Reinkarnation vs. Tod - Micky Molken - E-Book

Reinkarnation vs. Tod E-Book

Micky Molken

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Beschreibung

Es beginnt wie ein Märchen, doch lassen sie sich nicht täuschen. Es ist ein packender Psychothriller, der an die Haarwurzeln geht. "Reinkarnation vs. Tod" verspricht ausgereifte Charaktere, fesselnde Hochspannung, prickelnde Vollerotik und vieles mehr. Sie werden dieses Buch nie vergessen. Sieh in die Augen eines Pferdes, sie sind der Spiegel deiner Seele - aber erschrick nicht vor der Wahrheit. Trau dich wenn du kannst. Mit diesen Worten, möchte Micky Molken dir seinen Psychothriller "Reinkarnation vs. Tod" vorstellen. Ein Psychothriller mit einem Hauch von Mystery, deren Protagonist Tom Ewald unter einem wiederkehrenden, skurrilen Albtraum leidet. Er lernt die Reinkarnationstherapeutin Maria Neumann kennen, die ihrer Meinung nach die Ursache für seinen Alptraum zu deuten vermag: Seelenwanderung. Nach anfänglicher Skepsis wagt Tom das Experiment. Er unterzieht sich einer Rückführung. Es ist die Reise in seine Vergangenheit, eine Zeit vor seiner Geburt. Tom und Maria folgen den Spuren seiner Recherchen, auf der Suche nach Antworten. Dabei stoßen sie auf ein finsteres Geheimnis, das die Menschheit seit über 150 Jahren beschäftigt. Anfänglich ein tolles Abenteuer. Aber sie hätten es nie tun dürfen.

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Beliebtheit




Vitas der Protagonisten

Protagonist

Name:

Tom Ewald

Beruf:

Kriminalbeamter „a.D.“

Nationalität:

deutsch

Alter:

63 Jahre

Gewicht:

85 kg

Größe:

1,81 Meter

Augenfarbe:

blau

Haarfarbe:

grau-meliert

Vertraute

Name:

Maria Neumann

Beruf:

Rückführungstherapeutin

Nationalität:

deutsch

Alter:

40 Jahre

Gewicht:

61kg

Größe:

1,69 Meter

Augenfarbe:

braun

Haarfarbe:

dunkel

Antagonist

?

Die Hummel hat

0,7cm2Flügelfläche und wiegt 1,2 Gramm-

Nach den Gesetzen der Aerodynamik ist es unmöglich, bei diesem Verhältnis zu fliegen.

Die Hummel weiß das nicht und fliegt einfach!

„Sei du die Hummel, und schreib dein Buch“!

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Abspann

Prolog

Es war einmal…

Vor 156 Jahren gab es ein kleines verschlafenes Städtchen, umgeben von saftig, grünen Wäldern und herrlich duftenden Wiesen.

Die ersten Sonnenstrahlen durchbrachen die riesigen Baumkronen. Sie küssten sanft den weichen mit Moos bedeckten, vom Nebel umhüllten Waldboden, der tief durchatmend aus seinem Traum erwachte. Eine Eule schüttelte müde ihr Federkleid, ein Luchs schlich gut getarnt durchs Dickicht des Waldes und ein Specht zimmerte seine Höhle in einen abgestorbenen Baum. Es war ein Wald, in dem Totholz noch eine wichtige Rolle im gesunden Ökosystem spielte und Bäume sowie Pilze eine innige Symbiose pflegten. Dort im Städtchen, in dem die Welt noch in Ordnung war, lebten fünf beste Freunde. Fünf Freunde, die gemeinsam schworen, dass nichts und niemand sie jemals trennen könnte und sie immer zusammenhalten würden, egal, was auch passierte.

»Achtung, Arschbombe.«

Eine fette Puddingwalze ließ sich aus schwindelerregender Höhe von einem toten, ca. 10 Zentimeter übers Wasser ragendem dicken Ast mit angewinkelten Beinen und einem zur Faust geballten Gesicht in die endlose Tiefe fallen. Mit voller Wucht und maximaler Beschleunigung stieg eine riesige Wasserfontäne empor, die sich kurz darauf zu einer braunen, schlammigen Brühe entwickelte.

Darin tauchte, wie ein nach Luft ringender gestrandeter Wal, unsere kleine Puddingwalze auf. Mit hektischen Handbewegungen versuchte sie sich von ihren nassen, ins Gesicht hängenden, schulterlangen, braunen Haaren zu befreien.

»Habt ihr das gesehen, ihr Schisser?«

Alle ihre Freunde sollten sehen, wie mutig und willensstark Ilse, die Puddingwalze, war.

Wie ein Hund paddelte sie begleitet von Reizhusten, dessen Auslöser das inhalierte schlammige Wasser war, ans gefahrlose Ufer. Völlig außer Atem kam sofort eine klare Kampfansage.

»Das mach‘ mir erst mal einer nach«, keuchte sie und krallte sich mit ihren dicken Bockwurstfingern an den hohen Grasbüscheln amGefälle fest.

»Du bist die Mutigste von allen«, jubelte stolz ein großgewachsener, rothaariger Junge, der mit ausgestreckten Armen und Fäusten am Rande des Ufers stand.

»Wer ist die fette Mugel?«, fragten zwei kleine Mädchen mit leuchtend roten Blusen, die geradewegs den Badesee passierten. Ihr Interesse galt offenbar der kleinen Puddingwalze, die gerade eben noch im freien Fall einen Todessprung gewagt hatte, als die beiden sich näherten. Ihre Bewunderung für den mutigen Sprung ins Wasser hielt sich aber in Grenzen.

»Was denn, ihr kennt Ilse nicht? Ihr seid wohl nicht von hier, was?«, meinte der großgewachsene, rothaarige Junge. Beide Mädchen schüttelten ihre blonden, lockigen Köpfe.

»Das ist doch die berühmte Ilse Großmaul«, knirschte er mit einer hochgezogenen Augenbraue.

»Sie ist meine beste Freundin«, ergänzte er lächelnd. Sein gutgläubiges Gemüt wechselte wie das Wetter in den Apriltagen, mal war es sonnig, mal regnerisch. Dies geschah meistens, wenn Ilse in seiner Nähe war.

Ilse Großmaul. Sie hatte diesen verrücken Namen, aber er passte zu ihr, wie die Faust aufs Auge. Denn wo sie hinschlug, wuchs kein Gras mehr. Mit ihren elf Jahren und einem Gewicht von einem Zentner, es konnten aber auch gut und gerne zwei Zentner sein, wagte es niemand ihr zu widersprechen. Was Ilse sagte, war Gesetz. Jedoch die Frage nach ihremGewicht mochte sie gar nicht hören.

Ilse war die Anführerin von fünf Helden. Sie war so stark wie zehntausend Ochsen. Aber auch genauso dickhäutig und starrköpfig. Sie lebte zusammen mit fünf Geschwistern, die teilweise älter waren als sie, in einem für die damalige Zeit recht großen Haus. Ihre Geschwister waren nur halb so dick wie Ilse. Deshalb musste sie sich oft Gelächter und Spott von ihnen anhören. Die „leichte Fülle“ ihres Körpers rührte wohl daher, dass ihre Eltern eine Metzgerei betrieben und ihre drei Brüder und zwei Schwestern einfach zu faul zum Fressen waren. Das hatte Ilse einmal scherzhaft erwähnt. Sie hatte immer Hunger und wurde deshalb fortwährend von ihren zwei älteren Brüdern gehänselt.

Im heimischen Metzgereibetrieb gab es leckere Wurst, Schinken und saftiges Fleisch, was Ilse auch manchmal auf den Märkten verkaufen musste. Sie hasste es. Arbeit war gegen ihre Natur. Noch schlimmer war es, freundlich zu sein, denn auch Freundlichkeit hatte Ilse noch nie - groß - geschrieben. Sie war eher launisch, bestimmend und oft auch nachtragend, wenn es nicht nach ihrem Kopf ging.

»Wie ist dein Name, Feuerlocke?«, fragten die beiden blonden Mädchen den rothaarigen Burschen, der jetzt wie eine Trauerweide mit gekrümmtem Rücken und lang herunterhängenden Armen am Ufer stand.

»Was heißt hier Feuerlocke, ihr seid wohl verrückt was?«, schimpfte Jan, der sich gerade mit dem Handrücken die feuchte Nase abwischte. Das glänzende, dem Schneckenschleim ähnelnde Sekret, schmierte er unbewusst an seine kurze blaue Hose. Diese sah ohnehin schon sehr merkwürdig aus, gespickt mit allerlei fraglichen Ausdünstungen und Schmutz. »Mein Name ist Jan. So und jetzt verzieht euch, ihr Knirpse, bevor Ilse wütend wird und euch eure kleinen weißen Milchzähne herausprügelt.«

»Haha, uns die Milchzähne rausprügeln. Ein Angsthase ist deine fette Mugel. Der Ast, von dem sie gesprungen ist, ist gerade mal einen Meter hoch. Das kann jedes Baby, du Schmierlappen.«

Leicht genervt trotteten sie in ihren schwarzen Röckchen aus feinem Stoff davon.

