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Spannender Jugendthriller mit einer ganz besonderen Challenge: ein echter Pageturner ab 12 Jahren! Nach einem Streit stellt Luna ein peinliches Video von ihrer Freundin online und innerhalb weniger Stunden geht der Post viral. Das Leben ihrer Freundin wird zur Hölle, und um ihre Schuld wieder gutzumachen, meldet Luna sich für die RETRO-Challenge: ein Jahr ohne Smartphone, Internet und Social Media! Bald verwandelt sich die Idee in eine richtige Bewegung: Die RETROS feiern das Leben und jeden Tag werden sie mehr, sogar Verlieben fühlt sich neu und echt an. Aber dann verschwinden die ersten RETROS ... Und Luna könnte die nächste sein. Eine Challenge, die weh tut – mach mit, wenn du dich traust! Für alle Fans von Neal Shusterman oder Ursula Poznanski »Ein rasanter Thriller, der uns die dunkle Wahrheit über soziale Medien und moderne Technologie glasklar vor Augen führt.« Kathleen Glasgow, »New York Times«-Bestsellerautorin von »Girl in Pieces«
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 458
Sofía Lapuente | Jarrod Shusterman
Geh nicht online
Die RETRO-Challenge: 1 Jahr ohne Smartphone!
Nach einem Streit stellt Luna ein peinliches Video von ihrer Freundin online und innerhalb weniger Stunden geht der Post viral. Das Leben ihrer Freundin wird zur Hölle, und um ihre Schuld wieder gutzumachen, meldet Luna sich für die RETRO-Challenge: ein Jahr ohne Smartphone, Internet und Social Media! Bald verwandelt sich die Idee in eine richtige Bewegung: Die RETROS feiern das Leben und jeden Tag werden sie mehr, sogar Verlieben fühlt sich neu und echt an. Aber dann verschwinden die ersten RETROS ... Und Luna könnte die nächste sein.
Weitere Bücher von Jarrod Shusterman bei Sauerländer:
»Dry«, zusammen mit Neal Shusterman
»Roxy«, zusammen mit Neal Shusterman
Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch
Sofía Lapuente ist Autorin, Drehbuchautorin und begeisterte Weltenbummlerin, die aus Spanien in die Vereinigten Staaten eingewandert ist, um ihren Traum vom Geschichtenerzählen zu verwirklichen. Zusammen mit ihrem Partner Jarrod schreibt und schreibt sie Bücher und Drehbücher für Film und Fernsehen.
Jarrod Shusterman arbeitet als Drehbuchautor für Film und Fernsehen. Außerdem dreht er Filme und Werbeclips. Jarrod lebt mit seinem zahmen Wolf in Los Angeles.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de
[Widmung]
1. Play
2. »Girls Just Want to Have Fun«
3. »Don’t Speak«
4. »Bitter Sweet Symphony«
5. »With or Without You«
6. Pause
7. »We Don’t Need Another Hero«
8. »Fly Away«
9. »We Will Rock You«
10. »Livin’ la Vida Loca«
11. »Wannabe«
12. »This Is How We Do It«
13. »Everybody (Backstreet’s Back)«
14. »Bye Bye Bye«
15. Pause
16. »Allstar«
17. »Basket Case«
18. »Freedom! ’90«
19. »Smooth«
20. »Wind of Change«
21. »It’s Tricky«
22. »Ironic«
23. Pause
24. »One More Time«
25. »It’s My Life«
26. »One Way or Another«
27. »La Isla Bonita«
28. »What a Feeling«
29. »Bailamos«
30. »Enjoy the Silence«
31. »No Diggity«
32. »Scar Tissue«
33. Pause
34. »I Love Rock ’n’ Roll«
35. »Iris«
36. »Barbie Girl«
37. »Macarena« (Bayside Boys Remix)
38. »A Quién Le Importa«
39. »Higher Love«
40. Pause
41. »Oops! … I Did It Again«
42. »These Boots Are Made for Walkin’«
43. »Africa«
44. »Ain’t No Mountain High Enough«
45. »Don’t You (Forget About Me)«
46. »Rayando El Sol«
47. »Fast Car«
48. »Help!«
49. »Stayin’ Alive«
50. »Zombie«
51. »Believe«
52. »Sweet Dreams (Are Made of This)«
53. »Killing in the Name«
54. »Thunderstruck«
55. »Entre Tú y Mil Mares«
56. »Welcome to the Jungle«
57. Pause
58. »Wonderwall«
59. »Smells Like Teen Spirit«
60. »(I Can’t Get No) Satisfaction«
61. »Heaven Is a Place On Earth«
Danksagung
Weitere Danksagung
Für alle, die unter Mobbing leiden. Und für alle, die sich auch weiterhin der Definition von Normal widersetzen.
