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Am Beispiel des Traumreiseziels Karibik werden Reisedarstellungen von Europäern hinsichtlich der Frage untersucht, welche Haltung sie fremder Kultur gegenüber einnehmen. Zeitlich spannt sich der Bogen von den Eroberern der Neuen Welt bis zu den Touristen von heute. Gegliedert eher nach systematischen als chronologischen Gesichtspunkten, befasst sich die Studie kapitelweise mit unterschiedlich motivierten Reisen und vergleicht so verschiedene Arten unterwegs zu sein wie die von Eroberern, Missionaren, Forschern, Abenteurern, Exilierten, Journalisten, geladenen Besuchern und Vergnügungstouristen. Bei der überwältigenden Mehrheit der untersuchten Autoren tritt - mehr oder weniger unverhohlen - ein Wille zur Bemächtigung und kulturellen Angleichung des Anderen hervor. Im Kontrast dazu springen Beispiele einer Minderheit von Kritikern und Gegnern der vorherrschenden Praxis umso mehr ins Auge, die darauf hinweisen, dass von Anfang an durchaus andere Formen von Kulturkontakt möglich waren.
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Seitenzahl: 718
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Vorwort
Einleitung
Reisen zur Erweiterung der Einflusssphäre
(
zu Beschreibungen von Entdeckern und Eroberern, deren Reise vom Motiv der Expansion bestimmt wird)
Reisen zur Erfüllung von Missionen
(
zu Beschreibungen von Amtsträgern, die berufliche Pflichterfüllung zur Reise veranlaßt)
Reisen zur Erweiterung des geistigen Horizonts
(
zu Beschreibungen von Forschungs-und Bildungsreisenden)
Reisen zur Selbstverwirklichung
(
zu Beschreibungen von Abenteurern und Weltenbummlern)
Reisen unter dem Druck der Umstände
(
zu Beschreibungen von Flüchtlingen, Emigranten und Verschleppten, die sich notgedrungen in die Fremde verschlagen oder unfreiwillig dort festgehalten sehen)
Reisen zur Inspektion
(
zu Beschreibungen von unabhängigen Berichterstattern, die zur Informationsbeschaffung für politische Meinungsbildung unterwegs sind)
Reisen zur Pflege von Bekanntschaften
(
zu Beschreibungen von Reisenden, die sich von Einladungen zu ihrer Fahrt bewegen lassen)
Reisen zum Vergnügen
(
zu Beschreibungen von Urlaubern, die Abwechslung und Erholung suchen)
Zusammenfassung:
Wie sich Kontakt mit anderer Kultur im allgemeinen darstellt
Ausblick auf experimentierfreudigere Reisende
(
die Ausnahmen von der Regel)
"Baum" & “Halbverband"
(
Erläuterungen zu zwei abstrakten Strukturen)
Verzeichnis der in den einzelnen Kapiteln
zitierte
n
Autoren
Kommentiertes
Literatur- und Autorenverzeichnis
Bibliographie der Primärliteratur
Verzeichnis der verwendeten
Sekundärliteratur
Reisen in alle Welt bilden eine spektakuläre Zeiterscheinung, in der sich ein Stück modernen Lebensgefühls verkörpert. Die Möglichkeit eines temporären Ortswechsels ist im Zeitalter müheloser Fortbewegung und globaler Verflechtung so selbstverständlich geworden, daß die Berührung mit anderer Kultur dabei kein Problem mehr darzustellen scheint. Doch die scheinbare Problemlosigkeit des Reisens beruht vorwiegend auf weiträumiger Verdrängung des Fremden aus dem Blickfeld der Reisenden. Wohin sie auch kommen, können sie sich auf "internationalen Standard" stützen, der weltweit zum Maßstab der Zivilisation nach europäischem Muster geworden ist. Da die Vergünstigung, ungehindert globale Bewegungsfreiheit auszukosten, ohnehin vor allem den Trägern abendländischer Kultur zuteil wird, bedeutet die kulturelle Vereinheitlichung für die Mobilen eine Erleichterung, während die gesetzte Norm für die ortsgebundeneren Heimgesuchten anderer Kultur eine Anforderung darstellt, der sie erst durch Anpassung gerecht werden. In dem Austauschverhältnis zwischen den Kulturen der "Entwickelten" und der "Unterentwickelten" – der "Zivilisierten" und der "Wilden", wie man sie vorher nannte – wird schon, was den Reiseverkehr betrifft, eine prägnante Asymmetrie deutlich, die den Besuchten die Bedingungen der Besucher diktiert. – Die Form des Reisens hat sich, wie vieles andere, im Lauf der europäischen Expansion nach Übersee zu dem Phänomen entwickelt, das sie heute in vielen Facetten darstellt. Bei dem Siegeszug kolonialer Erschließung der Fremde haben sich klare Strukturen im Umgang mit Vertretern anderer Kultur herausgebildet, die Reisende in ihrer Haltung dem Exotischen gegenüber bis heute prägen. Wer in unbekannte Ferne vorstößt, wandelt unwillkürlich auf den Spuren der Entdecker.
An der Fülle begeisterter Selbstzeugnisse von Reisenden läßt sich ablesen, wie sich in der Konfrontation mit dem Fremden ein europäisches Selbstverständnis konsolidiert, das sich in zivilisatorischer Mission über andere Kultur hinwegsetzt. So anregend die Freiheit des Reisens empfunden wird, so beschränkt stellt sich – bei aller Weltläufigkeit – das gewonnene Verständnis für kulturell Fremdes dar. Wider alle Beteuerungen, verlangt es offenbar kaum einen je danach, Vertreter anderer Lebensformen eingehender kennenzulernen, deren Länder so begeistert aufgesucht werden. Nichtsdestoweniger herrschen über sie so feste wie pauschale Vorstellungen. Wenn dem Abenteuer in der Fremde mittlerweile viele Wege geebnet sind, erhöht sich damit vor allem die Chance, über die Herausforderung des Exotischen zu triumphieren, ohne damit näher vertraut zu werden. Mit den Vorzügen überlegener Zivilisation übernehmen die Reisenden auch ein Handikap, das ihnen das Verständnis des Fremden hartnäckig verstellt. Denn wir können unterschiedliche Lebensweisen nur verstehen, wenn wir uns darauf einstellen und unsere eigene nicht als die einzig maßgebliche betrachten. Dem Reiseverkehr den Effekt der Völkerverständigung zu unterstellen, bleibt ein tragisches Mißverständnis, solange ein überlegenes Selbstgefühl die Besucher zu lernen abhält, sich auf die kulturelle Eigenart der Besuchten einzustellen.
Wenn ich die Erfahrungshaltung von Reisenden in die Karibik zu beleuchten versuche, wie sie aus dem breiten Spektrum europäischer Reisedokumentation hervorgeht, so hoffe ich damit zu jener Selbstreflexion anzuregen, die die Texte so weitgehend vermissen lassen. Die Art, wie wir uns die Welt aneignen, bestimmt unseren Erfahrungshorizont wesentlich mit. Wenn man die charakteristischen Beschränkungen erkennt, denen der Austausch mit den Außereuropäern unterworfen bleibt, dann könnte dies, wie ich glaube, dazu beitragen, das eingefahrene Denk- und Handlungsmuster zu überprüfen. Denn primitiv sind weniger die "Anderen" als jene triviale Denkweise über andere Kulturen, die neben Machtwillen vor allem profundes Unverständnis für alles Fremde widerspiegelt.
Da die Arbeit an dem Projekt sich langwieriger gestaltete als gedacht und nicht immer unter den einfachsten Bedingungen vor sich ging, möchte ich denen besonders danken, die mit ihrer Unterstützung zur Fertigstellung erheblich beigetragen haben: Prof. Ronald Daus für Ermutigung und Förderung in kritischen Phasen, meinen Eltern Christiana und Jürgen für die notwendige finanzielle Unterstützung, Tina für ihre Geduld mit einem endlos in stille Betrachtungen versunkenen Lebensgefährten.
(Oktober 1992)
Da das ursprüngliche Manuskript noch nicht digital erstellt war und mir bei erneuter Durchsicht von bleibender Aktualität zu sein scheint, habe ich es sorgfältig digitalisiert und die Anmerkungen zu den einzelnen Kapiteln in Fußnoten umgewandelt, um das Nachschlagen von Belegstellen zu erleichtern. – Die Orthographie habe ich hingegen nicht aktualisiert und der Entstehungszeit entsprechend belassen, unbenommen der später erfolgten Rechtschreibreformen.
Außerdem wurden die schon in der Vorversion enthaltenen Illustrationen, die alle den verwendeten Texten der Primärliteratur entnommen sind, diesmal als Kapitelteiler dem jeweils folgenden Kapitel vorausgestellt. Nur die zeitgenössische Karte der Karibik vor der Einleitung wurde aktualisiert und bildet einen entsprechenden Ausschnitt aus der Satelliten-Ansicht von Apple Maps ab.
Mit der Neuauflage bei Book on Demand, Norderstedt, ist das Buch wieder verfügbar und soll es, zusammen mit der darauf folgenden, komplementären Literaturuntersuchung Ernüchterndes Europa bis auf weiteres auch bleiben.
(Sept. 2023)
Chris von Gagern
Karte der Karibik nach Girolamo Benzoni, aus Theodor de Bry, America, 1594
Karte der Karibik 2023, Satellitenansicht, Apple Maps. (Ausschnitt)
In vorliegender Studie soll der Frage nachgegangen werden, wie Reisende mit veränderten Lebensbedingungen andernorts zurechtkommen. Einschränkend werden Beispiele von Europäern in Betracht gezogen, die in die Karibik reisen, und wie sie die andere Wirklichkeit bewältigen, der sie sich dort ausgesetzt finden. Auch soll nicht die Einstellung der Betreffenden auf unbekannte Naturgegebenheiten im Brennpunkt stehen, sondern die Begegnung mit der ungewohnten Lebensweise der Bewohner. Es geht um die Erfahrung des Anderen in seiner kulturellen Gestalt und um das Problem der Vereinbarkeit von verschiedenen kulturellen Mustern: wie unterschiedliche Vorstellungen und Verhaltensweisen in Einklang gebracht werden, welche Wandlungsfähigkeit Reisende an den Tag legen, die den Bereich des Bekannten und Gewohnten überschreiten, in welche Konflikte sie die Infragestellung der überkommenen Ordnung der Dinge stürzt und welche geistigen Anstöße sie durch ihre außergewöhnlichen Erfahrungen erhalten.
Die Grundlage zur Begegnung in dieser Untersuchung der europäisch-überseeischen Form bilden die literarischen Zeugnisse von Reisenden. Im Vergleich der vielfältigen Beschreibungen, die über Aufenthalte in der Karibik vorliegen, zeichnen sich gemeinsame Züge in der Haltung der Autoren im Umgang mit anderen Verhältnissen ab. In den Übereinstimmungen lassen sich charakteristische Formen der Begegnung erkennen und daraus übergreifende Regelmäßigkeiten abstrahieren. – Ziel der Untersuchung ist es, kontinuierliche und fortwirkende Tendenzen absehbar zu machen und aktuelle Auswirkungen des über fünf Jahrhunderte gepflegten Zusammentreffens von Europäern mit anderen Kulturen zu überdenken.