»Was heißt hier eigentlich Mugel?«, rief Jan hinterher. Er hatte dieses Wort noch nie gehört. Vermutlich war es ein Schimpfwort.

»Weil die tollkühne, mutige Ilse so fett ist. Halt ein Mugel, halb Mensch, halb Kugel«, riefen die Mädchen scherzhaft zurück. Sie kicherten, nahmen dann aber sprichwörtlich die Beine in die Hand und liefen davon, bevor es Ärger geben würde.

Er winkte mit einer kurzen Handbewegung die Beleidigung der Mädchen hinweg. Er hatte nur Augen für seine Ilse und war auf einmal wie ausgewechselt. Alles andere als wütend. Nein, im Gegenteil. Seine ganze Aufmerksamkeit galt nur Ilse. Jan war über beide Ohren in sie verknallt.

»Ilse, mal ganz ehrlich, das war ganz große Klasse«, schleimte er umher. Damit meinte er ihren tollkühnen Sprung. Ilse war in seinen Augen die mutigste Person, die er kannte und strahlte bis über beide Ohren. Sie fluchte. Ilse versuchte das rutschige, mit Gras und Moos bewachsene Ufer hinaufzuklettern. Zu ihrem Leidwesen fiel sie, aufgrund ihres massigen Körpers, immer wieder ins Wasser zurück. Sie schnaufte.

»Verdammte Scheiße! Jungs, kommt sofort hierher und helft mir raus. Seht ihr nicht, dass die Böschung immer rutschiger wird?«

Die Wahrheit wollte sie nicht wahrhaben. Ilse war am Ende ihrer Kräfte. Aus eigener Kraft hätte sie es nicht mehr aus dem Wasser geschafft. Aber das würde sie nie zugeben. Also war die rutschige Böschung schuld. Mit vereinten Kräften zerrten Jan und die Zwillinge, die abseits des Geschehens beobachteten, Ilse aus dem Wasser. Wie eine riesige Feuerwalze rollte Ilse mit ihrer Fülle nahezu alles nieder, was ihr in den Weg kam. Ihr dicker Bauch schwabbelte hin und her. Endlich hatte sie wieder festen Boden unter den Füßen. »Was waren das für zwei Gestalten?«, fragte Ilse Jan.

Sie meinte die beiden Mädchen, die schnell die Kurve gekratzt hatten.

»Nur zwei Hungerhaken, kaum der Rede wert«, erwiderte Jan und feuerte mit Schwung einen kleinen Kieselstein ins Wasser. Ilse war froh darüber, endlich trockenen Fußes zu sein, und übernahm ab sofort wieder das Kommando. Nun war es Zeit für einenWettkampf.

»Jetzt bist du an der Reihe, Jan. Zeig mal, was du kannst«, befahl sie, die plötzlich einen Niesanfall bekam.

»Gesundheit!«, wünschte Jan.

Ohne sich zu bedanken, befreite Ilse ihre Nasennebenhöhlen, indem sie einfach in den Sand rotzte.

»Was ist nun, Jan?«

Jan kam plötzlich in Erklärungsnot. Alles wurde still. Er merkte, wie staubtrocken sein Hals wurde. Er schluckte, wischte seine Nase ab und holte tief Luft.

»Ich kann heute nicht, ich… Meine Eltern haben es verboten, weil…«

»Weil du ein Schisser bist, ein Hosenschisser«, meinten die Zwillinge Franz und Herbert, die im Gras in der Nähe des Ufers auf dem Rücken lagen. Die beiden waren immer noch völlig erschöpft, atemlos, von Ilses Rettung.

»Verdammt Ilse, ich glaube, du hast doch nicht abgenommen«, hechelte einer der beiden.

»Fresse halten, ihr Hungerhaken«, schniefte sie.

»Der Lange will uns was sagen.«

Jan überlegte verbissen. Er brauchte jetzt eine äußerst gute Ausrede, um nicht springen zu müssen. Angst war in seinen Augen zu erkennen. Er machte sich ernsthaft Sorgen. Was wäre, wenn er besinnungslos werden würde und jämmerlich ertrinken müsste? Jan kratzte sich am Hals, der langsam hektische rote Flecken bekam.

»Weil ich krank bin, ja genau, krank. Ich habe nämlich…«

»Die Hosen voll«, ärgerten ihn die Zwillinge erneut, die jetzt im Schneidersitz am Ufer saßen, um Jans Sprung aus nächster Nähe beobachten zu können.

Mit seinen zwölf Jahren war Jan der Älteste, aber leider nicht der Hellste. Er hatte lockiges rotes Haar, Sommersprossen im Gesicht, eine runde Brille auf der Nase und er war ein richtiger Hosenschisser. Er hatte vor jedem und allem Angst. Nur, wenn Ilse ihm zur Seite stand, war es ein wenig anders. Dann war er mutig. Er wusste ganz genau, dass es nie Schwierigkeiten geben würde, wenn Ilse in seiner Nähe war. Sie löste fast jeden Konflikt mit der flachen Hand. Es klatschte gewaltig, wenn sie mit ihrer Fülle zum Schlag ausholte, zum Nachteil ihrer Opfer.

»Angst, dass ich nicht lache.«

Verdammt nochmal, die Zwillinge hatten ja Recht. Jan hatte Angst, große Angst. Er brauchte sofort eine einleuchtende Erklärung.

»Ich habe eine todkranke Entzündung. In meiner Muskulatur. Daran kann man sogar sterben«, dramatisierte er seine Aussage. Jan schaute Ilse mit weit aufgerissenen Augen an. Mit breiter Brust blickte er selbstsicher und die Botschaft war eindeutig. Ich bin zwar schwer krank, aber ich habe keine Angst vor dem Tod.

»Eine Muskelentzündung, willst du mich verarschen? Schau dich bitte mal an. Du hast keine Muskeln, du Bohnenstange«, lachte Ilse ihn aus. Auch die anderen verspotteten ihn. Jan hatte die Figur einer Hundehütte, dünne Bretter, schmales Dach und in jeder Ecke einen Knochen. Seine Augen wanderten zu seinen Füßen. Verzweifelt stocherte er mit seinen Zehen in einem staubigen Maulwurfshaufen. Es war wie verhext. So sehr er auch hin und her überlegte, es fiel ihm so schnell keine passende

Ausrede ein, bis er durch Zufall eine nicht weit entfernt grasende Kuhherde erblickte.

»Mein Schließmuskel hat sich entzündet und…, schließt nicht mehr richtig. Ja!«

»Wie, schließt nicht mehr?«, fragte Ilse erstaunt. Noch nie hatte sie von einer derart gefährlichen Krankheit gehört.

»Das ist wie bei einer Kuh.« Jan fuchtelte aufgeregt mit den Händen und Füßen umher. »Ihr Poloch ist ja ganz schwabbelig und wenn die Kuh kackt, fällt alles als Fladen heraus. Richtig?«

Alle nickten und stimmten zu.

»Gut. Anschließend schließt sich ihr After nicht, weil sie keinen Schließmuskel hat, logisch. Und wenn dann eine Kuh ins tiefe Wasser geht, läuft das ganze Wasser in ihren Po und die Arme muss jämmerlich ertrinken.«

Ohne Luft zu holen, versuchte Jan dies zu erklären. Zu seinem Erstaunen sah er in nachdenkliche Gesichter.

Erleichtert füllte er seine Lungenflügel.

Er holte tief Luft und stieß sie mit einem breiten Lächeln wieder aus.

»Stimmt das auch, Jan?«, fragte Ilse entsetzt, aber doch leichtgläubig.

»Ja Ilse, kannst mir glauben, stimmt aufs Wort. Frag‘ meinen Vater, wenn du mir nicht glaubst. «

Jan wusste ganz genau, dass Ilse es nicht wagen würde, seinen Vater anzusprechen. Sie hatte einen Heidenrespekt vor ihm.

Sein Vater war ein Riese. Seine Arme waren so dick wie Ilses Oberschenkel. Außerdem hatte er Pranken wie ein Bär und auch sein Körper war nicht weniger behaart als der eines mächtigen Braunbären. Nur seine Unterarme waren frei von sämtlichem Haarwuchs. Hier waren die Haare abgesengt, abgesengt von den Flammen seiner täglichen Arbeit. Er war der Hufschmied des Dorfes. Eigentlich hatte er Jan den Kontakt mit Ilse verboten. Sie sei kein guter Umgang für ihn, meinte er.

»Jan spinnt doch, er will uns alle für dumm verkaufen«, schimpften die Zwillinge.

»Schnauze Zwillinge, wenn Jan sagt, dass er krank ist, dann ist es auch so. Zwillinge los, ihr seid an der Reihe, zack, zack.«, kam es im forschen Befehlston von Ilse.

Jeden Tag mussten unsere Helden eine Mutprobe überstehen, die sich meistens die Zwillinge ausdachten. Sie besaßen immer die allerbesten Ideen. Die Zwillinge Franz und Herbert ließen sich nicht lange bitten. Sie kletterten bis in die Spitze des Baumes, bis in fünf Meter Höhe!

