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Wer mit den Göttern verwandt ist, braucht echt keine anderen Feinde … Eigentlich hätte Ren sich denken können, dass der Tod nicht alle Probleme löst. Um den Fängen der aztekischen Fürsten der Nacht zu entgehen, die sie zu ihrer Königin krönen wollten, hat sie aber keinen anderen Ausweg gesehen. Schnell stellt Ren fest: Sie muss wieder zurück in die Welt der Lebenden. Doch dafür muss sie mit Ixtab verhandeln, der Göttin der Unterwelt. Die fordert einen hohen Preis von Ren: die Jadekrone - und ihre Schattenmagie ... Persönlich empfohlen von "Percy Jackson"-Autor Rick Riordan! Entdecke alle mythologischen Abenteuer aus der Reihe "Rick Riordan Presents": "Zane gegen die Götter" von J. C. Cervantes Band 1: Sturmläufer Band 2: Feuerhüter Band 3: Schattenspringer "Ren gegen die Götter" von J. C. Cervantes Band 1: Nachtkönigin Band 2: Jaguarmagie "Sikander gegen die Götter" von Sarwat Chadda Band 1: Das Schwert des Schicksals Band 2: Der Zorn der Drachengöttin "Aru gegen die Götter" von Roshani Chokshi Band 1: Die Wächter des Himmelspalasts Band 2: Im Reich des Meeresfürsten Band 3: Das Geheimnis des Wunschbaums Band 4: Die Magie der goldenen Stadt Band 5: Der Trank der Unsterblichkeit "Tristan gegen die Götter" von Kwame Mbalia Band 1: Mythenweber
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Seitenzahl: 345
In der Reihe »Rick Riordan Presents« sind erschienen:
Zane gegen die Götter
Sturmläufer
Feuerhüter
Schattenspringer
Ren gegen die Götter
Nachtkönigin
Jaguarmagie
Aru gegen die Götter
Die Wächter des Himmelspalasts
Im Reich des Meeresfürsten
Das Geheimnis des Wunschbaums
Die Magie der goldenen Stadt
Der Trank der Unsterblichkeit
Sikander gegen die Götter
Das Schwert des Schicksals
Der Zorn der Drachengöttin
Tristan gegen die Götter
Mythenweber
Band 2 erscheint im Frühjahr 2025
Band 3 erscheint im Herbst 2025
Als Ravensburger E-Book erschienen 2024 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag © 2024 Ravensburger Verlag Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »Dawn of the Jaguar« bei Disney • Hyperion, einem Imprint von Buena Vista Books, Inc. Copyright © 2023 by Jennifer Cervantes Published in agreement with the author, c/o BAROR INTERNATIONAL, INC., Armonk, New York, U.S.A. Umschlagillustration: Jann Kerntke Illustration Jaguarkopf und Ornamente: Dynamo Ltd. Übersetzung: Katharina Orgaß Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.
ISBN 978-3-473-51240-9
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Im Glossar findest du viele nützliche Erklärungen zu Begriffen, die in diesem Buch vorkommen, sowie Hinweise zu deren Aussprache.
Für alle, die Träume haben und auf der Suche sind
Der Todesgott hielt, was er Ren versprochen hatte.
Er würde nicht zulassen, dass sie zur Königin der Aztekenfürsten der Nacht wurde – jedenfalls nicht lange.
Aber vor allem würde er nicht zulassen, dass sie allein sterben musste. Und darum verbarg sich Ah-Puch hinter den Bäumen am Seeufer – ein Gott in der Gestalt eines Jugendlichen, der das einzige Wesen, das er je geliebt hatte, nicht retten konnte. Denn er hatte Ren geliebt.
Er konnte nur gelähmt vor Entsetzen zuschauen, als die Jägerin Monty auf sein Zeichen hin ihren magischen Pfeil abschoss. Der Pfeil sauste wie ein blauer Lichtstrahl durch die Luft und die Fürsten sahen ihn erst, als es schon zu spät war.
Als er sich schon in Renata Santiagos Herz gebohrt hatte.
Ah-Puch fing Rens letzten Blick auf. Warum, ach, warum hatte er nicht die Macht, sie zu retten? Zum ersten Mal, seit er denken konnte, kamen ihm die Tränen, aber er wandte sich nicht ab.
Er sah mit an, wie die schwarzen Augen der Schattenbruja in ungläubigem Begreifen wieder eisblau wurden, und es brach ihm das Herz. Er sah, wie sich ihr Gesicht verzerrte, wie ihre Hand nach dem magischen Pfeil tastete, wie Blutrinnsale über ihr langes silbernes Kleid strömten.
Und er spürte ihren Schmerz, ihren Todeskampf, ihre Trauer über ein ungelebtes Leben.
Als die Gottgeborene endgültig zusammenbrach, quollen ihre Schatten aus ihr heraus und wanden sich kreischend wie erzürnte Dämonen aus uralter Zeit.
Dann hallte ein schauriger Laut durch den Wald. Rens letzter Herzschlag.
Der Todesgott hatte schon unzählige Male erlebt, wie Sterbliche ihren letzten Atemzug taten und ihre Augen erloschen. Aber er nahm zum ersten Mal bewusst wahr, wie Tod, Finsternis und Zerstörung ihr Werk verrichteten.
Die Welt ringsum geriet in Aufruhr.
Grelle Blitze zuckten über den Himmel, Sturmböen rüttelten die Bäume durch. Die Fürsten der Nacht tobten vor Wut. Als sich Rens Leichnam verflüchtigte, griffen sie rasch nach der Krone aus Jade und Schatten, die sie ihr eben erst aufs Haar gedrückt hatten. Zu spät.
Die Krone erhob sich kreiselnd in die Luft und brach mittendurch wie morsches Holz.
Die Jägerin Monty sprang von ihrem Hochsitz im Baum. »Wa-was war das denn?«, stammelte sie. »Die Krone, Ah-Puch! Hast du das auch gesehen?«
Ja, er hatte es auch gesehen. Und er verstand es genauso wenig wie Monty. Warum war die Krone zerbrochen? Aber zum Grübeln war jetzt keine Zeit, denn er musste seinen letzten Trumpf ausspielen. Er hatte niemanden in sein ungeheuerliches Vorhaben eingeweiht. Er würde sein Versteck verlassen und es darauf anlegen, dass ihn die Fürsten der Nacht vernichteten. Sie würden seine schwächliche Teenagergestalt wie einen sterbenden Stern zerbersten lassen und er würde froh darüber sein.
Doch als er eben hinter dem Baum hervorkommen wollte, wurde sein Rücken sengend heiß. Feuer und Eis durchströmten ihn und eine übermächtige Finsternis raubte ihm den Atem. Und während um ihn herum weiter Chaos herrschte, senkte sich Stille über sein Herz.
Schimmernder Dunst umwogte seine schlaksige Gestalt, ein Strudel unvorstellbar starker Magie, der sich zu einem goldenen Strang verdichtete. Das lose Ende peitschte umher, das andere wand sich wie eine Schlange blitzschnell um die Beine des Gottes und zwang ihn auf die Knie. Keuchend versuchte er, sich zu befreien, während der leuchtende Strang immer heller und heißer wurde.