Danke für euren Mut. ♥
– S.L. und J.S.
Gracias a toda mi familia y amigos, y especialmente a ti, mamá. Ihr habt mich so sehr unterstützt, seit ich zu meiner verrückten Reise aufgebrochen bin, und ihr habt nie daran gezweifelt, dass ich meine Träume erobern würde.
– S.L.
Ihr kennt mich noch nicht. Aber hier stehe ich, voller Dreck und Blutflecken auf meinem Pailletten-Discokleid, und ich weiß nicht mal, wo ich bin. Mein Herz fühlt sich an wie gesplittertes Glas. Un corazón roto.
Die Geschichte, wie ich hier gelandet bin, ist zu abgefahren, um sie zu glauben.
Also konzentriere ich mich erst mal auf mich und auf meine Umgebung. Ich bin eingesperrt. Man hat mich in einen sterilen weißen Raum ohne Fenster gesteckt, der extrem an eine Gefängniszelle erinnert. In der unerträglichen Stille wünsche ich mir eine Minibar und einen Lobotomie-Eispickel. Irgendwas, das mir hilft, meiner gegenwärtigen Realität zu entfliehen.
Ist nicht genau das heutzutage die große Mode?
Alle verstecken sich hinter einem Online-Profil, einem facegetunten Bild oder einem Filter, obwohl ihr Gesicht im Prinzip keinen Filter braucht, sondern einen doppelten Cappuccino. Wie meine Mom immer sagte: La cara es el espejo del alma. Damit lag sie völlig richtig, denn da könnt ihr euch noch so viel anstrengen, euch zu verstecken, eure Augen zeigen immer, wer ihr wirklich seid. Und in meinen Augen haben sie jemanden entdeckt, der sich nicht kleinmachen lässt. Ich schätze, ich bin schwierig. Das ist der eigentliche Grund, warum ich hier bin.
Zumindest waren sie so anständig und haben mir meinen Walkman gelassen. Ich drücke mir die Kopfhörer fest auf die Ohren. Das wird mir dabei helfen, meine Geschichte zu erzählen.
Zuerst stelle ich mich mal vor.
Ich heiße Luna, aber in letzter Zeit habe ich mir noch andere Namen eingehandelt. Ihr denkt vielleicht, ich wurde festgesetzt, weil ich jemanden umgebracht habe – oder weil ich eine Bank ausgeraubt habe. Gewalt und Körperverletzung.
Knapp daneben. Dieses Jahr haben wir eine Revolution angezettelt, und ich stand in der ersten Reihe.
Denn dieses Jahr waren wir unbesiegbar.
Haben wir jedenfalls geglaubt.
Jetzt ist mein Herz in den Flammen verbrannt.
Meine Freunde sind auf Nimmerwiedersehen verschwunden.
Und an meinen Händen ist das Blut getrocknet.
Meine Musik wird ausgeblendet. Ich wische mir schwarze Maskaratränen aus den Augen. Wahrscheinlich sehe ich aus wie ein tollwütiger, verhungerter Waschbär, dafür brauche ich keinen Spiegel. Die Kassette ist zu Ende, doch die Geschichte noch lange nicht – also spulen wir ganz zum Anfang zurück.
Zum ersten Song des Soundtracks meines Lebens.
Cindy Lauper
Ich war unschuldig. Sie wusste es und entschied, mich trotzdem fallenzulassen – stillschweigend. Obwohl wir genau wissen, dass unsere Lügen Schaden anrichten können, erzählen wir jeden Tag zwischen zehn und zweihundert, und zwar in allen Formen und Farben, angefangen mit geiler Haarschnitt bis hin zu Ich habe die Geschäftsbedingungen gelesen und erkläre mich einverstanden. Manche Lügen sind weiß, andere blutrot. Aber eins bringt dir niemand bei: Die gefährlichsten Lügen sind die, die du unterlässt.
Jedenfalls habe ich das an dem Tag gelernt, als ich wegen Diebstahl festgenommen wurde.
