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Es mutet radikal an, was Christoph Markschies, bis vor kurzem Präsident der Humboldt-Universität und damit Nachfolger des großen deutschen Bildungstheoretikers Wilhelm Humboldt, pointiert: Wer es ernst meint mit der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, für den folgt unmittelbar und schnurstracks das, was der moderne Begriff der "Bildungsgerechtigkeit" impliziert: nämlich Bildung für alle, gleich welcher Nation, welchen Standes, welchen Geschlechts. Bildung nach dem Bilde Gottes heißt aber viel mehr als Einfiltern möglichst vielfältigen komplexen Wissens unabhängig von den Begabungen des Einzelnen. Gut reformatorisch befähigt Bildung zur Freiheit, ist Herzensbildung, so wie es bereits im 1. Timotheusbrief heißt: "Gott will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen." (2,4)
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Christoph Markschies
ZUR FREIHEIT BEFREIT
Bildung und Bildungsgerechtigkeit in evangelischer Perspektive
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Autor: Christoph Markschies
Umschlaggestaltung: Elisabeth Keßler
Satz: Lena Gerlach
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014
© Hansisches Druck- und Verlagshaus GmbH, Frankfurt am Main 2011. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung außerhalb der Grenzen des Urheberrechts ist ohne schriftliche Einwilligung des Verlags unzulässig.
ISBN 9783869211527
Cover
Titel
Impressum
VORBEMERKUNG
BILDUNGS – GERECHTIGKEIT?
Was wir unter Bildung verstehen sollten, wenn wir Bildungsgerechtigkeit für alle fordern
BILDUNG – KLASSISCH
Warum der Humboldtsche Bildungsbegriff allein nicht ausreicht, um mehr Bildungsgerechtigkeit zu erreichen
BILDUNG – THEOLOGISCH
Wie aus der Gottebenbildlichkeit des Menschen Bildungsgerechtigkeit folgen kann
ZUM CHRISTLICHEN BILDUNGSAUFTRAG
Welche praktischen Konsequenzen aus einem theologisch begründeten Bildungsbegriff folgen sollten
FUSSNOTEN
Der Verfasser des folgenden Essays, der auf einen Vortrag vor der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland im November 2010 zurückgeht,1 hat als Theologe fünf Jahre eine deutsche Universität geleitet. Da es sich um die nach dem berühmten preußischen Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt benannte Universität in Berlin handelte und diese Einrichtung zudem im vergangenen Jahr ihr zweihundertjähriges Jubiläum feierte, hatte deren Präsident reichlich Gelegenheit, über das Thema „Bildung“ nachzudenken und Ergebnisse seines Nachdenkens öffentlich vorzutragen.2 Die Gelegenheit, vor der Synode zu sprechen, habe ich allerdings besonders gern ergriffen – natürlich ist weder im Alltag der Administration einer ziemlich großen Wissenschaftseinrichtung noch bei diversen Grußworten zu allerlei Anlässen Zeit oder Raum, ganz grundsätzlich darüber nachzudenken, was die evangelische Theologie zur Bildungsthematik Grundlegendes beizutragen habe. Nicht nur der Synode habe ich für die ehrenvolle Einladung zu danken, sondern auch Verlegerin und Verlag dafür, dass die erheblich erweiterten Ergebnisse meines Nachdenkens nun als Büchlein vorgelegt werden können. Das Synodalreferat ist – mit Termini des antiken Buchmarktes gesprochen – gleichsam die Epitome, die knappe Zusammenfassung dessen, was hier ausführlicher und reicher belegt entfaltet wird.