Der Begriff "Reise" weckt vielfältige Assoziationen. In der Grundbedeutung handelt es sich um nicht mehr als einen vorübergehenden Ortswechsel, eine Kreisbewegung von Weggehen und Wiederkommen, die aus unterschiedlichen Beweggründen, doch auf eigene Veranlassung unternommen wird. Erst diverse Bedeutungen erhellen, daß sich mehr dahinter verbirgt als ein harmloser Ausflug. Eine Reise geht über das Erreichen bestimmter Ziele hinaus. Mit dem gewohnten Lebensbereich werden auch die Grenzen der Erfahrung überschritten. Der Vorstoß ins Unbekannte verheißt sowohl Ungewissheit und Risiken als auch besondere Freiheiten und Reize. Die Entfernung befreit einerseits von alltäglichen Verpflichtungen und Zwängen, die errungene Freiheit von engen sozialen Bindungen macht andererseits schutzlos. Neues strömt auf den ein, der sich bewegt. Wunder und Schrecken versetzen in Erregung. Die räumliche Bewegung birgt Veränderungen, auf die es sich einzustellen gilt. Komplikationen ergeben sich; denn nicht jede Veränderung ist auch eine willkommene Abwechslung. Strapazen sind zu durchstehen. Absichten und vorgefundene Bedingungen lassen sich nicht ohne weiteres vereinbaren. Unvorhergesehenes bestimmt den Verlauf der Reise mit. Nicht allein der Reisende bewegt sich, sondern er wird ebenso von variablen Kräften bewegt. Die Veränderlichkeit der Situation erfordert Lern- und Anpassungsfähigkeit. Mit der Ortsveränderung korrespondiert ein Prozeß innerer Wandlung des Reisenden. Wer sich der Fremde aussetzt, kann nicht damit rechnen, unverändert wiederzukommen. Unterwegs zu sein widerspricht einem Zustand stabilen Gleichgewichts und stellt die gewohnte Form der Existenz in Frage. Wer das Wagnis auf sich nimmt, macht auch sein Streben nach Erneuerung des Hergebrachten deutlich. Zu reisen stellt eine Herausforderung besonderer Erlebnisse oder Abenteuer dar und gilt als Quelle der Lebenserfahrung schlechthin. Vielfach wird das Leben selbst mit einer Reise verglichen. Bei Fernreisen wie nach Übersee tritt das Moment, den bekannten Erfahrungsbereich zu überschreiten, besonders hervor. Verbindungen zu anderen Kontinenten werden geschlagen, Ozeane gekreuzt. Deutlich Getrenntes tritt in Beziehung. Unzusammenhängend sind die Bereiche nicht nur in geographischer, sondern auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Besucher und Besuchte stehen nicht in gewachsenen nachbarschaftlichen Beziehungen. Sie sind sich in besonderem Maße fremd. Die Bewältigung des Unvorhergesehenen, Überraschenden und Anderen spielt wenigstens eine ebenso große Rolle wie das Erreichen von Zielen oder die Durchsetzung vorgefaßter Absichten.
Im Laufe des betrachteten Zeitraums hat sich das Reisen in vieler Hinsicht geändert. Die Neuerungen schlagen sich auch in einem gewissen Begriffswandel nieder. Brachte man bis vor etwa 200 Jahren noch vorwiegend Strapazen und Risiken mit einer Reise in Verbindung, so klingen heute eher reizvolle Verheißungen an. Reisen gilt als Genuß. Verkehrslinien umspannen die Erde, Stützpunkte sind überall errichtet. Entfernungen spielen kaum eine Rolle mehr, jedes Ziel ist erreichbar. War es früher kaum denkbar, sich ohne zwingende Gründe in die Fremde aufzumachen, würde sich mittlerweile kaum einer scheuen zu reisen, wenn ihm die Gelegenheit geboten wird. Reisen werden auch zweckfrei als Ausdruck individueller Bewegungsfreiheit zelebriert. Welterfahrenheit gilt als sozialer Wert und wird eng mit der Entfaltung der Persönlichkeit assoziiert. – Konnte es früher noch als auszeichnende Bewährungsprobe gelten, sich in die Wildnis jenseits der bekannten sozialen Ordnung vorzuwagen, gelten Wildnistouren mittlerweile als unterhaltsamer Zeitvertreib. Die Furcht vor dem Unbekannten ist weitgehend dem Drang gewichen, exotische Reize auszukosten. Die Wildnis ist zu Enklaven in einer global verwalteten Welt geschrumpft. Etwas anderes als das Bekannte zu erfahren, muß als Vergünstigung gelten. – Das veränderte Verständnis drückt sich augenfällig in der Zahl Reisender aus. Die Reisewelle ist zu einer Massenbewegung geworden, die sich über alle Kontinente ergießt. Ein begeisterter und stetig wachsender Zug in die Ferne ist zu verzeichnen. Darin spiegelt sich sowohl die Dringlichkeit des Versuchs, den zugestandenen Erfahrungsbereich zu überschreiten, als auch die Tatsache, daß Tourismus eine blühende Industrie geworden ist. Für die einen ein Grundbedürfnis, für die anderen ein Geschäft, werden Reisen zu einem bedeutenden sozialen und wirtschaftlichen Faktor. Als Ware angeboten und konsumiert, büßt die "innere Reise" an Bedeutung ein. Die mit dem Aufbruch in die Fremde assoziierte Chance revolutionärer Erneuerung des eigenen Lebensentwurfs schwindet. Auch Fernreisen stellen kaum mehr eine Herausforderung zum Umdenken dar und werden zunehmend zu harmlosen Ausflügen.
Im Rahmen der Studie wird der Begriff "Reise" im weiteren Sinn verstanden. Im Interesse, mit den dokumentierten Beispielen ein breites Spektrum des Reiseverkehrs zu erfassen, werden auch Fahrten einbezogen, die den Begriff bezüglich Aufenthaltsdauer oder Fremdbestimmung dehnen. – Die Dauer des Aufenthalts variiert von wenigen Tagen in einigen bis zu mehreren Jahren in anderen der in Betracht gezogenen Fälle. Manche der Ausgezogenen haben ursprünglich nicht vor zurückzukehren und sehen sich dann doch dazu veranlaßt, manche werden auf unbestimmte Dauer in Übersee festgehalten, ohne sich deswegen schon als Auswanderer zu verstehen. Das steht vorwiegend in Zusammenhang mit den Bestrebungen der Europäer, die befahrenen Gebiete auch gleich in Besitz zu nehmen. Sie treten nicht nur als Besucher, sondern auch als Besatzer auf und sind im Rahmen der Kolonisation häufig mit Aufgaben betraut, die ihre Reise ausdehnen. – Auch dem Kriterium, daß Reisen freiwillig unternommen werden, fügen sich nicht alle Beispiele. In einigen Fällen sehen Reisende sich zu ihrer Unternehmung gezwungen, sei es, daß sie von höherer Stelle zu ihrer Fahrt verpflichtet werden, nach Übersee fliehen oder gegen ihren Willen dorthin deportiert werden. – Der Reiseverkehr in die Karibik wird in vieler Hinsicht vom Projekt der Kolonisierung ins Leben gerufen und nachhaltig davon bestimmt. Die Besitznahme bindet sie in ein Netz von Verflechtungen mit Europa ein. Ständiger Austausch findet statt. Auch Reisen, die keinen offiziellen Beitrag dazu leisten, werden davon begünstigt. Das resultierende Spektrum zusammengetragener Beispiele umfaßt Entdecker, Eroberer, Staats- und Kirchendiener in Ausübung ihrer Ämter, Forscher, Abenteurer, Flüchtlinge, Verschleppte, Journalisten, geladene Besucher und Urlauber.
Die Karibik als Reiseziel zu betrachten, bedeutet nicht nur eine Einschränkung der Untersuchung auf einen konkreten geographischen Raum, sondern sie verkörpert seit der Entdeckung durch Kolumbus bis heute gleichsam den Inbegriff eines Traumziels, das Reisende anzieht, und steht in diesem Sinn auch stellvertretend für andere. Schon die bloße Erwähnung ist imstande, Sehnsucht nach exotischen Reizen zu wecken. Welche besondere Attraktivität man jeweils damit assoziierte, war durch die Zeiten jedoch erheblichem Wandel unterworfen. Im Wechsel stellte sie ein unberührtes tropisches Naturparadies dar, wo man den Brunnen der ewigen Jugend und das Goldland des "El Dorado" vermutete, ein Tor zur Neuen Welt, durch das die Entdecker Kontinentalamerikas und deren erbeutete Reichtümer passierten, einen Garten von unerschöpflicher Fruchtbarkeit, wo Plantagenwirtschaft und Sklaverei erblühten. Die Inseln bildeten Piratenschlupfwinkel, wo eine so ungebundene wie gesetzlose Existenz möglich war, die Wiege mehrerer Kolonialreiche und einen Umschlagplatz des Sklavenhandels. Sie galten als Musterkolonien, die mit Zucker unermeßlichen Reichtum produzierten, als Streitobjekte, um deren Besitz von fast allen europäischen Nationen erbittert gerungen wurde, als soziales und wirtschaftliches Experimentierfeld, wo nach der Peitsche für die Versklavten auch das Zuckerbrot "freier Lohnarbeit" erprobt wurde, und gelten mittlerweile als von Stränden gesäumtes Vergnügungsparadies unter Palmen und südlicher Sonne, dem ein exotisches Bevölkerungsgemisch Farbe verleiht. – So vielfach die Bedeutung der Inseln sich auch wandelte, der Ansturm von Reisenden hat sich gehalten. Ihr Reiz hat sich gleichsam immer wieder erneuert. Verschiedene Inhalte überblenden sich zu einem schillernden Image, dessen gemeinsamer Nenner darin besteht, daß es immer Verwertungsinteressen Außenstehender sind, die der Region Bedeutung verleihen.
