Regenbogenflecken - Wiebke Saathoff - E-Book

Regenbogenflecken E-Book

Wiebke Saathoff

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Beschreibung

Sasha Sommer hält nicht viel von der neuen großen Liebe ihrer Freundin Marly. Fabian ist arrogant, selbstgefällig und hinter seiner aalglatten Fassade verbirgt sich ein machtgieriger Tyrann, dessen ist sich Sasha sicher. Fantasien der Bevormundung, Demütigung und Manipulation beherrschen Sashas Gedankewelt und nähren ihren Hass auf Fabian. Ist diese Gewaltphantasie bittere Realität für Marly, oder entsteht diese unheilvolle Verschwörungstherie nur in Sashas Kopf? Sasha gelobt sich, ihre Freundin aus dieser gewaltdominierten Beziehung zu befreien, doch ihr Kampf fordert einen hohen Tribut. Von alle Beteiligten.

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REGENBOGENFLECKEN

Wiebke Saathoff

Impressum:

©Wiebke Saathoff, Bremen, alle Rechte vorbehalten

Text, Umschlagsgestaltung, Satz und Bildmaterial

© Wiebke Saathoff

Wiebke Saathoff

Graudenzer Straße 41

28201 Bremen

Deutschland

wiebkesaathoff.de

ISBN: 978-3-746745-77-0

Life is: You‘re alone.

Life is yours alone.

Danke an Marcel und Mathilde für die tatkräftige Unterstützung.

1

Heute 1

Der Summer öffnet nach dem ersten Klingeln. Keine Nachfrage, wer um Einlass bittet, kein Zögern. Als hätte man mich erwartet.

Ich drücke die Tür auf und schiebe mein linkes Bein in den Spalt. So verharre ich in einer Art Schockstarre. Ich bin noch nicht bereit einzutreten. Mein Puls klopft spürbar an meine Schädelwand, ich nehme das wellenartige Pochen des Blutes wahr. Mir ist schwindelig und übel. Wie immer, wenn mein Körper sich sträubt und ich mich im Fluchtmodus befinde.

Gleich falle ich in Ohnmacht, denke ich, hier in diesem Türspalt, in dem Zwischenraum der Entscheidung, zwischen Fliehen und Angriff. Ich bin diesen Augenblick so oft durchgegangen. Immer und immer wieder, bis mein Gehirn rotiert hat. Und ich habe mich entschieden. Ich werde nicht fliehen. Für den Seelenfrieden. Kneife ich, lassen mich die tanzenden Geister der Vergangenheit niemals in Ruhe. Das weiß ich.

Ich stoße die Eingangstür ruckartig nach innen und stolpere in den Flur. Meine Füße poltern auf dem Marmorboden. Ich komme mir völlig deplatziert vor. Der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen. Das hier ist kein Teil meiner Welt. Das hier ist nicht aus unserer Welt. Marly lebt nicht in diesen Wänden. Das habe ich ihr schon damals gesagt, aber sie wollte ja nicht zuhören.

Die Treppe ist steil und lang. Hier ist es geschehen. Genau hier. Die Bilder füllen meinen Kopf und ich möchte schreien, wegrennen. Auf keinen Fall diese Treppe hochlaufen. Aber ich habe keine andere Wahl. Nur so lassen sich die Bilder besiegen.

Mein Atem wird schwerer, mit jedem Schritt und jeder weiteren Anstrengung. Ich überlege, ob ich rufe: „Ich bin’s! Hört mich jemand?“, aber ich habe keine Stimme, und außerdem sind wir hier nicht in einem billigen Horrorfilm. Ich gehe stetig Stufe für Stufe hinauf. Bis ich beim ersten Bild angekommen bin. Es reißt mich plötzlich aus meiner Monotonie. Es erschreckt mich. Dort lachen sie mir entgegen, Marly und Fabian, rausgeputzt und strahlend, sie wirken eher wie eine Werbeanzeige, nicht wie Menschen. Und das war es, ihr Leben, denke ich, eine einzig große Werbekampagne.

Marly trägt ein rotes Kleid, ihre Haare umrahmen ihr makelloses Gesicht, sie steht aufrecht und hat ihren Kopf leicht nach rechts gedreht, als wolle sie mit dem Fotografen flirten. Fabian umschlingt ihre Taille, sein Körper ist ihr zugewandt, aber seine Augen folgen der Linse des Fotoapparates. Neben ihm steht ein perfekt geformter Weihnachtsbaum, nicht zu kitschig geschmückt. Die Kerzen sind das einzig Echte an diesem Bild, denke ich, und zwinge mich weiterzugehen.

Zwei Stufen. Dort hängt das nächste Porträt. Ihr zweites gemeinsames Weihnachtsfest. Unverkennbar dieselbe Umgebung. Marly ist in einem sanften Grün gekleidet, mit einer riesengroßen Schleife über ihrem Bauchansatz, das größte Geschenk der Welt, das hat sie immer gesagt, für sie und für Fabian. Fabian hat eine Hand zärtlich auf ihren Bauch gelegt, wie in dem ersten Foto starren sie beide in die Kamera.

