Reformationsjubiläum 2017 und jüdisch-christlicher Dialog - Christoph Markschies - E-Book

Reformationsjubiläum 2017 und jüdisch-christlicher Dialog E-Book

Christoph Markschies

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Beschreibung

Wenn aus der Perspektive des jüdisch-christlichen Dialogs auf das Reformationsjubiläum 2017 geblickt wird, geht es meist um die Frage, wie die evangelischen Kirchen mit den antijüdischen Äußerungen Martin Luthers und ihrer antisemitischen Wirkungsgeschichte umgehen sollen. Die reformationsgeschichtliche Forschung hat gezeigt, dass das klassische Modell einer Zweiteilung von Luthers Schriften in eine eher judentumsfreundliche und eine eher judentumsfeindliche Phase historisch nur begrenzt trifft. Gremien der evangelischen Kirchen, insbesondere die Synode der EKD, haben sich in Erklärungen mit den problematischen Äußerungen Luthers und anderer Reformatoren beschäftigt. In dem hier publizierten Text des angesehenen Berliner Theologen Christoph Markschies, der auf den Eröffnungsvortrag der Woche der Brüderlichkeit in Berlin 2016 zurückgeht, wird nochmals gefragt, wie trotz der Bürde des reformatorischen Antijudaismus Grundeinsichten der Reformation, insbesondere das emphatische Votum "Allein die Schrift!", für den heutigen jüdisch-christlichen Dialog fruchtbar gemacht werden können. Denn es gilt, den Reichtum der ganzen Bibel und insbesondere ihrer unübersehbaren jüdischen Dimensionen zu entdecken und zu bewahren. Mit diesem Beitrag beginnt das renommierte Berliner "Institut Kirche und Judentum", das im Jahre 2005 die Buber-Rosenzweig-Medaille erhielt, eine kleine Zusatzserie seiner Reihe "Studien zu Kirche und Israel", in der vor allem allgemeinverständliche Texte zu aktuellen Anlässen veröffentlicht werden. [The Anniversary of the Reformation in 2017 and the Jewish-Christian Dialogue] When the anniversary of the Reformation in 2017 is considered from the perspective of the Jewish-Christian dialogue it mostly comes to the question how the Protestant Churches deal with Luther's anti-Jewish statements and its anti-Semitic impacts in history. Research in the history of the Reformation has shown that the classical model of a division of Luther's works in a phase of a friendly attitude towards Judaism and a phase of a hostile attitude has historically only a limited validity. The present text by the renowned Berlin theologian Christoph Markschies addresses the question how in spite of the burden of reformatory anti-Judaism, basic insights of the Reformation – particularly the emphatic affirmation "sola scriptorum" – can be made fruitful for the current Jewish-Christian dialogue. It is important to discover and preserve the riches of the whole Bible, especially its conspicuous Jewish dimensions.

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Studien zu Kirche und Israel

Kleine Reihe 1

Herausgegeben von

Alexander Deeg, Beate Ego, Hanna Liss, Christoph Markschies und Ralf Meister

Christoph Markschies

Reformationsjubiläum 2017

und

der jüdisch-christliche Dialog

Christoph Markschies, Dr. theol. Dr. h. c. mult., Jahrgang 1962, studierte Evangelische Theologie, klassische Philologie und Philosophie in Marburg, Jerusalem, München und Tübingen. Er hatte Professuren für Kirchen- und Theologiegeschichte des antiken Christentums in Jena und Heidelberg inne, seit 2004 lehrt er Ältere Kirchengeschichte (Patristik) an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin.

Markschies ist Mitglied der Akademien der Wissenschaften zu Berlin, Erfurt, Heidelberg und Mainz, der Norwegischen Akademie der Wissenschaften, der Academia Europaea und der Europäischen Akademie der Künste und Wissenschaften sowie der Academia Ambrosiana in Mailand und des Deutschen Archäologischen Instituts. Er erhielt die Ehrendoktorwürde der orthodox-theologischen Fakultät der Lugian-Blaga-Universität Sibiu/Hermannstadt (2007), der theologischen Fakultät der Universität Oslo (2011) sowie des Institutum Patristicum Augustianum der Päpstlichen Lateran-Universität Rom (2017) und ist Träger des Leibniz-Preises der Deutschen Forschungsgemeinschaft 2001.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.dnb.de> abrufbar.