»Halt, ihr Quatschkartoffeln! Kommt sofort da runter! Ihr sollt von hier unten springen, los jetzt!«

Ilse stampfte wutentbrannt mit ihren Füßen. Ehe sie die letzten Worte herauskrakeelt hatte, plumpsten die Zwillinge auch schon ins Wasser. Mit einem erstklassigen Kopfsprung tauchten Franz und Herbert in den See ab.

Herbert und Franz waren zwei richtige Schmutzfinken. Als Zwillingspaar von weiteren neun Geschwistern trugen sie immer die gebrauchten Sachen der Älteren auf. In ihren Unterhosen, von Ilse auch liebevoll Furzfähnchen genannt, hatten sie immer einen kleinen Schurz, halb Schiss, halb Furz. Beide hatten ebenfalls einen Augenfehler. Durch das Schielen waren sie ziemlich tollpatschig. Der erstbeste Ast oder Strauch, den sie sahen, gehörte ihnen. Prompt blieben sie daran hängen und fielen auf ihre vier Buchstaben. Sie waren zwei richtige Lausbuben, unter deren Läuseplage alle zu leiden hatten. Das tägliche Durchkämmen ihrer Haare mit einem Läuserechen war unumgänglich. Ansonsten waren beide mutig, abenteuerlustig, ausgezeichnete Schwimmer und immer für eine Überraschung gut.

Ilse war außer sich vor Wut. Kaum stiegen die Zwillinge nach ihrem Tauchgang wieder auf, schrie sie los. Ihr bitterböser Blick verhieß nichts Gutes.

»Kommt sofort aus dem Wasser raus, ihr Hosenkacker!«

Die beiden dachten nicht im Traum daran, jetzt, da Ilse so in Rage war, aus dem Wasser zu steigen. Nein, das war wirklich keine gute Idee. Wenn sie so gereizt war, gab es oft einen Satz heiße Ohren. Darauf konnten die Zwillinge jedoch gut verzichten.

»Ihr habt ja wohl einen an der Pfanne. Wenn euch was passiert wäre, ihr hättet euch was brechen oder sogar tot sein können. Ich habe eurer Mutter versprochen auf euch aufzupassen. Ihr habt den ganzen Tag nur Blödsinn im Kopf. Oh, ich platze gleich vor Wut, ich schreie.«

Und das tat sie auch. Nicht weil sie sich Sorgen um die beiden machte, okay, vielleicht ein wenig, sondern weil die Zwillinge Ilse bloßgestellt hatten. Wie konnten die beiden es wagen, von einem höheren Ausgangspunkt ins Wasser zu springen als sie, und auch noch mit einem Kopfsprung. Wie steht sie jetzt da? Sie, die nur aus einem Meter Höhe gesprungen war. Ilse wäre schließlich auch gerne von dort oben gesprungen, wäre da nicht diese verfluchte Höhenangst, von der natürlich keiner wissen durfte.

Eigentlich war es nicht die Angst vor der Höhe, sondern nur vor dem Herunterfallen.

»Wieso bist du denn nicht von dort oben gesprungen?«, fragten die Zwillinge.

Na toll, das musste ja kommen, dachte sich Ilse.

Für einen Moment wurde es still. Mit breit gespreizten Beinen und beide Hände seitlich in das Fettgewebe ihrer Hüften gepresst, mahnte sie alle an.

»Ich will euch mal eines sagen. Hört verdammt noch mal genau zu, denn ich sage es nur ein Mal. Wenn ich will, springe ich sogar aus 20 Meter Höhe und mache noch zwei Drehungen, bevor ich kopfüber abtauche. Habt ihr das verstanden?«

»Wirklich Ilse?«, fragte Jan beeindruckt. Sein Lächeln tanzte in seinen Mundwinkeln „Tango“.

»Mensch Ilse, du bist ‘ne Wucht! Du bist die Allergrößte und meine beste Freundin!«

»Ja, ich schwöre es bei meiner Katze«, sagte sie.

»Katze? Aber du hast doch gar keine.« Jan kratzte sich am Hinterkopf.

Die beiden Zwillinge schauten sich an und tippten sich mit ihren Zeigefingern an die Schläfe.

Die spinnt doch, die Dicke.

Ihr Glück war, dass Ilse es nicht sehen konnte. Sie stand mit dem Rücken zu ihnen.

»Nächste Woche soll ich aber eine bekommen. Damit ihr es wisst, so. Noch Fragen?«

»Nein«, antwortete die zarte Stimme eines kleinen Jungen, der im Schatten der alten Eiche saß.

»Und du, Willi, du kleiner Hosenkacker, hältst dich gefälligst vom Wasser fern. Ich habe keine Lust, dich vor dem Ertrinken zu retten.«

Willi war der kleinste der fünf Lausbuben, das Nesthäkchen. Alle nannten ihn liebevoll Husky. Husky deshalb, weil er zwei verschiedene Augenfarben hatte. Er wuchs als Einzelkind in einer gut bürgerlichen Familie auf. Er war stets hilfsbereit und freundlich.

Kapitel 1

156 Jahre später…

Unerwartet, im Sekundentakt klingelte der Wecker und riss Tom Ewald aus dem Schlaf. Da es noch sehr dunkel war, tanzte der schwarze Punkt in seinen Augen zu dem schrillen Signal des Weckers. Die Größe der Pupillen veränderte sich im Takt seines rasenden Herzschlags. Sie versuchten, jede kleinste Lichtquelle aufzunehmen, und verschlangen alles um sich herum, wie ein schwarzes Loch im Universum. Seine grünblaue Iris, die nicht nur ein schöner bunter Kreis war, sondern ein starker Muskel, dessen Farbpigmente bei jedem Menschen so einmalig wie ein Fingerabdruck sind, verschwand fast vollständig. Er schaute verschreckt auf die Uhr. Die grellen, stechend roten digitalen Ziffern verrieten ihm die Uhrzeit.

»Fuck!«

Langsam richtete er sich auf und schaltete mit zitternden Händen den Wecker aus und ließ sich wieder zurück ins knarrende, rustikale Holzbett fallen. Endlich klingelte dieser nervige Wecker nicht mehr. Tom sackte in sich zusammen. Endlich wurde es still. Nur seine Halsschlagader und ein pulsierendes Geräusch im Ohr, die auf einen erhöhten Blutdruck schließen ließen, waren zu spüren. Er atmete tief ein und fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. Anschließend durchkämmte er mit gespreizten Fingern seine durchnässten, graumelierten Haare und verschränkte beide Hände imNacken.

Mit starrem Blick und für einen kleinen Augenblick in Gedanken verloren, blickte er an die weiße Decke. Dort sah er die roten Ziffern der projizierten Uhrzeit. Es war 4:30 Uhr.

Erleichtert darüber die Nacht überlebt zu haben, befreite er sich von der ihn erdrückenden, unangenehm nassen Bettdecke und atmete abermals tief ein. Sein rasender Puls senkte sich allmählich. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen. Sein Schlafanzug, schweißdurchtränkt, klebte am ganzen Körper. Schweißperlen sammelten sich auf seiner Nasenspitze.

Welchen Tag haben wir heute?

Er hatte jegliches Gefühl von Raum und Zeit verloren. Sonntag?

Er hielt kurz inne.

Nein, es war Donnerstag, Donnerstag, der 20. März, 4:35 Uhr. Was für eine nervige Uhrzeit! Da die Sonne noch zu schlafen schien, war es keine biblische Uhrzeit, um aufzustehen.

Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang war christlich, alles andere dazwischen Teufelswerk.

Teufelswerk war es auch, dass er seit ungefähr einem Jahr einen immer wiederkehrenden Albtraum hatte. Es waren kleine Sequenzen von verwirrenden Bildern, die absolut keinen Sinn ergaben. Immer die gleichen grausamen Bilder, die ihm jedes Mal einen kalten Schauer über den Rücken jagten und er schweißgebadet, wie nach einem anstrengenden Workout, aufwachte.

Er hatte in der Vergangenheit oft Träume erlebt, die aus seinen Ängsten hervorgingen. Ängste, die sein Beruf mit sich brachte. Ein Beruf, in dem er oft dem Tod näher war als dem Leben. Allerdings war dieser Traum anders, ganz anders, so unreal und doch so nah. Noch immer hörte er den Nachklang seines Albtraums in seinem Kopf, in seinen Ohren.

• Das waren ohrenbetäubend schreiende Schweine mit weit aufgerissenen Mäulern und gelben Zähnen.

• Eine Kirche, deren Glockengeläut niemals aufzuhören schien.

• Ein Bein mit einem offenen Bruch und einer zertrümmerten

Kniescheibe.

Ein in Schatten gehüllter Mann mit einem Holzbein.

• Ein am Strick hängender, lebloser Körper mit hervorstehenden Augäpfeln.

• Blutüberströmte, aufgeschlitzte, qualvoll verendete Tiere, aus deren Gedärm und Innereien die Körperwärme entweicht, vom Mondschein ausgeleuchtet, und als Nebel in den Nachthimmel aufsteigt.

• Ängstliche Gesichter, blutige Hände.

Es waren genau diese Bilder, die ihm Nacht für Nacht den Schlaf raubten. Doch das Allerschlimmste waren die Emotionen, die er dabei spürte. Es war Angst, Todesangst, Angst zu ersticken, so als würde sein Körper vergessen zu atmen. Er hatte schon mit dem Gedanken gespielt, einen Psychiater aufzusuchen. Was machte das für einen Eindruck? Was sollten die Leute und vor allem die Kollegen von ihm denken? Dass er nicht ganz dicht sei?