Ich wende mich ab und gehe weiter. Wieder stoppe ich. Auf dem dritten Foto sind sie nicht mehr zu zweit. Marly hat Carlotta auf dem Arm, sie küsst ihren kahlen Kopf. Carlotta macht ein miesepetriges Gesicht, als wenn sie jeden Augenblick anfangen könnte zu schreien. Carlotta und Marly sind ganz in Weiß gekleidet, unschuldig, so zart und zerbrechlich. Fabian wirkt neben den beiden wie ein Eindringling. Er schaut wieder mit einem gewitzten Lächeln in die Kamera. Marly hingegen ist dieses Mal nicht auf die Linse fokussiert, ihre gesamte Aufmerksamkeit gilt Carlotta. Es hat sich etwas verändert. Marly und Fabian scheinen nicht mehr im Gleichklang zu sein. Das haucht dem Bild Leben ein. Ich schaudere bei dem Gedanken. Das Bild wurde an jenem Tag aufgenommen, an dem ich Marly das letzte Mal sah. An diesem tragischen Weihnachtstag, bevor ich hereinplatzte und alles zerstörte. An jenem Tag wurde kein Leben eingehaucht, sondern eines genommen. Und es ist meine Schuld.

Mein Blick fällt auf eine weitere, für mich ungewohnte Abbildung. Langsam und mit einer gewissen Ehrfurcht nähere ich mich dieser. Ich spüre wieder mein Blut in den Adern pochen, doch scheue ich mich nicht, sehr nah heranzutreten. Ich möchte jedes Detail wahrnehmen.

Wieder ist ein Weihnachtsbaum zu sehen, er ist etwas wirr geschmückt, kein Hochglanzweihnachtsbaum wie zuvor. Die zwei Personen auf dem Bild geben sich keine Mühe, den angestrengten Erwartungen einer Familienidylle zu genügen. Es herrscht Chaos und Unordnung. Der Glanz vergangener Tage scheint vorüber.

Ein sanftes Rascheln am Treppenabsatz reißt mich aus den Gedanken und ich wende meinen Blick auf die Veranda. Erschrocken wie ein Reh im Scheinwerferlicht stehe ich da und versuche den Kloß im Hals zu verscheuchen.

„Hallo“, stammle ich zittrig hervor.

2

Damals 1

Irgendetwas ist anders in Marlys übersichtlicher Zweizimmerwohnung, aber ich komme nicht darauf was. Ich schaue mich nervös um, kleinste Veränderungen scheinen mich aus der Ruhe zu bringen. Als Marly mit den zwei dampfenden Tassen Tee aus der Küche kommt, ist es mir aufgefallen.

„Dein Regal ist viel leerer“, sage ich gedankenverloren, während ich meinen Blick weiterhin auf dieses gewendet habe.

„Ja“. Marly stellt die Tassen auf den Couchtisch neben mir und setzt sich dann zu mir auf das Sofa, wobei sie automatisch in die schon vom häufigen Gebrauch eingesessene Kuhle rutscht.

„Irgendein Grund? Simplify your life, oder so?” Ich umklammere mit beiden Händen die dampfende Tasse, lasse dann wieder von ihr ab, da die Hitze unangenehm an den Handflächen wird.

„Ja. Ich ziehe um.“

„Was?“ Ich wende mich ruckartig zu ihr hin und starre sie an, aber sie wendet ihren Blick ab. Sie schaut auf ihre Tasse runter, die trotz der ausströmenden Hitze zwischen ihren Händen gefangen ist. „Ja, ich ziehe um. Ich ziehe zu Fabian.“

Ich bin geschockt. Was sie da sagt, fasse ich kaum. In mir bricht eine kleine Welt zusammen, ach, was sage ich da, nein, meine Welt bricht zusammen. Marly zieht zu diesem arroganten Blender, meine Marly, meine beste Freundin, meine Verbündete.

„Aber…aber warum hast du mir das denn nie erzählt? Ich meine, du musst doch irgendwann diese Entscheidung getroffen haben, oder? Also, das hast du doch nicht heute einfach so entschieden? Und wieso der, Marly, da laufen tausende von hübschen Männern rum, aber du ziehst zu diesem Fabian?“ Mein Gestammel verrät mich. Mein Gestammel und meine angespannte Körperhaltung.

„Deswegen, Sasha. Genau deswegen. Deswegen haben wir dir noch nichts davon erzählt. Weil ich von dir kein Verständnis für unsere Entscheidung erwarte.“ Sie hat ihren Blick von der Tasse abgewendet und schaut mir in die Augen. Sie sieht etwas abgekämpft und müde aus. „Ich habe dir noch nichts erzählt, meine ich. Außerdem: Du gibst dich mit diesem Kevin ab, der ist nun wirklich auch nicht der Hauptgewinn!“

„Das habe ich auch nie behauptet! Das mit Kevin ist was es ist, wir haben Spaß miteinander, aber in ne fesche Eigentumswohnung werden wir bestimmt nicht zusammen ziehen!“

Vielleicht ist es Neid, der mich so reagieren lässt, denke ich. Neid auf die Liebesbeziehung, die sie führt und Neid auf die finanzielle Sicherheit, die aus Fabians gut bezahltem Job resultiert. Ich hätte das gerne für mich.