Freilich muss ich einschränkend sagen: Fünf Jahre Verantwortung für die Administration einer Bildungseinrichtung zu tragen, macht einen nicht zum Experten für die akademischen Diskurse über Bildung in diesem Land und lässt einem gelegentlich nicht einmal Zeit, die Debatten darüber in den Zeitungen in einem ausreichenden Maße zu verfolgen. Hat man dazu das Glück, an seiner Universität den führenden Bildungshistoriker des Landes zum Kollegen zu haben,3 versucht man nicht, sich auf diesem Feld mit eigenen Beiträgen zu profilieren. Dankbar habe ich auch davon profitieren können, dass in der Stadt Berlin eine in Deutschland einzigartige Konzentration von Einrichtungen der quantifizierenden Bildungsforschung vorhanden ist – wer in der Nachbarschaft eines Max-Planck-Institutes für Bildungsforschung, eines Institutes für Qualitätsmessung im Bildungswesen und des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung lebt, also von Institutionen, die die großen empirischen Analysen der Bildungslandschaft der Bundesrepublik Deutschland entwickeln, durchführen und interpretieren, wird nicht versuchen, deren analytische Kraft bei der Beurteilung insbesondere der bekannten Probleme des hiesigen Bildungswesens zu übertreffen. Von meiner Ausbildung und Profession her bin ich Kirchenhistoriker der christlichen Antike, stehe also genau zwischen dem Fachgebiet, das zu beschreiben weiß, inwiefern das Urchristentum eine Bildungsbewegung war, und der Teildisziplin, die den großen reformatorischen Bildungsaufbruch, der sich insbesondere mit dem Namen Philipp Melanchthons verbindet, wissenschaftlich untersucht – so gleichsam zwischen den Stühlen von Neuem Testament und Reformationsgeschichte, historischer und quantifizierender Bildungsforschung zu sitzen, ist hoffentlich diesem kleinen Büchlein bekommen; den Horizont des Autors hat es mindestens eminent geweitet. Schließlich muss ich auch noch bekennen, dass ich das nichtuniversitäre Bildungsgeschehen, soweit es die Evangelischen Kirchen verantworten, weniger aus der eigenen Perspektive kenne (sieht man einmal von den für Professoren üblichen Vortragserfahrungen in Akademien, kirchenleitenden Gremien und Gemeindekreisen ab) als aus den Berichten einer mir sehr nahestehenden Person, einer Pädagogin aus Leidenschaft in verschiedenen kirchlichen Schulzusammenhängen – meiner lieben Frau, die auch die hier entwickelten Gedanken mit mir geteilt und mich hoffentlich vor den schlimmsten Irrtümern wie Absonderlichkeiten bewahrt hat. Angesichts meiner im Blick auf das Thema beschränkten Kompetenzen schien es mir schon vor der Synode angezeigt, der berühmten Aufforderung an den Schuster zu folgen und bei meinem Leisten zu bleiben. Entsprechend wird in diesem Essay lediglich die These vertreten, dass die Evangelische Kirche ein theologisch grundiertes Verständnis von Bildung braucht, ein solches Verständnis ansatzweise entfaltet und außerdem behauptet, dass sich aus diesem Verständnis auch schnurgerade ein Begriff von Bildungsgerechtigkeit ergibt, der nicht bloß äußerlich (beispielsweise aus politischen oder gar ideologischen Gründen) an den Bildungsbegriff herangetragen ist. Mit anderen Worten: Ich hoffe, dass meine Not, in einer kaum mehr übersichtlichen Bildungsdiskussion durch Jahre in der pädagogischen Praxis als Kirchenhistoriker samt einigen Jahren in der Bildungsadministration Kompetenz nur sehr beschränkt erworben zu haben, bei der Entwicklung eines theologisch grundierten Bildungsbegriffs zur Tugend geworden ist – zur Tugend nämlich, nicht ein bildungstheoretisches oder bildungshistorisches Halbwissen für die volle Wahrheit zu halten, sondern darauf zu vertrauen, dass eine wirklich umfassende Bildungsdiskussion die Synthese verschiedener Zugänge zu einem integrativen Bildungsbegriff verlangt und dabei auch die Theologie ihr spezifisches Gewicht haben sollte. Entsprechend sollten theologische Überlegungen zu einem evangelischen Verständnis von Bildung und Bildungsgerechtigkeit auch für diejenigen von Interesse sein, die die christlichen Prämissen eines solchen Bildungsverständnisses nicht teilen: Sie ermuntern im Kontext einer Gesellschaft, deren Defizite bei der Bildungsgerechtigkeit allgemein bekannt sind und vielfältig beklagt werden,4 auch außerhalb der Kirche nach engeren Verbindungen zwischen Bildungsbegriff und Bildungsgerechtigkeit zu suchen, als sie hierzulande üblich waren und sind.