Ich brauche frische Luft.

Er stieg langsam aus dem Bett, um das Fenster zu öffnen. Den Schlaf aus den Augen reibend, atmete er tief die klare Morgenluft ein und starrte dabei in den nächtlichen Himmel.

»Kannst du mir sagen, was das soll, Gott? Jedes Mal dieser verfluchte Albtraum.« Normalerweise würde er jetzt, wie fast an jedem Morgen, zehn Kilometer Joggen, um sich fit zu halten. Aber heute nicht. Seine Beine waren butterweich. Er fühlte die Müdigkeit in seinen Knochen, die so schwer war wie ein nasser Mantel und schüttelte den Kopf.

»Hab‘ ich mir gedacht, dass du darauf keine Antwort findest. Du schweigst lieber. Ich weiß, Reden ist Silber und Schweigen ist Gold. Blödes Arschloch«, grummelte er. Seine Gedanken schweiften ab.

Eine Woche vergeht wie im Flug. Was ist schon eine Woche, ein Monat, ein Jahr? Je älter man wird, desto schneller vergeht die Zeit. Tom fühlte sich schlaff und ausgelaugt. Vielleicht ein Anzeichen einer beginnenden Depression? Normalerweise bereitete es ihm keine Probleme, um diese Uhrzeit aufzustehen. Doch der Grund für das Unwohlsein war vermutlich ein anderer. Der morgige Tag sollte seinen letzten Lebensabschnitt einläuten. "Endlich im Ruhestand.“ Deshalb hatte er schon seit Wochen schlechte Laune. Viel zu schnell lief ihm die Zeit davon. Das war in der Kindheit anders. „Mann“ konnte nicht schnell genug volljährig werden, um dann endlich auf eigenen Beinen stehen zu können. Der erste Führerschein, das erste Auto, um Mädchen abzuschleppen. Bloß weg von den nervigen Eltern, die es imNachhinein doch nur gut gemeint hatten.

»Ja, ein knallharter Bursche war ich«, seufzte er, als er ein paar Altersflecken auf seinen Handrücken betrachtete. Am liebsten würde er sie weglasern lassen. Schließlich war er fitter und durchtrainierter als manch ein 30-jähriger.

Jetzt waren es nur noch zwei Arbeitstage, die ihn von seinem Vorruhestand trennten. Wo waren bloß die vielen Jahre geblieben? Jahre, in denen er vielleicht, nein gewiss, nicht immer alles richtig gemacht hatte und manche Entscheidung, die er getroffen hatte, besser nicht hätte treffen sollen. Aber man kann die Zeit nicht zurückdrehen. Oder doch? Was ist schon Zeit oder ein Leben? Wird das Leben in Zeit gemessen oder an den unzähligen Atemzügen? Tom glaubte weder das eine noch das andere. Es sind jene unnützen Momente, sinnlos verschenkte Augenblicke, die uns den Atem rauben. Verlorene Zeit.

Sein Motto in allen Lebenslagen war: Nutze jeden Augenblick sinnvoll, jeden Moment, der das Leben lebenswert macht. Doch was sollte er bloß mit der Zeit nach seinem Dienst tun? Ein Gefühl tiefer, endloser Leere stellte sich ein. Er fühlte sich wie eine alte Dampflokomotive, ausrangiert, auf ein Abstellgleis gestellt. An jener Stelle der beißenden Verwitterung ausgesetzt. Eine alte Dampflokomotive mit leerem Kohlenkasten, ohne Brennstoff, ohne Torf, um den Kessel aufzuheizen, damit sie mit tausend Pferdestärken ihre Arbeit verrichten könnte. All die Jahre war er das beste Pferd im Stall, ein Zugpferd, unermüdlich und gnadenlos. Und jetzt bekam er selbst das letzte Gnadenbrot, zum Sterben auf das Gut Aiderbichl abgeschoben.

Er füllte seine Lungenflügel mit einem weiteren kräftigen Atemzug und seufzte, während er sie wieder leerte. Er entledigte sich seines durchgeschwitzten Schlafanzuges und tapste nackt ins Badezimmer. Es war sehr kühl und so drehte er zuerst das Thermostatventil des Heizkörpers auf, dass er am Abend zuvor runter geregelt hatte, um Energiekosten zu sparen. Nicht, dass er zu geizig wäre oder kein Geld besäße, im Gegenteil. In den vielen Arbeitsjahren hatte er es zu einem ansprechenden Vermögen gebracht. Er wurde von Hause aus so erzogen, mit den Ressourcen der Natur sparsam umzugehen. Bis heute achtete er darauf, aber nicht um jeden Preis.

»Musik.«

Sofort schaltete sich im Haus die sprachgesteuerte Multimediaanlage ein. Dampfendes, heißes Wasser perlte von seinem Rücken herunter. Mit gesenktem Kopf, sich mit den Händen an der Wand abstützend, stand er da, als die Nachricht über ein vermisstes Kind im Radio zu hören war. Jedes Mal, wenn die Medien solch einen Aufruf starteten, packte ihn Unwohlsein, denn er erinnerte sich an alte Zeiten, an ein Ereignis, das ihm oft die Luft zum Atmen nahm. Der Song „Freedom von Anthony Hamilton & Elayna Boynton“ begleitete ihn auf seinemWeg.

Es gab Tage in seinem Leben, an denen er seine Begabung verfluchte, denn sie machte ihn krank.

So war es auch an einem Tag vor fast genau 30 Jahren, als er einen Anruf aus Irland bekam.

Sein Auftraggeber brauchte den besten Profiler für ein Verbrechen, das grausamer nicht hätte sein können…

Kapitel 2

Tom war der Beste für diesen Job, jung, dynamisch, unverbraucht und sehr erfolgreich, dank seines Studiums der Psychologie und seiner großartigen Begabung.

Ein kleines Mädchen einer sehr einflussreichen Familie wurde als vermisst gemeldet. Er nahm den Fall an und nun lag es an ihm, den Täter zu finden. Nein, nicht den Täter. Die Bezeichnung „Bestie“ wäre zutreffender, denn ihre Gedanken und Handlungen waren so grausam, dass sie ihn noch jahrelang verfolgen sollten.

Seine Aufgaben waren klar. Zuallererst musste er ein tiefgründiges Täterprofil erstellen. Dazu musste er versuchen, sich in die Gedankenwelt dieser „Bestie“ hineinzuversetzen. Wie ein guter Schauspieler, sich auf seine Rolle vorbereiten. Diese ihm vollkommen fremde Person leben, mit all ihren Gefühlen, Empfindungen und Ängsten. Er musste denken, atmen, leben wie sie. Es galt herauszufinden, welche Vorlieben und Neigungen die Bestie hatte. Er musste mit all seinen Sinnen ein Teil ihrer selbst sein, selbst zur Bestie werden. Genau das zerrte mächtig an seinen Nerven und raubte ihm den nächtlichen Schlaf. Leider konnte er das Mädchen nicht retten. Er kam zu spät.

Die Leiche des kleinen Mädchens wurde einen Tag nach seiner Ankunft, etwa 20 km von Dublin entfernt, in einem Waldstück von Forstarbeitern aufgefunden. Die Witterung hatte sie frei gelegt. So konnte nur noch ihre Leiche geborgen werden.

Tom konnte sich noch gut daran erinnern, so, als wäre es erst gestern geschehen.

Am Tag, als man die Leiche des Kindes fand, regnete es. Der Himmel weinte bittere Tränen. Es waren angestaute Zähren voller Wehmut, Schmerz und Trauer über das Schicksal des kleinen Mädchens, Tränen, die plötzlich wie ein Monsun niederpeitschen. Manche Tropfen, die der Himmel weinte, waren Tränen der Erleichterung, der Erlösung von schmerzhaften Qualen und tausend Ängsten, die dieses kleine, zerbrechliche Geschöpf über sich ergehen lassen musste, Tränen der Freude darüber, dass man sie endlich nach unendlich langer Suche gefunden hatte. Sogar die Bäume sangen ein Klagelied, ein Lied von unbändiger Traurigkeit, aber auch grenzenlosem Hass und einem Versprechen der Rache. Sie, die mächtigen Bäume, werden die Bestie für seine Taten bestrafen.

Das Lied der Bäume

Im Herzen unserer Seele tief getroffen,

liegt vor uns ein Mädchen kraftlos und leer

behutsam in ihren Arm hält sie Mutter Erde,

doch vor lauter Trauer uns, fällt das Atmen ach so schwer.

Leider können wir nicht viel tun,

so stark und mächtig wir doch sind.

Wir bitten dich, oh Mutter Erde,

gib frei das zerbrechlich kleine Kind.

Nur einer kann uns jetzt noch helfen,

unser Freund, mein Freund der Wind.

Nur er hat die Macht, die Kraft dazu,

um wiegend unser Lied, in die Ferne bringt.

Endlich erhört, unser Bangen und Hoffen,

Retter kommen mit Axt und Schwert.