Es passierte am letzten Tag des Sommers, an einem dieser nordkalifornischen Nachmittage, wenn dunkle Wolken bedrohlich über den Himmel ziehen. Statt eine Trauerfeier für die Sommerferien zu veranstalten, genoss ich mit meinen Freundinnen gesättigte Fettsäuren, unwoke Witze und brandneue Klamotten. Na ja, nicht dass wir in unserer Kleinstadt sonst viel anstellen könnten.
Die Monteverde Mall war schon immer mein zweites Zuhause, und nicht nur weil ich mich mit sechs in einem Möbelgeschäft versteckt habe, bis meine Mom beim Sicherheitsteam einen kleinen Suchtrupp zusammengetrommelt hatte. Dort habe ich auch den ersten richtigen Betrug meines Lebens aufgedeckt, als ich alle Knetefarben mixte und einen Regenbogen erwartete, stattdessen aber Kackbraun herauskam. In der Spielhölle habe ich meine ersten Zombies abgeknallt. Vor allem aber betrieb meine Familie das kleine Kino in einer Ecke im Obergeschoss, wo ich Zugriff auf einen nicht versiegenden Vorrat an radioaktiv leuchtendem Popcorn hatte.
Meine Mom hatte mir den Tag freigegeben, und meine Freundinnen Samantha und Mimi spielten meine Personal Shoppers, obwohl ich mich nicht erinnern konnte, sie engagiert zu haben. Samantha hatte entschieden, dass ich ein Popstar sei, der in Malibu feiern wollte, und Mimi ließ sich wie eine Möwe von allem ablenken, das funkelte. Ein Paar wie aus dem Boutiquen-Himmel.
»Luna, darin siehst du echt unwiderstehlich aus«, sagte Samantha und hielt eine mikroskopisch kleine smaragdgrüne Bluse hoch.
»Danke, aber dir würde sie besser stehen … Für mich ist sie zu sexy«, antwortete ich.
Mimi legte mir einen Arm um die Schultern. »Wie meine Mom immer sagt: Das Sexyeste, das du zeigen kannst, sind deine Werte.«
Mimi war manchmal ziemlich bescheuert, aber dabei irgendwie immer superschlau.
»Ich sehe doch, wie euch Mädels die Jungs hinterhergaffen, seit ihr die Zahnspangen raushabt.« Samantha stupste mich an. »Dieses Jahr werden die Typen bei dir Schlange stehen.«
Ich lächelte. »Keine Bluse und kein Junge könnte mich so glücklich machen wie ihr beide.«
Samantha ergriff meine Hände und tanzte mit mir. »Komm schon – Liebe und Hormone liegen in der Luft.«
»Wo ist meine Gasmaske?« Ich lachte.
»Gib’s auf«, sagte Mimi. »Das letzte Mal, als Luna einen Freund hatte, hat sie noch im Sandkasten Kuchen gebacken, und wir wissen ja, wie das ausgegangen ist.«
Im weiteren Verlauf unseres Shopping-Abenteuers taten Mimi und ich so, als könnten wir uns mehr als ein einziges neues Kleidungsstück leisten, während Samantha eine Ewigkeit in der Kabine verbrachte und in allen Klamotten Selfies machte. Jedenfalls nahmen wir das an.
Als wir uns langsam zum Aufbruch bereit machten, bekam Mimi einen Anruf. Danach wirkte sie besorgt. »Ich muss los. Meine Katze kämpft schon wieder mit meinem Leguan.«
Ich hätte weitergefragt, kannte sie aber gut genug und ließ es lieber. Obwohl mir das Wohlergehen von Professor Meowmington und Juanita doch am Herzen lag.
Wir umarmten uns zum Abschied, und sie machte sich zum Ausgang auf, jedoch nicht ohne einem Typ in der Parfümabteilung zuzuzwinkern. Mimi hatte keine Probleme damit, an der Schule jeden anzumachen, nicht weil sie so selbstbewusst war, sondern weil sie auf ihrem eigenen Planeten lebte – das haute mich jedes Mal um.
Als wir zu zweit waren, entstand eine komische Atmosphäre zwischen Samantha und mir.
»War heute richtig lustig für mich«, sagte sie und blickte auf den Boden. »Danke, dass du und Mimi mich mitgenommen habt … Du weißt ja, wie meine anderen Freunde sind.«
»Nicht der Rede wert.« Ich wusste genau, was sie meinte. Samantha und ich waren uns ziemlich bewusst, dass wir aus völlig verschiedenen Welten kamen.
