für spezifische Bereiche auch spezifischer festgelegt werden muss. Spreche ich im Folgenden von »Recruiting-Wertschöpfung«, so meine ich damit:

Definition

Recruiting-Wertschöpfung

Recruiting-Wertschöpfung beschreibt die Kombination aus dem Einsatz von recruitingspezifischen Produktionsfaktoren und dem daraus geschaffenen Mehrwehrt für das Unternehmen in Form von Stellenbesetzungen in einem abgegrenzten Zeitraum.

Recruiting als Dienstleistung

Dieser Schritt reicht meines Erachtens jedoch nicht aus, um Recruiting in Gänze zu erfassen, da es sich dabei im Kontext unternehmerischen Handelns um ein Dienstleistungsange[17]bot handelt, das auf der einen Seite auf dem Bewerbermarkt platziert und auf der anderen Seite unternehmensintern angeboten wird. Daraus ergeben sich neue Konstellationen, die in Bezug auf eine Recruiting-Dienstleistung näher zu beleuchten sind. Die Recruiting-Dienstleistung lässt sich wahrscheinlich als immaterielle bzw. intangible Dienstleistung beschreiben. Dies beutetet, dass man die Dienstleistung vor Gebrauch oder Inanspruchnahme nicht greifen, nicht bewerten und auch nicht ausprobieren kann. Des Weiteren gilt als konstitutives Merkmal intangibler Dienstleistungen, dass die Leistungsempfänger präsent sein müssen und es dabei zu einer zeitgleichen Produktion und Konsumtion der Dienstleistung, dem uno-actu-Prinzip, kommt (vgl. Bruhn/Meffert 2001, S. 29 ff.). Daraus entsteht eine nicht zu verwechselnde, direkte personenbezogene Dienstleistung, bei der den Empfängern auch maßgebliche aktive Möglichkeiten zur Mitgestaltung gegeben werden. Sie können den Status des Konsumenten, den des externer Produktionsfaktors oder auch den des Ko-Produzenten einnehmen und die Dienstleistung dadurch zur Kooperationsbeziehung erweitern. Dieser, auch im Recruiting nicht zu unterschätzender Faktor führt uns zu einer weiteren, im Recruiting-Kontext nach wie vor kontrovers diskutierten Frage: Wer ist – oder wer sind die Kunden des Recruitings?

Die Kunden des Recruitings

Ein Kunde ist, einem einfachen Verständnis zur Folge, eine Person oder eine Personengruppe, die ein Produkt oder eine Dienstleistung in Anspruch nimmt. Eine schöne Definition, die auch für die Recruiting-Dienstleistung passend erscheint, liefert Plinke (1986, S. 232): »Der Kunde ist aus den Augen des Anbieters ein Koalitionspartner, der dem Anbieter Beiträge zur Erreichung seiner Ziele (»Problemlösungen«) ermöglicht.« Wenn wir dem eben aufgezeigten Dienstleistungsverständnis folgen, haben wir im Recruiting jedoch mindestens zwei Kundengruppen – zum einen die Bewerberinnen und Bewerber und zum anderen die einstellendenden Fachbereiche –, die direkt bedient werden müssen. Am besten lässt sich solch ein Gefüge mit einem aus der Sozialen Arbeit stammenden Dienstleistungsdreieck darstellen (siehe Abbildung 1). Darin werden alle an der Dienstleistung beteiligten Rollen und ihre Beziehungen zueinander aufzeigt und somit die direkten Kunden benannt. Man könnte sie auch Kunden 1. Grades nennen. Dies sind auf Marktseite die Bewerberinnen und Bewerber und auf Unternehmensseite die internen Kunden, die in der Regel Hiring Manager oder Fachbereiche (bzw. die Teams, in denen die neuen Kolleginnen und Kollegen arbeiten werden) sind. Zu den Kunden 2. Grades würde ich die indirekt partizipierenden Bereiche und Gruppen zählen, etwa Kollegen und Mitarbeiter des Unternehmens, das Unternehmen selbst und etwas weiter gefasst auch die Unternehmensmarke, die durch die Aktivitäten des Recruitings respektive Employer Branding Stärkung erfährt. Die Kunden 1. Grades sind jedoch diejenigen, die direkt in die Wertschöpfungsprozesse einbezogen werden müssen und somit auch die Adressaten einer Recruiting-Dienstleistung sind. Hier eine Unterscheidung zu treffen oder abzuwägen wird sich meines Erachtens als schwierig erweisen, denn beide Kunden haben ein berechtigtes Interesse daran, eine zielführende und ergebnisorientierte Dienstleistung zu erhalten. Somit muss sich Recruiting auf beide Kundengruppen einstellen und diese bedienen.