© 2017 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH, Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar.

Umschlag und Entwurf Innenlayout: Kai-Michael Gustmann, Leipzig

Satz: Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

ISBN 978-3-374-04667-6

www.eva-leipzig.de

Zur Erinnerung an Gert Jeremias

(1936–2016)

Einleitung in die Reihe

Mit diesem Taschenbuch beginnt eine „Kleine Reihe“ zu erscheinen, die die vom Institut Kirche und Judentum an der Humboldt Universität zu Berlin begründeten „Studien zu Kirche und Israel“ ergänzt. Während in der „Großen Reihe“ nach wie vor Monographien veröffentlicht werden, die originäre Forschungsbeiträge zu den klassischen Aufgaben des Instituts darstellen, sollen in der „Kleinen Reihe“ aktuellere Beiträge zu den drei Forschungsbereichen des Instituts schnell verfügbar gemacht werden. Das Institut versucht seit seiner Gründung im Jahr 1960, die Wahrnehmung des Judentums als eigenständige und einzigartige Größe in christlichen Zusammenhängen zu befördern, die Zusammenhänge zwischen Judentum und Christentum von den biblischen Grundlagen bis in die Gegenwart zu erforschen und in der Öffentlichkeit darzustellen sowie durch die Aufarbeitung der Geschichte christlicher Schuld am Judentum einen aktiven Beitrag zur Bekämpfung antijüdischer Ressentiments zu leisten.1

Da sich das Institut mit dieser Aufgabe nicht nur am wissenschaftlichen Diskurs beteiligt, sondern auch an christliche und jüdische Gemeinden sowie die allgemeinere Öffentlichkeit wendet, lag es nahe, neben einer klassischen wissenschaftlichen Publikationsreihe auch eine stärker für ein breiteres Publikum bestimmte „Kleine Reihe“ zu eröffnen, deren erstes Bändchen hier vorgelegt wird. In dieser neuen Reihe wird besonders auf Verständlichkeit für die anvisierte Zielgruppe geachtet werden; Nachweise (in Endnoten) sind eher knapp gehalten. Zuspitzungen von Positionen, die durchaus auch Diskussionen auslösen dürfen, sind besonders willkommen.

Der hier vorgelegte Text ist allerdings untypisch für diese Reihe, denn er stellt eine Art Programmschrift des Berliner Instituts Kirche und Judentum unter neuer Leitung dar und ist daher vor allem in den Endnoten deutlich ausführlicher angelegt und auch stärker auf ein Fachpublikum orientiert. Ziel ist zunächst, ein innerchristliches Gespräch voranzutreiben. Dabei soll sich unter einer neuen Leitung natürlich nicht alles ändern: Das in der Mitte Berlins beheimatete Institut versteht sich seit jeher als eine Plattform, die das christlichjüdische Gespräch weit über den Berlin-Brandenburgischen Raum hinaus in Bewegung bringen und halten will; entsprechende Beiträge wurden immer wieder in der „Großen Reihe“ veröffentlicht. Das nunmehr stark erweiterte Herausgebergremium macht aber deutlich, dass in der großen wie der kleinen Reihe weit mehr zu lesen sein wird als nur solche Berliner (oder gar: christliche) Beiträge zum Thema. Alexander Deeg, Beate Ego, Hanna Liss, Christoph Markschies und Ralf Meister dokumentieren mit ihren jeweils unterschiedlichen beruflichen Schwerpunkten und den verschiedenen Institutionen, an denen sie tätig sind, dass in beiden Reihen sowohl exegetische, historische, systematische und praktische Beiträge zu den genannten Themenfeldern aus jüdischer wie christlicher Feder herzlich willkommen sind.

Berlin, im Januar 2017

für den Herausgeberkreis: Christoph Markschies

Inhalt

Cover

Titel

Der Autor

Impressum

Widmung

Einleitung in die Reihe

Vorwort

I Sola Scriptura und der jüdisch-christliche Dialog

II Solus Christus und der jüdisch-christliche Dialog

1. Solus Christus – ein Prinzip reformatorischer Theologie

2. Solus Christus – ein ergänzungsbedürftiges Prinzip reformatorischer Theologie

3. Solus Christus – ein neuer Impuls für den jüdisch-christlichen Dialog?

III Reformationsjubiläum und jüdisch-christlicher Dialog (ein Nachwort)