Sie war bei allen beliebt.
Und sagen wir mal einfach so: Ich bestand aus komplett anderen Zutaten.
In ihrem Leben ging es um schönes blondes Haar, um Follower in sozialen Medien und um Schulnoten, die für alle den Maßstab setzten. Sie war die »perfekte« Freundin, und so war es schon immer gewesen, seit wir uns als kleine Mädchen in der Fußballmannschaft kennengelernt hatten. In der Schule machten wir nie etwas zusammen, doch ich war die Erste, bei der Samantha anrief, als sie stellvertretende Schulsprecherin oder Cheerleader-Kapitänin geworden war. Oder als ihre Großmutter starb. Wir trafen uns, wenn sie sich entspannen oder Spaß haben wollte. Denn bei mir konnte sie immer sie selbst sein, ob an guten oder an schlechten Tagen. Perfektion konnte sie zu Hause lassen.
»Ich muss mal zur Toilette«, sagte Samantha. »Kannst du das so lange für mich halten?« Sie reichte mir ihren orangefarbenen Rucksack.
»Kein Problem.« Ich nahm ihn und schlang ihn mir über die Schulter.
Während ich wartete, scrollte ich durch Limbo – die Social-Media-App, die alle anderen geschluckt hatte. Ohne ein Limbo-Profil existierte man praktisch nicht. Meine Freunde und ich erfanden ständig neue Tänze, amüsierten uns mit Trends oder schlugen einfach Zeit tot. Einmal ging Mimi viral, als sie einen Kätzchen-Gesicht-Filter benutzte und ihrem Dad am Ellbogen leckte. Das war voll zum Schreien.
Jedenfalls stand ich da so im Kaufhaus herum, als mir ein Duft in die Nase stieg. Das göttliche Aroma von weißer Schokolade und Macadamia, das aus der CookieWorld kam, der Bäckerei gleich nebenan. Ich folgte dem Geruch und sabberte dabei wie eine Bulldogge. Samantha war irgendwie mies drauf, und ein Überraschungscookie würde sie vielleicht zum Lächeln bringen. Aber als ich durch den Ausgang ging, ertönte ein ohrenbetäubendes Heulen. Verwirrt blieb ich stehen, bis eine Hand meine Schulter packte und mich herumdrehte.
Der Sicherheitsmann – ein Kerl in schwarz-gelber Uniform – spielte sich auf wie ein Cop im Ruhestand.
»Ma’am, Sie müssten mal Ihre Tasche aufmachen«, befahl der Wachmann und zeigte mit seinem Schlagstock darauf.
Samanthas Rucksack hatte ich ganz vergessen. Ich nahm ihn ab, zog den Reißverschluss auf und sah das Sweatshirt eines Cheerleader-Teams.
»Könnten Sie mir bitte zeigen, was darunter ist?«, verlangte der Sicherheitsmann weiter.
Etwas entspannter wühlte ich tiefer …
Und sah etwas Silbernes funkeln.
Und nicht nur »etwas«, sondern ein brandneues spacegraues Smartphone, eine Smartwatch in Verpackung, eine Designersonnenbrille und Halsketten, an denen noch die Etiketten hingen. Da stand ich also mit Diebesgut für mehrere hundert Dollar in den Händen und wurde langsam völlig panisch.
Samantha wollte das alles klauen.
Aber wie? Wie konnte das Mädchen, das sich an alle Regeln hielt und nie die Hausaufgaben abschrieb, dazu fähig sein, solche Mengen abzuziehen – ganz offensichtlich kannte ich sie nicht so gut, wie ich geglaubt hatte, was mich tief erschütterte.
»Sie kommen jetzt mal mit«, knurrte der Sicherheitsmann und versperrte mir den Ausgang. »Der Filialleiter soll entscheiden, ob Sie die Nacht hinter Gittern verbringen.«
»Gefängnis? Ich kann nicht ins Gefängnis!«, jammerte ich und wich zurück.
So langsam erregte ich Aufmerksamkeit. Andere Kunden blieben bei uns stehen.
»Das ist nicht meine Schuld! Ich war es nicht!«
Der Sicherheitsmann zog eine Augenbraue hoch. »Wer denn dann?«
Ich brachte es nicht über mich, ihren Namen auszusprechen. Ich konnte mich nicht mal rühren. Stattdessen starrte ich sie einfach nur an, während Samantha ein Stück entfernt wie versteinert dastand und totenbleich beobachtete, wie sich die Szene entwickelte. Ich wartete darauf, dass sie vortrat – und die Verantwortung übernahm.