Dem Gott schwanden die Sinne. Undeutlich bekam er mit, dass Monty seinen Namen rief und ihn an der Schulter packte … doch er konzentrierte sich ganz auf das sonderbare Raunen, das ihm befahl: Schau hin!
Weiße Flammen züngelten aus seinen Handflächen und versengten ihm nicht nur die Haut, sondern den ganzen Körper und sogar die Seele.
So sieht also mein Ende aus, dachte er.
Doch er verbrannte nicht. Zerfiel nicht zu Asche. Sein Todeswunsch erfüllte sich nicht, denn die Flammen erstarben und etwas anderes materialisierte sich. Er traute seinen Augen nicht.
Es war Rens Zeitseil.
In zwei Teilen, die um seine beiden Handgelenke geknotet waren.
Sie strahlten gleißend und zornig wie tausend Sonnen.
Ren war schon öfter in der Unterwelt gewesen, aber noch nie als Tote.
Trotz der undurchdringlichen Finsternis erriet sie, wo sie war. Erstens, weil Verstorbene nun mal in der Unterwelt landeten, und zweitens, weil es schauderhaft stank – nach Moder, Erbrochenem und Verwesung. IGITT!
Ihr war zumute, als hätte man sie durch einen Fleischwolf gedreht, und zwar gleich zweimal hintereinander. Doch obwohl ihr alles wehtat, konnte sie nur daran denken, dass ein Pfeil sie durchbohrt hatte … und sie gestorben war.
Nach dem Motto: Adios, Leben.
Nein. Das kam nicht infrage! Schließlich war sie Herrscherin über die Fürsten der Nacht und eine mächtige Schattenbruja!
Und was noch?, raunte ihre innere Stimme.
Mit zusammengekniffenen Augen versuchte sie, etwas zu erkennen. Es war nicht nur stockfinster, sondern auch drückend heiß und stickig. Sie versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, was vor ihrem Tod passiert war, erinnerte sich aber nur verschwommen an Personen, Orte, Dinge. Und an ihren Namen: Renata Santiago.
Sie überlegte so angestrengt, dass sie glaubte, ihr würde gleich die Ader an der Schläfe platzen (falls sie überhaupt noch Adern hatte), da flammte plötzlich ein rotes Licht auf und fing zu blinken an: einmal, zweimal, dreimal, wie ein Stroboskop. Ren stellte fest, dass sie in einem kleinen Raum stand, der von einem Raunen erfüllt war, von einem unverständlichen Stimmengewirr, das an- und abschwoll. Als Nächstes entdeckte sie, dass die unebenen Wände mit irgendetwas überzogen waren.
Sie trat näher.
Die Wände waren über und über mit dichten Spinnweben bedeckt. Sie bebten, obwohl kein Luftzug ging.
Ren wich zurück. Hoffentlich waren die Riesenspinnen, die diese Netze gesponnen hatten, längst auf und davon!
Doch sie vergaß ihre Ängste, als nun Bilder über die Wände flackerten, Erinnerungsfetzen an Gesichter und Stimmen, an Furcht und Verleugnung. Sie sah und hörte alles so deutlich, als müsste sie jeden Augenblick noch einmal durchleben.
Sie war eine Schattenbruja, die ihre magische Gabe von den Aztekenfürsten der Nacht geerbt hatte. Gleichzeitig war sie eine Maya-Gottgeborene und die Tochter der Zeitgöttin Pazifik. Sie hatte einen Kloß im Hals, als ihr wieder einfiel, wie sie zusammen mit ihrem Freund Marco versucht hatte, Serena und ihre Komplizen davon abzuhalten, die Mayagötter zu stürzen. Dabei waren sie Rens treuem Freund Ah-Puch wiederbegegnet, dem Todesgott der Mayas. Er hatte sie mit neuen Verbündeten bekanntgemacht: mit Montero, die aus einer Aztekenfamilie von Jägern kam, und dem jungen Dämon Edison, der in der Unterwelt aufgewachsen war. Gemeinsam hatten sie herausgefunden, dass die fünf abtrünnigen Gottgeborenen (alias die cinco) eine Truppe Aztekengottheiten wiedererwecken wollten, die sich »Fürsten der Nacht« nannten. Serena war nämlich überzeugt, dass sie zur Königin der Fürsten bestimmt war.
Die Königin bin ich!, dachte Ren grimmig.
Die Spinnennetze bebten wieder und neue Bilder erschienen. Sie zeigten Ren, wie sie früher gewesen war. Bevor sie über den Ursprung ihrer Schattenmagie Bescheid gewusst hatte, bevor sie gekrönt worden war. Was sie sah, gefiel ihr nicht. Sie war schwach gewesen, viel zu offen und weich, als würde auf ihrem Herzen mit Großbuchstaben OPFER stehen.
Aber dann hatten die Fürsten der Nacht sie auserwählt. Ihre Dunkelheit hatte von Ren Besitz ergriffen, sie mächtig und vollständig gemacht. Zähneknirschend dachte sie: Und was hat es mir gebracht? Ich bin trotzdem gestorben.
Das rote Licht blinkte immer noch und sie sah sich nach dem Ausgang um. Sie musste zu den Fürsten zurück.
Doch ein Zischen unterbrach ihre düsteren Gedanken über Macht und Tod.
Sie war nicht allein hier.
Im nächsten Augenblick peitschte etwas über ihren Arm und hinterließ ein scheußliches Brennen. Da – schon wieder!
Ren schrie auf und rief ihre Schatten zu Hilfe. Sie erschienen auch und umringten sie, fühlten sich aber ungewohnt kalt und fern an, gar nicht wie etwas, das aus ihr selbst kam. Und als sie die Schatten beschwor, sich zu einem Riesenskorpion zusammenzuballen, einem Drachen, einem scharfen Schwert, gehorchten sie ihr nicht.
Daran war nur der Todesgott schuld! Er hatte den magischen Pfeil abschießen lassen, der die mächtigste Gottgeborene und Schattenbruja aller Zeiten getötet hatte. Aber er war doch ihr Freund! Wieso hatte er sie umbringen wollen?
Sie verfluchte sich dafür, dass sie seinen Verrat nicht vorausgesehen hatte, aber egal. Bei nächster Gelegenheit würde sie sich an ihm rächen. Er sollte Höllenqualen leiden!
Klack, klack, klack.
Der nächste Peitschenhieb schlitzte ihr die Wange auf, aber es ging so schnell, dass sie nicht sah, was sie getroffen hatte. Doch als sie schützend die Hände vors Gesicht schlug, fiel ihr das Zeitseil ein. Es konnte jedes Monster im gesamten Universum vernichten! Rasch griff sie sich an den Hals, wo sie das Seil normalerweise als Kette trug.
Es war weg!
Immer wieder tastete sie danach, konnte es nicht glauben.
»Nein!«, entfuhr es ihr.