Eine eigenständige kulturelle Bedeutung wird kaum je mit der Karibik in Verbindung gebracht. Die Kariben verleihen als Vorbewohner der Region zwar ihren Namen, aber seit Übernahme durch die Europäer keine kulturelle Prägung mehr. In bezug auf unifizierende Aspekte ist die Bezeichnung eher irreleitend. Die Erinnerung gerade an die Kariben, die keineswegs die einzigen Bewohner der Inseln waren, hat gewissermaßen rhetorischen Charakter; denn was man mit ihnen in Verbindung zu bringen wußte, war vor allem Kannibalismus, eine Bezeichnung, die sich aus einer Verballhornung ihres Namens durch spanische Eroberer herleitet. Zu Inseln der Menschenfresser gestempelt, rechtfertigte sich die planmäßige Beseitigung eigenständiger Kulturmerkmale. Die friedlichen Arawaks, die Kolumbus wie vor dem Sündenfall erschienen, haben keinen so nachhaltigen Eindruck über ihre Ausrottung hinaus hinterlassen. – Die Tatsache, daß sich mit der Region kein ausgeprägtes Selbstverständnis assoziieren läßt, das den Bewohnern gemeinsam wäre, macht sie zu einer geheimnisvollen Inselwelt, die in erster Linie von der Vielfalt der Natur bestimmt erscheint. Als solche wird sie zu einer Projektionsfläche Außenstehender, die sich vorstellen, sie könnten dort ihre Wunschwelt entdecken. Ihre periphere Situation, verstreut über die karibische See, macht jede Reise dorthin zu einer Fernreise. Selbst Besucher vom amerikanischen Festland nehmen sie als exotisch wahr.
Der Reiseverkehr wurde für die Karibik seit der Entdeckung durch die Europäer zu einem bestimmenden Faktor, den man von europäischer Seite kontinuierlich ausbaute. Die Tatsache, daß es sich um die Entdeckung der Neuen Welt handelte, mit der vorher keine Beziehungen etabliert waren, bedeutete den Entdeckern gleichzeitig auch, daß sie keine Rücksichten auf die Bewohner zu nehmen brauchten. Sie verstehen ihre Entdeckungen als Freiraum für die Mächtigen, zerschlagen die bestehenden Kulturen als unliebsame Konkurrenz und bemächtigen sich der Region einschließlich der Frondienste der Einheimischen. Die Karibik wird zwangsweise in den Austausch mit Europa eingebunden. Es handelt sich um die Region, die am nachdrücklichsten europäischen Kolonisationsbestrebungen unterworfen wurde. Hier liegen die ersten Stützpunkte der Entdecker, die ältesten Kolonien in der Neuen Welt. Nach den Spaniern gründen auch Engländer und Franzosen ihre Kolonialreiche mit karibischen Besitzungen. Mit der Etablierung von Plantagenwirtschaft werden die Inseln, trotz ihrer beschränkten Größe, zu den wertvollsten Kolonien. Nach dem wirtschaftlichen Abstieg und der Auflösung der Kolonialreiche werden sie zu einem Sammelpunkt des internationalen Tourismus. Das Gesicht der Karibik wird dabei mehrfach radikal umgestaltet, Land und Leute rigoros den jeweiligen externen Anforderungen angepaßt. Das geht bis zu einem Austausch der Bevölkerung. Die indianische wird aufgerieben und mehrheitlich durch Afrikaner ersetzt. Aber auch diese werden nicht belassen, wie sie sind, sondern unter europäischer Regie umgeformt. Wirksamer und nachhaltiger als in anderen Kolonien gelingt es hier, jegliche Eigenständigkeit zu unterdrücken. Die Inseln bleiben Anhängsel ihrer europäischen Mutterländer, als fast alle Kolonien des amerikanischen Kontinents längst Unabhängigkeit errungen haben, und werden aus dieser Abhängigkeit erst entlassen, als sie ihnen zur Last fallen. Verwertung und Umgestaltung im Interesse der Fremden prägt die Entwicklung der Inseln auch über die zugestandene Selbstbestimmung hinaus. Sie fallen gleichsam wiederholt der Besitznahme durch europäische Ankömmlinge zum Opfer. Die Bemächtigung wird unter wechselnden Aspekten erneuert. Die Karibik verkörpert gleichsam die Geschichte europäischer Überseereisen, ja ist selbst ein Kunstprodukt nach den jeweiligen Wünschen der Reisenden. Hier wurden ziemlich alle Formen der Kontaktaufnahme mit dem Fremden durchgespielt. Hier werden weiterhin Trends gesetzt, die in bezug auf andere Reiseziele noch in der Zukunft liegen.
Anders als die mobilen Europäer, die karibische Gestade immer wieder als Paradies verstehen, in dem sich ihre Träume verwirklichen lassen, sehen die mehrheitlich dorthin verbrachten außereuropäischen Bewohner sie eher als Ort der Verbannung. Beide Parteien halten sich am selben Ort und doch fortgesetzt in verschiedenen Welten auf. Den Außereuropäern stellen sich die Möglichkeiten der Entfaltung durch die europäischen Herrschaftsansprüche eingeschränkt dar. Als Sklaven gehalten, haben sie am legendären Wohlstand der europäischen Herren keinen Anteil. Ihr Widerstand gegen Ausbeutung und Unterdrückung kulminiert in zahlreichen Aufständen. Nur in Ausnahmefallen sind ihnen Erfolge beschieden: Im Maroon-Krieg in Jamaika erkämpfen entlaufene Sklaven 1739 gewisses Selbstbestimmungsrecht in zugestandenen Enklaven, in Haiti wird die französische Revolution Auslöser für eine Sklavenrevolution, die 1804 zur Unabhängigkeit führt, in Surinam erzwingen Sklaven, denen es gelingt, sich in den Dschungel abzusetzen, 1825 ein Abkommen, das ihnen Freiheit, auch in Bezug auf die Pflege afrikanischer Kultur, zugesteht. – Die Gesellschaft wird durch den Gegensatz von Herren und Sklaven zu einem engen Kastensystem, in dem die konstante Repression wenig Wandel erlaubt. Verglichen mit den Neuerungen durch die industrielle Revolution in Europa, versinkt die Karibik allmählich in Rückständigkeit. Da sie den Europäern vor allem als Sprungbrett sozialen Aufstiegs dient, wird der Aufbau von sozialen Dienstleistungssystemen vernachlässigt. Raubbau erschöpft die Naturreserven; denn die Erträge der Zucker-Monokultur sinken, wenn nicht laufend neue Felder gerodet werden. Als im Zuge der Produktionsmodernisierung auf Betreiben Englands nach 1807 erst der Sklavenhandel international geächtet und dann ab 1838 allmählich auch die Sklaverei abgeschafft wird, bleiben die Rechte der Befreiten, auf Landerwerb und Migration etwa, auch fernerhin eingeschränkt, um sie zu Plantagenarbeit auf Lohnbasis zu zwingen. Die Tendenz der Verweigerung führt ab Mitte des 19. Jahrhunderts zum Import von Arbeitskräften aus Indien, Java und China. Der wirtschaftliche Verfall kann damit letztlich nicht aufgehalten werden, aber der Rassenkonflikt wird durch die Konkurrenz der Asiaten, besonders in Trinidad und den Guayanas, wo Inder einen großen Bevölkerungsanteil stellen, um eine Komponente bereichert. – Die USA öffnen die von den Europäern vernachlässigten Kolonien ihrem Interesse, beaufsichtigen die Region und intervenieren im Krisenfall. Zusammen mit der wirtschaftlichen Penetration durch die US-Amerikaner etabliert sich der Tourismus. Erste Kreuzfahrten finden schon im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts statt. Während Fremde das Paradies aufs neue invadieren, suchen Einheimische daraus zu entkommen. Emigration in die amerikanischen und europäischen Metropolen setzt ein. – In den 30er Jahren dieses Jahrhunderts formieren sich Bewegungen gegen die Kolonialherrschaft. Schrittweise Dekolonisierung läßt eine einheimische Führungselite nachrücken. Mit der Freigabe durch die Kolonialmächte zerfallen die Territorien in Nationen von Inselformat. Die formale Freiheit löst noch nicht die Probleme, die mit dem kolonialen Erbe verbunden sind. Soziale Gegensätze und ein hierarchisch steiler sozialer Rahmen bestehen fort. Als Abhängige in ein System internationaler Beziehungen eingebunden, bilden sie weiterhin Subsysteme fremder Interessen. Ihre Wirtschaft ist den Bedürfnissen der Bevölkerung wenig angepaßt, die Gesellschaft produziert, was sie nicht braucht, und verbraucht, was sie nicht produziert. Tourismus als überproportional wachsender Wirtschaftsfaktor weckt Hoffnungen, aber auch Befürchtungen. Die einen befürworten den Fremdenverkehr als Mittel, die eigenständige Entwicklung zu fördern, die anderen sehen dadurch die bestehende Abhängigkeit perpetuiert. 1 – Reisen in die Karibik erzeugen nicht nur einen Spannungszustand für die Besucher, sondern auch bei den Besuchten.
Eher als eine räumliche Einheit bildet die Karibik einen unscharf definierten Zwischenraum, einen Kreuzungspunkt von Einflüssen aus Europa, Afrika und beiden Teilen Amerikas. Uneinheitliches springt bei der Betrachtung der internen Verhältnisse stärker ins Auge als Verbindendes. Als eine Vielzahl von Inseln sind sie geographisch fragmentiert. Die Bevölkerung zeigt mit europäischen, afrikanischen, indianischen und asiatischen Bevölkerungsanteilen extreme ethnische Vielfalt. Die sprachliche steht dieser nicht nach, ohne daß jedoch die Sprachgrenzen mit den ethnischen Unterschieden übereinstimmten. Auch verschiedene Bezeichnungen für die Region und unterschiedliche Konzepte ihrer Abgrenzung konkurrieren. Bezeichnungen wie "Las Indias", "West Indies", "Antillen" koinzidieren mit dem Sprachgebrauch der Eroberer verschiedener europäischer Nationen, aber auch unterschiedlicher Epochen und beziehen sich vornehmlich auf die jeweilige Ausdehnung der politischen Besitzungen der Bezeichnenden. Geschlossen spielen sie auf den Irrtum der Entdecker an, die sich auf den Vorinseln Asiens wähnten. Nur die in jüngster Zeit auch international verbreitete Bezeichnung "Karibik" ("Caribe", "Caribbean") läßt neben einem Raumkonzept auch eine kulturelle Identität anklingen, wenn es sich auch nicht um die der Kariben handelt.
Geographisch besehen handelt es sich um die Amerika vorgelagerten Inseln, die vom karibischen Meer umschlossen werden, die Großen und die Kleinen Antillen, die Bahamas, Caymans und verstreute kleinere Inseln, die keiner der größeren Gruppierungen zugeschlagen werden. Ein Konzept kulturräumlicher Abgrenzung rechnet der Region auch Küstengebiete des amerikanischen Festlands rund um die karibische See, wie Guayana, Belize und andere unter dem Kriterium zu, daß Plantagenökonomie und afrikanische Bevölkerung sie prägen. 2 Ein von euro-afrikanischen Kulturelementen bestimmtes Gebiet wird so von den euro-indianisch geprägten des Kontinents abgegrenzt.