Was sie nicht tat.
»Wenn Sie es nicht waren, wer dann?«, wiederholte der Sicherheitsmann.
Samantha. Bitte, sag doch was!, schrie ich innerlich.
Aber Samantha schwieg. Sie überließ es mir, den Kopf dafür hinzuhalten. Mit den Augen bat sie um Entschuldigung, und ganz eindeutig war es nicht ihre Absicht gewesen, dass ich mit dem Rucksack hinausging. Abgesehen davon verriet mir ihre Miene, dass es jetzt mein Problem war. Entweder sie oder ich. Samantha entschied sich für Samantha.
No Doubt
Ich durfte also mal wieder meine alte Freundin Angst und ihre unerträgliche Cousine Wut begrüßen und auch die Enttäuschung, die sich mit ihnen einstellte. Es fühlte sich wie ein dumpfer Druck an, als würde ein Elefant auf meiner Brust stehen, aber ich wollte nicht explodieren. In diesem Moment musste ich eine Flasche stilles Wasser sein, keine Flasche Sprudel. Das hatte ich gelernt, wann immer ich wegen meiner Kultur oder meines braunen Teints besonders behandelt wurde. Wann immer andere über mich lachten, weil ich im Unterricht einen Blackout hatte und nur noch Spanisch aus meinem Mund kam. Dann stellte ich mir vor, ich sei eine Flasche, und egal, welcher Mix von Emotionen sich in mir befand und wie heftig mich die Welt schüttelte, ich würde nicht explodieren. Am liebsten hätte ich gebrüllt, und trotzdem konnte ich eine Freundin nicht verraten.
So war ich einfach nicht gestrickt.
Und Samantha wusste es genau.
Der Sicherheitsmann zerrte mich zu einer kleinen Tür im hinteren Teil des Ladens, wo auch die Anproben waren. Dort schob er mich in eine Arrestzelle, die sich eher anfühlte wie das Klo einer Autobahnraststätte. Die Tür krachte zu, und ich war allein – schutzlos und verletzlich wie ein bloß liegender Nerv.
Nicht lange danach hörte ich von der anderen Seite den gedämpften Klingelton eines Handys und drückte mein Ohr an die Tür. Ich erkannte die Stimme des Sicherheitsmannes.
»Ich habe sie hier im Büro … Keine Ahnung. Eine Anzeige wegen Ladendiebstahl ist keine schöne Sache.«
Mir schwirrte der Kopf. Mit wem telefonierte er bloß? Wie konnte man mich, Luna María Valero Iglesias, das Mädchen, das nicht einmal einen Werbekuli in einer Bank annahm, für eine »Ladendiebin« halten?
Klar, ich war absolut nicht perfekt. An der Wand der Dusche blieben immer Haarsträhnen von mir kleben, die wie kleine Kunstwerke aussahen. Was für eine Freude für meine Familie … Und wenn ich irgendwem eine Nachricht schickte: fast da, hieß es eigentlich, dass ich noch die Chinesische Mauer vor mir hatte, gegen einen Drachen kämpfen und bei Ikea den Ausgang finden musste. Außerdem besaß ich Kaffeebecher mit Lebensweisheiten. Und ich war jemand, der sich gern die existenziellen Probleme anderer anhörte – weshalb ich davon träumte, Psychologin zu werden. Vielleicht konnte ich diese Träume jetzt begraben.
Kein College verteilte Stipendien an Bewerber mit Strafregister, und ohne finanzielle Zuschüsse würde es sich meine Familie nicht leisten können, meine Ausbildung zu bezahlen.
Dann hörte ich den nächsten Satz durch die Tür:
»Das ist in Ordnung. … Gut … Wenn Sie zuerst mit ihrer Familie gesprochen haben …«
Bei den Worten erstarrte ich, denn ich stellte mir den Schreck vor, den meine Mutter bekäme, wenn die Polizei anrief. Zuerst würde sie denken, mir sei etwas Schlimmes passiert, und dann wäre sie total enttäuscht von mir. Was mein Vater denken würde, wenn er noch lebte. Der Mann hatte mir beigebracht, dass mein dritter Vorname, Valero, so viel bedeutete wie »Mut im Angesicht des Gegners – coraje frente a la adversidad«. Ein Verbrechen, selbst so ein kleines, würde Aufmerksamkeit auf meine Mutter lenken. Und das war das Letzte, was wir gebrauchen konnten: bei der Einwanderungsbehörde auf die schwarze Liste gesetzt zu werden, während der Status meiner Mutter auf »genaue Prüfung erforderlich« stand. Natürlich war sie legal hier, aber ein Verbrechen konnte eine Kettenreaktion auslösen, durch die wir getrennt würden. Und das alles wusste Samantha.
