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»Meys Lieder sind Feier des Gelungenen wie Einspruch gegen das Schlechte. Wovon handeln sie? Von der Liebe zwischen Asphalt und Wolken. Von den Widrigkeiten des Alltags. Vom ganzen Leben.« »Ich wollte wie Orpheus singen« – selten hat jemand mit dem ersten Lied seine Karriere und sein öffentliches Bild so genau vorweggenommen. Alles ist schon da: der Bänkelsänger, der sogar die Felsen zum Weinen bringen will; die Lieder aus Wein und Rauch, die von der Liebe ebenso handeln wie vom »Pfandleihhaus« und dem manchmal nicht zu verscheuchenden Gefühl der eigenen »Mittelmäßigkeit«. Meys insgesamt 28 Studioalben sind mehr als nur eine Autobiographie in Liedern. Immer erzählen sie auch, wie es sich in Deutschland so leben ließ in den letzten fast sechs Jahrzehnten. Auf 100 Seiten blickt Oliver Kobold auf die wichtigsten Stationen von Meys langer Karriere und zeigt, was seine Lieder, ihre Sprache und Wirkung so unverwechselbar und einzigartig macht.
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Seitenzahl: 121
Oliver Kobold
Reclam
Für mehr Informationen zur 100-Seiten-Reihe:
www.reclam.de/100Seiten
Für Hilde Kobold – in Erinnerung an die vielen Nachmittage des gemeinsamen Hörens dieser Lieder
3., durchgesehene und aktualisierte Auflage
2022, 2024 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH nach einem Konzept von zero-media.net
Infografik: annodare GmbH, Agentur für Marketing
Bildnachweis: siehe Anhang; Autorenfoto: © © Anne-Kathrin Schuster
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2023
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-962086-2
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-20676-8
www.reclam.de
»Die Mauern meiner Zeit« – Prolog
»Rechnet nicht mit mir beim Fahnenschwenken« – Anfänge auf der Burg Waldeck
»Douce France« – Erfolge in Frankreich
»Gib mir Musik!« – Die Platten
»Ich hab unzählʼge Seiten vollgeschrieben« – Die Texte
»Da bin ich wieder« – Die Konzerte
»Leb wohl, adieu, gute Nacht« – Epilog
Lektüretipps
Bildnachweis
Zum Autor
Über dieses Buch
Leseprobe aus Bruce Springsteen. 100 Seiten
Ein Westernklavier, ein Banjo, und jemand ruft: »Nun fang schon an, Bill, und sing uns was!« Und Bill, der mit seiner Melone und seiner Fliege ganz und gar nicht wie ein Cowboy aussieht, hebt die Stimme und lässt sich nicht beirren vom Lärm der Karten spielenden und Bier trinkenden Männer im Saloon: »Das Lied, das ich heute singe, das ist / Einem gewidmet, den man nie vergisst. / Sein Name ist Lucky Luke, dieser Held / Jagt alle Schurken auf der ganzen Welt.«
Frühjahr 1978. Wir saßen in einem Kino in der Stuttgarter Innenstadt und sahen uns Lucky Luke – Sein größter Trick an, eine klapprige Nummernrevue von Comicfilm, aber das störte uns nicht. Wir waren sieben Jahre alt und in der zweiten Klasse, wir hatten uns lange auf diesen Nachmittag gefreut. Natürlich wussten wir nicht, dass man Bill, der mit immer neuen Strophen seines Lieds durch den Film führte wie ein aufmerksamer Conférencier, für die deutsche Synchronfassung mit der Stimme von Reinhard Mey bedacht hatte. Reinhard Mey? Der Name hätte uns nichts gesagt.