Buchempfehlung

Anmerkungen

Fußnoten

Vorwort

Die neue „Kleine Reihe“ der Studien zu Kirche und Israel wird durch ein Bändchen eröffnet, in dem zwei Vorträge über das Verhältnis des Reformationsjubiläums 2017 zum jüdischchristlichen Dialog, verbunden mit einem ausführlichen ergänzenden Schlusskapitel, abgedruckt werden. Die Vorträge versuchen, zwei klassische Formulierungen, mit denen gern seit dem 19. Jahrhundert reformatorische Theologie zusammengefasst wird,2 mit Blick auf den jüdisch-christlichen Dialog zu lesen: Der erste Vortrag, gehalten zur Eröffnung der „Woche der Brüderlichkeit“ am 6. März 2016 in der Französischen Friedrichstadtkirche am Gendarmenmarkt, behandelt die Formel sola scriptura, „allein durch die Schrift“, der zweite Vortrag, verfasst für den dritten interreligiösen Studientag des Berliner Missionswerkes am 19. Mai 2016, befasst sich mit der Formel solus Christus, „Christus allein“. Die verbleibenden Formeln sola gratia, „allein durch Gnade“, sola fide, „allein durch Glauben“ und die für alle anderen grundlegende Formel solo verbo, „allein durch das Wort“3, werden im Schlusskapitel knapp behandelt. Beide Berliner Vorträge des Jahres 2016 werden hier in erweiterter und zum Teil leicht veränderter Form vorgelegt und sind auf verschiedene Diskussionen im Rahmen des Reformationsjubiläums bezogen.

Der Autor dieses Büchleins gehört nicht schon seit längerer Zeit zu den Beteiligten oder gar zu den Protagonisten des christlich-jüdischen Dialogs (wie die beiden ersten Leiter des Berliner Instituts Kirche und Judentum, die Neutestamentler Günther Harder4 und Peter von der Osten-Sacken5). Er hat zwar einen Teil seiner Studienzeit in Jerusalem verbracht und sich immer wieder im Zusammenhang seiner Forschungen zum antiken Christentum auch mit jüdischen Texten rabbinischer wie nichtrabbinischer Provenienz beschäftigt,6 aber sein vertieftes berufliches Interesse für den Dialog ist jüngeren Datums. Nachdem in den letzten Jahren (wie übrigens auch im Blick auf den evangelisch-katholischen Dialog) immer wieder Stimmen zu hören waren, die Thematik des Dialogs „sei durch“, sei nur noch als Teil des interreligiösen Dialoges oder jedenfalls des Dialoges der „abrahamitischen“ Religionen zu führen, und zuletzt sogar bestimmte Selbstverständlichkeiten des jüdischen Erbes im Christentum wie das Alte Testament als integraler Teil des christlichen Bibelkanons in Frage gestellt wurden,7 schien die Zeit gekommen, dafür Verantwortung zu übernehmen, dass Erreichtes bewahrt wird und die dringendsten Aufgaben für die Zukunft angepackt werden. Das bedeutet aber, dass die hier vorgelegten Seiten durchaus stellenweise noch thetischen Charakter tragen – freilich soll die kleine Reihe der „Studien zu Kirche und Israel“ gerade für solche pointierten Thesen Platz bieten und damit zur Diskussion anregen.

Die hier publizierten Beiträge fügen sich ein in verschiedene neue Ansätze im christlich-jüdischen Dialog, die in diesem Zusammenhang nicht ausführlich bilanziert werden können oder sollen. Nur so viel: Der vielleicht bemerkenswerteste dieser neuen Ansätze stammt von rund fünfzig orthodoxen Rabbinern aus den Vereinigten Staaten, Europa und Israel und wurde im Dezember 2015 unter der Überschrift „Den Willen unseres Vaters im Himmel tun: Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen“ veröffentlicht. Der Text, dessen aktueller Anlass offenkundig das Jubiläum der im November 1965 verabschiedeten Erklärung Nostra Aetate des Zweiten Vatikanischen Konzils über die „Haltung der [katholischen] Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“ und ihrer bemerkenswerten Äußerungen über das Judentum war,8 hält zum Eingang fest:9

„Wir würdigen, dass sich die offiziellen Lehren der katholischen Kirche über das Judentum seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil grundlegend und unwiderruflich geändert haben. Mit der Promulgation von Nostra Aetate begann vor 50 Jahren der Aussöhnungsprozess zwischen der katholischen Kirche und dem Judentum. Nostra Aetate und die darauf folgenden offiziellen Dokumente der Kirche lehnen unmissverständlich jede Form von Antisemitismus ab, bestätigen den ewigen Bund zwischen G-tt und dem jüdischen Volk, weisen die Lehre des G-ttesmordes zurück und betonen die einzigartige Beziehung zwischen Christen und Juden, welche von Papst Johannes PaulII., unsere älteren Brüder‘ und von Papst BenediktXVI., unsere Väter im Glauben‘ genannt wurden“.