Das Zeitseil war ein Geschenk von Pazifik gewesen und man konnte es nicht stehlen. Ren konnte es nur freiwillig herschenken und das hätte sie niemals getan.
Die brennenden Hiebe kamen jetzt von links und rechts, von oben und unten. Obwohl Ren sich duckte und ihnen auswich, schlitzte ihr der unsichtbare Angreifer Arme, Hände und Hals auf. Es blutete zwar nicht, tat aber höllisch weh.
Tot sein ist echt kacke.
»Los, zeig dich!«, rief sie aus purer Verzweiflung. Wenn sie schon zerfetzt wurde, wollte sie dem Täter wenigstens in die Augen sehen.
»Feigling!«, schob sie nach, als ihre innere Dunkelheit explodierte.
»Eine Spinne, die sich in ihrem eigenen Netz verstrickt hat«, sagte jemand.
Ren schrak zusammen. Sie kannte die säuselnde Frauenstimme von irgendwoher. »Wer bist du?«
Leises Lachen. »Wie gefällt dir das Netz, kleine Spinne?«
»Es ist der beschissenste Empfang in der Geschichte des Totenreichs. Und kannst du bitte das Licht ausmachen?« Inzwischen hatte Ren hämmernde Kopfschmerzen.
Schlagartig wurde es wieder stockfinster.
»Ich meinte nur das rote Flackerlicht.«
»Für eine Tote bist du ganz schön anspruchsvoll.«
»Bin ich denn tot? Ich meine, so richtig?«
»Ja.«
»Für immer?«
»Der Tod ist endgültig. Unbeschränkt und unwiderruflich. Man kann nicht davon zurücktreten, also bitte kein Gebettel und Gejammer. Und bei allen Dämonen, bitte auch keine weiteren unsinnigen Fragen.«
Ren schluckte ihren Ärger herunter. Sie ließ sich nicht einschüchtern, war nicht mehr die unsichere Schattenbruja von früher, die andere ständig hatte trösten und retten wollen. Die von Fremden herumgeschubst und von ihren Freunden im Stich gelassen wurde. Sie hatte von der dunklen Macht der Fürsten gekostet und es hatte ihr gefallen.
Neben ihr zischte es wieder.
»Wie wär’s, wenn du dein Monster mal zurückpfeifst?«
»Das sind meine Spinnen«, gab die Unsichtbare zurück. »Im Übrigen bist du, ohne zu fragen, in ihr Haus eingedrungen. Soll heißen, nicht du hast hier zu bestimmen.«
In der Unterwelt der Mayas gab es zahlreiche todbringende »Häuser«, in denen die Ankömmlinge Prüfungen unterzogen wurden. Da waren zum Beispiel das Haus der Kälte, in dem eisiger Hagel herabprasselte, und das Haus der Fledermäuse, in dem blutsaugende Ungeheuer lauerten.
»Ich bin nicht freiwillig hergekommen«, entgegnete Ren patzig.
»Trotzdem bist du hier.«
Die Netze an den Wänden bebten erneut und fünf, sechs fette behaarte Spinnen erschienen darin. Sie waren so groß wie Katzen und das gruselige Klacken kam von ihren Mundwerkzeugen. Ren fing zu zittern an.
Als sie die rasiermesserscharfen Klauen an den langen Beinen betrachtete, fiel ihr auf, dass die Beine aus Metall waren.
»Sind das etwa Roboterspinnen?«
»Du hast’s erfasst.« Es klang belustigt. »Offenbar bist du intelligenter, als du aussiehst.«
»Darf ich dann jetzt gehen?«
»Und es stimmt leider«, fuhr die Unsichtbare fort, als hätte sie die Frage nicht gehört. »Aber man muss mit der Technik Schritt halten und das gilt auch für neue Unterwelthäuser. Diese Schätzchen sind großartig! Ihre Klauen spritzen Gift in die Schnittwunden, die sie verursachen. Daher die grausamen Schmerzen.«
»Gift?«, wiederholte Ren mit zittriger Stimme.
»Das Brennen müsste schon dein Herz erfasst haben. Spürst du noch nichts?«
Erschrocken griff sich Ren an die Brust und keuchte, als hätte sie soeben einen 15-Kilometer-Lauf bergauf absolviert. »Tote kann man nicht umbringen«, brachte sie heraus.
Wieder das leise Lachen. »Da kennst du mein Reich aber schlecht.«
Im Boden tat sich ein klaffender Spalt auf. Ren stürzte in die Tiefe und landete auf allen vieren in einem Raum mit schneeweißen Wänden und spiegelblankem schwarzem Onyxboden. Licht kam nur durch den Spalt in der Decke, durch den man in einen grau marmorierten Himmel blickte. An einer Art Strick aus funkelnden Sternen baumelte ein goldener Käfig, nicht größer als ein Goldfischglas.
»Hallo, Renata.«
Vor ihr stand Ixtab, die Mayagöttin der Unterwelt.
Ren ließ sich auf den Boden fallen und wand sich vor Schmerzen. In ihr brodelte das Gift.
»Wenn du dich nicht dagegen wehrst, ist es schneller vorbei«, sagte Ixtab mit nervtötender Säuselstimme. Die Göttin trug ein hautenges, langes Kleid aus schwarzen Federn. Ihre vorher goldblonden Haare waren jetzt rabenschwarz und zu einem straffen Knoten zusammengebunden, der ihre gemeißelten Gesichtszüge betonte.
Ren hielt sich den Magen und rollte sich zusammen. Tränen liefen ihr über die Wangen. Das Gift breitete sich immer weiter aus und war so heiß, als stünde ihr Blut in Flammen.
Als die Panik sie zu überwältigen drohte, dachte sie an ihren abuelo – an seine sanften braunen Augen, das zerfurchte Gesicht, die warmen Hände – und plötzlich waren die Schmerzen weg.
Ihr Blick fiel auf ihre eigenen Hände, auf denen sich die Adern schwarz und geschwollen abzeichneten. Entsetzt sprang sie auf und schob ihre Ärmel hoch. Auch ihre Arme waren schon schwärzlich verfärbt.
»Was soll das?«, schrie sie die Göttin an.
»Das ist eine Vorsichtsmaßnahme gegen das Böse in dir.«
Ixtab spielte auf die Dunkelheit an, die sich in Ren eingenistet hatte. Rens Wut ließ die Schmerzen von Neuem auflodern und sie atmete ein paarmal tief durch, bis die Qualen nachließen. »Warum bin ich in Xi’balb’a?«
Ixtab lächelte spöttisch. »Weil du eine Gottgeborene bist, Tochter der Zeit, oder hast du das schon vergessen?«
»Ich bin die Nachtkönigin der Azteken und eine Schattenbruja!«
»Wärst du dann lieber in Mictlan, der Unterwelt der Azteken?«
»Ich wäre lieber am Leben.«
»Tja, das ist ein Problem.« Ixtab kam näher. Ihre Augen blitzten erst gelb und dann lavendelfarben auf und der Raum erhitzte sich schlagartig. »Es kann nur eine Königin geben.«
Ren reckte trotzig das Kinn. »Eifersüchtig?«
»Immer.«
Dieses Eingeständnis verblüffte Ren, doch sie ließ sich nichts anmerken, sondern beschwor ihre Schattenmagie, die sich so ganz anders anfühlte als die Dunkelheit der Fürsten. Die Schatten stammten von ihren Vorfahren und Ren konnte sie beeinflussen, die Dunkelheit dagegen war neu und überwältigend. Doch sosehr sie sich auch konzentrierte – nur ein paar Schattenfetzen schwebten wie Ascheflocken aus ihren Schnittwunden.