Erst bei der Arbeit an diesem Buch wurde mir der Kinobesuch aus der Grundschulzeit wieder lebendig. Als erste Begegnung mit der Stimme Reinhard Meys mag er gelten, als wirklicher Beginn einer Beschäftigung mit dessen Liedern freilich nicht. Doch auch der lässt sich bestimmen, einem alten Singlecover mit den Daten der Tournee 1983 sei Dank. Am 27. Oktober 1983 spielte Reinhard Mey in der Stuttgarter Liederhalle, es war das erste Konzert von so vielen, die für mich noch folgen sollten am immer gleichen Ort. In der Erinnerung gleiten die einzelnen Auftritte ineinander, werden zu einer Art Verabredung, sich alle zwei, später alle drei Jahre im Herbst wiederzusehen. Bis heute tourt Reinhard Mey zu keiner anderen Jahreszeit.
Single-Cover mit Tourdaten auf der Rückseite, 1983.
In all der Zeit ist mir kaum je ein frei gebliebener Platz im Saal aufgefallen. Das Publikum hat immer auf Reinhard Mey gewartet. Es ist nicht nur in Stuttgart treu erschienen, ohne dass es dazu erst mühsam animiert werden musste. Eine Ankündigung, ein Plakat, vielleicht noch ein gut ausgewählter Talkshow-Auftritt im Vorfeld, das reichte aus, damit die Hallen voll wurden. Abseits der Tourneen bekam man Mey kaum zu Gesicht, schon gar nicht sah man ihn auf roten Teppichen oder an anderen Orten, wo Blitzlichter und Boulevardpresse lauerten.
Auf der asymmetrisch geschwungenen Tribüne der Liederhalle kam es mir dann stets so vor, als wäre die Zeit seit dem letzten Konzert nur für mich vergangen. Denn bei dem drahtigen, jungenhaft wirkenden Sänger mit dem Ring im linken Ohr schien sich – abgesehen von dem mal längeren, dann wieder raspelkurzen und irgendwann auch grauen Haar – kaum etwas geändert zu haben. Der kam jedes Mal aufs Neue pünktlich um acht im Laufschritt auf die Bühne gestürmt, als wäre ihm das Warten unerträglich geworden. Oder als müsste er den Dämonen des Lampenfiebers entkommen, die ihn schon seit dem frühen Nachmittag in der trostlos kargen Garderobe heimsuchten.
Obwohl es doch auf der Bühne gar nicht so viel anders aussah. Kein Vorhang, keine Projektionen, kaum buntes Licht. Farbe ins Spiel brachte allenfalls ein Blumenstrauß, den jemand aus dem Publikum nach oben reichte, noch eingepackt in Zellophan. Als einmal eine zweite Gitarre im Ständer zu sehen war, fühlte sich das schon seltsam an. Fast atmete man dann auf, als Mey sagte, er habe sie nur mitgebracht, »um nicht ganz so allein zu sein«. Angerührt hat er sie den ganzen Abend nicht. Ein Mann, eine Gitarre, dabei blieb es. Denn auch das gehörte zur Verabredung: keine Showmätzchen, kein Schnickschnack, kein Stargehabe.
Und keine Nostalgie. Alte, dem Publikum vertraute Lieder tauchten nur vereinzelt im Programm auf. Im Mittelpunkt stand, darauf konnte man sich verlassen, immer das Material der gerade aktuellen Studio-LP. Keine Zeit für ein Best-of-Programm. Erzählt werden sollte stattdessen lieber von dem, was sich in den letzten zwei Jahren ereignet hatte, im Hause Mey ebenso wie im Rest des Landes. Der nur unterbrochene, nie abgerissene Dialog mit dem Publikum musste schließlich fortgesetzt werden.