„Ich freue mich für dich“, sage ich etwas unterkühlt. Marly lächelt. Sie weiß, dass das schon mehr ist, als sie von mir erwarten kann.

„Es ist nur so, dass ich Angst habe, dass wir uns dann noch weniger sehen werden. Seit die Sache mit Fabian läuft, hat sich einiges verändert. Ich weiß, dass das normal ist, und ich will auch, dass du glücklich bist, aber für mich ist das auch eine neue Situation, und so ganz einfach scheint das für mich nicht zu sein.“

Ich lasse mich mehr in das weiche Sofa fallen. Meine angespannten Schultern beruhigen sich wieder ein wenig. Leicht fällt mir das nicht, ehrlich zu sein. Ich bin stolz auf mich, dass ich es in dieser Situation geschafft habe. Die meisten Menschen sind nicht ehrlich, nicht zu sich, und auch nicht zu anderen. Und natürlich wäre es fatal, wären wir immer und zu jedem Menschen ehrlich, wirklich, das würde so viele Konflikte heraufbeschwören, als hätten wir nicht schon genug Ärger, ständig und immer um uns herum. Da ist die eine oder andere Notlüge eher wertvoll. Sie glättet die Wogen. White Lie, sagt der Engländer, die liebenswerte, unschuldige weiße Lüge.

Aber Marly, das ist ein anderes Kapitel. Es gibt zwei Menschen, die meine Ehrlichkeit verdient haben. Marly, meine langjährige beste Freundin, und ich, der Mensch, mit dem ich bis jetzt mein ganzes Leben verbracht habe, und mit dem ich viele weitere Jahre verbringen werde, vorausgesetzt ich sterbe nicht so bald.

Plötzlich merke ich, dass Marly mich anstarrt. Etwas verwirrt reißt meine Gedankenkette ab und ich versuche, die Aufmerksamkeit wieder in diesen Raum, in Marlys kleine Wohnung zu lenken. Noch ist es ihre Wohnung. Nicht mehr lange.

„Ich weiß, dass das nicht leicht für dich ist, Sasha“. Marly nimmt meine Hände in ihre, während sie im Schneidersitz eine flauschige Einheit mit dem alten Sofa bildet. „Ich glaube, das ist auch der Grund, weshalb ich hinausgezögert habe, es dir zu erzählen. Ich meine, das ist jetzt eine ganz andere Situation, das mit Fabian ist mir schon ernst. Auch wenn du ihn nicht magst. Aber er ist echt ein guter Kerl. Dabei gönne ich es dir so, dass du auch jemanden wie ihn findest.“

Ich lasse Marlys Hände los. Mein Puls kocht hoch, Wut breitet sich in mir aus. Sie versteht mich nicht. Sie will mich einfach nicht verstehen.

„Nein, Marly. So einfach ist das nicht. Ich habe jemanden, zwar keinen wie Fabian, aber ich komme nicht vor Einsamkeit um! Du hast mich völlig falsch verstanden, Marly!“ Ich schaue sie mit wutentbrannten Schlitzaugen an. Auch Marly ist von mir zurückgewichen, überrascht von meinem plötzlichen Wutanfall.

„Nein, ist es nicht? Wie oft hast du mir denn erzählt, dass du auch gerne mal wieder einen romantischen Videoabend hättest, mit einem Mann der bleibt, der nicht am nächsten Morgen wieder weg ist und dessen Namen du nach zwei Monaten vergessen hast? Fabian ist nicht gegangen. Er bleibt. Und ich weiß überhaupt nicht, warum du ihn immer so schlecht machst!“ Sie wird lauter, stufenweise, mit jedem Wort.

„Natürlich hätte ich das gerne, Marly! Klar! Aber du verstehst da was ganz Grundsätzliches nicht. Nämlich wie ich mir diese Beziehung vorstelle! Und darüber haben wir so oft geredet, so oft, Marly, daran müsstest du dich auch erinnern, wirklich, du warst doch immer ganz meiner Meinung, nie würdest du einen Mann an erste Stelle setzen, nie, du würdest immer deine Unabhängigkeit behalten, immer, und dein eigenes Leben an erster Stelle setzen, denn das mit dem „wir“ auf ganzer Linie, das geht nie gut, Marly. Und das weißt du auch. Auch nicht mit Fabian. Wenn man all seine Bedürfnisse hintenanstellt, dann ist das auf Dauer nicht gut für die Beziehung. Und vor allem nicht für einen selbst. Und erst recht nicht für die Freunde!“ Ich verleihe meinen Sätzen mit wild fuchtelnder Gestik mehr Bedeutung.

Auch Marlys Bewegungen werden heftiger. „Ich gebe mich nicht auf. Und das weißt du auch. Ich ziehe mit Fabian zusammen, weil ich ihn liebe. Und er mich auch. Und weil er bleibt. Und wir es ernst meinen. Du bist ja nur neidisch, Sasha. Nur neidisch, weil Kevin so ein untreues Arschloch ist!“

Ich bin sauer. So verdammt wütend. Was ist nur in sie gefahren?