Wir übergeben euch jenes Kind in gute Hände,

dessen grausames Schicksal ist es uns wert.

Jetzt sind wir bereit, bereit zu sterben,

die Sonne neigt sich dem Abendrot.

Sie noch einmal aufgehen zu sehen, unser letzter Wunsch,

ihr Untergang ist unser Tod.

Doch seid nicht traurig, sind müd‘ und krank,

hatten unser Leben, viele 100 Jahre lang.

Das kleine Mädchen zu kurz auf Erden,

war viel zu jung, um so zu sterben.

Wir Bäume werden nicht eher ruhen,

mit List der Wind ihn zu uns ruft.

In dunkler Nacht werden wir dich rechen,

der Bestie alle Knochen brechen.

Genau in diesem Jahr war er zum ersten Mal Vater geworden. Wahrscheinlich machte ihm gerade deshalb dieses Erlebnis so zu schaffen. Eltern sollten nämlich niemals ihre Kinder zu Grabe tragen, denn das Leben nach so einem schlimmen Schicksal wird nie wieder so sein wie zuvor. Der in ihm entstehende Druck der schnellen Aufklärung dieses Falles und die Erwartung der Eltern des kleinen verstorbenen Mädchens nach Vergeltung ließen ihn Tag und Nacht recherchieren. Endlich stieß er auf eine heiße Spur.

Sie führte ihn offensichtlich zum Tatort, ein Wohnhaus mit einem alten Kellergewölbe.

Als er vorsichtig, mit seiner Dienstwaffe im Anschlag die Kellertreppe betrat, zögerte er zunächst. Nicht weil er Angst hatte, die Bestie hier anzutreffen, nein, es war die Angst vor den Bildern in seinem Kopf. Bilder, die sein Unterbewusstsein ihm zeigte. Er konnte es spüren, es fühlen, es sehen. Hier war der Ort, an dem das kleine Mädchen festgehalten worden war. Die Bestie hatte sie mehrere Tage lang in diesen Gemäuern misshandelt, missbraucht. Schon am Eingang stieg ihm ein widerwärtiger Duft in die Nase. Anfänglich war es noch ein angenehmer süßlicher Geruch, doch dann wurde er abstoßend, eine Mischung aus Shisha-Bar und Zoo. Der süßliche, fruchtige Anteil überwog. Tom hatte ein ungutes Gefühl.

Es war ein düsteres Kellergewölbe, spartanisch, nur durch eine kleine Lichtquelle ausgeleuchtet. In einer verwinkelten Ecke des Gewölbes, vom Eingang nicht einsehbar, befand sich ein möbliertes Kinderzimmer. Mit langsamen, vorsichtigen Schritten bewegte er sich vorwärts. Ihm stockte der Atem bei diesem unwirklichen Anblick. Tränen sammelten sich in seinen Augen und das Atmen fiel ihm sichtlich schwer. Seine Nackenhaare stellten sich auf, denn das, was er jetzt erlebte, ließ ihn erschaudern. Mit jeder Sekunde verschlechterte sich sein Wohlbefinden. Übelkeit stieg in ihm auf, bis in den Rachenraum, so wie damals, als der Kinderarzt ihm mit einem Spatel in die Mundhöhle geschaut hatte und das Rachenzäpfchen berührte. Er war jetzt, genauso wie damals, einem Würgereiz nah. Mit kurzen Schritten betrat er das Zimmer und schaute sich um. Zögerlich senkte er seine Waffe. Das Gewölbe schien verlassen zu sein. Jedoch dieser widerliche Geruch wurde immer intensiver. Der Geruch nach Zoo nahm ebenfalls merklich zu und paarte sich gleichzeitig mit dem von den mit Schimmel befallenen, roten Ziegelsteinen und der feuchtwarmen Luft. Wie ein unsichtbarer Nebel waberte ihm der Gestank entgegen. Angeekelt rümpfte er die Nase.

Auf dem grauen, kalten Steinboden lag ein gelber, gemusterter Baumwollteppich. Rote und blaue Luftballons sowie Teddybärenmotive ließen ihn recht farbenfroh aussehen. An der Decke schaukelte ein blauer Lampenschirm. Darauf waren kleine, weiße, fliegende, nahezu zerbrechlich wirkende Engel zu erkennen. Unter der Lampe, die genau in der Mitte des Raumes hing, lag eine große Matratze, die mit einem Bettlaken bezogen war. Darauf waren Rosenblüten zu sehen, die sich mit Fäkalien und Blut vermischt hatten. Ein Daunenkopfkissen und ein Federbett lagen ebenfalls auf der Matratze.

Es stank widerlich. Tom versuchte sich, mit dem Unterarm die Nase zuzuhalten. Seine anfängliche Übelkeit wich der Wut, die plötzlich seine Sinne lähmte. Sein Blick wanderte durch den Raum. Eine Vielzahl von Modellierballons lag im ganzen Raum verteilt. Es war ein sich wiederholendes Motiv: Hunde in den verschiedensten Farben. Ein kleiner Teller mit Süßigkeiten stand auf einem kleinen, roten Tisch neben einer ebenfalls roten Wickelkommode. In der rechten Ecke des Raumes lagen Spielsachen, Puppen, Autos und Bausteine. Auf der anderen Seite stand ein kleiner, blauer Kindertisch mit einem Stuhl. Auf dem Tisch lagen ein Malblock und diverse Buntstifte. Schnell versuchte er, wieder Herr seiner Sinne zu werden, und fokussierte sich auf seine Atmung.

Bleib ruhig, ermahnte er sich selbst.

Seine Atmung wurde ruhiger, aber sein Puls warnte ihn, wachsam zu sein.

Kapitel 3

Als Tom seine Augen schloss, spürte er jene Lust und Begierde der Bestie. Genauso wie die Schmerzen, Ängste und das Leid des kleinen Mädchens, das hier festgehalten wurde. Er konnte es fühlen, es sehen, es spüren. So wie ein Mitschnitt einer Kamera, die jede einzelne Sequenz festhielt und das alles in „5D“, zum Greifen nah. Ja, das war seine große Begabung, sein Schicksal, seine Last, die er in sich trug, die er aber, verdammt nochmal, nie wollte.

Langsam öffnete er die Augen und er wusste, welches grausame Verbrechen hier stattgefunden hatte. Vier Tage lang, drei- bis viermal täglich missbrauchte das Böse hier das erst fünfjährige kleine Mädchen. Das Mädchen, dessen Name Susanne war.

Erneut schloss er seine mit Tränen benetzten, glasigen Augen. Er sah die letzten Sekunden von Susannes Leben.

Da lag sie, in einer Embryonalstellung, so wie Gott sie einst geschaffen hatte, nackt und kalt, abgemagert bis auf die Knochen, aber mit einem leichten Lächeln der Erleichterung und der Erlösung im Gesicht.

Endlich hatten die brennenden, schmerzhaften Qualen ein Ende. Sie war frei. Eine letzte Träne lag noch in ihren rotgeweinten Augen, als Susanne ihr viel zu kurzes Leben aushauchte und das letzte Wort „Mama“ ihre Lippen verließ. Sie verblutete an den massiven, durch die Vergewaltigungen entstandenen Verletzungen. Innig umschlungen, hielt sie ihre Puppe in den Armen, während die Leichenstarre einsetzte und ihre Seele ihren Körper verließ - in eine bessere Welt. Eine Welt ohne das Böse.

Was musste dieses kleine Geschöpf in ihrem viel zu kurzen Leben schon alles durchmachen? Eine Untersuchung, drei Tage vor Weihnachten, hatte eine schreckliche Diagnose ergeben: Leukämie. Susanne hatte fast ihr gesamtes drittes Lebensjahr in einem Krankenhaus verbracht. Ihre größte Angst war immer die, zu sterben, die Angst vor dem Tod, dem Alleinsein, ohne ihre, sie über alles liebenden Eltern, ohne ihre Mama und ohne ihren Papa zu sein. In einer ganz schlimmen Phase ihrer Krankheit, als Susanne dem Sterben näher war als dem Leben, gaben ihre Eltern ihr ein Versprechen. Sie würden immer bei ihr bleiben, um sie zu beschützen und sie niemals alleine gehen zu lassen. Susannes Eltern konnten sie nicht vor einem Verbrechen schützen. Aber das letztere Versprechen, sie niemals alleine gehen zu lassen, hielten sie ein. Ein Jahr später nahmen sich beide das Leben.

Susanne hatte noch so viele Träume gehabt. Sie wollte noch so viele Dinge in ihrem Leben tun. Ihr größter Wunsch war es, eines Tages selbst Mama zu sein. In den wenigen schmerzfreien Momenten während ihres Krankenhausaufenthaltes spielte sie glücklich mit ihren Puppen. Diese mussten allerhand Untersuchungen über sich ergehen lassen. Schließlich war Susanne Ärztin und die Puppen waren die Patienten, die es zu untersuchen galt, so wie im wirklichen Leben. In diesem dritten Lebensjahr gab es wenige Augenblicke, in denen sie so unbeschwert spielen konnte. Es gab immer wieder Rückschläge, bis endlich ein neues Medikament anschlug und sich eine gesundheitliche Verbesserung einstellte. Das Mädchen konnte nach einem Jahr und vier Monaten als geheilt entlassen werden. Von da an begann für sie noch einmal ein völlig neues Leben, frei von der Angst sterben zu müssen.