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Abb. 1: Das Recruiting-Dienstleistungsdreieck

Daher lässt sich wohl definieren, das Recruiting im Rahmen des Dienstleistungsdreiecks den Bedürfnissen beider Kunden nachzugehen hat und es zu keiner Gewichtung kommen sollte. In Summe lässt sich die Recruiting-Dienstleistung dann wie folgt beschreiben:

Definition

Recruiting-Dienstleistung

Die Recruiting-Dienstleistung ist ein internes wie externes marktfähiges sowie durchführbares Angebot an die Kundengruppen des Recruiting. Sie besteht in aller Regel aus der Bereitstellung interner Ressourcen und Potenziale, der Durchführung von Leistungsprozessen mit Kundenintegration und dem Angebot immaterieller Leistungen.

Die folgenden Kapitel sollen dazu dienen, diese ersten Gedanken weiter auszuführen und ein Verständnis darüber zu gewinnen, welche theoretischen Handlungsfelder dabei helfen, das Recruiting aus funktionaler und organisationaler Sicht zu gestalten. Teilweise, und das soll als einschränkender Hinweis gelten, sind die ausgewählten Theoriewelten so umfangreich, dass es schlichtweg unmöglich ist, sie in Gänze zu beleuchten, weshalb bereits im Vorhinein eine inhaltliche Selektion erfolgt ist.

3.1Recruiting und Netzwerke

Wir leben in einer vernetzten Welt, in der alles, was wir tun, in einer Form von vernetztem Handeln oder vernetzten Denken geschieht. Die vorherrschende Wissensgesellschaft wird immer mehr zur Netzwerkgesellschaft, was zu einem gänzlich neuen Paradigma in der heutigen Gesellschaftsform führt (vgl. Fuhse 2016, S. 13). Wir sind in dieser neuen Gesellschaftsform um[19]geben von Netzwerken in bzw. mit unterschiedlichsten Formen, Größen und Aufgaben, die für uns jeweils unterschiedlichen Mehrwert oder Nutzen generieren. Im Internet sind wir als Personen über Plattformen mit vielen unserer Mitmenschen und Freunde vernetzt, haben aber dennoch die Möglichkeit, unsere beruflichen und privaten Netzwerkkontakte persönlich zu treffen, oder sind sogar in der Lage, ganz persönliche Offline-Netzwerke zu unterhalten. Auf der anderen Seite verfügen Unternehmen neben den vielseitigen persönlichen Netzwerken innerhalb ihrer Belegschaft mittlerweile über weltumspannende Produktions- und Liefernetzwerke, die wie Zahnräder ineinandergreifen und mühelos und punktgenau ihre Erzeugnisse fertigen. Die sich daraus ergebenden Herausforderungen an das interne Management sind enorm, weshalb es muss folgerichtig vernetzt agieren muss. Auch Organisationsstrukturen bleiben von diesen Entwicklungen nicht verschont: Starre Strukturen brechen immer mehr auf und werden zu netzwerkartigen Gebilden, die sich autonom steuern und managen. Alles in allem ist dies die Reaktion auf die zusammenwachsenden Weltmärke, die immer mehr zu Netzwerken werden.