»Okay, dann wissen Sie ja, wo sie zu finden ist … Wenn der Besitzer unbedingt Anzeige erstatten will, ist sie in den Händen eines Anwalts sowieso besser dran …«
Das war das Letzte, was ich durch die Tür hörte. Der Anruf war zu Ende.
Falls ich einen Anwalt brauchte, müsste ich meine linke Niere verkaufen, um ihn mir leisten zu können.
Die Zeit zog sich dahin. Stunden vergingen, und als ich schon glaubte, ich würde das Tageslicht nie wiedersehen, begann der Türknauf zu wackeln und drehte sich schließlich. Die Tür ging auf, aber als ich aufschaute, sah ich keinem Gesetzeshüter ins Gesicht.
Keine Schusswaffe. Keine Handschellen. Kein Sondereinsatzkommando in Kampfausrüstung. Nur eine Frau in einem schicken Hosenanzug mit strengem Pferdeschwanz. Eine Frau, die ich so gut kannte, dass ich meinen Augen kaum traute. Tausendmal war ich bei ihr zu Hause gewesen. Eine Anwältin, die mich praktisch schon mein ganzes Leben begleitete. Und plötzlich ergab alles Sinn.
Samanthas Mutter lächelte, legte dem Sicherheitsmann eine Hand auf die Schulter, drückte ihm die andere und sagte in ihrem weichen Südstaatendialekt: »Bitte, sprechen Sie dem Geschäftsführer meinen Dank aus, weil er sich meiner Sichtweise angeschlossen hat.«
»Sie haben Glück, dass sie minderjährig ist, sonst hätte die Sache ganz anders ausgesehen«, erwiderte der Sicherheitsmann.
Meine Güte, war ich erleichtert. Kurz glaubte ich, die Welt wäre wieder in Ordnung, aber Samanthas Mutter öffnete die Handtasche und stellte einen Check an den Laden aus.
Über dreitausend Dollar.
»Mrs. Darby?«
»Das ist die Strafe für dein Vergehen. Für den Betrag war man einverstanden, dich laufenzulassen«, erklärte Samanthas Mutter. »Du kannst von Glück reden, dass sie nicht die Polizei gerufen haben.« Sie nahm eine Visitenkarte und reichte sie dem Sicherheitsmann. »Ich wünsche einen guten Tag.«
Mrs. Darby führte mich aus der Arrestzelle. Eindeutig enttäuscht von dem Chaos, das ihre Tochter angerichtet hatte. Als ich den Laden betrat, schweifte mein Blick automatisch zu der Stelle, wo ich Samantha zuletzt gesehen hatte. Sie wartete kleinlaut hinter einem Regal mit Kleidung.
Wenn ich nicht so wütend auf sie gewesen wäre, hätte sie mir leidgetan.
Ich starrte sie an und hoffte auf eine Erklärung, doch Samantha hob den Blick nicht. Stattdessen holte sie ihr Telefon heraus. Immer wenn sie nervös war, scrollte sie durch Limbo.
Ohne ein Wort führte ihre Mutter uns über den Parkplatz zu ihrem schwarzen Mercedes. Dann stellte sie eine Route ein, die mich nach Hause bringen würde. Und obwohl sie Zen-Klänge mit Vögeln, Wasserfällen und Regenmachern anmachte wie sonst nach einem anstrengenden Tag vor Gericht, habe ich noch nie eine so angespannte Fahrt erlebt. Samantha sagte nichts. Ich sah sie weiterhin an, wartete auf eine Erklärung, wartete auf eine Begründung. Zehn Jahre waren wir Freundinnen, und sie hatte mich wie Müll behandelt, um ihre eigene Haut zu retten.
Als wir schließlich mein Viertel erreichten, die Monte-Dorado-Apartments, eine kleine Wohnsiedlung am Stadtrand, griff ihre Mutter nach hinten, schob die Wagentür auf und sah genervt aus. Dann sagte sie etwas, das mich total schockierte. Ich erwartete eine Entschuldigung für ihre Tochter – oder die Frage, ob sie mit meiner Mutter sprechen sollte –, doch als ich niedergeschlagen ausstieg, ließ sie das Fenster herunter und sah mir in die Augen.