»Was hast du mit meinen Schatten gemacht?«, fauchte sie Ixtab an.
»Man staunt doch immer wieder, wie sich der Tod auf Magie auswirkt«, erwiderte Ixtab mit gespielter Überraschung.
Im selben Augenblick schlossen sich Rens Wunden, als wollten sie der Göttin recht geben.
Doch selbst wenn die Schatten Ren gehorcht hätten – hier in Ixtabs Revier konnte sie gegen die Göttin nicht ankommen. Eine Göttin, die je nachdem, wie es ihr in den Kram passte, Freundin oder Feindin war.
Das hatte die Erfahrung Ren inzwischen gelehrt.
Im Gegensatz dazu hatten die Fürsten der Nacht bisher alle ihre Versprechen gehalten. Sie hatten Ren zur Königin gekrönt und waren der Ursprung ihrer Schattenmagie. Ren war fest entschlossen, zu ihnen zurückzukehren, egal, wie. Auch sie würde ihr Versprechen halten und den Götterprinzen heiraten. Und danach würde sie diesem Verräter Ah-Puch das Herz herausreißen!
»Na, wälzt du finstere Gedanken?«, erkundigte sich Ixtab scheinheilig.
»Immer«, konterte Ren.
»Schade. Ich hatte gehofft, das Gift würde genügen.«
Als die Göttin Rens Scheitel musterte, blitzte eine weitere Erinnerung auf und Ren griff nach ihrer Jadekrone … aber da war nichts. Sie hielt nur einen Schatten in den Händen, der sofort zu Dunst zerfloss.
»Ja, wirklich jammerschade.« Ixtab spielte mit dem schwarzen Brillantreif um ihr zierliches Handgelenk. »Wobei mir eigentlich klar war, dass es nicht leicht werden würde.«
Ren warf ihr einen ärgerlichen Blick zu.
»Bilde dir bloß nichts ein«, knurrte Ixtab und umkreiste sie wie eine angriffslustige Katze. »Du glaubst, dass die Schatten deine größte Kraftquelle sind, aber sie sind –«
»Sie sind alles!« Daran erinnerte sich Ren immerhin noch. Ihre Fähigkeiten als Gottgeborene beruhten auf dem Zeitseil, einem magischen Artefakt, doch die Schattenmagie lag ihr im Blut – in ihrem Mexicablut.
»Wenn das so wäre, wärst du jetzt nicht in meinem Reich. Magiebegabte Seelen zieht es immer zum Ursprung ihrer größten Macht.«
Alles Lüge! Ren ärgerte sich, dass sie Ixtab oder irgendeiner anderen Mayagottheit je behilflich gewesen war. Sie verabscheute sie alle. Ohne Ausnahme!
Das Gift fing wieder zu brennen an. Ren ballte die Fäuste. »Was willst du von mir?« Die große Ixtab nahm nicht jeden Verstorbenen persönlich in Empfang. Es musste etwas dahinterstecken. Vielleicht konnte Ren ja eine Abmachung mit ihr treffen. Ixtab verabscheute Ah-Puch ebenfalls. Wenn sie hörte, dass Ren ihn vernichten wollte, stellte sie ihr vielleicht einen Passierschein für die Unterweltpforte aus.
Die Göttin trat näher und legte die gepflegten Hände mit den rot lackierten Fingernägeln zusammen. »Warum muss eigentlich immer ich die Drecksarbeit machen?«
Blitzartig schnellte ihre Hand vor, grub sich in Rens Brust und packte ihr Herz. Es tat unerträglich weh und Ren vernahm ferne Schreie, konnte aber nur wie erstarrt dastehen und die Unterweltkönigin entsetzt anstarren.
Ixtab zog das Herz aber nicht heraus, sondern sagte mit Nachdruck: »Vergiss NIE, wer du bist.«
Die nächsten Bilder stiegen in Ren auf.
Sie war wieder mit Marco am Teich. Die Bäume waren näher gerückt, die Welt war zusammengeschrumpft und ihr war zumute gewesen, als würde sie von warmem Wasser durchflutet. Sie hatte nur noch ihre uralte Magie wahrgenommen, jene Magie, die sie von »toten Göttern« geerbt hatte, wie alle anderen sich ausdrückten. Doch die Fürsten der Nacht waren keineswegs tot, sie hatten nur über ein Jahrhundert lang geschlummert.
Ren sah wieder vor sich, wie Marco sie auf Knien angebrüllt hatte, sie solle sich gegen den Einfluss der Fürsten wehren. Wie sie ihn mit einem Schatten gebannt hatte und in den See gewatet war. Wie ihr Hals auf einmal gekribbelt und sie sich jäh an ein seltsames Licht erinnert hatte.
Wie Ah-Puch tonlos gesagt hatte: So darf es nicht enden.
Ren schnappte nach Luft, als Ixtab die Hand zurückzog und die Öffnung in ihrer Brust sich wieder schloss.
Ihre Knie gaben nach. Sie ließ sich auf den Boden fallen und sah ungläubig zu der Schattenkugel hoch, die in Ixtabs Griff flimmerte. Enthielt etwas so Kleines, Flüchtiges wirklich Rens mächtige Brujamagie?
Schmunzelnd warf Ixtab die Kugel in den goldenen Käfig an der Decke. »Geht es dir jetzt nicht besser, Gottgeborene? Endlich hast du Ruhe vor der Dunkelheit.«
Rens Blick fiel auf ihr Spiegelbild in dem blanken Steinboden. Eingesunkene Augen, strähnige Haare, spitzes Kinn. Sie sah furchtbar aus.
Schwerfällig kam sie auf die Füße. »Ich … ich habe versucht, den Fürsten standzuhalten«, sagte sie, eher um sich vor sich selbst zu rechtfertigen, als um Ixtab gnädig stimmen. »Aber ihre Anziehungskraft war einfach zu stark.«
»So ergeht es einem oft mit dunklen Dingen.«
Auf einmal war Ren völlig erschöpft. Sie fühlte sich schwerelos leicht, und als sie ihre Hände betrachtete, sahen sie wieder normal aus. »Es war schrecklich«, fuhr sie fort. »Ich hatte ganz schlimme Gedanken und habe meinen Freunden wehgetan und …« Tränen liefen ihr übers Gesicht.
Ixtab schnitt eine Grimasse. »Bei allen Dämonen – in meiner Anwesenheit wird nicht geheult. Weinen ist nicht nur Zeitverschwendung, es macht auch Flecken auf den Fußboden.«
»Hast du … ein Taschentuch?«, brachte Ren schniefend heraus.