Im Recruiting können wir im Grunde sehr ähnliche Netzwerke und Netzwerkstrukturen erkennen: Allem voran hat sich das operative Recruiting im Laufe der Zeit unterschiedliche Formen des vernetzten Handelns zurechtgelegt und diese erfolgreich etabliert. So greifen viele Recruiting-Organisationen auf den vielfältigen und zunehmend komplexer werdenden Anbietermarkt zurück und lassen sich dort Teile ihrer eigenen Recruiting-Wertschöpfung bereitstellen oder durchführen. Dabei übernehmen beispielsweise Marketingagenturen anteilig die Bereitstellung von entsprechenden Dienstleistungen, oder Personalberater kümmern sich im Sinne eines Recruiting Prozess Outsourcings (RPO) um die partielle oder komplette Durchführung von Besetzungsverfahren. Ebenso werden die persönlichen Netzwerke von Kolleginnen und Kollegen als Ressource für das Recruiting genutzt. Die unternehmensinterne Recruiting-Methode »Mitarbeiter werben Mitarbeiter« macht sich die persönlichen Netzwerke der Beschäftigten zu eigen und versucht, durch direkte und persönliche Jobempfehlungen Vakanzen zu schließen. Die als modern und aktiv geltenden Recruiting-Ansätze wie das Social-Media-Recruiting oder das Active Sourcing vereinen gleich mehrere Netzwerkaspekte auf sich: So sind die Plattformen, auf denen gesourct wird, Netzwerkplattformen sui generis, und die Kontaktaufnahmen mit den Kandidatinnen und Kandidaten innerhalb der digitalen Strukturen sind eine Form der persönlichen sowie internetbasierten Netzwerkbildung.

Wir können also festhalten, dass Netzwerke im Recruiting in einer großen Fülle vorkommen. Recruiting ist somit zu einem hohen Grad von Netzwerken durchzogen, die auf verschiedene Art und Weise nach innen und außen wirken. Es muss sich daher analog zur gesellschaftlich-industriellen Entwicklung darauf einstellen, dass Netzwerke in der direkten Dienstleistungsproduktion auch in zunehmenden Maße Einfluss auf die Qualität der Leistungserbringung nehmen werden, die es von Seiten des Recruitings zu steuern und zu reglementieren gilt. Dazu lassen sich auch und vor allem die erwähnten persönlichen Netzwerke zählen. Sie sind im Grunde konstituierende Merkmale der Recruiting-Dienstleistung, die sich vornehmlich im Bezugsrahmen der Kunden 1. Grades bemerkbar machen. Für mein Dafürhalten sollte daher in jeder Recruiting-Organisation ein breites Netzwerkverständnis fundamental angelegt sein.

[20]Netzwerke lassen sich als »ein abgegrenztes Set von Knoten und ein Set der für diese Knoten definierten Kanten« (Jansen 2006, S. 13) beschreiben. Diese sehr einfache und allgemeine Definition lässt sich substantiell für jedes Netzwerk heranziehen, beschreibt sie doch lediglich die grundsätzliche Beschaffenheit eines Netzwerks. Da Netzwerke und vor allem soziale Netzwerke nicht statisch und faktisch inaktive und unkooperative Gebilde wie Fischernetze sind, greift diese Definition jedoch zu kurz. Netzwerke werden erst dann zu Netzwerken, wenn die Netzwerksakteure miteinander interagieren – sei es auf technischer, persönlicher oder struktureller Ebene. Für das Recruiting sind sämtliche Arten von Netzwerken von Bedeutung, jedoch stechen soziale Netzwerke heraus, da mit ihnen das mittelbare Recruiting-Geschehen angesprochen wird.

Definition

Soziale Netzwerke

Unter sozialen Netzwerken wird ein Geflecht von sozialen Beziehungen verstanden, in das Individuen, kollektive oder korporative Akteure eingebettet sind. Netzwerke lassen sich als eine abgrenzbare Menge von Elementen oder Knoten beschreiben, für die eine oder mehrere soziale Beziehungen untersucht werden können (vgl. Jansen/Wald 2007, S. 188).