Wohl alle, die Reinhard Mey erst mit Verspätung für sich entdeckt haben, weil sie damals, Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre, als seine Karriere Fahrt aufnahm, schlicht zu jung gewesen waren, werden das Phänomen kennen: Man kann diesen Liedern hinterherleben. Schulzeit, Kriegsdienstverweigerung, Liebe und Trennung; Alltagsirrsinn und Ausbruchsversuche; Gefühle des Alleinseins, aber auch der Rettung; der Trost des Trinkens und die Sehnsucht nach dem Haus am Meer; das Glück, die Liebe eines Kindes zu spüren, und der Schmerz, es viel zu schnell ins Erwachsensein entlassen zu müssen; der Abschied nach einer gemeinsam durchwachten Nacht; das Vergehen der Zeit und das Kostbarwerden der Erinnerung – all diese Erfahrungen und noch eine ganze Menge mehr hörte ich im Lauf der Jahre in den Liedern Reinhard Meys vorformuliert. Zwar konnte ich sie mir im Dunkel des jeweils gelebten Augenblicks noch nicht wirklich vorstellen, aber dann, zu gegebener Zeit, erkannte ich sie doch wieder, denn sie waren zu meinen eigenen geworden. »50! Was, jetzt schon?« Eben.
Funktionieren konnte und kann das nur, weil sich Meys Texte, so persönlich und privat sie einem beim ersten Hören oft auch verkommen mögen, immer umlegen lassen aufs Allgemeine, Existenzielle. Weil in ihnen das ganze Leben enthalten ist, und damit auch meines. Oder deines.
Es war also nicht die schlechteste Idee, Mey zu Bill, dem Saloon-Sänger in der Lucky-Luke-Verfilmung, zu machen. Die archetypische Rolle des Geschichtenerzählers mit Gitarre, der seine Zuhörer unterhält, zum Lachen bringt und oft genug auch zum Weinen – Mey verkörpert sie seit fast sechzig Jahren wie kein anderer in der deutschen Musiklandschaft. Weil sie sich ihrer Zeit nie ausgeliefert haben, haftet Meys Liedern etwas Zeitloses an. Man kann sich Mey als fahrenden Bänkelsänger vorstellen, der auf Marktplätzen des 17. Jahrhunderts seine Zuhörer mit Schauerballaden und Romanzen unterhält, oder auf der Bühne des »Chat Noir« auf dem Montmartre, dem ersten, 1881 eröffneten Pariser Cabaret, einer frühen Heimstatt des französischen Chansons. Auch Bezüge zu den bissigen, den Herrschenden mit spitzer Zunge die Leviten lesenden Kabarettliedern der Weimarer Republik ließen sich leicht herstellen. Weniger jedoch solche – und das unterscheidet Mey von vielen seiner Kollegen – zur amerikanischen Folkmusik, wie sie eingangs der 1960er Jahre ein Revival erlebte. Meys Blick ging eher nach Frankreich als ins New Yorker Greenwich Village, galt eher Georges Brassens als Bob Dylan.
Sich selbst hat Mey einmal in deutlicher Anlehnung an die deutsche Romantik als »Spielmann« bezeichnet. »Ich möcht als Spielmann reisen / Weit in die Welt hinaus, / Und singen meine Weisen, / Und geh’n von Haus zu Haus«, heißt es schon in Joseph von Eichendorffs Gedicht »In einem kühlen Grunde«. Mey verwandelt in seinem Lied von 2013 den Erlösungswunsch eines liebeskranken Jünglings in die Bilanz eines erfüllten Lebens: »Spielmann bin ich geworden, bin ein Stelzenläufer, / Gaukler bin ich, ein Seiltänzer, ein Taugenichts, / Vorsänger, Lautenschläger, bin ein Traumverkäufer, / Spielmann will ich sein bis zum Tag des Jüngsten Gerichts!« Ganz bestimmt wird Mey auch am Tag des Jüngsten Gerichts noch sein Publikum finden. Vorausgesetzt natürlich, der fällt in den Herbst.
Kaum überraschend fehlt im eben zitierten Katalog der Selbstbezeichnungen der »Liedermacher«. Beinahe alle, die es anging, fremdelten mit dem Begriff. Wolf Biermann behauptet seit Langem schon, ihn erfunden und geprägt zu haben in Analogie zu Brechts »Stückeschreiber«. Belegen lässt sich das freilich nicht, aber wer wollte sich schon mit Wolf Biermann anlegen? Dass der »Liedermacher« über die Jahrzehnte ein wenig in Verruf geraten ist, liegt an den Assoziationen, die das Wort bei vielen hervorruft: Moralaposteltum, Humorlosigkeit, Kirchentagatmosphäre. Was natürlich ziemlicher Quatsch ist und, wenn überhaupt, nur für die Randfiguren der Szene je gestimmt hat. Den relevanten unter den Liedermachern kam und kommt man mit solcher Oberflächlichkeit ohnehin nicht nah.