Von zentraler Bedeutung ist der dritte Abschnitt der genannten Erklärung, der gewiss keinen Konsens innerhalb jüdischer Rabbiner (und Rabbinerinnen) verschiedensten Hintergrunds darstellt, aber ohne Zweifel trotzdem eine besonders bemerkenswerte Stimme innerhalb des Judentums repräsentiert und schon deswegen Beachtung verdient:

„Wie Maimonides und Jehudah Halevi vor uns10 erkennen wir an, dass das Christentum weder ein Zufall noch ein Irrtum ist, sondern gött-lich gewollt und ein Geschenk an die Völker. Indem Er Judentum und Christenheit getrennt hat, wollte G-tt eine Trennung zwischen Partnern mit erheblichen theologischen Differenzen, nicht jedoch eine Trennung zwischen Feinden. Rabbiner Jacob Emden schrieb, dass, Jesus der Welt eine doppelte Güte zuteil werden ließ. Einerseits stärkte er die Torah von Moses in majestätischer Art […] und keiner unserer Weisen sprach jemals nachdrücklicher über die Unveränderlichkeit der Torah. Andererseits beseitigte er die Götzen der Völker und verpflichtete die Völker auf die sieben Noachidischen Gebote, so dass sie sich nicht wie wilde Tiere des Feldes aufführten, und brachte ihnen grundlegende moralische Eigenschaften bei […] Christen sind Gemeinden, die zum himmlischen Wohl wirken und zu Dauerhaftigkeit bestimmt sind. Ihre Bestimmung ist zum himmlischen Wohl und die Belohnung wird ihnen nicht versagt bleiben‘11. Rabbiner Samson Raphael Hirsch lehrt uns, Christen haben, die jüdische Bibel des Alten Testamentes als Buch gö-ttlicher Offenbarung akzeptiert. Sie bekennen ihren Glauben an den G-tt von Himmel und Erde, wie ihn die Bibel verkündet, und sie anerkennen die Herrschaft der gö-ttlichen Vorsehung‘12. Jetzt, da die katholische Kirche den ewigen Bund zwischen G-tt und Israel anerkannt hat, können wir Juden die fortwährende konstruktive Gültigkeit des Christentums als unser Partner bei der Welterlösung anerkennen, ohne jede Angst, dass dies zu missionarischen Zwecken missbraucht werden könnte. Wie von der Bilateralen Kommission des israelischen Oberrabbinats mit dem Heiligen Stuhl unter Vorsitz von Rabbiner Shear Yashuv Cohen festgestellt, sind, wir nicht länger Feinde, sondern unwiderrufliche Partner bei der Artikulierung der wesentlichen moralischen Werte für das Überleben und das Wohl der Menschheit‘13. Keiner von uns kann G-ttes Auftrag in dieser Welt alleine erfüllen.“

Im Unterschied zur Erklärung „Dabru Emet“ („Redet Wahrheit“) des „National Jewish Scholars Project“14, die im Herbst des Jahres 2000 von der „New York Times“ und der „Frankfurter Rundschau“ publiziert wurde,15 wendet sich die Erklärung der fünfzig orthodoxen Rabbiner nicht zuerst an Jüdinnen und Juden, sondern ruft Christen wie Juden dazu auf, „den Willen unseres Vaters im Himmel zu tun“. Die Aussage der Erklärung, dass hinter dem – etwas zugespitzt formuliert – doppelten Heilsweg von Judentum und Christentum der Wille Gottes steht, geht in bestimmter Weise sogar noch über den berühmten „Rheinischen Synodalbeschluss“, den Beschluss der Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“, hinaus.16 Günther Harder, der Begründer und erste Leiter des Berliner Instituts Kirche und Judentum, hatte übrigens schon auf der dritten Studientagung des „Deutschen evangelischen Ausschusses für Dienst an Israel“ in Düsseldorf (26. 02.–02.03.1951) „Israel und die Kirche“ als „zwei Seiten desselben erwählten Gottesvolkes“ bezeichnet17 und damit die theologische Formel von der bleibenden Erwählung des jüdischen Volkes vorbereitet, die durch den „Rheinischen Synodalbeschluss“ Eingang in die meisten Grundordnungen der evangelischen Kirchen in Deutschland fand.