„Du hast sie nicht mehr alle, Marly! Treue war nie ausgemacht zwischen Kevin und mir! Das muss ich mir nicht anhören von dir! Geh und fick deinen Fabian! Oder einfach dich selber!“

Marly ist ruckartig aufgestanden, ihr Körper angespannt bis in die Haarwurzeln, die Hände zu Fäusten geballt. „Ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst“, sagt sie mit monotoner, tiefer Stimme.

„Ja, da hast du endlich mal Recht!“

Ich reiße meinen Wintermantel von dem Garderobenhaken und renne mit energischen Schritten zur Tür. Ich knalle die Tür hinter ihr zu und nehme hastig zwei Stufen auf einmal, bis ich außer Atem draußen ankomme. Die kalte Luft sticht mir in die Lunge. Ich ziehe meinen Mantel enger um den Körper und setze mich in Bewegung. Die Tränen schießen mir in die Augen. Ich bin froh, dass es dunkel ist, so sieht niemand, dass ich heule.

3

„Uff, Marly, hast du deine Steinesammlung mitgenommen?!“, keuche ich mit einer riesigen Umzugskiste beladen in Richtung Marly.

„Welche Steine?“

„Das war ein Witz. Hast du komplett deinen Humor verloren, als du über diese Türschwelle getreten bist?“

Marly ist mehr auf das Abladen ihres eigenen Kartons konzentriert als auf meine schnippische Bemerkung. „Ach Sasha.“

„Wo willst du das hier denn hin haben?“

Sie setzt die Kiste ab und dreht sich langsam zu mir um. Ihre Haare wippen zur Musik ihrer Bewegung in Zeitlupe mit. „Warte…ah, ich glaube, die kommt in die Küche…ja, da steht auch Küche drauf.“ Sie tippt mit dem Zeigefinger auf die von mir weggewandte Seite des Kartons.

„Okidoki.“

Ich pruste etwas Luft aus meinen Lungen und setze mich wieder in Bewegung. Die Küche ist Treffpunkt sämtlicher Umzugshelfer, Marlys Mutter serviert Fischbrötchen und Kartoffelsalat und lockt mit der Aussicht auf eine wohlverdiente Pause die Meute an.

„Warte Sasha, ich nehm dir das ab.“ Fabian wartet nicht auf meine Antwort und stellt den schweren Karton mit überheblicher Leichtigkeit auf den Küchentresen. Wäre ich nicht so froh darüber, die Last aus meinen Händen zu wissen, würde ich jetzt protestieren.

„Super, das sind ja die Gläser. Ich hab die schon überall gesucht.“ Er hat den Karton aufgerissen und pult das erste Glas aus dem zerknüllten Zeitungspapier.

„Sag ich ja, Steine“, murmle ich und drehe mich um, um Marly mit den weiteren Kisten zur Hilfe zu eilen.

„Sasha warte, willst du auch ein Fischbrötchen?“, ruft mir Marlys Mutter hinterher. „Du brauchst eine Stärkung, ich seh dir das doch an Kind, du bist ja schon ganz rot im Gesicht.“

Die fürsorgliche Art von Marlys Mutter ist manchmal schwer zu ertragen, aber ich merke, dass ich tatsächlich eine kleine Stärkung und etwas Ruhe von Kartons und Kisten vertragen könnte. Ich lasse mich auf dem Barhocker nieder, den Fabian mit einem Grinsen im Gesicht für mich bereitgestellt hat und nehme mir eines der Brötchen.

„Bier oder Wasser zu deinem Fischbrötchen?“

„Bier.“

„Bitte die Dame.“ Fabian stellt eines der neu ausgeräumten Gläser neben das Pils.

„Mm, eine Köstlichkeit!“ Ich ziehe meine Mundwinkel zu einem breiten Grinsen zusammen. „Und das Fischbrötchen schmeckt erst!“

„Natürlich, wir haben es extra von Marlys liebstem Fischwagen geholt“, erklärt Marlys Mutter nicht ohne einen gewissen Stolz in der Stimme.

Ich nehme einen Bissen und drehe mich mitsamt dem beweglichen Barhocker zu Fabian. „Eine schöne Wohnung habt ihr gefunden. So groß. War bestimmt nicht einfach, diese Traumvilla mit Blick auf die Weser zu bekommen. Und zu bezahlen.“

„Mit den richtigen Connections geht alles.“ Fabian steht mir gegenüber, er beugt sich ein wenig runter, ich muss meinen Kopf gewaltig in den Nacken legen, um ihm in die Augen schauen zu können. Seine immense Körpergröße wirkt auf einmal bedrohlich auf mich.

„Was heißt das?“

Fabian zieht die Augen zu kleinen Spalten zusammen, sein Mund formt ein selbstverliebtes Grinsen und man erkennt seine Grübchen, die Marly so liebt. „Das heißt, dass ich genug Einfluss habe, um mir meine Wünsche zu erfüllen.“

„Und natürlich meinem Darling.“ Er richtet sich auf und lächelt die etwas schwitzende Marly an, die im Türrahmen erscheint. „Komm her Süße, wir haben noch Stärkung für dich aufbewahrt.“

Ich frage mich, was ich denn hier mache, wenn die Herrschaften sich doch alles leisten können. Ein Umzugsunternehmen hätte die ganze Arbeit in viel weniger Zeit verrichtet.