»Sind wir hier im Drogeriemarkt?«
Wegen der Tränen erkannte Ren die eingesperrte Schattenkugel nur verschwommen. Sie drückte sich in eine Käfigecke. Seltsam, dass man etwas derart Gefährliches, Giftiges vermissen konnte. Eine Magie, die sich in etwas so Finsteres verwandelt hatte, dass sie Rens Persönlichkeit total umgekrempelt hatte. Ren war geworden, wie sie nie hatte sein wollen: gemein und böse.
»Warum hast du meine Magie in den Käfig gesteckt?«, wandte sie sich mit belegter Stimme an Ixtab.
»Ich dachte, das Gift würde sie in Schach halten, aber das kleine Biest ist leider so tückisch, dass es hinter Schloss und Riegel bleiben muss.«
Wer war Ren jetzt denn noch – ohne ihre Schattenmagie und das Zeitseil?
»Und jetzt«, verkündete Ixtab munter, »müssen du und ich etwas richtig Niederträchtiges erledigen.«
Ein paar Minuten vorher, als Ren noch im Bann finsterer Mächte gestanden hatte, hätte die Aussicht auf »etwas richtig Niederträchtiges« verlockend geklungen. Jetzt aber hörte es sich nur noch hohl und deprimierend an und erinnerte Ren daran, wie sehr sie litt.
Nicht nur, weil sie tot war, sondern auch, weil sie ihre Freunde in einer höchst riskanten Lage zurückgelassen hatte. Sie ging davon aus, dass die Fürsten der Nacht die anderen gefangen genommen hatten. Waren sie überhaupt noch am Leben?
Ihr wurde ganz schlecht, als sie daran dachte, was der Fürst mit dem Beinamen »Der Rauchende Spiegel« kurz vor ihrem Tod zu ihr gesagt hatte. Ren hatte sich nach ihren Freunden erkundigt und er hatte erwidert: »Die sind gesund und munter. Bis auf einen. Er hat tapfer gekämpft.«
Wen hatte der Aztekengott gemeint? Marco? Oder Edison?
Ihr schnürte sich die Kehle zu. Das ist alles meine Schuld!
Mit einer Handbewegung ließ Ixtab eine gläserne Flügeltür erscheinen. Dahinter erstreckte sich der schönste Park, den Ren je gesehen hatte. Die Blumen glichen leuchtenden Sternen in Pink, Pfirsichrosa, Rot, Blau und Violett und wuchsen bis in den Himmel.
»Dahlien«, sagte Ixtab, als hätte Ren danach gefragt.
Vielleicht hatte Ren auch gefragt und es vor lauter Erschöpfung nicht mitbekommen. Doch obwohl ihre Arme und Beine schwer wie Blei waren, gab sie sich Mühe, die Augen offen zu halten und sich von der trügerischen Pracht nicht ablenken zu lassen. Schließlich war ihre Schattenmagie eingesperrt, ihre Freunde waren in Gefahr und sie selbst war ein Geist.
Wie mochte es den abtrünnigen Gottgeborenen ergangen sein, die die Fürsten der Nacht überhaupt erst geweckt hatten? Und der Vogeldame Zyanya, deren Magie die Fürsten wieder einschläfern konnte? War sie ebenfalls eine Gefangene?
»Wo sind wir hier?«
Ixtab ließ den Blick über den farbenprächtigen Park gleiten. »Grässlich, oder?«
Grässlich? »Magst du keine Blumen?«
»Blumen sind schwach und empfindlich«, antwortete Ixtab abfällig. »Sie sterben viel zu schnell und brauchen viel zu viel Pflege.«
»Warum hast du dann einen Park?«
»Gute Frage. Ich tu’s für dein Hirn.«
Ren verstand kein Wort. Das merkte Ixtab anscheinend, denn sie seufzte theatralisch. »Das ist ein Gedächtnisgarten, dummes Ding!«
Ren fröstelte plötzlich. »Mit meinem Gedächtnis ist alles in Ordnung.«
»Du bist gerade gestorben. Das kann Folgen haben«, erwiderte Ixtab sachlich. »Außerdem habe ich dir einen Teil deiner Magie weggenommen und das musst du erst mal verkraften. Für unser Vorhaben muss dein Gedächtnis Höchstleistungen erbringen. Also los. Schnuppere an einer Dahlie und lass uns endlich anfangen.«
»Um was für ein Vorhaben geht es denn? Ich wüsste gern, worauf ich mich einlasse.« Ren hatte Mühe, ruhig zu bleiben. »Vielleicht willst du mich ja bloß reinlegen.«
»Ich vergesse immer wieder, wie unverschämt du sein kannst«, gab die Göttin säuerlich zurück.
Wollte Ren überhaupt, dass ihr Gedächtnis Höchstleistungen erbrachte? War es nicht besser, manches zu vergessen? »Wenn ich dir etwas erzählen soll – was immer es ist –, erwarte ich eine Gegenleistung.«
»Mit mir verhandelt man nicht.«
»Sag mir, ob es meinen Freunden gut geht.« Ren klammerte sich an die Hoffnung, dass der Rauchende Spiegel gelogen hatte und keiner von ihnen tot war.
Ganz kurz verzerrte unbändiger Zorn Ixtabs Gesicht. War Ren zu weit gegangen? Aber sie musste wissen, was mit ihren Freunden los war!
»Wenn sie tot wären, müssten sie auch hier in Xi’balb’a sein, oder?«, bohrte sie weiter.
»Wir nehmen pro Tag Tausende Seelen auf!« Ixtab sprach gedämpft in ihren Armreif. Wahrscheinlich beauftragte sie ihre Dämonen, sich nach Marco und den anderen umzusehen. Mit verschnupfter Miene wandte sie sich wieder Ren zu. »Meine Krieger sind an der Sache dran. Jetzt bist du an der Reihe.«
Weil Ren Ixtab nicht noch mehr provozieren wollte, verkniff sie sich die Frage, wie lange die Krieger brauchen würden.
Gefolgt von der Göttin, trat sie durch die Glastür in den prächtigen Park. Der Himmel darüber war eine schwarze, silbern gestreifte Leinwand.
»Geht’s noch langsamer?«, fragte Ixtab bissig. »Und fass die Blumen nicht an. Such dir einfach einen Duft aus.«
»Das ist alles?«
Ein genervter Blick war die Antwort.
Ren interpretierte das als »Ja«. Als sie sich über eine violette Dahlie beugte und den Duft tief einsog, war es, als würde sie mit den Zehen voran zentimeterweise in warmes Wachs eintauchen. Sie war schlagartig erfrischt und Reue und Kummer wichen Entschlossenheit und neuer Kraft.
Im nächsten Augenblick erstrahlte die Umgebung noch farbenprächtiger, als hätten ihre Augen bis dahin nicht richtig funktioniert, und sie konnte so klar denken wie noch nie.