»Keine Sorge, Hon«, sagte sie, »du kannst es mir später zurückzahlen.«
»Samantha, bitte sag ihr, was wirklich passiert ist. Das ist voll nicht fair.«
Samantha wandte den Kopf ab.
Ich brauchte jetzt ihre Freundschaft – aber was ich brauchte, interessierte sie nicht.
Und in dem Augenblick wurde mir klar, dass ich den Preis für ihr Schweigen zahlen musste. Dreitausend Dollar. Das war mehr, als ich auf dem Sparbuch hatte. Nachdem ich viele Abende im Kino gearbeitet und vier Sommer lang unter glühender Sonne dieses peinliche Bibermaskottchen im Wasserpark gespielt hatte. Samantha wusste, dass ich für das Geld hart geschuftet hatte und wie schwer das Leben für meine Familie war.
Bevor sie abfuhren, fügte ihre Mutter hinzu: »Versprich mir, es nicht noch einmal zu tun.«
Mir stiegen die Tränen in die Augen.
»Versprich es mir, Luna, und die ganze Sache ist aus der Welt.«
Meine Lippen bebten, aber ich unterdrückte die Wut, die mich zu ersticken drohte. »Ich verspreche es«, sagte ich schließlich mit zitternder Stimme.
Und damit sauste der Wagen davon.
In meinem Bauch rumorte es.
Ich stürmte ins Haus.
Wie konnte ich nur so naiv sein? So dumm? So schwach? Anstatt mich aus dem Morast zu ziehen, in den ich gefallen war, hatte Samantha mich nach unten gedrückt. Und ich hatte es zugelassen! Sie hatte sogar ihre Mutter in dem Glauben belassen, ich sei eine Diebin.
Wir waren Freundinnen geworden, als ihre Eltern mich nach dem Fußball mitgenommen hatten, weil meine Mutter bis spät arbeiten musste. Wir hatten sogar diesen speziellen Pfiff, mit dem wir uns gegenseitig auf dem Feld Mut machten. Uns in wichtigen Situationen anspornten. Das schweißte uns zusammen, wie unterschiedlich unser jeweiliges Leben auch sein mochte. Wir waren füreinander die Schwestern, die wir nicht hatten.
Aber das war jetzt vorbei.
Da der Wagen meiner Mutter nicht in der Einfahrt stand, war es besser, erst drinnen zu explodieren und nicht schon vor der Tür, damit es nicht der gesamte Apartmentkomplex mitbekam. Ich bedankte mich bei meinem Glücksstern dafür, dass sie das Kino sonntags immer spät schloss. Wenn meine Mutter erführe, was passiert war, würde sie sich bis zur Panik Sorgen machen. Und noch mehr Trouble hatte sie als alleinerziehende Mutter echt nicht verdient.
Ich stürmte wie ein Tornado in mein Zimmer und donnerte die Tür hinter mir zu.
Eigentlich wollte ich gar nicht an Samantha denken, konnte aber überhaupt nicht anders. In meinem Zimmer erinnerte mich zu viel an sie. Also würde ich das alles vernichten. Zehn Jahre Freundschaft in wenigen Minuten auslöschen.
Jetzt war ich keine Flasche mit stillem Wasser mehr.
Ich war mit Adrenalin vollgepumpt, in das sich Enttäuschung mischte, also war ich Sprudel – und zwar mit explosiven Mentos.
Ich riss das Poster unserer Lieblingsband von der Wand.
Ich verstümmelte mit einer Schere das Trikot von Cristiano Ronaldo, das sie mir geschenkt hatte. Dann zerfetzte ich ein Real-Madrid-Plakat, das ich zum siebzehnten Geburtstag von ihr bekommen hatte. Ich wusste, ich veranstaltete ein Drama, aber das war mir egal. Ich war eine Rakete mit Wärmesuchkopf, die alles ins Visier nahm, was mich an sie erinnerte. Dann kramte ich mit Tränen in den Augen nach meinem Telefon. Ich brauchte Unterstützung von der einzigen Person, die mir jetzt helfen konnte. Die mir stets sagte, wenn ich Lippenstift an den Zähnen hatte. Die mich an meine spanische Seite erinnerte – immer ehrlich und immer mit aller Liebe der Welt.