Doch dann kam der Tag, an dem die kleine Susanne verschwand und von der Bestie gebrochen wurde. Neben ihren Schmerzen, ihrem Krebs war Susanne immer so tapfer, eine starke Kämpferin. Doch diesen ungleichen Kampf gegen einen pädophilen Psychopathen konnte sie einfach nicht gewinnen. Eigentlich war es ein „Wunder“, dass sie trotz der Wunden und der erlittenen Qualen so lange am Leben geblieben war. Wahrscheinlich war es zum einen die Angst vor dem Sterben und zum anderen die Hoffnung, dass ihre Mama und ihr Papa sie bald aus ihrem schrecklichen Albtraum abholen würden, sie aufwachen und ihre Mama sie ganz, ganz fest in ihren Armen halten würde. Ihre Eltern hatten es versprochen.

Es waren fünf Tage, die Susanne wie eine Ewigkeit vorgekommen sein mussten, an denen sich der Onkel, so nannte sich die Bestie, sich wieder und wieder an ihr vergangen hatte.

Tom hörte ihr verzweifeltes Schreien, das scheinbar immer noch aus den Mauern des Gewölbes drang. Es ging ihm durch Mark und Bein. Susanne kämpfte um ihr Leben. Sie weinte bitterliche Tränen und wurde nicht müde, immer wieder zu fragen, wann sie nach Hause dürfte. Wann die Bestie sie wieder zu ihren Eltern bringen würde. »Schon bald.« Er lachte leise auf. »Bald, wenn du artig bist und das machst, was ich dir sage.« Dann verdrehte er die Augen und warf ihr einen missbilligenden Blick zu. »Schau doch mal, was hast du schon wieder gemacht, böses Mädchen. Ich muss dich erst mal sauber machen, bevor wir Mutti und Vati spielen«, sagte er in einem gespielten Entsetzen.

Susanne konnte weder ihr Wasser noch ihren Stuhlgang in sich halten. Bei jeder Berührung schrie sie auf. Sie verdrehte die Augen und zitterte unaufhörlich, vor Schmerzen und Angst.

Vor jedem körperlichen Akt gab es vorbeugend eine schmerzbefreiende Spritze.

»Es soll doch schön sein. Ich möchte kein Kind, das dabei schreit, hörst du.«

Sein Lachen war wieder kurz und gepresst. Eine Stunde lang spürte Susanne keinen Schmerz, aber was danach kam, war umso schlimmer. Sie konnte vor Schmerzen nicht mehr stehen, nicht sitzen, nicht liegen, nicht leben. Ihr kleines tapferes Herz ließ sie noch nicht einmal sterben.

»Es tut mir so unendlich leid, liebe Susanne, dass ich dieses nicht verhindern konnte.«

Tom rang um Fassung, als er vor ihrem Grab stand. Er kniete vor ihrem kleinen Sarg und verabschiedete sich mit Tränen in den Augen. Betrübt erwies er dem kleinen Mädchen die letzte Ehre.

Nun lag es an ihm, Gerechtigkeit zu üben, die Bestie zu finden und sie ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Diesmal überschritt er bei der Lösung dieses Falles seine Kompetenzen und wurde deshalb kurzzeitig vom Dienst suspendiert. Von diesem Zeitpunkt an veränderte sich sein Leben.

Oft fragte er sich, wie Gott so etwas zulassen konnte. Was hatte dieses kleine Mädchen verbrochen, dass sie so viel Leid erfahren musste? Es gab so viel Elend auf der ganzen Welt und genau aus diesem Grund hatte er bereits vor Jahren der Kirche den Rücken gekehrt.

»Es sind so viele Jahre her, Susanne, und trotzdem beschäftigt es mich noch immer.«

Tränen vermischten sich mit dem Wasser, das aus der Dusche in sein Gesicht peitschte. Im ganzen Haus ertönte der Bass zu »Freedom«. Er griff zum Duschbad, rieb sich damit ein und entfernte damit den nächtlichen Schweiß und die sich auf seiner Haut befindlichen Salzkristalle.

Kapitel 4

Tom, der damit beschäftigt war, seinen Schnürsenkel zu binden, zuckte plötzlich zusammen.

»Guten Morgen, Tom.« Plötzlich stand er kerzengerade da und drehte sich in Richtung der Stimme.

»Frieda, verdammt! Bist du des Teufels? Hast du mich erschreckt!«

Reflexartig fasste er sich an sein heftig pochendes Herz.

Eine leicht untersetzte, füllige Frau mittleren Alters stand wie ein bepackter Esel mitten im Raum. In den Händen hielt sie vier Tüten voller Lebensmittel. Ihr Lachen war herzhaft und füllte den Raummit ansteckender guter Laune. »Ach, Tom. Ich habe dir einen Schrecken eingejagt?«, fragte sie lächelnd. Sie sprach mit einem polnischen Akzent.

Er holte tief Luft. Dabei schaute er sie verlegen an.

»Komm her, meine gute Fee, lass dich drücken.«

Frieda freute sich. Es war schon eine Weile her, dass sie ihn mit einem Lächeln im Gesicht gesehen hatte. Sie stellte die Einkaufstüten auf dem Tisch ab und umarmte ihn.

Es war eine liebevolle, vertraute Umarmung, wie die in einer Mutter - Sohn - Beziehung.

Frieda war eine 72-jährige polnische Haushälterin, mit ausladenden Hüften, der man ihr Alter nicht ansah. Sie hatte ein fülliges Gesicht, ohne Falten, glatt wie ein Kinderpopo.

»Dachtest du etwa, ich bin ein Einbrecher?«

»Einbrecher ist gut, du hättest alles sein können. Ich war gerade so in meinen Gedanken versunken, dass ich dich wirklich nicht kommen gehört habe. Du hast mich ganz schön erschreckt, kleines Biest.«

Flugs gab er ihr einen kleinen Klaps auf den „runden“ Hintern.

Frieda besaß einen eigenen Haustürschlüssel. Deshalb hatte sie unbemerkt die Haustür öffnen können, ohne zu klingeln. Sie war die gute Seele im Haus. Fünfmal die Woche kam sie zum Putzen. Sie kümmerte sich ebenfalls um den Einkauf, die Wäsche, den Garten und die täglich anfallenden Hausarbeiten. Frieda entledigte sich ihres grünen, wärmenden Mantels. Dann machte sie sich sofort an die Arbeit. Als Erstes leerte sie die Einkaufstüten aus.

»Schau, was ich dir Schönes mitgebracht habe.«

»Friedchen, wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst nicht so schwer tragen.«

Friedchen, so nannte er sie liebevoll, hatte keinen Führerschein und somit auch kein Auto. Sie war bei Wind und Wetter mit ihrem geliebten, feuerroten Fahrrad unterwegs.

Tommusste schon des Öfteren mit ihr schimpfen.

»Ruf mich doch einfach an und ich fahre das Eingekaufte nach Hause. Du bist nicht mehr die Jüngste.«

»Ach was, Tom, ich habe doch ein gutes Fahrrad. Wie heißt das Sprichwort? Die Alten müssen zuerst verbraucht werden. Hast du gut geschlafen, mein Lieber?«

Manchmal behandelte sie ihn wie einen kleinen frechen Schuljungen. Sie knuffte beherzt mit Daumen und Zeigefinger seine beiden Wangen. Jedes Mal, wenn sie dies tat, hinterließ sie kleine rote Druckstellen auf seinen Wangen, die dann leicht schmerzten. »Autsch! Ja habe ich.«

Das war gelogen. Er wollte Friedchen weder mit seinem nächtlichen Problem nerven, noch beunruhigen.

Inzwischen war er frisch geduscht und für seinen Dienst bereit. Sein dunkles Poloshirt passte zu seinem schwarzen Anzug. Schwarz glänzende Lederschuhe rundeten sein Erscheinungsbild ab. Diesbezüglich war er sehr akkurat. In seinem Kleiderschrank herrschte militärische Ordnung. Sämtliche Kleidung war auf Naht und Kante gelegt. Zehn dunkle Poloshirts, fünf Paar schwarze Lederschuhe und acht maßgeschneiderte, dunkle Anzüge befanden sich im Schrank. Er fand es praktisch, sich nicht ständig überlegen zu müssen, was er anziehen könnte. So sparte er eine Menge Zeit.

Die Wohnung war mit rustikalen Möbeln stilgerecht ausgestattet. Alles war sauber. Für Singles eigentlich ungewöhnlich. Nicht ein Sandkörnchen war zu finden. Und das war nicht nur Friedchens Verdienst. Er war überzeugt, dass eine gewisse Ordnung, Sauberkeit und Disziplin das Innere eines Menschen widerspiegelten. So wie "Mann" sich innerlich fühlt, so sieht "Mann" äußerlich aus. Ein kosmisches Gesetz: Zeig mir dein Auto und ich sage dir, wie du lebst. Toms gepflegtes Erscheinungsbild drückte durchaus seine innere Zufriedenheit aus.