Als sie sich wieder zu Ixtab umdrehte, saß die Göttin an einem langen Tisch, der eben noch nicht da gewesen war. Die Tischplatte bog sich unter Kuchen, Schokolade, Pralinen, Cupcakes, frischen Beeren und kunstvoll gestapelten bunten Macarons.
»Ist das alles für mich?« Ren hatte plötzlich Heißhunger.
»Aus unerfindlichen Gründen brauchen Tote Zucker«, gab Ixtab kopfschüttelnd zurück.
»Essen Tote überhaupt?« Ren nahm ihr gegenüber Platz und steckte eine muschelförmige Praline in den Mund. Sie zerging auf der Zunge. »Lecker!«
Die Göttin lehnte sich zurück und verschränkte die schlanken Arme. »Meine Geduld hat Grenzen. Erzähl mir, was du über die Fürsten weißt.«
Nachdem Ren rasch noch ein Macaron verschlungen hatte, entgegnete sie: »Mache ich, aber … äh … weißt du schon etwas über meine Freunde?« Sie würde nicht gleich mit allem auf einmal herausrücken. Etwas Verhandlungsmasse war immer gut.
»Du musst es mir sowieso erzählen, Gottgeborene. Wenn du mir etwas verschweigst, wird dir bloß schlecht, und ich kann’s nicht haben, wenn sich jemand übergibt.«
Zu spät begriff Ren, dass die Köstlichkeiten auf dem Tisch verzaubert waren und sie besser nicht davon gegessen hätte. »Hast du mir heimlich einen Wahrheitstrank verabreicht?«
»Hast du wirklich gedacht, ich sichere mich nicht ab?«, gab die Göttin zurück.
Ren kniff die Lippen zusammen. Wenn Ixtab nicht auf ihre Forderung einging, würde sie gar nichts sagen.
Die Göttin lachte. »Es kommt so oder so raus.«
Praline und Macaron hatten sich in pure Säure verwandelt, die Ren die Speiseröhre hochstieg. Das Brennen erfasste erst ihren Hals und dann die Zunge – bis sie den Mund aufmachen und alles erzählen musste.
Sie berichtete Ixtab, welche Fürsten sie bereits kennengelernt hatte: den Maisgott Centeotl, die Wassergöttin mit dem Beinamen »Die mit dem Jaderock«, den Rauchenden Spiegel, der für den Nachthimmel zuständig war, den Götterprinzen Piltzintecuhtli und den Feuergott Xiuhtecuhtli. Sie erzählte sogar von Sieben Tode, der Mayadämonin im Ruhestand, die früher als Spionin für Ah-Puch gearbeitet hatte, aber insgeheim wurmte es sie fürchterlich, dass sie auf die List der Göttin hereingefallen war.
Ixtab nickte ungeduldig. »Das wissen wir alles schon. Ich habe ebenfalls meine Spione.«
»Wieso fragst du mich dann?«
»Wenn ich mich immer nur auf eine einzige Informationsquelle verlassen würde, wäre ich jetzt nicht Königin der Unterwelt.«
»Weißt du denn auch, dass die Fürsten ihre Magie in einigen Menschen verborgen haben?«, rutschte es Ren heraus. Sie schlug sofort die Hand vor den Mund, doch je mehr Mühe sie sich gab, nicht alles auszuplaudern, desto unwiderstehlicher wurde ihr Rededrang. »Eine Magie, die niemals schläft? Schattenmagie?«
Ixtab zuckte kaum merklich zusammen. Ren hatte die Göttin überrascht, das kam selten vor. Auf einmal war sie stolz und froh, ja, sogar schadenfroh.
Ixtab entschlüpfte ein Laut zwischen Zorn und Resignation. Als sie aufstand, wehten die Federn an ihrem Kleid, als wollte sie sich gleich in die Lüfte schwingen, aber sie schnippte nur mit den Fingern. Der Käfig mit Rens Magie erschien auf dem Tisch und Ixtab musterte ihn mit geschürzten Lippen. Ren ahnte, warum. Die Göttin war sauer, dass die Fürsten auf so eine schlaue Idee gekommen waren, aber vor allem war sie sauer, dass Ah-Puch davon gewusst hatte und sie selbst nicht.
»Und deine Magie stammt tatsächlich von diesen … diesen …?«
»Genau genommen hat Die mit dem Jaderock sie mir verliehen.«
»Das ändert alles.«
»Heißt das, ich werde wieder lebendig?«
Ixtab tippte den Käfig an und er wurde an seinem Sternenseil wieder hochgezogen. Die Göttin lächelte verkniffen. »Dummerweise ist deine Schattenmagie inzwischen untrennbar mit dem Einfluss der Fürsten verbunden.«
Ren überlief es kalt. »Aber wie …? Soll das heißen, dass …?«
»Ich erklär’s dir. Wenn du deine Schattenmagie zurückbekämst, würde dich wieder die Machtgier packen.«
Schon vor ihrem Tod hatte sich Ren von der Machtgier der Fürsten mitreißen lassen. Das bereute sie jetzt bitter. Nie wieder würde sie so etwas tun. Lieber verzichtete sie auf jegliche Magie.
Dann kehrte die Erinnerung so glasklar zurück, dass sich ihr der Magen umdrehte. Sie hatte Ah-Puch überredet, ihr etwas zu versprechen. Dass er sie töten würde, ehe sie ihre Regentschaft als Königin des Bösen antreten würde.
Sie hatte ihm das Zeitseil überlassen wollen, damit es die Fürsten nicht in die Finger bekamen und damit Unheil anrichteten.
Aber hatte es geklappt? War der Todesgott jetzt im Besitz des Artefakts?
Sie schob ihren Stuhl zurück und stand auf. »Ich muss in die irdische Welt zurückkehren und mich um meine Freunde kümmern.« Sie spürte einen Druck auf der Brust, als würde das Gewicht der ganzen Welt darauf lasten. »Was wäre, wenn ich die Fürsten wieder einschlummern lasse? Könnte sich meine Schattenmagie dann von ihrem Einfluss lösen?«
»Und wie willst du das hinkriegen?«, lautete Ixtabs Gegenfrage.
Um sich nicht zu blamieren, entgegnete Ren das Erstbeste, das ihr einfiel. »Mit deiner Hilfe. Immerhin bist du die Königin der Unterwelt.«
Es klang total bescheuert.
Ixtab lächelte verschlagen. »Wann begreifst du endlich, dass ich für meinen Thron alles geopfert habe? Macht zu erlangen, ist das eine, aber sie zu behalten? Das ist schwerer, als sich dein Spatzenhirn ausmalen kann, und darum: nein. Ich werde dir nicht helfen, Renata. Es sei denn, es springt etwas für mich heraus.«
»Auf jeden Fall! Du willst die Fürsten doch auch loswerden, oder?«
Ixtab zupfte seufzend eine Feder aus ihrem Kleid und zwirbelte sie in den Fingern. »Du hast keine Ahnung, mit wie vielen Feinden ich jeden Tag fertigwerden muss. Ein paar mehr oder weniger sind da auch schon egal.«
Trotzdem – die Göttin führte irgendetwas im Schilde. Ixtab fuhr fort: »Aber falls ich mich auf eine Abmachung mit dir einlasse …«
Ha! Was immer Ixtab wollte, sie war anscheinend bereit, dafür jeden Preis zu zahlen. »Dann mach mich wieder lebendig!« Das wäre die perfekte Lösung. Dann könnte Ren ihre Freunde befreien, die blöden Fürsten wieder einschläfern und alles rückgängig machen, was sie angerichtet hatte.