So naheliegend eine kulturräumliche Abgrenzung für die Studie erscheint, haben sich die Kriterien dafür doch erst im Verlauf des betrachteten Zeitraums ergeben. Zur Zeit der Entdeckung ist noch nicht die Rede von Plantagen und afrikanischer, sondern nur von indianischer Bevölkerung. Ein Konzept des karibischen Raums, das der Auswahl von Texten unterschiedlicher Entstehungszeit zugrundeliegen soll, muß gewissen Spielraum bieten. Neben den Inseln werden auch Saumgebiete an der Küste der karibischen See als Reiseziele berücksichtigt, auch wenn die Fahrten zu einer Zeit stattfanden, als sie streng genommen noch nicht als karibisch gelten konnten. – Reisende beschränken sich auch nicht unbedingt auf karibische Ziele. Als Reisen in die Karibik werden vereinzelt auch solche berücksichtigt, die darüber hinausgehen.
Mit dem Begriff "Kultur" assoziiert man im engeren Sinn einen besonders veredelten Bereich des sozialen Lebens, die Pflege schöpferischer Tätigkeiten, die der Vervollkommnung des geistigen Lebens dienen, und bringt Schöpfungen damit in Zusammenhang, die geistige Anstrengungen in reiner Form verkörpern. Bei näherer Betrachtung erweist sich die Loslösung eines Bereichs rein geistigen Lebens von den praktischen sozialen Vorgängen als willkürlich. In einem weiteren Sinn kann alles, was von einer Gesellschaft gepflegt und tradiert wird, auch als Ergebnis geistiger Anstrengungen gesehen werden. Alle organisierten Tätigkeiten einer Gesellschaft erfordern spezifische Kenntnisse, die erworben werden müssen, und ihre Schöpfungen verkörpern somit Wissen. Der geistige Überbau einer Gesellschaft stützt sich auf eine materielle Grundlage. Beide Sektoren sind wechselseitig miteinander verbunden.3
Ein in diesem Sinn erweitertes Verständnis führt zu einem Kulturbegriff, der die Gesamtheit der organisierten Tätigkeiten einer Gesellschaft umfaßt. Er trägt der Einsicht Rechnung, daß einzelne soziale Phänomene nur im Zusammenhang mit anderen derselben Gesellschaft verstanden werden können. Technik, Wirtschaft, Politik, Philosophie, Kunst, Religion etc. stehen in Wechselbeziehung miteinander. Unter ganzheitlicher Betrachtungsweise wird kulturelle Eigenart als Produkt einer spezifischen Lebensweise angesehen, wie es z.B. für Ethnologen kennzeichnend ist. Jedes Volk praktiziert demgemäß, auch wenn seine Organisation des gesellschaftlichen Lebens einfach erscheint, eine unverwechselbare soziale Ordnung, eine eigene Kultur. Abhängig von den besonderen Erfahrungen in der Auseinandersetzung der Gruppe mit der Umwelt, der sie das Lebensnotwendige abgewinnen, entwickelt sich ein Überbau wirtschaftlicher und politischer Institutionen sowie geistiger und künstlerischer Schöpfungen. Gesellschaft und Kultur sind korrelative Größen: "Eine Gesellschaft ist eine Gruppe von Personen, deren gesamte organisierte Tätigkeiten genügen, um jedem einzelnen die Befriedigung seiner materiellen und psychologischen Bedürfnisse zu sichern, und die sich als Einheit mit genau festgelegten Grenzen betrachtet. Eine Kultur ist ein komplexes Ganzes von materiellen Gegenständen, Verhaltensweisen, Ideen, die in jeweils besonderem Maß von jedem der Mitglieder einer determinierten Gesellschaft erworben werden. Eine Gesellschaft könnte nicht ohne eine Kultur bestehen, jenes kollektive Erbe, das von Generation zu Generation weitergegeben wird und das den Nachkommen davon befreit, alle Lösungen auf die Fragen seiner Existenz selbst wiederfinden zu müssen; eine Kultur setzt die Existenz einer Gruppe voraus, die sie langsam schafft, sie lebt und sie mitteilt."4
Kultur ist kein konkreter Gegenstand, sondern eine Abstraktion, eine Betrachtungsweise vielfältiger Phänomene und Zusammenhänge, für die die Bezeichnung System in doppelter Hinsicht zutreffend ist. Unter einem Blickwinkel ist sie ein komplexes Ganzes, das als Einheit funktioniert und stabile Charakteristika produziert. Die Betrachtung als holistischer Zusammenhang abgestimmter Wechselbeziehungen zwischen zahlreichen, weit verzweigten Subsystemen, die alle organisierten Tätigkeiten einer Gesellschaft umfassen, enthüllt ein charakteristisches Verhältnis zwischen den Einzelteilen, eine spezifische kulturelle Eigenart. – Unter einem anderen Blickwinkel ist sie ein Stück Information, kollektives Wissen, das jedem Mitglied der Gesellschaft – nicht in allen Einzelheiten, aber bis zu gewissem Grad – vermittelt werden muß. Als ein System von Regeln betrachtet, kann ihre Kenntnis erworben werden und ermöglicht so dem Betreffenden die Adaptation an die entsprechende soziale und natürliche Umwelt.
Kultur in ihrer letzteren Gestalt bildet gleichsam die Anleitung zu einem Prozeß, der das abgestimmte Zusammenwirken von sozialen Aktivitäten immer wieder schafft, sicherstellt und erneuert. Sie variiert nicht nur von Gesellschaft zu Gesellschaft, sondern ist auch selbst veränderlich und entwicklungsfähig. Wenn ihre Charakteristika auch relativ stabil erscheinen, ist das Gleichgewicht der zugrundeliegenden Wechselbeziehungen doch ein fließendes. Eine Kultur paßt sich wechselnden Gegebenheiten und neuen Einflüssen an. Die tradierte Information ist veränderbar, aktuelle kann aufgenommen, veraltete getilgt werden. Wenn Einzelheiten des Systems sich verändern, wandelt sich in der Folge die Kultur als ganze. Anstöße zu solchen Veränderungen werden zumeist von äußeren Einflüssen ausgehen, etwa Veränderungen der Umwelt oder aber Konfrontationen mit einer anderen Gesellschaft und deren Kultur. Aber Impulse zur Erneuerung können auch von innerhalb der Gesellschaft ausgehen, etwa von Erfindungen, die technischen Fortschritt bedeuten, von geistigen Schöpfungen, die das Weltbild revolutionieren, oder auch von der gezielten Suche nach Herausforderungen, wie sie Reisende verkörpern, die den Bereich der Kultur überschreiten, der sie angepaßt sind.
Trotz der dynamischen Qualitäten ist die Kultur einer Gesellschaft nicht beliebig veränderbar. Das Gleichgewicht mag fließend sein, aber es ist auch labil und verletzlich. Eine Kultur ist zerstörbar wie die Umweltbedingungen, auf die sie sich gründet, oder die Völker, die sie schaffen. Kulturen gehen unter, wenn der Prozeß sozialer Erneuerung versagt. Sie werden durch Konflikte zwischen den Völkern in Mitleidenschaft gezogen, durch die Herrschaft einer über eine andere Gesellschaft deformiert und auch auf friedliche Weise ausgemerzt, indem Gesellschaften miteinander verflochten und kulturelle Unterschiede vereinheitlicht werden.
Die Konfrontation mit anderen Verhältnissen stellt für Besucher wie Besuchte eine Herausforderung dar; denn verschiedene Kulturen sind nicht ohne weiteres zu vereinbaren. An einer Lebensweise, deren Regeln man nicht erlernt hat, ist vieles unverständlich oder steht im Widerspruch zur erlernten Ordnung der Dinge. Was im Rahmen der einen funktioniert, versagt oft im Rahmen der anderen. Weithin geläufig sind die Schwierigkeiten, die sich ergeben, weil man die fremde Sprache nicht versteht. Darüber hinaus weichen meist auch bestimmte sittliche Regeln und praktische Verfahrensweisen vom Gewohnten ab, ideologische Vorstellungen und Wertmaßstäbe differieren, gesellschaftliche Institutionen und Strukturen variieren. Eine auch nur partiell abweichende soziale Organisation bringt eine insgesamt andere Lebensweise und Weltsicht hervor. Die resultierende Desorientierung – weil das bestehende Wissen mit den veränderten Verhältnissen inkompatibel ist – erfordert Umstellung auf der einen oder anderen Seite. – Wenn die Regeln einer Kultur zu erlernen waren, lassen sich auch die einer anderen zulernen – ähnlich wie eine Fremdsprache. Kulturkontakte können jedoch ebenso konstruktiv wie destruktiv verlaufen. Beispiele für Mehrsprachigkeit sind verbreitet. Auch in anderer Hinsicht werden fremde Kulturmuster als Anregung zuzulernen begriffen. Musiker erweitern ihre Fähigkeiten, indem sie auf fremde Klangmuster eingehen, Künstler und Handwerker greifen fremde Techniken und Ausdrucksformen auf, Denker, übernehmen andere Vorstellungen und auch müßige Reisende adaptieren sich mitunter der andernorts praktizierten Lebensweise. Aber kulturelle Differenzen werden nur allzu häufig auch als Anlaß zu erbitterten Konflikten verstanden.
Die erfolgreiche Expansion europäischer Kolonialmächte hat räumlich unzusammenhängende Territorien mit ihren kulturell vielfältigen Bevölkerungen in riesige Kolonialreiche zusammengezwungen und auch über deren Bestand hinaus ein System internationaler Verflechtung hervorgebracht, dem sich keine Gesellschaft mehr entziehen kann. Kontakte zwischen den Völkern wurden global. Der Austausch und die damit verbundenen Anregungen zu kultureller Neuerung gelten bei den Initiatoren generell als positiv. Was aber für die einen Gewinn bedeutet, ist für die anderen vielfach ein Verlust; denn der Kontakt erweist sich nicht für alle gleichermaßen als anregender Entwicklungsimpuls, sondern zerstört auch die Grundlagen so mancher traditionsreichen Lebensart. – Insbesondere der Frage nach der Qualität des Verhältnisses zwischen europäischen Reisenden und Außereuropäern soll hier nachgegangen werden. Dabei ist weniger von Belang, mit welchen Kulturen sie im einzelnen in Berührung kommen, als vielmehr, wie sie sich in einer Situation persönlichen Kontakts mit Vertretern einer anderen Lebensweise verhalten und in welchem Verhältnis der Austausch erfolgt.
Reisende unterscheiden selten scharf zwischen den verschiedenen Bereichen, denen fremdartige Phänomene erwachsen. In der Regel wird versucht, sie pauschal in einen einzigen Zusammenhang einzuordnen. Besonders Rasse, und Kultur werden in der Vorstellung europäischer Betrachter ebenso fälschlich wie hartnäckig in Verbindung gebracht. Mit rassischen Termini sind selten nur biologische Unterschiede gemeint, sondern gleichzeitig wird eine exotische Fremdartigkeit mitbedeutet, die im Gegensatz zur eigenen Kulturordnung steht. Sozial erworbene Eigenschaften und auch die kulturelle Prägung sozialer Verhältnisse werden mit Vorliebe einer biologisch fixierten "'Wesensart" von Negern, Indianern oder Chinesen zugeschrieben. Rassische Merkmale haben jedoch ebenso wenig soziale Bedeutung wie sie als Produkt sozialer Wechselwirkungen zu verstehen sind. "Nicht weil eine Menschengruppe einer bestimmten Rasse angehört, ist ihre Technik eher bäuerlich als industriell, ist ihre politische Organisation eher autoritär als demokratisch, ist ihre Kunst eher expressionistisch als realistisch. Rasse und Kultur sind zwei voneinander unabhängige Größen.” 5 Wenn in der Folge von den "Anderen" im Sinne rassischer und kultureller Unterscheidung die Rede ist, dann deshalb, weil es der Terminologie der betrachteten Texte entspricht.