Heute war so ein Tag, nachdem sich jedermann schon lange gesehnt hatte. Nach einem langen, strengen Winter war es endlich Frühling geworden. Die Sonne schien und die ersten Frühlingsblumen blühten. Spatzen tummelten sich in der noch blattlosen Heinbuchenhecke, die sein Anwesen von 1200 m2umschloss. Es war warm. Das Thermometer zeigte 14 Grad Celsius, bereits morgens um 9:00 Uhr. „Guten Morgen, Deutschland.“ Was könnte heute für ein schöner Tag werden, wäre da nicht diese eine Sache. Von diesem Tag an waren es nur noch 48 Stunden, bis er seinen Dienst beenden würde, und zwar für immer. Der Countdown eines leitenden Kriminalbeamten und äußerst geschätzten, scharfsinnigen Fallanalytikers ging unaufhaltsam dem Ende zu. Tom putzte noch einmal mit einem Lederlappen seine schwarz glänzenden Kalbslederschuhe. Anschließend nahm er einen letzten Schluck lauwarmen Kaffee und schnappte sich dann sein Jackett.

»So mein liebstes Friedchen, ich gehe los.«

Frieda sah, dass er sehr wehmütig war.

»Sei nicht traurig, lächle für mich, bitte. Nach deinem Dienst fängt das Leben erst so richtig an. Du wirst viele tolle Sachen machen, für die du sonst nie Zeit hattest.«

Er gab ihr einen kleinen Kuss auf die Wange und verabschiedete sich von ihr.

»Fahre bitte vorsichtig.«

Er nickte.

Während er das Haus verließ, rief Friedchen ihm hinterher.

»Ich werde mich heute mal mit deinem Vorgarten beschäftigen. Die ersten Frühblüher brechen schon auf. Es ist einfach herrlich, der Frühling kommt mit großen Schritten. Ach Tom.«, seufzte Friedchen, als sie merkte, dass ihre Worte ins Leere verliefen. Er schnappte sich seinen Autoschlüssel und eilte zu seinem Fahrzeug. Es war ein alter, aber äußerst gepflegter Oldtimer, der in der an das Haus angrenzenden Garage stand. Ein Ford Mustang Cabrio 390cui mit einem V8 Motor, 320PS High Performance, Baujahr 1968, in Ocean Blue Metalic mit Race Stripes. 1968 wurden lediglich 676 Mustang Cabrios mit einem S-Code Big Block Motor ausgeliefert. 336 Stück mit einem Automatikgetriebe. Nur ein einziger von den 336 Mustangs hatte eine Klimaanlage. Genau diesen Wagen besaß er, ein durchzugsstarker Mustang mit einer Vier-Rohr-Auspuffanlage mit einem voluminösen Sound, auf den Punkt gebracht: ein Einzelstück mit jeder Menge History. Dieses „sein Schätzchen“, pflegte er sehr liebevoll.

Während er den Wagen öffnete, sah er im rechten Augenwinkel seinen 71-jährigen Nachbarn, Kurt Baumann. In diesem Moment dachte er daran, was Friedchen vor fünf Minuten gesagt hatte:

„Kurt, der geile Bock, wirbelt schon im Garten. Er hat mich schon wieder so lustvoll angeglotzt, so, als wollte er mich mit seinen Augen verschlingen. Dieser Lüstling“.

Tom musste schmunzeln. Er brauchte sich keine Sorgen zu machen. Frieda fühlte sich im Grunde genommen ziemlich geschmeichelt, wenn Kurt ihr ein wenig den Hof machte. Aber das würde sie nie zugeben.

Wo also war das Problem? Beide waren verwitwet. Sollten sie doch ihren Spaß haben.

Der liebe Herr Baumann. Er hatte heute nichts Besseres zu tun, als seit sieben Uhr morgens mit seinem lärmenden, grünen Ungeheuer den Rasen zu mähen.

Dieser alte Laubenpieper. Kaum ist es draußen ein bisschen wärmer, dreht er schon wieder am Sender, dieser alte Holzkopf.

Als Kurt den Mäher kurzzeitig ausstellte, um den im Sammler befindlichen Rasenschnitt in einem rollenden Sammelbehälter zu entleeren, schrie Tom aus voller Kehle:

»Guten Morgen, Kurt, na schon wieder fleißig?«

»Bitte?«

»Ich sagte, du bist schon wieder fleißig.«

»Ja, mein Rücken macht schon wieder Probleme, der Ischias. Ich konnte die ganze Nacht nicht richtig schlafen«, artikulierte Kurt mit schmerzverzerrtem Gesichtsausdruck.

»Aber heute ist nun mal der erste Rasenschnitt fällig. Und am Nachmittag muss ich noch die vorgekeimten Kartoffeln in den Boden bringen. Es wird höchste Zeit.«

Das sind die Rentner. Wenn sie nicht als erste ihren Garten fertig haben, drehen die durch.

»Hauptsache, ich werde nicht so wie Baumann«, murmelte er. »Kein Wunder, dass dein Rücken kaputt ist«, schrie er.

»Du alter Gipsnacken musstest ja auch gestern deinen halben Garten umgraben. Du als Rentner hast doch alle Zeit der Welt.«

Kurt war so taub, selbst wenn ein Düsenjet neben ihm starten würde, glaubte er, die heilige Maria hätte einen fahren lassen. Schmunzelnd stieg Tom ins Auto.

Wie jeden Morgen fuhr er zur nächstgelegenen Tankstelle, um zu frühstücken und sich eine Tageszeitung zu kaufen. Noch während der Fahrt klingelte plötzlich sein Handy, das auf dem Beifahrersitz lag. Flüchtig schaute er aufs Display, ohne dabei den Straßenverkehr außer Acht zu lassen. Durch die tief stehende Sonne war es ihm jedoch nicht möglich, zu erkennen, wer der Anrufer war.

Kapitel 5

Tom kam nicht umhin, die schützende Sonnenblende herunterzuklappen. Erst danach griff er zum Handy. Im Display erschien die Nummer seiner Dienststelle. Sein Kollege Ingo hatte Telefondienst. »Hallo, alte Schaluppe«, meldete sich Tom, »Wo brennt es, Ingo?«

»Was heißt hier alte Schaluppe, du Weihnachtsmann?« Es folgte ein freundliches: »Guten Morgen, Tom. Einbruch in Rotenheide, Dorfstraße 7, Maria Neumann.«

»Okay. Gibt es eine Leiche?«

»Nein, nur Einbruch. Vermutlich mit Diebstahl.«

»Wie langweilig. Ich notiere mir kurz die Adresse.«

Er blickte in den Rückspiegel, setzte den Blinker und fuhr auf die Einfahrt eines Fabrikgeländes, um anzuhalten. Schnell nahm er einen Stift und einen Zettel zur Hand.

»Maria Neumann, sagtest du?«

»Ja. Dorfstraße 7, Rotenheide.«

»Mist, der Stift verweigert seine Arbeit.«

Er versuchte es mit mehr Druck. Leider vergeblich. Ein leichtes Anhauchen der Stiftspitze half ebenfalls nicht. »Kleinen Augenblick, Ingo.« Er wusste ganz genau, dass sich ein intakter Füllfederhalter in seiner Diensttasche befand. Die lag jedoch im Kofferraum. Es wäre ein Leichtes gewesen, auszusteigen, um den Füllfederhalter zu holen. Aber dazu hatte er jetzt keine Lust.

»Maria Neumann, Dorfstraße 7, Rotenheide. Ach, das merke ich mir so. Oder schick mir die Adresse per App, bin in ca. 35 Minuten vor Ort.«

»Prima, die Kollegen der Spurensicherung sind auch unterwegs. Und sonst, wie fühlst du dich an deinen beiden letzten Tagen im Dienst der Regierung.«

»Geht so.«

Tom wollte noch einen Satz hinzufügen, aber er wurde unterbrochen. Urplötzlich vernahm er ein langanhaltendes Dauerhupen. Verwundert blickte er zunächst in den Rückspiegel und anschließend in den Seitenspiegel. Es war nichts zu erkennen. Unbewusst nahm er das Handy in die andere Hand. Abermals ertönte ein Hupen. Nur flüchtig blickte er über die rechte Schulter.

»Ich werde dich vermissen, Tom«, war zu hören, als er das Handy wieder ans Ohr nahm. In dem Moment sah er, wer da nervte. Es war ein LKW-Fahrer, der das Firmengelände verlassen wollte, und Tom blockierte die Ausfahrt, vielmehr sein Wagen. Alter, nerv mich nicht. Bin ja gleich weg, dachte er, als die Signalhörner erneut dröhnten. Das Firmengelände gehörte einer Käseproduktionsfirma, man konnte es eindeutig erkennen. In der Einfahrt stand ein großes Schild.

»Ach was, wir sehen uns trotzdem regelmäßig.«, brummte er in den Hörer, während der die Seitenscheibe öffnetet. Er streckte den Arm heraus. Mit einer „bleib mal ganz locker, Alter“-Handgeste, machte er dem Fahrer klar, dass dieser mal tief durchatmen und sich entspannen sollte. Wie konnte „Mann“ schon am frühen Morgen so gestresst sein?