Höchste Zeit für eine Rehabilitierung des Liedermachers also. Und die klappt am besten, indem man den Begriff wieder auf das zurückführt, was Biermann mit ihm einmal zum Ausdruck bringen wollte: die handwerkliche Seite bei der Sache nämlich. »Ein Stück Musik von Hand gemacht«, um den Titel eines der bekanntesten Reinhard-Mey-Lieder zu zitieren. Darum geht es. Um individuelle Fertigung, weitab von jeder Routine. Um Subjektivität, das Einbringen der eigenen Gedanken und Gefühle. Und, vielleicht am wichtigsten: Wer die Texte und Melodien schreibt, singt sie auch selbst und beglaubigt sie bei Auftritten jedes Mal aufs Neue mit seiner Persönlichkeit. Weshalb in Frankreich auch von Auteurs-compositeurs-interprètes gesprochen wird, wenn von einigen der bedeutendsten Chansonniers die Rede ist. Als ich bei der Vorbereitung einer Textauswahl für Reclams Universal-Bibliothek Reinhard Mey nach dem Kompass frage, der ihn in all den Jahrzehnten Kurs halten ließ, hebt seine Antwort auf genau diesen Aspekt ab:
Als ich mein erstes Lied schrieb, wusste ich genau, was ich wollte. Ich wollte schreiben und singen, was mich bewegte, was ich sah, was ich erlebte, meine Chronik mit meinen Worten und meinen Melodien. Ich wollte Lieder machen, die Einheit von Text und Musik. Und zu dieser Einheit gehörte für mich unabdingbar auch die Einheit von Werk und Urheber. Der Wille, für jedes Wort, jede Zeile einstehen zu können. Wenn du mit deinem Werk eins bist und du es mit bestem Wissen und Gewissen und reinen Herzens geschrieben hast, dann kannst du das Lob getrost annehmen und den Verriss mit einem Lächeln wegstecken, du hast dein Bestes gegeben, das mag nicht jedem gefallen, aber du bist mit dir im Reinen. Ich habe zudem einen großen Freiheitsdrang, und ich wollte auch vom ersten Lied an frei sein in dem, was und wie ich singe. Ich wollte frei sein vom Zeitgeist, von ideologischen Vorgaben. Ich wollte kein Image aufbauen, ich wollte sein, wie ich bin – frei. Mit diesem Kompass im Rucksack gehst du deinen Weg, da lässt dich kein Triumph überschnappen, und da schreckt dich kein finsteres Tal.
Nicht vom »finsteren Tal« aus Psalm 23, aber doch von »außergewöhnlichen, ja, schweren Zeiten« spricht Mey zu Beginn der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020: »Wir sitzen diesmal alle in einem seeuntüchtigen Boot. Es gibt keine Flucht, nirgendwohin und für niemand.« Wie viele Musiker meldet sich auch Mey in den Monaten der wiederkehrenden Lockdowns mit sogenannten Wohnzimmerkonzerten aus der häuslichen Isolation. Und wie viele Musiker muss auch Mey miterleben, dass seine beruflichen Pläne vom Virus durchkreuzt werden. Zwischen dem ersten und dem letzten der während der Pandemie ins Netz gestellten Videos liegen über eineinhalb Jahre. In dieser Zeit veröffentlicht Mey sein Studioalbum Das Haus an der Ampel, das im Frühsommer 2020 den zweiten Platz in den Charts erreicht, kündigt voller Hoffnung die dazugehörige Tour für den Herbst 2021 an und muss sie schließlich doch absagen und um ein Jahr verschieben.