„Marly wollte unbedingt den Umzug selber organisieren“, säuselt Fabian, als könnte dieser Wundermann auch noch Gedanken lesen, während Marly in seinen ausgestreckten rechten Arm schlüpft und mit beiden Händen seine Hüfte umklammert. „Mit unseren Freunden diesen wichtigen Schritt in unserem Leben teilen.“ Er lächelt und streicht ihr sanft über ihre Haare. Sie schmiegt sich an ihn wie eine Katze. Ich könnte kotzen.

Und doch grinse ich nur. Und habe zahlreiche Antworten auf den Lippen, denen es schwerfällt, nicht aus mir herauszuplatzen. Marly scheint die Anstrengung in meinem Gesicht wahrzunehmen, stellt sich aufrecht hin und schiebt Fabian ein wenig zur Seite.

„Ein Lob auf unsere vielen Umzugshelfer. Dank euch ist das große Haus in Null-Komma-Nichts mit all den wichtigen und unwichtigen Dingen in den schweren Kartons bestückt worden. Und wir können unseren neuen Lebensabschnitt mit euch feiern, ein gemeinsames Zuhause. Mir war es unheimlich wichtig, euch dabei zu haben. Ich schlage vor, wir vertagen das Ausräumen auf einen anderen Tag und feiern jetzt erstmal ordentlich. Auf euch, unsere Freunde!“ Sie hebt ihr Glas und blickt in die Runde. Als ihre Augen auf ihrer Mutter verweilen, fügt sie hastig hinzu: „Und meine liebe Mutter!“

Alle lächeln sie an. Marly hat mit ihrer charmanten Art ihr ganzes Publikum verzaubert. Wir heben in Gleichklang unsere Gläser und prosten dem perfektesten Paar aller Zeiten zu.

„Der Kühlschrank ist voll. Champagner, Cuba, Jägermeister oder das kühle Pils. Was ihr wollt! Bedient euch!“, ruft Fabian und öffnet mit einem überschwänglichen Griff den prall gefüllten Kühlschrank. Na immerhin, denke ich. Dann kann ich mir diese tolle Umzugsparty wenigstens ein bisschen schön saufen. Und das mit Champagner, das kommt auch nicht alle Tage vor.

„Komm ich zeig dir das Haus“, grinst Marly mich an. Ich bin vom Pils zum Champagner umgeschwenkt und so stehen wir beide mit unseren Champagnergläsern in der großzügigen Küche. Wir sind wie eine kleine Insel unter all den hippen und erfolgreichen Freunden von Fabian.

„Gerne“, sage ich und bin froh, nicht weiter Smalltalk führen zu müssen.

„Die untere Ebene hast du ja schon gesehen, lass uns mal nach oben gehen.“

Ich folge ihr wie ein treudoofer Hund. Das obere Stockwerk ist durch eine großzügige Treppe mit dem unteren verbunden.

„Oh, die ist aber steil“, keuche ich nach ein paar Stufen.

„Man gewöhnt sich daran“, lächelt Marly. „Du bist nur nicht im Training!“

„Da magst du ausnahmsweise Recht haben.“

„Ey, ich habe fast immer Recht!“

Das finde ich zwar nicht, aber ich halte meinen Mund. Wie so oft in letzter Zeit, wenn es um Marly geht.

„Wir haben eine tolle Idee, damit diese lange Treppe nicht so einsam wirkt.“ Marly bleibt auf der Hälfte der Treppe stehen und ich bin froh über die Verschnaufpause.

„Oh ja, ein wenig Leben könnte diese Mördertreppe schon vertragen“, witzle ich.

Marly ignoriert meine flapsige Bemerkung und sprudelt weiter. „Und zwar, bald ist ja Weihnachten, und da dachten wir uns, wir machen jedes Jahr zu Weihnachten ein Foto von uns. So richtig professionell. So können wir jedes Jahr sehen, wie wir uns entwickelt haben. Wir haben eine Momentaufnahme von genau dem exakten Tag, immer ein Jahr später. Wenn wir alt und grau sind, lachen wir darüber, wie wir vor 30 Jahren ausgesehen haben!“ Sie lacht auch jetzt.

„Oh ha, 30 Fotos, das wird schon ein wenig eng.“ Ich finde die Idee merkwürdig. Wieso sucht man sich gerade Weihnachten als regelmäßigen Fototermin aus? Weihnachten ist so ein nichtssagendes Fest, wenn man nicht gläubig ist. Und das bin ich nicht. Und Marly auch nicht.

„Ach, die Treppe ist ja lang und die Wand hat eine große Fläche.“ Sie zieht ihre rechte Oberlippe zu einem nachdenklichen Gesichtsausdruck zusammen. „Weißt du, Fabians Eltern haben auch so eine Galerie, und als wir im letzten Jahr dort waren, kamen wir auf das Foto mit drauf. Es war schon echt interessant, wie sie aussahen, als sie noch jung waren. Seine Mutter war so hübsch. Sie ist es immer noch. Und ich bin froh, jetzt auch ein Teil dieser Galerie zu sein.“

Ich erinnere mich an letztes Jahr. Marly hatte mit Fabian seine Eltern in München besucht, und war begeistert über den Familienzusammenhalt.