Die Besonderheit der karibischen Verhältnisse ist ihre kulturelle Vielfalt. Die Europäer, die sich der Inseln bemächtigten, versuchten zwar, die jeweils eigene Kultur zu inszenieren und die fremde den eigenen Maßstäben anzupassen, aber mit der Vielzahl afrikanischer und später asiatischer Arbeitskräfte importierten sie immer neue und unterschiedliche Kulturelemente, die sich zwar teilweise vermischen, aber nicht restlos vereinheitlichen ließen. Die Gesellschaft bleibt ethnisch heterogen. Unterschiedliche kulturelle Entfaltung wird jedoch politisch unterdrückt. Verschiedene Kulturen überlagern sich. Aus der Vermischung werden neue Varianten geboren. Auch europäische Traditionen bleiben von Veränderungen nicht verschont. Nicht immer ist eindeutig zu benennen, welchem kulturellen Zusammenhang einzelne Praktiken entstammen. Rassische Diskrimination tritt an die Stelle kultureller Unterscheidung und prägt die koloniale Gesellschaft. Die erstrebte Vereinfachung der komplexen Situation durch ein rigides Herrschaftsgefüge nach rassistischem Konzept erschwert den Kontakt der Kulturen. Konkurrierend finden mehrere parallele Prozesse kultureller Erneuerung statt. Keiner davon kann exklusiv beanspruchen, die Anpassung der Gesellschaft, in der nachdrücklich getrennte Bevölkerungsgruppen zusammengezwungen sind, an die karibische Umwelt zu gewährleisten. – Einheimische reagieren auf die so komplexe wie gespannte Situation häufig mit mehrfacher kultureller Adaptation, europäisch geprägte Ankömmlinge eher doppelt verunsichert.
Reisen bieten sprichwörtlich Erzählstoff: Wenn einer eine Reise tut... Die Volksweisheit findet sich auch in Bezug auf schriftliche Zeugnisse bestätigt. Reisen werden ausgiebig beschrieben. Daß ihnen auch literarisch viel Raum zugebilligt wird, mag an der gesteigerten Erlebnisdichte unterwegs liegen. Reisende werden unwillkürlich zu besonderen Informationsträgern. Die Neuigkeiten sollen einerseits den Daheimgebliebenen vermittelt werden, die darüber informiert werden wollen, andererseits regen die unausbleiblichen Komplikationen, die den Betreffenden jenseits des Bekannten und Gewohnten widerfahren, auch manchen zu schriftlicher Bearbeitung der Ereignisse an, der nicht unbedingt eine Publikation im Sinn hat; denn die ordnende Komposition des Erlebten erleichtert auch die psychische Bewältigung des Außergewöhnlichen. Nicht umsonst werden Reisetagebücher geführt.
Beschreibungen von Reisen in die Karibik bilden einen durchgängigen Diskurs. Sie nehmen aufeinander Bezug, ergänzen sich, korrigieren sich, aktualisieren den Stand der Information. Die sensationelle Entdeckung Amerikas löste zu ihrer Zeit ein verständliches Interesse an eingehender Berichterstattung aus. Für jede der als Staatsunternehmen organisierten Expeditionen war sie verpflichtend. Trotz Zensur und eingeschränkter Publikationsmöglichkeiten fanden sich Wege der Verbreitung. Reiseberichte standen hoch im Kurs, und bis heute hat das Interesse daran nicht nachgelassen. Auch wenn die Entdeckungen schon vielfach beschrieben worden sind, nimmt die Zahl der Veröffentlichungen im Lauf der Zeit weiter zu. Von der Popularität des Genres zeugen nicht nur Monographien, sondern auch in Zeitungen und Illustrierten wird von Reisen und Reisezielen berichtet. Spezielle Reisemagazine haben sich etabliert. Neben literarische Beschreibungen treten Film und Fernsehen. – Über die Karibik und die Fahrten dorthin entsteht durch die Zahl aufeinanderfolgender Beschreibungen und die unterschiedlichen Blickpunkte ein sowohl zusammenhängendes als auch bewegtes Bild. Unter den ausgewählten Texten Reisender über die Karibik finden sich Reiseberichte, die in sachlicher Form den Verlauf einer Expedition protokollieren, Reisetagebücher mit datierten Eintragungen besonderer Vorkommnisse, Abhandlungen, die den Gegenstand der Erfahrung in verallgemeinerter. Form behandeln, Briefe an bestimmte Adressaten, ausführliche Reiseerzählungen, die auch auf die Reflexion des Erlebten Wert legen, Reisereportagen, die Erfahrungen unter aktuellen Gesichtspunkten aufbereiten, und auch Reiseromane, die die Komposition des Erlebten über dessen Dokumentation stellen.
Schon an diesem Spektrum von Textsorten wird deutlich, daß in der Darstellung von Reisen Dokumentation und Fiktion ineinander übergehen. Zwar steht der Dokumentationscharakter bei den Texten im Vordergrund – den Beschreibungen liegen tatsächlich unternommene Reisen zugrunde, und die Darstellung des Erfahrenen vermittelt gezielt den Eindruck unbedingter Wirklichkeitstreue –, aber die unterschiedliche Art der Gestaltung läßt einen breiten Spielraum in Bezug auf das erkennen, was als berichtenswert ausgewählt wird. Rezeptionserwartungen und entsprechend gewählte Textsorte gestalten den Gegenstand der Beschreibung indirekt mit.
Dabei ist es nicht notwendigerweise so, daß eine betont sachliche Darstellungsweise auch den höchsten Grad an Wirklichkeitstreue aufweist. Gerade die Sachlichkeit faktischer Reiseprotokolle beruht auf strenger Selektion des Berichteten und verfremdet den Gegenstand, indem sie ihn auf Vordergründiges und eindeutig Begreifbares reduziert. In scheinbarer Präzision wird, mehr oder weniger gezielt, ein fiktiver Eindruck erweckt.Auch Abhandlungen können in dieser Hinsicht trügerisch sein, da die Verarbeitung des Wahrgenommenen zu wissenswerter Information leicht ein vorgefertigtes Ordnungskonzept zugrundelegt. Das Fremde erscheint plausibel, weil es sich bestehenden Konzepten fügt, die eventuell aber dem Beschriebenen weniger gerecht werden als eigenen Überzeugungen. – Texte, die sich in der Darstellungsweise eng an die Wahrnehmungen ihrer Autoren halten, wie Tagebücher und Briefe, sind ebenfalls nicht immer frei von fiktionalen Elementen. Es gibt fiktive Tagebücher, deren datierte Eintragungen den Eindruck des Authentischen gezielt hervorrufen, und Briefe, die nie abgesandt, sondern von vornherein als Sammlung konzipiert oder als offene Briefe in Zeitungen gesetzt werden. – Bei Texten, in denen Reisen in elaborierter Form präsentiert werden, deutet schon das Gewicht auf der Komposition des Erlebten zu einer Geschichte auf fiktionale Momente. Reiseerzählungen und Bearbeitungen in der Form von Romanen verraten häufig die Absicht, eher zu unterhalten als zu dokumentieren, und auch Reportagen, wo Wirklichkeitstreue vorgegeben wird, steht dieses Ziel nicht immer fern. Aber unter den eher poetisch als sachlich gestalteten Beschreibungen finden sich auch solche, deren Glaubwürdigkeit durch die Darstellungsweise nicht gemindert, sondern erhöht wird und die dem Ziel der Dokumentation näher kommen als die meisten sachlichen Darstellungen, gerade weil die Autoren die Wahrheit des Berichteten nicht strikt behaupten, sondern sich im Text selbst reflektieren und ihre Sichtweise des Anderen zur Debatte stellen. Erzählung tritt gelegentlich bewußt an die Stelle faktischer Abhandlung. Beschreibungen dieser Art entstammen in jüngster Zeit z.B. auch dem Bereich der Ethnographie. 6 Auf der Suche nach angemessenen Formen der Dokumentation des Außergewöhnlichen werden unterschiedliche Darstellungsweisen erprobt, Textsorten überschneiden und vermischen sich, ohne daß fiktionale Momente, die die angestrebte Objektivität der Darstellung beugen und die "Wirklichkeit" verfremden, sich grundsätzlich vermeiden ließen.
Die Art der Gestaltung des Erlebten variiert auch mit der Zeit. Im Verlauf des Diskurses durch die Epochen sind periodisch Schwerpunkte auszumachen. Bis ins 17. Jahrhundert steht sachliche Informationsbeschaffung im Vordergrund. Es finden sich vorwiegend Berichte über den Verlauf von Expeditionen und kosmographische Abhandlungen, die den Versuch unternehmen, das Entdeckte in einen bestehenden Wissenszusammenhang einzuordnen. In den Beschreibungen wird eher grob gesichtet und stark verallgemeinert als detailliert geschildert. Abgesehen von protokollierten Aktivitäten der Europäer in Übersee finden sich in Bezug auf das Andere eher Spekulationen als Reflexionen. – Erst ab Ende des 18. Jahrhunderts, als die Inseln fest in europäischer Hand sind, setzt eine gezielte Beschäftigung mit Einzelheiten ein. Eine zweite Entdeckung unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten findet statt. Das Fremde wird klassifiziert und vermessen. Das Interesse konzentriert sich dabei auf Phänomene aus dem Bereich der Natur, schließt aber auch "Naturvölker" ein. Die Schilderungen lassen deutlich auch persönliche Initiative und Sichtweise ihrer Autoren erkennen. – Seit Beginn des 19. Jahrhunderts gehen Wellen vermehrten Interesses an journalistischer Beschreibung über die Karibik hinweg, die jeweils von aktuellen politischen Ereignissen ausgelöst werden: der Unabhängigkeit Haitis, der Aufgabe der Sklaverei, dem wirtschaftlichen Niedergang der Kolonien, der Entlassung in Unabhängigkeit, der Revolution in Kuba. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts treten Beschreibungen unter privaten Gesichtspunkten, besonders des persönlichen Vergnügens, in den Vordergrund. – Abgesehen von Zeitströmungen, die sich auch in spezifischen Wahrnehmungs- und Beschreibungsweisen bemerkbar machen, finden sich – verstreut und eher gleichmäßig über die Epochen verteilt – Schilderungen von einzelnen beruflich in die Karibik Versetzten, Abenteurern, dorthin Verschlagenen und Besuchern, die bestehende Kontakte pflegen. Ihre Darstellungsweise wird eher von den spezifischen Vorhaben als von Zeitströmungen geprägt.