»Ingo, es gibt ein Sprichwort „Aus den Augen, aus dem Sinn“. Damit das nicht passiert, komme ich dich besuchen, versprochen. Was liegt bei dir am Wochenende an, mein Bester?«, fragte er seelenruhig.

»Ich werde mit meiner Frau unser Boot fertig machen, damit ich es, wenn das Wetter so bleibt, mit dem Trailer das Boot ins Wasser lassen kann.«

»Dann pass bloß auf, dass du nicht mit deinem Boot untergehst.«

Im linken Außenspiegel beobachtete er den nachfolgenden Verkehr, um sich wieder einzugliedern, damit der nervige Brummifahrer endlich Ruhe gab. Ingo, der von allem nichts mitbekam, plauderte vergnügt weiter.

»Tommy, ich habe schon gefühlte tausendmal gefragt, ob du mit meiner Jolle mitwillst. Aber du hast ja Schiss, du Landratte.«

»Ja, ja. Landratte hin oder her. Die Ratte, die das sinkende Schiff verlässt, ist klüger als der Kapitän, der damit untergeht. So, ich muss Schluss machen. Mach‘s gut! Bleib mir gesund!«

Mit diesem Satz beendete Tom das Gespräch. Er legte das Handy langsam zur Seite, nahm ein Streichholz aus der Schachtel und zündete sich eine Zigarette an. Er nahm einen kräftigen Zug, machte einen prüfenden Blick in den Seitenspiegel, ließ noch ein wohlwollendes Hupen für den Brummifahrer ertönen und fuhr dann mit den Worten: »Friss meinen Staub«, mit seinem 320 PS starken Motor und mit quietschenden Reifen zum Einsatzort.

Bereits den gesamten Tag verspürte er ein beunruhigendes Gefühl in der Magengegend. Es war eine Ahnung, dass der heutige Tag in einem Desaster enden würde.

Kapitel 6

Am Tatort angekommen parkte Tom seinen Wagen in der Einfahrt neben dem Mercedes Sprinter der Kripo, Team der Spurensicherung. Ein weiterer Blick auf das Handydisplay ergab, dass keine neuen Benachrichtigungen eingegangen waren. Er steckte sein Handy in die Innentasche seines Jacketts. Dann stieg er aus dem Wagen.

»Nein, bitte nicht!«

So wie der Tag begonnen hatte, setzte er sich nun fort. Er war genervt, als er in der Ferne eine Person auf sich zukommen sah. Es war Spusi, ein Kollege der Spurensicherung. Sein Gang war unverkennbar. Er tippelte nur auf den Zehenspitzen und federte bei jedem Schritt in die Höhe, auf und nieder.

»Du hast mir gerade noch gefehlt!«, nuschelte er, der im gleichen Atemzug seine Lungenflügel mit dem inhalierten Zigarettennebel leerte.

»Guten Morgen, Tom«, züngelte der ihm entgegenkommende Kollege mit gespaltener Zunge. Gespaltene Zunge nicht deshalb, weil er ständig log, gesinnungslos gerade das sagte, was der andere hören wollte, oder Widersprüchliches von sich gab, weil sich seine Meinung wie der Wind drehte. Nein, Spusi lispelte sehr stark. So wie eine Schlange, die oft übertriebenerweise in vielen Cartoons dargestellt wird.

»Guten Morgen Spusi, wie schaut es aus?«

Nur wenige Schritte trennten ihn von seinem Kollegen und dem ultimativen Ekel. Tom wusste, was jetzt kommen würde. Er hasste es wie die Pest. Er ekelte sich davor, ihm die Hand zu geben, denn das, was zurückkam, war ein weicher, wabbliger, feuchter, zurückhaltender Händedruck. Dieser Händedruck ähnelte von der Festigkeit einem Gummi-Glibber-Ball, den man an die Wand schmiss, widerlich! Wie in Slow Motion sah er die auf ihn zukommende Hand. Sein Gehirn weigerte sich, den erforderlichen Befehl, die rechte Hand zum Händedruck bereitzuhalten. Stattdessen wählte das Gehirn eine alternative Variante des Grußes aus. Der Arm wird nicht ausgestreckt, sondern nach hinten angewinkelt, worauf das Handgelenk zurückschnellt. Dieser Gruß ermöglicht es auch bei körperlichen Gebrechen, die das Ausstrecken des Armes nicht möglich machen, einen Gruß abzuleisten. Für ihn war das jedenfalls die bessere, angenehmere Variante. Aber die Hand von Spusi hielt stand, wie deutscher Stahlbeton. Tom überlegte. Er wollte es nicht. Doch er hatte keine andere Wahl. Alles andere wäre unhöflich gewesen. Erst im Nachhinein fiel ihm ein, dass eine Ausrede die Lösung gewesen wäre, um den aufkommenden Ekel zu umgehen. Er hätte sagen können: „Sorry, ich bin erkältet, ich möchte dich nicht anstecken“. Nun denn! Seine Hand bohrte sich in die von Spusi. Es war noch schlimmer als erwartet. Ein nachhaltiges Ekelgefühl, das ihm über den Rücken lief, und ein Eindruck von beginnendem Lippenherpes beherrschten ihn.

»Drück mal feste zu, junger Mann, nicht wie ein Mädchen«, befahl er, in der Hoffnung, dass ein einsetzender Schmerz Linderung verschaffen könnte. Spusi drückte so fest zu, wie er konnte. Er stellte sich sogar auf Zehenspitzen, um noch mehr Druck aufzubauen. Aber es half nicht. Er war halt ein Weichei.

»Geht doch, aus dir wird doch noch ein richtiger Mann«, meinte er ironisch. Diese Worte erfreuten Spusi sichtlich. Er war stolz wie Bolle und grinste wie ein Honigkuchenpferd, als sein „kraftvoller“ Händedruck Toms Hand wieder frei gab.

»Ich hole nur eben mal schnell den Tatortkoffer aus dem Fahrzeug, hab ihn vergessen«, grinste er. »Habe ich dir eigentlich schon meinen neuestenWitz erzählt?«

Jetzt war es so weit. Er hasste Witze. In solchen Momenten war er ehrlich und sagte die Wahrheit, dass er Witze nicht mochte. Momentan war er noch in Gedanken bei seiner feuchten Hand. Erneut überkam ihn ein Ekelschauer. Diese Welle des Ekels verlief von der Hüfte aus über die Schultern bis hin zum Kopf. Tom schüttelte sich. Dieses Schütteln fasste Spusi als ein Nein auf seine Frage auf. »Okay.«, er holte tief Luft. »Was ist, wenn ein Glühwurm und eine Filzlaus sich paaren? Das ergibt einen Fackelzug am Sack. Witzig, oder? Ich habe mir gestern vor Lachen fast in die Hose gemacht, als ich den hörte.«

Aus Höflichkeit lachte Tom, aber nach zwei gequälten „Haha“ verstummte er wieder. Er klopfte Spusi freundschaftlich auf die Schulter, um seine Handfläche zu trocknen, bevor er seine Sonnenbrille aufsetzte.

»Dann lass uns an die Arbeit.«

Der erste Eindruck war überwältigend. Beide schauten auf ein großes Grundstück mit einem schönen, gepflegtenGarten, man könnte es auch als Park mit großflächigen Bepflanzungen beziffern. Es gab Stauden, Sträucher und Bäume, die harmonisch, mit viel Liebe zum Detail, angelegt worden waren. So ein Anwesen sah man nicht häufig in dieser Gegend.

»Das nenne ich mal ein Haus! Was für eine Villa!« Er kam aus dem Staunen nicht heraus.

»Du musst es dir mal von innen anschauen. Dir werden die Augen ausfallen. Alles vom Feinsten«, lispelte sein Kollege.

»Wann wurde der Einbruch gemeldet?«

Er blickte sich um.

»Heute Morgen. Um 6:17 Uhr ging ein Anruf in der Dienststelle ein und«, Spusi schaute auf seine Uhr, »genau vor 52 Minuten.« Tom nickte.

»Bist du alleine hier?«

»Ja, leider, meine Kollegin ist schon seit Montag krank. Nun bleibt alles an mir kleben. Du weißt doch, immer viel Arbeit und wenig Geld.« Tom schmunzelte gelangweilt. »Und für dich ist es die letzte Woche?« Ein kurzes Ja musste als Antwort reichen. Er wollte das Gespräch nicht unnötig ausweiten. Mit diesem Typen konnte man sich einfach nicht vernünftig unterhalten.

»Du bist zu beneiden, Tom. Ich muss noch mindestens 30 Jahre arbeiten.«

Tom kratzte sich am Kopf und würgte das Gespräch ab.

»Wirklich eine schöne Villa.«

»Ja, eine Villa ohne Alarmanlage.«

»Du meinst, das Anwesen ist nicht…?«

»Dafür hat das Geld wohl nicht mehr gereicht.«

Er bat Spusi, ihm zu zeigen, wo die Täter in das Haus eingestiegen waren. Beide standen nun vor dem, von der Straße aus nicht sichtbarem Hintereingang. Tom schaute sich die massive, mit Blumen verzierte, Holztür an. Er hatte schon des Öfteren solche Türen gesehen. Sie ähnelte einer alten Kirchentür.

»Von hier sind die Täter also ins Haus rein?«