Natürlich muss man sich klarmachen, dass sowohl die Erklärung „Den Willen unseres Vaters im Himmel tun: Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen“ als auch „Dabru Emet“ („Redet Wahrheit“) innerhalb des Judentums umstritten sind18 und ganz gewiss kein Grund für christliche Theologie sein dürfen, sich bequem auf dem Erreichten auszuruhen. Im Umfeld des Reformationsjubiläums 2017, das auch Gegenstand bzw. Anlass der beiden hier publizierten Vorträge ist, beschloss die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland am 11. November 2015 eine Kundgebung unter dem Titel „Martin Luther und die Juden – notwendige Erinnerung zum Reformationsjubiläum“19 und die „Konferenz Landeskirchlicher Arbeitskreise Christen und Juden“ (KLAK) formulierte im Juni 2016 einen „Zwischenruf […] auf dem Weg zu einer reformatorischen Theologie im christlich-jüdischen Dialog“20. Beide Verlautbarungen stellen der akademischen Theologie gemeinsam die Aufgabe, „zentrale theologische Lehren der Reformation neu zu bedenken und dabei nicht in abwertende Stereotypen zu Lasten des Judentums zu verfallen“ (so die EKD-Synode21) bzw. „an zentralen Punkten einer Reformulierung reformatorischer Theologie überhaupt“ zuzuarbeiten (so die KLAK). Gerade weil sofort gefragt wurde, „ob mit all dem Eingriffe in die ,zentralen theologischen Lehren der Reformation‘ gemeint sind, Revisionen der theologischen Einsichten, die in den reformatorischen Bekenntnisschriften zum Ausdruck gebracht und in den altkirchlichen Bekenntnissen fundiert sind, oder ob es um eine neue, gegenüber früheren Wegen kritisch reflektierte Präsentation dieser als solche festzuhaltenden Einsichten gehen soll“22, soll ein Beitrag zu der Aufgabe geleistet werden, reformatorische Theologie jenseits klassischer Stereotypen und mit Bezug auf Einsichten des jüdisch-christlichen Dialogs zu entfalten.

Vor dem Hintergrund dieser Erklärungen und der dort beschriebenen Aufgabe, die reformatorische Theologie nicht in antijüdischen Stereotypen darzustellen, könnte man natürlich fragen, ob eine erneute Beschäftigung mit den klassischen solus- bzw. „allein“-Formulierungen nicht die Gefahr erneuter Abgrenzungen mit sich bringt und weniger einen Dialog eröffnet oder fortsetzt, der anstatt traditioneller identitätsbestimmender Alternativen besser die neu entdeckten Gemeinsamkeiten in den Blick nehmen sollte. Es kann ja kein Zweifel bestehen, dass die Formel sola scriptura gern nicht nur gegen eine angeblich katholische Formel „Schrift und Tradition“ gestellt wurde, sondern auch gegen eine jüdische Verwendung rabbinischer und nicht-rabbinischer Traditionen gewendet wurde, solus Christus auch als Parole diente, Gegensätze zu einer als jüdisch behaupteten Messiaserwartung zu konstruieren, sola gratia auch gegen die behauptete Vorstellung einer jüdischen Werkgerechtigkeit abgegrenzt wurde und sola fide ähnlich zugespitzt interpretiert wurde. Für solche Zerrbilder eines unter dem Gesetz leidenden, ängstlich nach seinen Werken schielenden Juden gibt es nahezu unendlich viele Beispiele in gelehrten und weniger gelehrten theologischen Texten, in Lehrbüchern und in Predigten – leider schon in den reformatorischen Texten und bei Martin Luther. Es ist nicht notwendig, diese Geschichte der mit den „allein“-Formulierungen verbundenen antijüdischen Stereotypen hier nochmals zu entfalten oder zu rekonstruieren.23 Man tut vielmehr gut daran, sich daran zu erinnern, was Peter von der Osten-Sacken schon vor einiger Zeit zu diesem Thema schrieb: „Mit Luther gegen Luther“24. Entsprechend hat Peter von der Osten-Sacken jüngst auch in seiner Dankesrede bei der Verleihung des Moses-Mendelssohn-Preises des Landes Berlin im September 2016 gefragt, ob anstelle der klassischen Formel sola fide, „allein durch den Glauben“, nicht stärker die inkludierende paulinische Formel πίστις, ἐλπίς, ἀγάπη, τὰ τρία ταῦτα, „Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei“ (1. Korinther 13,13) in den Mittelpunkt der Feiern zum Reformationsjubiläum gestellt werden sollte.25