Um einen besseren Zugang zu den Arten von Netzwerken zu erhalten, die für das Recruiting und Recruiting-Organisationen wichtig sind, werde ich sie in drei Bereiche unterteilen und dann vertiefend beschreiben: (1) Netzwerke, in denen Personen agieren (soziale Netzwerke), (2) Netzwerke, in denen Unternehmen vornehmlich auf Märkten Tauschhandel betreiben, und (3) Netzwerke, die durch das oder im Internet entstehen.

3.1.1Personen und Netzwerke

Ein persönliches Geflecht an Beziehungen und persönlichen Interaktionen existiert im Recruiting überall. Das operative Recruiting baut auf persönliche Konversationen sowie den Austausch mit Kandidatinnen und Bewerbern und nutzt bei den Ansätzen des Active Sourcing deren Netzwerke sogar proaktiv. Dabei lassen sich aus der Netzwerkforschung kommend verschiedene Aspekte und Mechanismen benennen, wie soziale Netzwerke entstehen, wie man sie strukturieren kann und welche Effekte sie dabei hervorbringen (vgl. Fuhse 2016, S. 161 ff.).

Untersuchungen zur Bildung von Netzwerken haben ergeben, dass es verschiedene netzwerkbildende Aspekte bzw. Effekte gibt, die exemplarisch benannt werden können. Einer dieser Aspekte ist der sogenannte Aktivitäts-Fokus, der »ein Ort des sozialen Austauschs [ist], an dem es verstärkt zur Bildung sozialer Beziehungen kommt« (Fuhse 2016, S. 162 f.). Gemeint sind hier Mitgliedschaften oder Zugehörigkeiten zu Wohngebieten, Schulen, Vereinen oder Bildungsschichten. Ein zweiter Aspekt, dem eine ähnliche Affinität für die Bildung von Netzwerken zugesprochen wird, ist die sogenannte Homophilie. Sie besagt, dass sich vornehmlich Menschen mit gleicher bzw. ähnlicher kultureller Prägung oder gemeinsamen Interessen wie Sport, Hob[21]bys oder Musik vernetzen. Ferner finden Vernetzungen innerhalb gleicher Kategorien wie Alter, Geschlecht oder ethnischer Herkunft statt. Informationen dieser Art lassen sich in differenzierter Form für netzwerkbasierte Zielgruppensegmentierungen nutzen und ebenso für strategische Recruiting-Ansätze heranziehen.

Haben sich Netzwerke gefunden, können dann die Netzwerkstrukturen der Akteure feststellt und mittels unterschiedlicher Effekte beschrieben werden. Einer dieser Effekte ist die Reziprozität, die beschreibt, dass sich Netzwerkakteure in aller Regel so verhalten wie ihr Gegenüber. Sie spiegeln das sozial zu erwartende Verhalten des anderen wider. Zeitgleich findet eine Art Bewertung statt, die in Form des eigenen sozialen Verhaltens wiedergegeben wird. Ein weiterer bekannter Effekt ist die Transitivität. Sie erfasst Beziehungsgeflechte zwischen drei Personen. Konkret heißt das: Zwei Personen A und B sind unabhängig voneinander mit C befreundet. Die Transitivität sagt dazu aus, dass die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, dass A und B sich auch anfreunden. Ebenfalls können dabei negative Freundschaften entstehen, das heißt, zwei Netzwerkpartner verbünden sich gehen einen anderen. Ein dritter Effekt, der sich in Netzwerken finden lässt, wird Perferential Attachment genannt. Er beschreibt die Tendenz, dass sich Netzwerke gerne an zentralen und herausragenden Akteuren im Netzwerk orientieren und sich damit in gewisser Weise auch identifizieren. Der gängige zeitgemäße Begriff für diese zentralen Personen ist wohl »Influencer«. In Bezug auf ihre herausragende Stellung in ihren Netzwerken bildet sich im Rahmen der Perferential-Attachment-Theorie ein weiterer Aspekt heraus, der den Zugang und die Verteilung von Informationen betrifft. Demnach haben Akteure, die zu den zentralen Schnittstellen eines Netzwerks gehören, einen elaborierteren Zugang zu Informationen. Schwächere Netzwerkakteure sind dementsprechend benachteiligt. Diesen Netzwerkeffekt haben Granovetter (1973, S. 137 ff.) und (Burt 1992, S. 115 ff.) in Bezug auf die Jobsuche in Netzwerken in ihren Studien untersucht. Sie zeigen auf, dass auf der einen Seite gepflegte, aber flüchtige Beziehungen außerhalb von Unternehmen und auf der anderen Seite gute Beziehungen zu starken Netzwerkakteuren innerhalb von Unternehmen zu neuen Stellen bzw. besseren Positionen führen können.