Verallgemeinernd lassen sich einige Tendenzen diachronischer Veränderung an dem Diskurs verfolgen. Die Adressaten der Texte wechseln. Waren sie ursprünglich in der Regel an Vorgesetzte und Gesellschaftsobere wie Landes- und Kirchenfürsten gerichtet, denen die Autoren Rechenschaft ablegen, so wenden sie sich mit der Zeit an eine breitere Öffentlichkeit, der sie ihre Erfahrungen freiwillig und ungebeten unterbreiten. Die Berichterstattung im nationalen Interesse weicht einer, die sich in vielfältige Interessengebiete aufspaltet, die zunehmend von Privatpersonen vertreten werden. Faktische Information wird durch subjektive Wahrnehmungen und eigene Reflexionen der Autoren ergänzt. Der Darstellende tritt auch als Protagonist auf. Die Entdeckung wird immer stärker zu einer Selbstentdeckung.
Sprachlich fächert sich die anfänglich vornehmlich spanisch gehaltene Berichterstattung mit dem kolonialen Engagement von England, Frankreich und Holland in der Karibik merklich auf. Ab dem 17. Jahrhundert wird sie von vorwiegend englischen Texten abgelöst. Darin spiegelt sich die koloniale Vormachtstellung der Engländer in Amerika, die sich verstärkt auch in Reisen niederschlägt. Zusätzliches Gewicht erhält die Berichterstattung auf Englisch noch durch die Beschreibungen Reisender aus den unabhängigen USA, für die die Karibik nicht nur in nachbarschaftlichem Zusammenhang steht, sondern zunehmend Teil einer sich erweiternden Interessensphäre wird. Beschreibungen aus dem englischsprachigen Amerika überwiegen die von Besuchern aus dem spanischsprachigen. Mit dem wirtschaftlichen Verfall der Kolonien erweitert sich das sprachliche Spektrum der Beschreibungen nochmals, denn Besucher strömen nunmehr auch aus Nationen wie Deutschland, die mit den jeweiligen Kolonialmächten konkurrieren, in die quasi herrenlosen Besitzungen.
Sprachliche Vielfalt – auch wenn sie mit der Zeit noch zunimmt – ist von Anfang an charakteristisch für den Diskurs. Es handelt sich beim Projekt der Kolonisierung seit Beginn um ein europäisches Unterfangen, in das neben den portugiesischen und spanischen Initiatoren auch Vertreter anderer europäischer Nationen maßgeblich verwickelt sind. Schon der Entdecker Amerikas stammt aus Genua und wechselt erst in portugiesische, dann spanische Dienste. Seine Berichte verfaßt er in einer Fremdsprache. Auch der Namensgeber Amerigo Vespucci aus Florenz steht als Kosmograph wechselweise in spanischen und portugiesischen Diensten, verfaßt aber seine berühmten Briefe auf Italienisch beziehungsweise Lateinisch.
Autoren von Reisebeschreibungen treten nicht unbedingt auch anderweitig als Schriftsteller hervor. Dazu berufen fühlen sich, neben Kosmographen und amtlichen Berichterstattern, Journalisten, Wissenschaftlern und Reiseschriftstellern, auch diejenigen, deren Unternehmungen öffentliches Interesse beigemessen wird oder die ihre Reiseeindrücke im privaten Rahmen festhalten und die glauben, aufgrund ihrer besonderen Welterfahrung einen persönlichen Wissensvorsprung vermitteln zu können. Überzeugt von der eigenen Bedeutung, knüpfen Reisende aller Art an die Tradition der Entdecker an und profilieren sich mit der Veröffentlichung ihrer persönlichen Erfahrung. Die steigende Zahl von Reisenden bringt eine wahre Flut von Beschreibungen mit sich, die in einem erweiterten Sinn als Beiträge zur Entdeckung zu verstehen sind. Ihre Autoren entstammen einem breiten sozialen Spektrum. Darunter finden sich Verantwortliche von Expeditionen, aber gelegentlich auch Mannschaftsangehörige, die mit der Beschreibung betraut werden, in den Kolonien stationierte Offiziere, Beamte, Missionare, Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen, die Forschungsreisen unternehmen. Aber auch Vertreter mittlerer und unterer Schichten kommen zu Wort, die als Abenteurer, Flüchtlinge oder Touristen unterwegs sind. Im Verlauf des Diskurses läßt sich die Tendenz beobachten, daß Reisende, die als Autoren hervortreten, zunehmend die Allgemeinheit vertreten und nicht mehr nur die Hoheitsträger. Darin bildet sich auch ein Prozeß allmählicher Demokratisierung von Reisen ab.
Einige der in die Auswahl gelangten Texte sind nur in einem erweiterten Sinn als Reisebeschreibungen anzusehen. Grenzfälle bilden Abhandlungen über karibische Verhältnisse zur Zeit der Entdeckungen, in denen von der Person des Verfassers und der Darstellung seiner Reise abstrahiert und Erfahrung in faktisch verarbeiteter Form präsentiert wird.7Zur Zeit ihrer Entstehung ist eine unpersönliche Schilderung der Ereignisse auch in Texten, die sich an den Reiseverlauf halten, die Regel. Und daß Reiseerfahrungen sachbezogen geordnet werden, ist ebenso ein gängiges Muster der Beschreibung. Als Texte, die einen wesentlichen Beitrag zum Diskurs leisten – viele der späteren Autoren berufen sich auf sie und ihre charakteristische Position – sollen sie hier als Reisebeschreibungen betrachtet werden. In jüngster Zeit gibt es als Grenzfälle solche Texte, bei denen nicht klar hervorgeht, ob sie als Dokumentation oder als Fiktion zu verstehen sind. Reisedarstellungen werden mitunter als Romane gekennzeichnet, 8 und gelegentlich distanziert sich auch der Autor von seinem Protagonisten, indem er von ihm in unpersönlicher Form wie von einem anderen berichtet.9 Fiktionale Elemente sind in den Texten keine Seltenheit. Erdachtes und Verfremdetes wird vielfach als Dokumentation ausgegeben, umgekehrt müssen Anzeichen der Distanzierung des Autors vom Berichteten nicht unbedingt im Sinne von eingeschränkter Glaubwürdigkeit gedeutet werden. Sie können auch Stilmittel sein, um Begebenheiten wahrheitsgemäß zu dokumentieren, ohne sich als Autor zu kompromittieren.
Nicht alle Autoren sind Europäer im engeren Sinn, wenn man dafür Herkunft oder Abstammung zugrundelegte. Das Kriterium ist im Sinn von kultureller Prägung gemeint, die bedingt, karibische Verhältnisse mit europäischem Blick zu betrachten und kulturelle Phänomene, die nicht abendländischer Tradition entsprechen, als fremd im Sinn von exotisch wahrzunehmen. Dieses Kriterium trifft auch auf Außereuropäer wie Amerikaner zu, die sich in europäische Kulturtradition stellen. Grenzfälle bilden einzelne farbige Autoren, die ursprünglich aus der Karibik stammen oder dorthin verschleppt wurden, in Europa wahlbeheimatet sind und Reisen in die Karibik schildern.10 Ihre Perspektive ist gleichsam die Gegenprobe zu der, die Kultur und Rasse in Übereinstimmung zu bringen versucht.
Der Fundus freimütiger Selbstzeugnisse über den Kontakt mit anderer Kultur in der Karibik in Form von Reisebeschreibungen bietet eine Fülle von Anschauungsmaterial dafür, wie Europäer das Verhältnis zum kulturell Andersartigen gestalten. Einerseits dokumentieren sie, wie sie selbst sich in der Begegnung damit verhalten, andererseits komponieren sie das Erfahrene mit bestimmter Wirkungsabsicht zu dem Text, den sie mitteilen. Sie bilden nicht nur erlebte Wirklichkeit getreu ab, sondern rekonstruieren diese unter besonderen Gesichtspunkten, modellieren, perspektivieren sie und greifen mit ihrem geordneten Entwurf davon gezielt in das Wirklichkeitsverständnis ihrer Leser ein. Bei Reisedarstellungen handelt es sich im wesentlichen um Gebrauchsliteratur, mit deren Abfassung bestimmte Intentionen verbunden sind. Sie gestalten ihre Mitteilungen unter aktuellen Gesichtspunkten als nützlich, lehrreich oder unterhaltsam für ihre Leser. Über deklarierte Absichten hinaus schaffen ihre Verfasser implizit, aber durchaus nicht gänzlich unbeabsichtigt, Denkweisen über andere Völker. Ihre Schilderungen beinhalten Einschätzungen, Stellungnahmen, Verhaltensbeispiele, Handlungsanweisungen, kritische Reflexionen etc. und verkörpern damit auch ideologische Vorstellungen. In den Selbstdarstellungen von Reisenden in der Fremde spiegelt sich ein persönliches Verhältnis zur dortigen Wirklichkeit und unweigerlich auch ein allgemein propagiertes. Beide stehen in enger Verbindung. Dieser ideologiebildende Prozeß soll kritisch reflektiert werden. Die Texte werden dabei nicht im einzelnen erschöpfend behandelt und ausgewertet werden können, sondern im Vergleich vieler Beschreibungen sollen Beziehungen zwischen ihnen hergestellt werden: signifikante Übereinstimmungen, Beschreibungsstereotypen, Entwicklungstendenzen, Strukturen.