Ich verfasse dieses Vorwort, wie es sich gehört, am Ende der Arbeit am Manuskript. Zum wiederholten Male gab mir eine Benediktinerabtei in Jerusalem Gastfreundschaft und Ruhe, abschließend an Texten zu arbeiten. Die Abtei Dormitio BMV auf dem Zionsberg in Jerusalem gewährt aber nicht nur, wie es der Tradition und Regel Benedikts entspricht, einzelnen Gästen freundlich Obdach. Sie beherbergt auch seit nunmehr 37Jahren ein ökumenisches Studienjahr für Theologiestudierende aus dem deutschsprachigen Raum und ist dafür nicht hoch genug zu loben. Einst bin ich durch dieses Studienjahr nicht nur gebildet worden über die Geschichte und Gegenwart des Heiligen Landes, dessen Religionen und den Raum, in dem Jesus von Nazareth lebte wie litt, sondern eben auch über die anderen christlichen Konfessionen und allzumal die katholische Nachbarkonfession. Heute lehre ich immer wieder einmal in diesem Studienjahr und versuche, eine neue Generation von Theologinnen und Theologen zu bilden. Schon deswegen bekenne ich zum guten Schluss, dass dieses Büchlein zwar aus evangelischer Perspektive verfasst wurde (wie sollte es auch anders sein), aber ich hoffe doch, dass Erfahrungen der Bildungsarbeit auch der anderen christlichen Konfessionen in meinem Text Berücksichtigung gefunden haben und die hier entwickelten Gedanken über Bildung wie Bildungsgerechtigkeit nicht nur von evangelisch geprägten Menschen nachvollzogen werden können. In einer Zeit, in der viele Menschen von Christentum und Kirche wenig mehr als nichts wissen, sind gemeinsame Bildungsanstrengungen der getrennten Christenheit notwendig. Profilierung um der Profilierung willen wird am Ende niemandem helfen. Glaubwürdigkeit christlicher Bildungsarbeit misst sich ein Stück weit auch an der Bereitschaft, Dinge gemeinsam zu tun und nicht aus Tradition oder schlichter Angst weiter für sich allein zu bleiben.
Ich widme dieses Büchlein all denen, die in den letzten Jahren Bildungsaufbrüche in ihren Kirchen und Gemeinden unternommen haben: den Mönchen und Studierenden vom Zionsberg in Jerusalem ebenso wie den Kollegien der kirchlichen Schulen, die (wie das Christliche Gymnasium im thüringischen Jena) in den Jahren seit 1989 an Orten der ehemaligen DDR entstanden sind, den Kolleginnen und Kollegen in den Einrichtungen, die den Reformprozess der Evangelischen Kirche in Deutschland vorantreiben oder durch ihn erst entstanden sind und natürlich all denen, die meine Gedanken in den vergangenen fünf Jahren angeregt, kritisch mit mir diskutiert oder mich sonstwie freundlich unterstützt haben.
Jerusalem, im März 2011
Christoph Markschies
Was wir unter Bildung verstehen sollten, wenn wir Bildungsgerechtigkeit für alle fordern
Alle reden von „Bildungsgerechtigkeit“, nachdem in den letzten Jahren in allen politischen Parteien und quer zu den traditionellen ideologischen Fronten deutlich geworden ist, dass es im Blick auf Bildung in diesem Land nicht gerecht zugeht – trotz der emphatischen Versicherungen vieler Verantwortlicher seit dem Ende der sechziger Jahre und vielen ebenso entschlossenen wie radikalen Reformen im Bildungswesen. Worin die Defizite im Blick auf Bildungsgerechtigkeit im Detail für die diversen Bildungseinrichtungen des Landes bestehen, ist in den letzten Jahren immer wieder zusammengestellt worden und braucht hier nicht wiederholt zu werden. Ein einziges Beispiel: Der Anteil von Kindern aus Familien von Nichtakademikern im Studium ist beschämend gering, weil er auch schon an den höheren Schulen desaströs gering ist. Eine alle drei Jahre veranstaltete Sozialerhebung unter Studierenden hierzulande verzeichnete seit 1982 eine beständige Abnahme von Studierenden aus einfacheren Verhältnissen; 2010 war erstmals ein leichter Anstieg zu verzeichnen. Nach wie vor kommt mit 59Prozent mehr als jeder zweite Student aus gehobenen oder besonders begüterten Schichten; da von 100Akademikerkindern 71 den Sprung an eine Universität schaffen, von 100Nicht-Akademikerkindern aber nur 24, spricht man von einem „Bildungstrichter“.5 Der Präsident des Deutschen Studentenwerks, das die Sozialerhebungen verantwortet, sprach auf der Pressekonferenz zur Vorstellung der neunzehnten Erhebung aus dem Jahre 2010 davon, dass im deutschen Bildungssystem „die grundlegende soziale Selektion weiterhin erschreckend stabil“ sei. Rolf Dobischat, selbst ein Bildungsforscher, sagte weiter: „Weniger wissenschaftlich ausgedrückt: Die Akademiker reproduzieren sich selbst. Kinder von Beamten mit Hochschulabschluss studieren fast viermal so häufig wie Arbeiterkinder. Von sozial offenen Hochschulen sind wir weit entfernt.“6 Für diese missliche Lage, die auch durch die