TypEffekt/MechanismusWirkungNetzwerkbildungAktivitäten-FokusWahrscheinlichkeiten der KontaktanbahnungHomophilieSoziale Beziehungen bilden sich eher unter gleichen Voraussetzungen.Institutionen und RollenOrientieren an Vorgaben, Modellen und StrukturenNetzwerkstrukturierungReziprozitätWechselseitigkeit in SozialbeziehungenTransitivitätEs gibt Tendenzen in Dreier-Beziehungen.Perferential AttachmentZentrale Akteure stehen im Mittelpunkt.NetzwerkeffekteZugang zu InformationenZentrale Akteure erhalten einen besseren Zugang.

Tab. 1: Mechanismen sozialer Netzwerke (Quelle: Fuhse 2016, S. 175)

[22]Auch im Rahmen der Megatrendforschung werden Netzwerke und ihre Auswirkungen analysiert und unter dem Fokus der »großen« Strömungen beleuchtet. So hat es eines der dort untersuchten Netzwerkphänomene unter den Namen »Small World Network« oder »Six Degrees of Seperation« zu einer gewissen Bekanntheit geschafft. Der theoretische Ansatz findet seinen Ursprung jedoch in der frühen Netzwerkforschung bei Stanley Milgram im Jahr 1967 (vgl. Fuhse 2016, S. 99 ff.). Milgram und sein Team versuchten mittels Kettenbriefen nachzuweisen, wie viele persönliche Schritte es vom Start in Kansas zu einem Ziel in Massachusetts benötigte. Von den damals 160 abgesendeten Briefen kamen 44 schließlich in Massachusetts an. Sie benötigen im Schnitt 6,4 persönliche Weitergabe-Schritte, um die Distanz zurückzulegen. Mittlerweile scheint diese Theorie ein wenig ins Wanken zu geraten, aber neue Forschungen zeigen, dass es wohl acht bis dreizehn Schritte bedarf, um tatsächlich Menschen im Sinne des Small World Network zu erreichen.

Für das Recruiting mögen die Ansätze der sozialen Netzwerke auf den ersten Blick ein wenig zu theoretisch erscheinen. Das Wissen, dass die persönlichen Netzwerke der Bewerberinnen und Kandidaten eine der meist genutzten Quellen für die Jobsuche sind, macht Netzwerke jedoch zu einem entscheidenden Kanal im operativen Recruiting, der somit einer theoretisch konzeptionellen Herangehensweise bedarf. Aber auch im strategischen Recruiting und beim Aufbau von HR-Marketingkampagnen können Netzwerktheorien das Recruiting hinsichtlich Ansprache und Reichweite unterstützen, wenn die Funktionsweise und Logik von Netzwerken bekannt und angewendet wird. Und zu guter Letzt müssen die Recruiting-Abteilungen selbst in Netzwerken denken und handeln können und sich entsprechend organisieren.