Einem solchen Versuch, reformatorische Theologie gerade dadurch zu bewahren, dass sie kritisch gegen sich selbst gewendet wird, sieht sich der hier veröffentlichte Entwurf verpflichtet, auch wenn er in seiner Durchführung (übrigens auch im Blick auf das sola fide) eigene Wege geht. Selbstverständlich soll damit nicht einfach abgeschliffen werden, was seit der Antike und der Reformationszeit christliches Glauben und Bekennen ausmacht – auch wenn das offenbar immer wieder die Angst derer ist, die Dialogprozesse von außen beobachten. Dialog setzt, um mit einer ganz schlichten Beobachtung zu beginnen, Vergewisserung über eigene Identität im Horizont der Dialogpartner voraus. Nicht mehr, aber auch nicht weniger wird auf den folgenden Seiten versucht. Natürlich bleibt diese Vergewisserung eigener Identität im Lichte eines Dialogs nicht das letzte Wort zur Sache. Aber es ist trotzdem nicht gering zu achten.

Keine wissenschaftliche Arbeit und erst recht keine im hier behandelten Themenfeld verdankt sich allein der Weisheit ihres Autors, und so ist es mir ein wichtiges Anliegen, am Ende dieser Einleitung zu danken – zuerst meinem Vor-Vorgänger im Amt der Leitung des Instituts Kirche und Judentum, Peter von der Osten-Sacken, dass er seinen zweiten Nachfolger ungeachtet aller Verschiedenheiten so freundlich aufgenommen hat, sodann meinem Kuratoriumsvorsitzenden und Propst der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz Christian Stäblein, der fachliche Kompetenz in der Sache26 mit fürsorglicher, hilfreicher kirchenleitender Unterstützung zu verbinden weiß. Wenn man in diesen Zeilen Anregungen meiner Tübinger und Jerusalemer exegetischen Lehrer – ich nenne vor allem Martin Hengel und Gert Jeremias – ebenso erkennen könnte wie die vielfältigen Inspirationen der Zusammenarbeit mit Peter Schäfer, wäre mir das eine Freude. Gern gestehe ich aber auch, dass die Vorbereitung der Herausgabe dieser ersten Broschüre in der neuen Reihe mir zu einer Entdeckung verholfen hat, die ich durchaus früher hätte machen können: Erst jetzt ist mir wirklich deutlich geworden, welch zentrale Beiträge zu einer Lektüre christlicher Theologie vor dem Hintergrund des Judentums der emeritierte Bonner katholische Systematiker Josef Wohlmuth vorgelegt hat, die auch in der evangelischen Theologie viel aufmerksamer zur Kenntnis genommen werden sollten. Ich habe Wohlmuth, als ich im Studienjahr der Benediktiner-Abtei Dormitio BMV in Jerusalem im Wintersemester 2003/2004 lehrte, als meinen Studiendekan erlebt, aber danach auch mehrfach noch von 2004 bis 2011 in seiner Eigenschaft als Leiter des Cusanus-Werks – seine zentralen Beiträge zum christlich-jüdischen Gespräch habe ich dagegen erst sehr viel später gründlich studiert.27 Diese Arbeiten sind für einen Wissenschaftler, der sich hauptberuflich mit dem Christentum der Antike beschäftigt, schon deswegen von großem Interesse, weil sie immer wieder das Gespräch mit der klassischen christlichen, in der Antike entwickelten Trinitätslehre und Christologie suchen.28