„Na dann ist es ja so eine Art Familientradition“, murmle ich. „Ich glaube, ich würde einen anderen Tag für solche Fotos nehmen. Einen zufälligen Tag. Einfach irgendeinen, das verwirrt alle Leute und man hat seinen Spaß in die verdutzten Gesichter zu gucken“.

„Typisch Sasha. Hauptsache nicht so wie alle.“

Soll das jetzt ein Kompliment oder Kritik sein? Ich entscheide mich für Ersteres.

„So komm, auf geht’s in unser Schlafzimmer!“

„Oh, so eine Einladung bekomme ich nicht alle Tage!“

Marly öffnet die erste Tür nach der langen Treppe mit einem zufriedenen Grinsen und einer ausladenden Geste. Ich bin beeindruckt. Das Schlafzimmer ist riesig.

„Nebenan ist das Badezimmer.“ Das zweite Badezimmer, selbstverständlich. Damit man sich nicht die langen Treppen herunterbequemen muss, sollte man einmal nachts auf Klo müssen. Auch das Badezimmer ist riesig und modern ausgestattet, in unauffälligen Grau- und Blautönen.

„Das gefällt mir“, sage ich. Ich bin neidisch. So viel Luxus übersteigt mein Budget um einiges.

„Und hier oben gibt es noch ein Wohnzimmer, ein Zimmer für mich und eins für Fabian. Und natürlich den großzügigen Balkon.“

„Was wollt ihr denn mit so vielen Zimmern? Und wer macht das alles sauber?“ Manchmal bin ich doch sehr pragmatisch orientiert.

„Na, wir planen ja nicht, auf Ewigkeit alleine zu bleiben. Und Fabians Putzfrau soll natürlich mit dem Umzug nicht arbeitslos werden!“ Sie strahlt wie eine Atombombe. Ich denke an das Video zu Black Hole Sun.

„Ach, wie praktisch!“ Ich muss zugeben, es scheint perfekt. Auf einmal hat Marly alles. Einen Mann, den sie liebt, auch wenn ich denke, dass er ein Arschloch ist, eine große Wohnung, Luxus, keine Geldsorgen mehr und eine neue Familie. Ist das der Neid, der aus all meinen sarkastischen Bemerkungen herausblitzt? Oder ist diese Skepsis wirklich begründet? Werde ich meine Freundin verlieren, jetzt wo unsere Leben so verschiedene Verläufe annehmen? Oder bietet diese Veränderung eine Chance, meinen Horizont zu erweitern?

Wer weiß, vielleicht werden mir noch die Augen geöffnet, was seine charmanten Seiten angeht. Und Fabian und ich werden beste Freunde.

„Darling, bist du da oben? Deine Mutter will sich verabschieden!“ Fabian steht am Treppenabsatz und reißt mich aus meinen so wohlwollenden Gedanken. Schlechtes Timing.

„Ja, wir kommen.“

Ich stapfe Marly hinterher, zurück in die Küche. Marlys Mutter steht schon fertig gekleidet im Flur. Marly und ihre Mutter umarmen sich, Marly bedankt sich tausendfach und ich überlege, ob ich die Gelegenheit nutze, um mich ebenfalls zu verabschieden.

„So, jetzt gehen wir noch in die Stadt!“ Fabian klatscht in die Hände und erntet reihenweise Zustimmung von seiner Zuhörerschaft.

„Ihr seid alle eingeladen auf ein paar Kaltgetränke!“, strahlt Marly.

Toll, Zeitpunkt verpasst. Ich ärgere mich etwas, doch dann kommt mir mein eben gefasster Entschluss in den Sinn, das traute Paar näher kennenzulernen und vielleicht meine Meinung über ihre Beziehung zu revidieren.

„Bin dabei!“

„Super, Sasha. Wo wollen wir denn hin?“

„Ich schlage mal vor, wir feiern im Soho-Club. Da haben wir einen super Ausblick über die Stadt. Und vielleicht treffen wir auch den ein oder anderen Fußballer.“ Fabian zwinkert mir zu. Als wäre ein Verkupplungsversuch seinerseits mein sehnlichster Wunsch. Wirklich begeistert bin ich allerdings von seinem Vorschlag nicht. Mir wäre ein einfaches Bierchen im Viertel lieber. Die Überseestadt ist nicht mein Revier. Zu viele arrogante Snobs.

„Cool“, höre ich mich sagen. Na toll, super gemacht Sasha.

„Ich freu mich. Dann machen wir uns kurz fertig, und dann geht es los. Kannst du das Taxi für 9 Uhr bestellen, Fabi?“

„Wie, wir brauchen doch keine halbe Stunde, um uns die Haare zu kämmen“, protestiere ich.

„Wir müssen noch ein wenig was an unseren Outfits verändern, so lassen die uns da nicht rein.“

„Wieso, was stimmt denn nicht mit uns?“ Ich gucke an mir runter. Klar, das sind jetzt nicht meine besten Klamotten, aber ganz so schmuddelig sehe ich nicht aus. Pullover, Jeans, Turnschuhe. Ganz normales Outfit.