3.1.2Unternehmen und Netzwerke

Die Vernetzung und Dynamisierung der Märkte sowie ihre Globalisierung sind die Megatrends, die einerseits auch die Recruiting-Märkte zu spüren bekommen und die anderseits Unternehmen dazu zwingen, sich alternativen Organisations- und Produktionsformen zuzuwenden und sich dementsprechend an diese neuen Dynamiken anzupassen (vgl. Heidling 2014, S. 133). Die Treiber, die ausgehend von diesen Strömungen den Wandel herbeiführen, lassen sich ebenfalls klar benennen: Innovations- und Zeitwettbewerb, Qualitätsdruck und Senkung der sogenannten Transaktionskosten. Unser Fokus gilt in diesem Kapitel jedoch den Unternehmen und Recruiting-Organisationen selbst. In ihnen findet das gesamthafte Recruiting-Geschehen statt, und der Bewerbermarkt, der Recruiting-Anbietermarkt sowie die darin handelnden Menschen treten miteinander in Verbindung und werden in verschiedensten Formen in die Unternehmensorganisationen intergiert. Wenn wir wieder einen funktionalen Fokus einnehmen, können daher zwei recht grobe Sichtweisen konstatiert werden: eine innere und eine äußere. Bei der inneren Sichtweise geht es darum, wie sich Unternehmen organisieren und sich in ihrer Arbeitsweise strukturieren. Im Hauptteil dieses Buches werden wir uns intensiv mit diesem Thema auseinandersetzen und dazu ein eigenes Framework für Recruiting-Organisationen erarbeiten (vgl. hierzu Kapitel 4 ff.). Die zweite Perspektive zielt vor allem auf die äußeren Ge[23]schehnisse ab, die auf den unterschiedlichen Recruiting-Märkten stattfinden. Um diese beiden Perspektiven organisatorisch in einem Unternehmensmodell zu vereinen, hat sich die sogenannte Netzwerkorganisation als ein möglicher Ansatz etabliert.

Netzwerkorganisationen

Netzwerkorganisationen sind Unternehmensmodelle, die sich in ihrer Arbeitsweise oftmals auf die Lösung konkreter Problem- oder Aufgabenfelder konzentrieren. Sie zeichnen sich durch eine deutliche Abkehr von einer grundlegend hierarchisch fordistisch-tayloritischen und wettbewerbsorientierten Arbeitsweise aus und stellen eine kooperative und hierarchiefreie Zusammenarbeit ins Zentrum des Handelns. Klassisch finden wir diese hochgradig vernetze interorganisationale Zusammenarbeit in der Automobilwirtschaft. Im Automotive-Bereich arbeiten Zulieferer und Hersteller seit Jahrzehnten erfolgreich zusammen und haben für ihr organisational vernetztes Arbeiten einige Merkmale herausgebildet:

Experten erstellen Dienstleistungen für spezialisierte Organisationen.Mit organisationsübergreifender Zusammenarbeit verschwimmt auch die Aufteilung von operativen und leitenden Tätigkeiten, die je nach Auslegung zusammengefasst oder aufgeteilt ausgeübt werden kann.Crowdworking nimmt zu; Freelancer arbeiten intergiert mit.Teamarbeit wird organisationsübergreifend, Wissensmanagement ebenso.Leadership wird neu definiert und eine integrale Aufgabe der autonomen Teams.

Für das Recruiting sind Ansätze dieser Art nichts Unbekanntes. Im Gegenteil, die kooperative Zusammenarbeit im Sinne der dargestellten Netzwerkorganisationen ist sehr facettenreich und in unterschiedlichen Wertschöpfungstiefen ausgeprägt. In besonderer Weise greifen Recruiting-Organisationen auf Agenturen zurück, die viele Bereiche der unternehmensseitigen Personalbeschaffung unterstützen. Für diese Form der Zusammenarbeit öffnen sie sich dem Markt, um spezialisierte Dienstleistungen zu erhalten. Die so gewachsenen Netzwerke bestehen meist über längere Zeit. Ebenso werden Recruiterinnen oder auch Sourcer projektbezogen und mit zunehmender Quantität interimistisch in Recruiting-Teams integriert oder umgekehrt Recruiting-Teilprozesse an einen RPO-Dienstleister ausgelagert. Es lässt sich durchaus festhalten, dass das Recruiting im organisationalen Kontext sehr stark netzwerkorientiert agiert und bereits verschiedene Integrationsformen nutzt. Das strategisch-organisationale Management dieser Netzwerkpartner ist jedoch nicht in allen Recruiting-Organisationen eine beachtete Größe und sollte daher im Sinne einer nachhaltigen Recruiting-Planung an Bedeutung gewinnen.