Gewidmet aber sind diese Seiten demjenigen unter meinen Tübinger Lehrern, dem ich dieses Büchlein leider nicht mehr überreichen und mit ihm darüber sprechen kann: Gert Jeremias verdanke ich nicht nur die Anregung, mich als Student seines Marburger neutestamentlichen Proseminars für ein Studienjahr in Jerusalem zu bewerben, sondern die Gelegenheit, als seine studentische Hilfskraft in Tübingen unter seiner kundigen Anleitung den Gebrauch von rabbinischer und nicht-rabbinischer antiker jüdischer Literatur als Quellenmaterial zu erlernen. Die Bedeutung der Landeskunde für das Verständnis biblischer Texte einer nachwachsenden Generation zu vermitteln, war ihm Herzensanliegen und hat daher auch mich geprägt. Jeremias war ein strenger Kritiker von sorgloser oder flüchtiger Beschäftigung mit biblischen wie anderen Texten und doch seinen Studierenden als Seelsorger ganz aufmerksam und freundlich zugewandt. Bis zuletzt, lange nach der Pensionierung, hat er durch Lehrveranstaltungen künftige Pfarrerinnen und Pfarrer angehalten, die fundamentale Bedeutung des biblischen Textes in seiner überlieferten Ursprache für die gottesdienstliche Predigt nicht gering zu schätzen.29

Ich will nicht verhehlen, dass meine eigene Entscheidung, mich stärker um das christlich-jüdische Gespräch und eine Lektüre christlicher Traditionen vor dem Hintergrund des Judentums zu kümmern, mit Ereignissen der letzten drei Jahre zu tun hat. Denn mit dem knappen Hinweis auf bestimmte Selbstverständlichkeiten und identitätsbildende Weichenstellungen der christlichen Kirche aus verschiedenen Jahrhunderten ist es offensichtlich, anders als ich anfänglich dachte, nicht getan. Die teilweise erregten Debatten haben mir die Notwendigkeit deutlich gemacht, mich stärker auf diesem Feld zu engagieren, spielen aber in dieser Broschüre als solche bewusst keine explizite Rolle. Wohl gilt, dass aktuelle Erfahrungen einen klüger machen können (klassisch formuliert: dies diem docet), aber wissenschaftliche Überlegungen sollten tagesaktuelle Debatten nur insofern thematisieren, als hier wirklich wissenschaftliche Fragen von Bedeutung mit sichtbarem Erkenntnisfortschritt verhandelt werden und nicht längst abschließend debattierte Positionen erneut aufgerufen oder komplexe Fragen in Form von stark zugespitzten Alternativen reformuliert werden.30 Außerdem erschöpfen sich solche Erfahrungen der letzten Jahre natürlich nicht in Kontroversen innerhalb der evangelischen Theologie; so verdanke ich beispielsweise meinen ersten Kontakt mit der britischen Historikerin Lyndal Roper, die eine überaus lesenswerte Luther-Monographie31 verfasst hat, einer Konferenz der Israelischen Akademie der Wissenschaften in Jerusalem im Jahre 2012. Ihr Buch macht die äußerst begrenzte Reichweite meines hier mehr oder weniger geistes- und ideengeschichtlich geprägten Zugangs zur religiösen Wirklichkeit deutlich.

Die beiden Vorträge, die den Kern dieses Büchleins bilden, sind im Wortlaut weitestgehend belassen und nur behutsam geändert worden, freilich durch Fußnoten und kleine Exkurse ergänzt und um ein Schlusskapitel erweitert. Vollständigkeit im Blick auf die Literaturangaben wurde nirgendwo angestrebt, da dann eine Art Literaturbericht zu den beiden großen Zusammenhängen ,reformatorische Theologie‘ und ,jüdisch-christlicher Dialog‘ begonnen, aber aufgrund der Menge einschlägiger Literatur notwendig unvollendet geblieben wäre. Die angefügten Hinweise auf Literatur dienen dazu zu belegen, was behauptet wird, und den Kontext in der Forschungsdiskussion anzudeuten.

Annette Weidhas hat mit der Evangelischen Verlagsanstalt erneut ein Manuskript in ein wunderschönes Büchlein verwandelt, die Mitarbeitenden des Berliner Instituts und des Lehrstuhls haben mich in bewährter Weise unterstützt. Besonders möchte ich Peter von der Osten-Sacken nennen. Auch meine Mitherausgeberinnen und Mitherausgeber gaben freundlich wichtige Hinweise zum Manuskript, vor allem Hanna Liss und Alexander Deeg. Allen danke ich sehr!

Berlin, im Januar 2017Christoph Markschies