Ixtab wanderte auf und ab. Ihre Schritte waren lautlos wie die Nacht. »Ich bin für den Tod zuständig, nicht für das Leben.«
»Aber beides hängt doch zusammen!«, appellierte Ren an das Ego der Göttin.
Ixtab blickte zum schwarzen Himmel empor und schien zu überlegen. Dann drehte sie sich wieder zu Ren um und sagte: »Die Krone aus Jade und Schatten. Bring sie mir und ich mache dich wieder lebendig.«
WaswillsiedennmitderKrone,diedieFürsten mir aufgesetzthaben? Aber Ren war zu aufgeregt, um lange zu überlegen. Sie streckte der Göttin die Hand hin und hätte beinahe »High Five!« gerufen.
»Überleg es dir gut«, fuhr Ixtab warnend fort. »Du hast nämlich nur sieben Tage Zeit. Wenn du nicht rechtzeitig mit der Krone wieder hier bist, lasse ich deine Schattenmagie frei. Dann sitzt du mausetot und auf ewig in den Eingeweiden der Unterwelt fest.«
Na super. Tot und auf ewig unglücklich.
Diese Bedingung passte Ren ganz und gar nicht, aber hatte sie eine Wahl? »Ich kehre aber nicht als Geist in meine Welt zurück, oder? Ich bin wieder lebendig und alles?«
»Lebendig sind deine Erfolgschancen größer«, lautete die knappe Antwort. »Tote sind zu unberechenbar.«
Ren fiel ein Stein vom Herzen. Doch lebendig zu sein, genügte nicht. Um Ixtabs Bedingung zu erfüllen, brauchte sie magische Fähigkeiten. Das war kniffliger. »Ich besitze also keine Schattenmagie mehr. Und …« Sie räusperte sich. »… mein Zeitseil ist auch nicht mehr da.«
»Was du nicht sagst.«
»Du hast es schon gewusst?«
»Du trägst es nicht mehr um den Hals und mir war ziemlich schnell klar, wer es jetzt hat.«
»Ich habe es hergeschenkt, damit es den Fürsten nicht in die Hände fällt.«
»Wie selbstlos.« Der Ton der Göttin triefte vor Ironie.
Warum blieb Ixtab so gelassen? Ren hatte damit gerechnet, dass die Göttin außer sich sein würde, aber Ixtab tat so, als würden sie sich über ein Stück Zahnseide unterhalten statt über die mächtigste Zeitmagie des Universums.
»Dann hast du auch gewusst, dass ich das Seil Ah-Puch geschenkt habe?«
Ixtab nickte. »Ich bin gespannt, ob das etwas bringt – jetzt, wo …«
»Wo was?«
»Das merkst du noch früh genug. Übrigens musst du dich umziehen. Dieses Kleid ist grauenhaft.«
Ren blickte an ihrem silbernen Krönungsgewand herunter. Peinlicherweise fand sie selbst es wunderschön, auch wenn es ihr nicht mehr zustand. Unter dem bodenlangen Rock lugten die roten Cowboystiefel hervor und Ren musste lächeln. Ja, sie hatte sich in die dunkle Welt der Fürsten verirrt, aber die Stiefel erinnerten sie immer daran, wer sie eigentlich war.
Doch bevor Ixtab mit den Fingern schnipsen konnte, sagte Ren hastig: »Warte! Ich brauche etwas Bequemes. Ich muss rennen können, springen und –«
»Also eine hässliche Stretchhose.«
»Stretch wäre nicht schlecht, hässlich muss nicht sein. Und meine Stiefel behalte ich!«
Die Göttin verdrehte die Augen, schnipste mit den Fingern und plötzlich hatte Ren schwarze Yoga-Leggings und ein schwarzes Sweatshirt an. Sie sah wie eine Cowboy-Ninja aus … und fand es super.
Mit neuem Selbstbewusstsein schlenderte sie zu Ixtab hinüber und gab sich Mühe, nicht zu ihrer Schattenmagie hochzuschielen. Was hatte die Göttin vorhin gesagt? Magiebegabte Seelen zieht es immer zum Ursprung ihrer größten Macht.
Als Ren das wieder einfiel, schwankte der goldene Käfig auf einmal und die dunkle Kugel drückte sich ans Gitter, als könnte sie Rens Gedanken lesen.
Ixtab entging das offenbar nicht, denn sie verzog das Gesicht. Ren nutzte die Gelegenheit, um nachzuhaken, was die Göttin vorhin gemeint hatte.
»Hast du dich nie gefragt, worin deine Fähigkeiten als Gottgeborene eigentlich bestehen?«, entgegnete Ixtab.
»Na ja, das Zeitseil hat mir gehorcht und …« Im Grunde hatte Ren die Zeit meistens nur aus Versehen angehalten, und das auch nur für ein, zwei Minuten.
Ixtab legte wieder die lackierten Nägel aneinander. »Du hast nie darüber nachgedacht, weil du dich dank dem Zeitseil und der Schattenmagie mächtig und unbesiegbar gefühlt hast. In Wahrheit hat die Schattenmagie deine Fähigkeiten als Gottgeborene überlagert und gehemmt. Das ist jetzt nicht mehr so.«
Ren wurde es eiskalt. »Und was sind das für Fähigkeiten?« Auf einmal hatte sie Angst, dass diese Fähigkeiten zu schwach sein könnten.
Ein Unheil verkündendes Lächeln umspielte Ixtabs rote Lippen. »Wenn du dem Tod das nächste Mal ins Auge siehst, wirst du dein volles übernatürliches Potenzial erkennen. Aber dann ist es höchstwahrscheinlich zu spät.«
Wieder lebendig zu werden, hatte Ren sich anders vorgestellt.
Sie hatte erwartet, dass sie auf ein Fingerschnipsen von Ixtab hin – Zack! – unter einem schattigen Baum in der Welt der Lebenden aufwachen würde.
Fehlanzeige.
Sie saß in einer engen Unterwelthöhle in einem Boot. Der junge Mann, der das Boot über einen Fluss ruderte, hatte etwas von einem Hologramm – er war da, aber irgendwie auch nicht.
»Ich bin Käpt’n Z.«, hatte er sich vorgestellt. Seine Gelenke quietschten und knarrten bei jedem gleichmäßigen Ruderschlag. Wenn er sich nach rechts wandte, sah er ganz normal aus, von links betrachtet war er ein Skelett mit einer billigen Perücke. Seine blaue Paillettenjacke glitzerte im Licht der Wandfackeln.
»Und ich bin Ren.«
Der flackernde Fackelschein spiegelte sich in den dunklen Fluten, in denen es von rattengroßen, schwarz glänzenden Skorpionen wimmelte.