Reisende begeistern sich lauthals für die Möglichkeit, in die Ferne zu schweifen. Man sollte annehmen, aus ihren Darstellungen viel über das Andere zu erfahren, das ihnen dort begegnet, und auch über die Art, wie sie lernen, sich darauf einzustellen und damit zu kooperieren. Denn in Anbetracht der Komplikationen, die ihnen widerfahren, stände zu erwarten, daß sie diese auch innerlich bewegen. Die Autoren machen es sich jedoch überraschend einfach mit dem Verständnis des Anderen. Zwar deklarieren sie in Verbindung mit ihren Vorhaben die lautersten Motive: unvoreingenommene Wißbegier, Dienst am Gemeinwohl und an der Menschheit, Austausch und Verständigung der Völker, Erweiterung des geistigen Horizonts, idealistische Weltverbesserung und Selbstvervollkommnung. Aus den Verbindungen, die sie herzustellen helfen, sehen sie hoffnungsvoll Gutes in jeder Hinsicht erwachsen, und sie reihen sich stolz in die Kette der Pioniere ein. Aber der Inhalt weicht entscheidend von ihren Deklarationen ab. Sie beschränken sich auf eine abwehrende Haltung. Nur selten äußern sie sich darüber, daß sich ihnen ein neues Verständnis erschließt, dagegen häufiger darüber, inwiefern sich die Gegebenheiten ihrem Vorverständnis widersetzen. Statt ihr Verständnis zu erweitern, beschränken sie die andere Kultur in Wort und Tat. Ihre Erscheinungen machen sie den eigenen Vorstellungen gefügig und erwecken den Eindruck, selbst aus der Konfrontation siegreich und unverändert hervorzugehen. Die europäischen Autoren verstehen die Fremde als Freiraum, wo ihre eigene Kultur – ihre Fähigkeiten, ihr Wissen, ihre Organisation, ihre Ausrüstung und ihre Ideologie – einer Bewährungsprobe unterzogen werden. Streitbar erschließen sie die Fremde ihren Interessen und beharren auf ihrem eigenen Selbstverständnis und ihrer angestammten Lebensart. Sie führen ihre Kultur mit sich und inszenieren diese vor Ort. Differenzen gelten ihnen kaum je als Anregungen zu eigener Umstellung, sondern als Streitpunkte. Überzeugt von der Richtigkeit ihrer eigenen Verfahrensweise, setzen sie die Anderen ins Unrecht und behandeln sie als Widersacher. Wenn die Überlegenheit im Verhältnis zu ihnen nicht gewährleistet erscheint, meiden sie ängstlich jede Berührung. Nur wenn sie in die Enge getrieben und auf fremde Unterstützung angewiesen sind, zeigen sie sich verhandlungsbereit, und wenn es ihnen nützt, auch kooperativ. Lieber als gegenseitige Verbindlichkeiten sind ihnen jedoch eindeutige Verhältnisse im Sinn von Unterordnung der Anderen oder Distanz zu ihnen. Gegen die Überschneidung unterschiedlicher Lebensformen und die damit verbundene Ambivalenz ohne vorherige Klärung der Rangfolge zeigt sich eine ausgeprägte Intoleranz. Andere Kultur erscheint als feindliche oder unvernünftige Gegenwelt.
Aus der Erfahrung fremder Kultur resultieren kaum innovative Impulse, vielmehr bestätigen sie sich in der Konfrontation die Überlegenheit der eigenen. Der geschilderte Erfolg ihrer Reise besteht gerade darin, daß sie sich nicht wirklich auf andere Kultur einzustellen brauchen, sondern daß das Erlernte sich auch in der Fremde bewährt. Angesichts der augenscheinlichen Unzulänglichkeit anderer Kultur im Vergleich mit der vordergründigen Überlegenheit der europäischen verleihen sie ihrer Enttäuschung und gleichzeitig ihrer Genugtuung Ausdruck. Das Exotische wird bewältigt, indem sie es entzaubern und ihm stückweise seine Reize absprechen. Die eigene Kultur, über die sie hinausgehen wollten, gewinnt in dem Maße, wie die andere verliert. Propagiert wird die Veränderung des Anderen nach eigenen Vorstellungen.
Ihrer Selbsteinschätzung zum Trotz erscheinen europäische Reisende kaum je als weltgewandte Grenzgänger zwischen den Kulturen. So erfolgreich ihre Unternehmungen auch verlaufen, kann doch ihre innere Reise mit den Variablen kultureller Wirklichkeit nicht Schritt halten. Ungeachtet der verschiedenen Kulturen, denen sie begegnen, nehmen sie deren abweichende Organisation als Unordnung wahr, als Chaos, auf das einzustellen ihnen nur mit Vorbehalt möglich erscheint. Kritische Selbstreflexion, die sie der Beschränktheit des eigenen Verständnisses gewahr werden ließe, fehlt zumeist. Die Befreiung von den Fesseln der eigenen Kultur scheitert bis auf wenige Ausnahmen. Reisen erweist sich als ein System europäischer Selbstverwirklichung, das die Infragestellung durch andere Kultur erfolgreich überwindet.
Der Studie liegen 100 Texte zugrunde, die im Zeitraum der vergangenen fünf Jahrhunderte entstanden sind. Ältestes Dokument ist das Bordtagebuch von der Reise Kolumbus', während der er, als Entdecker in spanischen Diensten, 1492 in der Karibik landete, jüngstes eine Veröffentlichung von Reiseimpressionen aus dem Jahre 1985. Fast die Hälfte der Texte entstammen dem 20. Jahrhundert. Ihr Umfang variiert zwischen wenigen Seiten, wie es für Briefe oder unselbständige Beiträge in Zeitschriften oder Sammelbänden charakteristisch ist, und mehreren Bänden. In der Mehrzahl handelt es sich um selbständige Veröffentlichungen von 200 bis 300 Seiten Umfang.
Zum Vergleich werden die Texte nach Motiven ihrer Autoren für die Reise geordnet, die sich unter den Stichworten "Entdeckung und Eroberung", "berufliche oder religiöse Mission", "Forschung und Bildung", "Abenteuer und Bewährung", "Flucht oder Verschleppung", "aktuelle Informationsbeschaffung", "Einladung zum Besuch oder zur Reisebegleitung", "Erholung und Vergnügen" zusammenfassen lassen. Die Motive für eine Reise sind nicht notwendigerweise eindeutig. Häufig lassen sich mehrere aus dem Textzusammenhang ableiten. Daraus ergeben sich Überschneidungen bei der Einteilung der Texte. Derselbe Autor kann mit seiner Beschreibung unter verschiedenen Gesichtspunkten relevant sein und auch mehrfach zur Exemplifizierung einer besonderen Haltung herangezogen werden. Im Spektrum der abstrahierbaren Varianten bilden sich auch Übergänge. – Einzelne Motive häufen sich zu bestimmten Zeiten, andere treten über weite Zeiträume verteilt auf. Mit der Auswahl der Texte wird damit jeweils auch ein zeitlicher Rahmen gesetzt. In der Folge der Betrachtung der einzelnen Motive bilden sich Zeitströmungen ab, die sich ablösen oder auch überlagern. Die Ordnung der Kapitel von Eroberern bis Vergnügungsreisenden verdeutlicht so auch die diachronische Veränderlichkeit des Diskurses.
“Die Ankunft des Kolumbus in Amerika”,
“Etliche Indianer werden erschlagen, etliche sind durch Feuersbrunst verdorben”, Beide Darstellungen aus Theodor de Bry, America, 1594
“Die Indianer gießen den Spaniern zur Ersättigung ihres Geizes geschmelztes Gold in den Mund”
“Indianer können der Spanier Tyrannei nicht länger leiden und erwürgen sich selbst”, beide Darstellungen aus Theodor de Bry, America, 1594
1 vgl. Caribbean Regional Centre for Advanced Studies in Youth Work, Tourism and its Effects; Caribbean Tourism Research and Development Centre, Proceedings of the Regional Conference on the Socio-Cultural and Environmental Impact of Tourism on Caribbean Societies;
Herbert Hiller, "Escapism, Penetration, and Response: Industrial Tourism and the Caribbean" in Caribbean Studies, Nr. 2, 1976;
Jean Holder, The Role of Tourism in Caribbean Development or Buying Time with Tourism.
2 vgl. Gerhard Sandner, “Antillen – Westindien – Karibischer Raum: Begriffe, Abgrenzungen, inhaltliche Definition” in Der karibische Raum: Selbstbestimmung und Außenabhängigkeit (Red. W. Grenz & M. Rauls, Hg. Institut für Iberoamerika-Kunde), 47-48.
3 Jacques Maquet & H. Ganslmayer, Die Afrikaner, 22-23.
4 Jacques Maquet & H. Ganslmayer, Die Afrikaner, 13-14.
5 Jaques Maquet & H. Ganslmayer, Die Afrikaner, 35.
6 vgl. Hans- Jürgen Heinrichs, "Ethnopoesie – wissenschaftliche und poetische Schreibweise" in Mythen der Neuen Welt: Zur Entdeckungsgeschichte Lateinamerikas.
7 Unter den vorliegenden Texten die der Autoren: B. de las Casas, Apologética Historia de las Indias; G. Fernández de Oviedo, Sumario de la Natural Historia de las Indias; J. du Tertre, Histoire Générale des Antilles habitées par les Français
8 Unter den vorliegenden Texten die der Autoren: Rudolf Jacobs, Sonne über Haiti; Peter Zingler, Tod in Kingston.
9 Solveig Ockenfuß, "Von einer, die auszog, das Fürchten zu lernen”; Peter Zingler, Tod in Kingston.
10 Olaudah Equiano, Equiano's Travels; Vidia S. Naipaul, The Middle Passage; Edgar Mittelholzer, With a Carib Eye.
Eine Reihe von Reisebeschreibungen, die Fahrten in die Karibik schildern, eint die raumgreifende Vorgehensweise ihrer Autoren. Gestützt auf einen nicht immer ganz expliziten gesellschaftlichen Auftrag, betreiben sie systematische Erkundung und erheben mit ihrem Vorstoß gleichzeitig Anspruch auf das entdeckte "Neuland", so daß ihre Reise sich als von expansionistischen Motiven bestimmt darstellt. – Das Streben der Europäer nach Wachstum erscheint mehrdeutig. Offiziell sollen die Handelsbeziehungen ausgedehnt, der christliche Einflußbereich erweitert und das politische Machtgebiet vergrößert werden. Mit den deklarierten Ansprüchen überschneiden sich stille Hoffnungen der Beteiligten auf ein erweitertes Betätigungsfeld bürgerlicher Unternehmerinitiative und größeren Spielraum persönlicher Entfaltung. Erfüllung gesellschaftlicher Pflichten und Emanzipation von gesellschaftlicher Kontrolle kreuzen sich. Das Motiv der "Expansion' ist ebenso den Texten von Entdeckern wie Eroberern zu entnehmen, ob sie sich nun vorerst darauf beschränken, dem Unbekannten Kenntnisse zum Nutzen der eigenen Gesellschaft abzugewinnen oder unverhüllt als Besatzer im Namen einer Nation auftreten, und auch denen der Freibeuter, denen es vordringlich darum geht, den persönlichen Handlungsspielraum in Form von Raubzügen zu vergrößern. Ihre unterschiedlichen Motive zeigen sich eng miteinander verknüpft, so daß sich ihre Texte gemeinsam betrachten lassen. – Chronologisch verteilen sie sich über die Epoche der “Entdeckungen". Zwischen dem Bericht des als Erstentdecker gefeierten Kolumbus und seinen englischen, französischen und holländischen Nachfolgern liegt etwa ein Jahrhundert.