Beim Betrachten der Videos erinnert man sich wieder – denn man hat es tatsächlich schon beinahe vergessen oder erfolgreich verdrängt –, wie es sich angefühlt hat, einer neuen Bedrohung schutzlos ausgeliefert zu sein. Aber auch, dass für einen winzigen Augenblick gesellschaftlicher Zusammenhalt möglich schien, über alle ideologischen und sonstigen Gräben hinweg. Davon handeln die Lieder, die Mey für diese Wohnzimmerkonzerte ausgesucht hat. Ausgespart hat er aus nachvollziehbaren Gründen satirische Stücke wie »Ich bin Klempner von Beruf«, »Ankomme Freitag, den 13.«, »Ein Antrag auf Erteilung eines Antragformulars« und noch viele mehr – rasend schnell und mit lustvoll hochgezogener Augenbraue vorgetragene Silbengewitter voller Situationskomik.
Doch sonst ist alles da. Meys Lockdown-Auswahl umfasst Stücke aus achtunddreißig Jahren, aber wenn man es nicht weiß, merkt man es nicht, denn sie gehören alle zu ein und derselben Geschichte, für deren Inhalt man, ob man das nun will oder nicht, um die ganz großen Begriffe nicht herumkommt: Liebe. Trauer. Furcht. Abschied. Tod. Zuversicht. Daseinsfreude. Menschlichkeit.
»Tief aus meiner Ohnmacht und aus meiner Traurigkeit / Sprühe ich das Wort ›Hoffnung‹ auf die Mauern meiner Zeit«, singt Mey in seinem Arbeitszimmer unter dem Dach, ein Laptop vor sich und ein Mikrofon, auf dem Schreibtisch sieht man einmal ein Exemplar von Albert Camus’ Roman Die Pest. Meys Stimme hat sich mit den Jahren verändert, ist tiefer geworden, rauer, man würde sie dennoch zwischen allen anderen jederzeit heraushören. Unverkennbar bleiben die perfekte Artikulation und der sanfte Erzählton, der dafür Sorge trägt, dass sich alle mitgenommen fühlen. Andere Videos sind im Garten aufgenommen, mit den Jahreszeiten wechselt das Licht, und die Kleidung wird fester. In den Ästen hängen Lampions, sie wirken wie Überbleibsel von einem Fest, das die letzten Gäste gerade erst verlassen haben. Dazu passend singt Mey »So viele Sommer« und »Was will ich mehr«, beides Lieder aus neuester Zeit, die wie ein »wehmütiges Tasten am Jenseitsrand« wirken, um eine glückliche Formulierung Manfred Maurenbrechers zu gebrauchen: »Wie viele Sommer mag es noch geben?«
Vielleicht hatte Mey diese und die anderen Stücke für die geplanten und am Ende verschobenen Konzerte vorgesehen. Dass die Auswahl als Pfad durch das bis dahin achtundzwanzig Studio-LPs umfassende Gesamtwerk so gut funktioniert, liegt nicht zuletzt an ihrer thematischen Geschlossenheit. Es geht um Vergänglichkeit, das Knappwerden der Zeit und das Akzeptieren des Unvermeidlichen. »Nein, hadern dürfen wir nicht, / Doch wir dürfen weinen«, so endet »Lass nun ruhig los das Ruder«, das ergreifende Schlaf- und Abschiedslied für Maximilian, Reinhard und Hella Meys Sohn, der 2014 nach fünfjährigem Wachkoma verstorben ist.
In »Der Bär, der ein Bär bleiben wollte«, mit elf Minuten Meys bis heute längstes Stück, bleibt dem von den kapitalistischen Verhältnissen zugerichteten Individuum nur noch das Warten aufs erlösende Erfrieren im Schnee. Mey hat die ins Gewand einer Fabel gekleidete Kritik an einer viel zu oft heillosen Welt Mitte der 1970er Jahre in einem Kinderbuch gefunden.