„Komm, Sasha, wir durchwühlen mal meine Klamotten, du müsstest in meine Kleider passen. Du hast Schuhgröße 39 oder?“

„Ja, immer noch.“

„Wir finden schon was Feines.“ Marly nimmt mich an die Hand und zieht mich in Richtung Treppe. Nicht schon wieder diese ewig endlosen Stufen! Hätten die sich nicht auch noch einen Aufzug einbauen lassen können?

„Ok Jungs, wir treffen uns dann um halb zehn im Soho-Club“, höre ich Fabian rufen, bevor wir in ihrem großzügigen Schlafzimmer verschwinden.

Marly wühlt in einem der Kartons und wirbelt dabei ein paar Kleider auf den Boden, die ich noch nie zuvor bei ihr gesehen habe.

„Ich wusste gar nicht, dass du so viele Kleider besitzt.“

„Einige von denen sind auch brandneu. Guck mal, das hier könnte dir stehen.“ Sie hat ein silbernes Cocktailkleid aus dem Karton gefischt, das elegant wirkt.

„Gib mal her.“ Ich ziehe meine Jeans aus und schlüpfe in die ungewohnte Garderobe. Es passt, ich sehe aus wie eine feine Dame, denke ich, als ich mich in dem angelehnten Spiegel betrachte. Nur die störrischen roten Locken geben meiner Erscheinung einen wilden Touch.

„Perfekt“, quietscht Marly. Ich lächle. Ich wusste gar nicht, was so ein Kleid aus mir machen kann.

„Hier, zieh mal die Schuhe an.“ Marly reicht mir dazu passende silberne elegante Pumps mit einem leichten Absatz. Ich kann einigermaßen mit ihnen laufen und bin froh darüber.

Marly selber ist jetzt ganz in Schwarz gekleidet. Ihr Kleid hat einen tiefen Ausschnitt und ihre Schuhe sind um einiges höher als meine.

„Wow, Marly, bist du hübsch“, entwischt es mir.

„Danke“. Sie ist ein wenig rot im Gesicht geworden. Aber auch dieser Teint steht ihr.

„Seid ihr soweit?“, ruft es von unten.

„Gleich, nur noch kurz schminken.“

„Ich glaube das reicht so, Marly“. Mir ist diese Veränderung schon genug, da muss sich nicht auch noch mein Gesicht anpinseln.

„Keine Angst, ganz dezent.“ Marly schleift mich in das obere Badezimmer. Ihre Schminkutensilien haben schon ihren Platz in dem großen Badezimmerschrank gefunden. Man muss eben Prioritäten setzen.

Meine Überraschung über Marlys Makeup-Künste ist groß. Der Blick in den Spiegel, nachdem sie Hand an mein Gesicht gelegt hat, lässt mich in die Augen einer hübschen, eleganten jungen Frau blicken.

„Oh, ich wusste gar nicht, was so ein bisschen Makeup aus einem Menschen machen kann.“

„Es unterstreicht nur unsere natürliche Schönheit!“, antwortet Marly. Natürlich, na ja, so komme ich mir momentan nicht wirklich vor. Eher verkleidet. Aber ich finde Gefallen an dieser Verkleidung und spüre eine angenehme Vorfreude auf die für mich ungewöhnliche Abendveranstaltung.

„Ok, dann lass uns mal den Abend in Angriff nehmen!“, sage ich.

Wir gehen die Treppe hinunter, ich ein wenig langsamer als sie, da ich mich erst an das Laufen in den ungewohnten Schuhen gewöhnen muss.

Wir lassen uns mit einem Taxi in die Überseestadt karren. In einem Kleid ist Fahrradfahren wahrscheinlich nicht die beste Option. Gerade bei den draußen herrschenden unterkühlten Temperaturen.

Der Soho-Club befindet sich im fünften Stock. Natürlich besitzt das Gebäude einen Fahrstuhl. Als wir ankommen, sind wir Zeugen einer hitzigen Diskussion eines türkisch aussehenden jungen Mannes und den zwei Türstehern, beide bullige Typen, der eine glatzköpfig, der andere mit kurz rasierten Haaren. Klischeetürsteher, denke ich.

„Das hat nichts mit Rassismus zu tun, ich habe dir doch gesagt, wir haben hier Einlassstopp, der Laden platzt aus allen Nähten!“, äußert sich der Glatzköpfige.

„Ich kann hier keinen übervollen Laden erkennen! Ihr hört von meinem Anwalt!“ Der junge Mann ballt seine Hand zu einer Faust und bewegt sich wutentbrannt in Richtung Fahrstuhl. Die Türsteher schauen ihm mit eiserner Miene hinterher.

„Ah, Herr Cordes, schön Sie zu sehen. Und was haben Sie heute für bezaubernde Begleitungen mitgebracht!“ Der rasierte Typ hat uns erspäht und lässt uns eine Exklusivbehandlung zuteil kommen.

Fabian zieht seine Mundwinkel zu einer Art Lachen zusammen. „Ja, heute sind es gleich zwei bezaubernde Ladies.“

Pah, von so einem Kotzbrocken als bezaubernde Lady betitelt zu werden, hebt nicht gerade meine Laune. Was für ein elitäres Gehabe. Ich wünsche mich in meinem Wohlfühloutfit ins Viertel, mit einer Marly, die sich nichts aus Oberklassengehabe macht und mit mir um die Häuser zieht.