Die eindrucksvolle europäische Expansion nach Übersee unter Führung der seefahrenden Nationen der iberischen Halbinsel steht in Zusammenhang mit einem sich seit der gemeinsamen Unternehmungen der Kreuzzüge kristallisierenden europäischen Selbstbewußtsein als "christliches Abendland". Aus dem Gegensatz zur islamischen Rivalenkultur erwachsen einigende Kräfte. Gleichzeitig führt die Auseinandersetzung auch zur Imitation des Konkurrenten. Ein verstärkter Wissensaustausch resultiert. Besonders an Wissen aus der Antike wird angeknüpft, dessen Überlieferung nach dem Niedergang des römischen Reichs eher in der aufstrebenden islamischen Kultur aufgegangen war als in der des christlichen Abendlandes. – Über die iberische Halbinsel verläuft eine heiß umstrittene Front zur arabischen Sphäre. Mit den wachsenden Erfolgen der Reconquista vertieft sich der Gegensatz zwischen den Rivalen. Die Vertreibung der Moslems aus Europa mündet in ihre Verfolgung. Es geht nun darum, sich auch der Quellen ihres gesellschaftlichen Reichtums zu bemächtigen, ihrer weitgespannten Handelsbeziehungen. Die Entdecker folgen in dem Versuch, den Orienthandel unter Kontrolle zu bringen, zunächst arabischen Spuren.
Eine Situation gesellschaftlichen Umbruchs infolge von einschneidenden Veränderungen der Wirtschaftsform wirkt gesellschaftsintern motivierend, über Europa hinaus auf Entdeckung zu gehen. Geldwirtschaft verdrängt die vorher übliche Naturalienwirtschaft, frühkapitalistische Produktionsformen erschüttern und ersetzen die Feudalordnung. Geld wird zur entscheidenden Kalkulationsgröße, und Geldquellen werden, nach dem Muster des arabischen Orienthandels, zunächst außerhalb der eigenen Gesellschaft vermutet. Das Beispiel der oberitalienischen Stadtrepubliken Venedig und Genua, denen es seit der Kreuzzüge gelungen war, als Zwischenhändler am Orienthandel zu partizipieren bis die Handelsverbindung im 15. Jahrhundert von den Osmanen zum Erliegen gebracht wurde, regt Unternehmerinitiative über Italien hinaus an, im Handel mit dem Ausland Profite zu suchen. Viele Venezianer und Genovesen begeben sich im Dienste anderer aufstrebender europäischer Herrscher, z.B. in die Niederlande oder nach Portugal und Spanien. – Das Konzept, am Reichtum der Fremde durch Handelsbeziehungen zu partizipieren, wird darauf erweitert, in der Fremde auch Geld ohne Umweg über den Handel zu fördern, sei es aus Edelmetallminen oder durch Raub an den zu Gegnern stilisierten Außereuropäern. Die Suche nach Gold und Handelspartnern treibt zu immer weiter in die Ferne führenden Unternehmungen.
Europäische Reiseaktivitäten des ausgehenden Mittelalters blieben weitgehend der Initiative einzelner überlassen und erfolgten sporadisch. Für ihre Ursprungsgesellschaften blieben die Unternehmungen dieser Minderheit an Welterfahrenen ziemlich bedeutungslos. Marco Polo wurde zu seiner Zeit als Aufschneider abgetan. Berichte über die Fremde mußten sich dem Kanon des Überlieferten fügen, um glaubwürdig zu erscheinen. Es herrschten phantastische Vorstellungen vom Zauber des Orients. Die vereinzelt eintreffenden Informationen versickerten gleichsam in relativ statischen Gesellschaften, für die eine freiwillige explorative Konfrontation mit dem Unbekannten keinen sozialen Wert darstellte. – Von nun an jedoch spielen Reisen eine wichtige Rolle und finden im nationalen Interesse statt. Weltenbummler werden zu Leitbildern und Schachfiguren internationaler Politik. Ihre Fahrten werden staatlich unterstützt, von bürgerlichen Financiers gefördert und von kirchlicher Autorität gesegnet. Entdecker zu sein ist eine Karriere im nationalen Dienst. Die eintreffenden Informationen werden zentral gesammelt und ausgewertet.
Das Beispiel Portugals, wo man – früher als Spanien von arabischer Herrschaft befreit – im 15. Jahrhundert den Plan verfolgt, Afrika zu umrunden, um nach Asien zu gelangen, und sich zur führenden Seemacht aufschwingt, regt in Spanien zur Nachahmung an, sobald die politische Konsolidierung es erlaubt. Der Versuch des in Portugal abgewiesenen Genovesen Kolumbus, Asien auf westlichem Weg zu erreichen, führt 1492 überraschend zur Entdekkung der Neuen Welt – im gleichen Jahr als die letzte arabische Festung Granada fällt. – Die karibischen Inseln, das erste Zielgebiet spanischer Entdecker, stellen in wirtschaftlicher Hinsicht eine Enttäuschung dar; denn sie treffen dort nicht auf reiche Gesellschaften wie die Portugiesen in Asien. Handel im Sinne, wie die Europäer ihn erwarten, findet genausowenig statt wie Edelmetallbergbau. Die friedlichen Indianerstämme der Gruppe der Arawaks betreiben Landwirtschaft auf Subsistenzniveau, die kriegerischen Kariben leben von der Jagd und Raubzügen. Dennoch werden die Entdeckungen begeistert gefeiert und in Besitz genommen. Die zersplitterte Geographie und die Verfeindung der beiden Hauptstammesgruppen läßt keinen organisierten Widerstand aufkommen. Die Karibik wird zur zentralen Drehscheibe der Entdeckung Amerikas, denn die Inseln sind leicht beherrschbar und gegen etwaige Rivalen gut zu verteidigen. Hoffnungsvolle Perspektiven für die in ihrem Unternehmungsgeist behinderten Bürger sowie für die von der sozialen Umwälzung Entwurzelten, verarmte Adelige und gesellschaftliche Außenseiter wie Juden, tun sich auf. Viele begeben sich auf die Jagd nach Überraschungen oder nach der Enthüllung von Verborgenem. In der Fremde steigen Konquistadoren, die in der Heimat oft chancenlos blieben und vielfach aus Not zur Fahrt bewogen wurden, zu Machtpositionen auf und machen mit der Neuen Welt, was ihnen in der Alten drohte. 1 In der Karibik werden so schnell wie möglich europäische Verhältnisse eingerichtet: Soziale und wirtschaftliche Lebensformen eingeführt, städtische Siedlungen errichtet und das Land in große Herrschaftsgüter aufgeteilt. Eine Oberschicht eingesessener Emporkömmlinge bildet sich heraus, die Front gegen Neuankömmlinge aus Europa macht. Intrigen werden gesponnen, ein Ringen um Ämter sowie deren Mißbrauch beginnt. Wer nichts abbekommt, geht auf eigene Faust entdecken oder widmet sich dem Subunternehmen Seeräuberei. Binnen 25 Jahren wird die Karibik grundlegend verändert Landschaft, Bevölkerung und Kultur. Für die überlebenden Indios ist es eine neuere Welt als für die Spanier.2
Auch Europa verändert sich durch den Erwerb von Kolonien. Ein globales Weltbild entsteht, Lebensgewohnheiten ändern sich aufgrund eingeführter Produkte, der Fortschritt auf wirtschaftlichem, technischem und künstlerischem Gebiet wird stimuliert. Kapital akkumuliert sich, besonders in den Händen der Händler und Bankiers, die die Unternehmungen finanzieren. Die Mobilisierung wirtschaftlicher Potentiale beherrscht das politische Kalkül. Profit wird zur nationalen Aufgabe, die Nation zum Geschäft absolutistischer Herrscher. – In Spanien stärkt die Expansion zwar die Machtposition des Monarchen, aber die Staatsmonopole ruinieren die einheimischen Handelshäuser. Die aufstrebende Bourgeoisie wird entmachtet und verläßt vielfach das Land, um sich bevorzugt in Holland anzusiedeln. Die dynamische gesellschaftliche Entwicklung wird im Ansatz blockiert. Karl I. unterwirft gleich nach seiner Amtsübernahme die aufbegehrenden unteren Klassen und selbständigen Gemeinden: Das importierte Gold bewirkt Inflation. Die Expansion korrespondiert nicht mit den Produktivkräften.3 Verschwendung rangiert vor Investition. Das Geld sickert gar nicht zur breiten Bevölkerung durch, es wird für Luxusgüter ausgegeben, durchläuft Spanien und geht nach Holland, England oder Deutschland. Während dort die Manufakturen gedeihen, gerät Spanien in Abhängigkeit von deren Produktion.
Schon bald treten Frankreich, Holland und England in Konkurrenz zur kolonialen Vormacht Spanien und bestreiten seine Seeherrschaft. Um offenen Konflikt zu vermeiden, verfallen sie auf eine indirekte Methode der Konfliktaustragung. Sie unterstützen die von jeher den Handelsstraßen folgenden Piraten der Kanalküste. Dort partizipieren Fischer und Bürger, die Freibeuterunternehmen organisieren, am Reichtum aus der Fremde, indem sie spanische und portugiesische Schiffe kapern oder Versorgungsgüter und Sklaven in ihre Kolonien schmuggeln. Gestalten wie John Hawkins, Francis Drake und Walter Raleigh avancieren unter dem Schutz Elisabeths von England zu nationalen Helden. Richelieu in Frankreich und Elisabeth von England erwerben Anteile an Handelsgesellschaften, die sich auf den Sklavenhandel spezialisieren. Staatliche und private Initiative verbinden sich. Man erfindet völkerrechtliche Wahlsprüche wie den von der Freiheit der Meere. Auch der in Europa an Bedeutung gewinnende Protestantismus erweist sich als Mittel, die päpstliche Aufteilung der Welt unter Spanien und Portugal in Frage zu stellen. – Auf kleinen Inseln der Karibik, die noch nicht wirksam von Spanien in Besitz genommen wurden, setzen sich Freibeuter, Abenteurer und Verfolgte fest und bilden Bruderschaften von Gesetzlosen. Eine eigene Lebensart entwickelt sich unter den "Bukanieren", die sich auf das Jagen verwilderten Viehs und Haltbarmachen von Fleisch und Leder durch Trocknen (bukanieren) sowie Kaperfahrten stützt. Die private Initiative solcher Gesellschaftsflüchtlinge wird nicht selten zur Speerspitze nationalen Engagements umfunktioniert, indem sie als Informanten herangezogen und die von ihnen gewonnenen Einflußzonen durch Schutzverpflichtungen und Vergünstigungen einverleibt werden. Frankreich erwirbt auf diese Weise z.B. die später Haiti benannte westliche Hälfte Hispaniolas, England Barbados und Jamaika, wo der berühmte Pirat Henry Morgan 1680 sogar zum Gouverneur ernannt wird.
Die überraschenden Anfangserfolge begründen die Fama der Unbesiegbarkeit der Europäer und formen das Bewußtsein der Beherrscher um. Die Kontaktaufnahme wird zu einem System der Zerschlagung konkurrierender Kultur, das sich zusehends verselbständigt. Die zum Nutzen der Herrschenden entdeckte Welt wird geeint, gleichzeitig bahnen sich Konflikte zwischen ihnen an. Die ungleichmäßige Verteilung des erworbenen Reichtums schürt Rivalitäten. Zunehmend zentralistische Staatsgebilde organisieren sich gegeneinander und ziehen mehr und mehr Außenstehende hinein. 4