Stufen der Netzwerkintegration

Abbildung 2 teilt die aufeinander aufbauenden Stufen der Netzwerkintegration grob in zwei Integrationsgrade ein: Der erste Grad, das Linking, umfasst eine Netzwerkintegration auf der Arbeitsebene. Hier werden beispielsweise Unternehmen auf Internetseiten verlinkt, oder es findet eine erste teamübergreifende Zusammenarbeit und eine beginnende Integration von Arbeitsinhalten statt. Das Fitting als zweiter Integrationsgrad setzt eine Organisationsebene [24]höher an und beschreibt das sukzessive Zusammenwachsen von Unternehmen, welches auf personeller sowie kultureller Ebene geschieht. Auf einer sehr hohen integralen Stufe werden gemeinsame Ziele vereinbart und diese gemeinsam verfolgt (vgl. Reiss 2013, S. 75).

Abb. 2: Stufen der Zusammenarbeit in Netzwerkorganisationen (Quelle: Reiss 2013, S. 75)

In ähnlicher Form beschreibt Eckard Heidling (2014, S. 133) Austauschbeziehungen zwischen Akteuren in interorganisationalen Netzwerken. Auch er verwendet dabei zwei Ebenen: eine erste Ebene, die sich mit konkreten Handlungselementen, also dem »Was« von Arbeit an sich befasst. Diese Ebene nennt er Interaktion. Im Recruiting wäre das beispielsweise die operative Zusammenarbeit mit einer Agentur bei der Formulierung von Stellenanzeigen. Die darüber liegende Ebene, die er Kooperation nennt, beschäftigt sich mit der Zusammenarbeit, also dem »Wie« von Arbeitsbeziehungen. Im Recruiting können das beispielweise Rahmenverträge mit einer Jobbörse sein und die strukturelle Abwicklung sowie der Abruf der eingekauften Leistung. Im Rahmen einer modellbezogenen Betrachtung verweist Heidling bei der Interaktion auf die Mikroebene und bei der Kooperation auf die Mesoebene.

3.1.3Internet und Netzwerke

Spricht man über Netzwerke im Internet oder über soziale Netzwerke, so stehen diese Begriffe heutzutage als Synonym für Plattformen wie Facebook, Twitter oder TikTok. Geschichtlich betrachtet sind Social Networks tatsächlich noch ein recht junges Phänomen: 1994 wurde die Seite Geo-Cities als erste User-Generated-Content-Plattform online gestellt. Hier konnten Nutzerinnen und Nutzer ihre eigenen kleinen Homepages online stellen. Fünf Jahre später, 1999, ging das erste soziale Netzwerk mit dem Namen »Six Degrees« live, und 2004 begann die Reise des Netzwerkgiganten Facebook. Zwischen den Gründungsjahren dieser Netzwerkpioniere und heute [25]liegen aus technologischer und gesellschaftlicher Sicht fast schon epochale sowie prägende Entwicklungsschritte. Zwei dieser Entwicklungen haben merkbaren und raumgreifenden Einfluss im Recruiting: Auf der einen Seite interessiert uns dabei besonders die Analyse von Netzwerkdaten, um Struktur und Interaktionen innerhalb der Netzwerke sichtbar zu machen, und auf der anderen Seite muss die dadurch neu entstandene Art der Netzwerkkommunikation berücksichtig und ebenso in das Recruiting eingebunden werden (vgl. hierzu Ullah/Witt 2018, S. 236 ff.).