Ihr Fauchen hallte durch die Höhle und Ren erschauerte. Konnte das Gerippe nicht schneller rudern?
»Krabbeln die Viecher manchmal auch ins Boot?« Sie wollte nicht zimperlich erscheinen, aber ohne magische Fähigkeiten fühlte sie sich wehrlos und verletzlich.
»Klar«, antwortete Käpt’n Z. »Sie wittern, wenn jemand Angst hat. Also bleib ruhig und immer schön in deiner Mitte. So zenmäßig.«
Jemanden aufzufordern, ruhig zu bleiben, war die beste Methode, genau das zu verhindern. Ren faltete die Hände im Schoß und versuchte, sich auf eine ihrer Mediationstechniken zu besinnen, aber ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
»Ich habe noch nie jemanden den Fluss hochgerudert«, fuhr Käpt’n Z. fort. »Normalerweise haben Tote keinen Rückfahrschein.«
Normalerweise?
»Stimmt schon, aber ich … muss noch etwas erledigen.« Menschenleben retten, Gottheiten ausschalten.
Ein fetter Skorpion zog sich an der Bordwand hoch. Der Stachel an seinem Schwanz war feuerrot, seine Zangen waren riesig. Aber das Gruseligste war, dass er einen Menschenkopf hatte, nur dass der schleimige Mund voller langer, spitzer Zähne war. Ren unterdrückte einen Aufschrei, verpasste dem Vieh mit ihrem roten Cowboystiefel einen Tritt und beförderte es wieder ins Wasser.
»Das war jetzt nicht besonders zenmäßig, aber was soll’s«, sagte Käpt’n Z. und musterte Rens Füße. »Coole Stiefel.«
»Und super zum Insektenzertrampeln.«
Käpt’n Z. nickte und kam wieder zum Thema zurück. »Du hast also noch etwas zu erledigen. Das behaupten alle Verstorbenen, aber deswegen dürfen sie noch lange nicht in die irdische Welt zurückkehren. Anscheinend bist du ein Sonderfall. Ooooder … du wurdest freigestellt. Dann kommst du irgendwann wieder her.«
Ren setzte sich aufrechter hin. »Was bedeutet ›freigestellt‹?«
»Wenn sich ein Toter tadellos benimmt, seine Unterwelt-Aufgaben einwandfrei ausführt und gelobt, nicht zu spuken, zu beißen oder sich anderweitig in die Angelegenheiten der Lebenden einzumischen, dann kommt es manchmal vor – ich betone: manchmal –, dass er oder sie die Unterwelt eine Zeitlang verlassen darf.«
Das Geräusch, mit dem die Ruder das skorpionverseuchte Wasser teilten, war grässlich. Immer wieder machte es erst Knirrrsch und dann ertönte ein markerschütternder Schrei, von dem es Ren eiskalt überlief.
»Wie lange bist du denn schon hier?«, wandte sie sich an ihren Begleiter. Die Unterhaltung lenkte sie von ihrer Angst ab und vielleicht ruderte Käpt’n Z. dann ja schneller.
Er strich sich eine verfilzte Kunsthaarsträhne aus dem Gesicht. »Ewigkeiten.«
»Dann hast du bestimmt schon viel gesehen.«
»Kann man wohl sagen.«
Ren rutschte auf ihrem Sitzkissen herum. »Zum Beispiel?«
Blöderweise ruderte Käpt’n Z. mitnichten schneller. Er hatte es offenbar nicht eilig. »Ich bin nicht befugt, darüber zu sprechen«, entgegnete er. »Jeder Verstorbene muss bei seiner Ankunft eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben. Die Unterwelt birgt viele Geheimnisse und …« Er räusperte sich. »… die dürfen nicht enthüllt werden – niemals.«
Ren war enttäuscht. Sie liebte Geheimnisse und Orte wie Xi’balb’a hatten erfahrungsgemäß die spannendsten zu bieten.
»Ich sag’s nicht weiter, versprochen. Alle meine Freunde können dir bestätigen, dass ich eine erstklassige Geheimnishüterin bin.«
Ein paar Skorpione krochen an einem Ruder hoch, worauf Käpt’n Z. erst seufzte und dann ein Gebrüll ausstieß, das ganz bestimmt nicht zenmäßig war. Hätte Ren sich nicht die Ohren zugehalten hätte, wäre ihr das Trommelfell geplatzt. Den widerlichen Krabbelviechern erging es offenbar ähnlich. Sie hüpften wieder ins Wasser wie Ratten, die ein sinkendes Schiff verließen.
»’tschuldigung«, sagte Käpt’n Z. »Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, bei den Geheimnissen. Leider kann ich dir keines verraten, aber –« Er beugte sich vor und senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Raunen. »Ich weiß, wer du bist.«
Ren ließ sich nicht anmerken, dass sie einen Schreck bekam. Immerhin fuhr sie zusammen mit einem Toten über einen Fluss voller ausgehungerter Monster, die Angst witterten.
»Du bist eine mächtige Bruja. Und außerdem eine Gottgeborene.«
Das mit dem ›mächtig‹ hat sich leider erledigt, hätte Ren am liebsten entgegnet, aber weil sie unter den gegebenen Umständen keine Schwäche zeigen wollte, fragte sie nur: »Woher weißt du das?«
»Der Buschfunk der Unterwelt funktioniert hervorragend. Außerdem wurdest du beobachtet.«
»Von wem?«
»Du hast einflussreiche Freunde.«
Ren wollte eben nachhaken, da polterte das Boot gegen einen Steg, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war.
»Da wären wir!«, verkündete Käpt’n Z. so großspurig, als würde er sich an die Passagiere eines Kreuzfahrtschiffs wenden und nicht an eine einsame Seele, die die Hölle verlassen wollte. »Geh einfach geradeaus. Dann kommst du an dem Ort heraus, nach dem du dich am meisten sehnst.«
Wo würde das sein? Wäre Ren dann wieder in Texas bei ihrem abuelo? Oder an der SCHAFOMA, der Schamanenschule für Fortgeschrittene Magie, wo sie zusammen mit ihren Freunden und anderen Gottgeborenen Ferienkurse belegte?
Vorfreude überkam sie. »Danke, Käpt’n Z.!«
Als er den Kopf nach rechts drehte, sah er im Schein der Fackeln ganz und gar wie ein Mensch aus Fleisch und Blut aus. Ren hätte gern gefragt, wie er in der Unterwelt gelandet war und wo er vorher gelebt hatte, wollte ihm aber nicht zu nahetreten. Vielleicht zog er es vor, sich nicht mehr daran zu erinnern.
»Hoffentlich sehen wir uns nicht wieder«, rutschte es ihr heraus. »Äh, ich meine …«
Käpt’n Z. lachte nur. »Ich weiß, was du meinst, aber ich sehe alle wieder … früher oder später.«
Ren klatschte seine Knochenhand ab und sprang auf den Steg. »Wie wär’s dann mit: Hoffentlich sehen wir uns nicht so bald wieder?«