Ich scanne die Partymeute nach bekannten Menschen, doch es wundert mich nicht, dass mir keines der zum Teil grotesk geschminkten Gesichter bekannt vorkommt. Der Club ist nicht wirklich überfüllt, entgegen der Behauptung des Türstehers. Das Interieur ist elegant gehalten, das lilafarbene Licht gibt der Atmosphäre etwas Verzaubertes. Aus der Anlage dröhnt billiger Elektropop.

Fabians guter Kumpel Johannes winkt uns herüber. Er sitzt mit einer Gruppe junger Männer und zwei Mädels an der Theke. Ich erkenne drei der weiteren Umzugshelfer, die zwei anderen Typen und die Mädels sind mir unbekannt. Fabian begrüßt sie alle überschwänglich mit einer Umarmung und die Frauen mit einem Bussi links und rechts. Als Johannes mir eine Umarmung anbietet, springe ich über meinen Schatten und lasse ihn gewähren.

„Wow, was für eine Lady! Gut siehst du aus!“

„Danke, du auch.“

Komplimente bekommen und verteilen ist nicht unbedingt mein Metier.

„Was willst du trinken?“

„Champagner“, sage ich scherzhaft. Johannes winkt sofort einen der Barkeeper heran. „Champagner für die Dame, bitte!“

Ich habe vergessen, dass ich mich hier in anderen Kreisen bewege als sonst.

Das Glas wird vor mir auf der Theke platziert und ich bin froh darüber, mich ab und zu mit dem Nibbeln an dem Champagnerglas zu beschäftigen. Ich komme mir vor wie eine unschuldige Schönheit vom Lande, die zum ersten Mal das Nachtleben schnuppert.

„Warst du schon einmal hier?“

„Nee, noch nie.“

„Na dann wird es ja mal Zeit.“

Das bezweifle ich.

„Mir gefällt das Lila.“ Mann, was für ein bescheuerter Satz, der da aus mir herauskriecht.

„Und die Aussicht erst, hast du sie schon genossen?“

Ich schüttle mädchenhaft den Kopf.

„Dann holen wir das noch nach!“

Ich nicke und nehme einen großen Schluck aus dem schmalen Glas.

„Mann, du hast aber nen Zug drauf. Willst du noch einen?“

Wieder nicke ich. Mein Kopf prickelt, wie der Champagner. Ich fange an, zu der blöden Musik mit dem Fuß zu wippen und beobachte gedankenverloren die Menschen um mich herum. Einige flirten, andere bewegen sich elegant zur Musik. Und wiederum andere weniger elegant. Tanzstile können schon merkwürdig aussehen, denke ich.

Als ich erneut mein leeres Glas auf der Theke abstelle, wendet sich Johannes mir wieder zu.

„Komm, wir gucken uns mal das Panorama an.“

„Aber doch nicht völlig auf dem Trockenen!“, beschwere ich mich.

„Nein, natürlich nicht, Nachschub kommt sofort!“ Es dauert keine zwei Minuten, da habe ich ein neues prickelnd gefülltes Glas vor mir stehen. Ich rutsche etwas schwankend von meinem Barhocker.

„Na dann mal los!“

Als wir uns auf die große Fensterscheibe zubewegen, legt er sanft seinen rechten Arm auf meine Schulter. Ich bin schon ziemlich beschwipst, merke ich, ich habe Schwierigkeiten, gerade zu laufen ohne zu stolpern. Mir scheint es, als habe auch der Club sich etwas mehr gefüllt. Als wir uns durch die Ansammlungen von Menschen schlängeln, komme ich mir vor wie in einem Tetris-Spiel. Letztendlich positionieren wir uns vor der Glasscheibe. Die Lichter der Überseestadt leuchten und erobern sich die Nacht zurück. Die Kälte der Außenwelt scheint so weit entfernt, hier in diesem von der Körperhitze der Partymeute erwärmten Raum.

„Es ist wunderschön“, staune ich. „Guck dir all die Lichter an.“ Scheiße, ich bin ganz schön besoffen, da kommt nur duseliges Klein-Mädchen-Gesäusel aus meinem Mund.

„Ja, ich mag diese Aussicht sehr. Aber vor allem die Aussicht, die sich direkt vor mir befindet.“ Johannes grinst breit. Seine Augen lächeln mit. Das gefällt mir. Und ich genieße, angeflirtet zu werden. Das passiert nicht alle Tage.

Ich grinse nur blöd. Bis über beide Ohren. Mir fällt partout kein guter Satz ein, der als Erwiderung dienen könnte.

„Ich hätte noch gerne so ein Getränk in mein Glas.“ Ich strecke ihm mein leeres Champagnerglas entgegen. Er nimmt es, ohne sein Lächeln zu unterbrechen.

„Kommt sofort, die Dame.“

Ich sehe ihn geschmeidig seinen Weg zu der Theke bahnen. Ich lächle in mich hinein. Ich fühle mich wie die Königin der Nacht. Nichts kann mir etwas anhaben, ich befinde mich auf einer Wolke, auf der die Welt dort unten nicht herankommt, selbst wenn sie es versuchen sollte.