Doch als ich mit ihr redete und ihr mein Herz ausschüttete, war Mimi gar nicht überrascht.
»Luna, wenn dich jemand nach unten ziehen will, dann nur, weil er längst unter dir steht«, sagte sie. »Was Samantha getan hat, war echter Schrott. Richtig schräg. Aber jeder weiß, dass sie auf ihrem Weg nach oben über Leichen geht.«
Mimi nahm kein Blatt vor den Mund und hatte total recht.
Samantha und ich gehörten verschiedenen Welten an, und in ihrer galten die ungeschriebenen Gesetze der Popularität – ich war so naiv gewesen und hatte gedacht, es käme auf das an, was wir nach Schulschluss teilten. Außerdem hatte Samantha keine Angst davor, sich in der Schule Feinde zu machen.
»Samanthas Freunde halten mich sowieso für komplett irre, seit ich diesen wunderschönen knuddeligen Leguan habe und mir das Haar rosa färbe«, sagte Mimi. »Aber wer will nicht aussehen wie ein köstliches Erdbeerkaugummi? Egal. Die sind echt übel. Weiß ja jeder.«
Je länger ich mit Mimi redete, desto besser fühlte ich mich, und am Ende würde sie mich mit ihren typischen Mimi-Kommentaren zum Lachen gebracht haben. »Samantha hat einen Bienenkomplex. Sie hält sich für die Königin, dabei ist sie in Wahrheit einfach nur ein lästiges Insekt.«
Zum ersten Mal an diesem Abend lächelte ich durch die Tränen – was sie sagte, hätte man eigentlich auf T-Shirts drucken oder zumindest gerahmt im Guggenheim ausstellen müssen. Ein wenig beruhigter ging ich in die Küche, um mir Schokoeiscreme mit heißer Soße zu holen: mein »Das Leben kann mich mal«-Tröster inklusive schlechtem Gewissen. Damit würde ich zwar meine Probleme nicht lösen, aber mit Brokkoli auch nicht.
»Samantha hat eine Freundin wie dich gar nicht verdient, Luna. Eigentlich ist es gut, was passiert ist, denn jetzt weißt du wenigstens Bescheid.«
»Danke, Mimi. Du hast recht. Ich bin schon drüber weg.«
»Jetzt klingst du wieder wie meine Loony«, sagte sie und nannte mich bei dem Spitznamen, den sie mir in der Grundschule verpasst hatte. Ehe sie auflegte, gab sie mir zum Abschied noch ein paar gutgemeinte Ratschläge mit auf den Weg. »Vergiss nicht, wie tapfer du bist. Schließlich bist du der einzige Mensch, den ich kenne, der sich traut, sich den Pony selbst zu schneiden.«
Ich legte mich aufs Bett und nahm mein Handy. Es war Zeit, Samanthas digitalen Fußabdruck aus meinem Leben zu löschen. Ob nun Posts auf sozialen Medien, Computerspiele, die wir zusammen gespielt hatten, oder Bilder in meiner Galerie. Jetzt ging es nicht mehr um Wut oder Sauersein. Es ging um den Respekt vor mir selbst. Und um die Wahrheit.
Also löschte ich. Es war empowernd. Ich lebte nicht mehr in Samanthas Schatten. Ich war auf dem Kriegspfad. Aber was im Internet passiert, bleibt im Internet.
Das würde ich bald auf die Hardcore-Tour lernen.
Denn dann entdeckte ich das Video.
Ich wusste nicht mal, dass es existierte, doch da war’s, göttlich deplatziert.
Es stammte von Samanthas Halloween-Party im letzten Jahr, und weil ihre Eltern nicht zu Hause waren, hatte sie zu einem Rager eingeladen, es gab also Alkohol in Massen. Ich habe noch nie viel getrunken, aber Samantha ist eine Pro. Sie hatte sich wie eine Disney-Prinzessin verkleidet, trank jedoch wie ein zweiter Jack Sparrow. Nachdem alle gegangen waren, blieb nur noch ich und kümmerte mich um den Star der Show. Noch nie hatte ich eine so betrunkene Prinzessin gesehen. Sie lag mit dem Gesicht in ihrer eigenen Kotze und einer schmierigen Meat-Lovers-Pizza und nahm das falsche Video und auch noch mit dem falschen Handy auf.
Es war brutal.
In ihrem total besoffenen Zustand machte sie ihre Freunde runter und auch alle Leute, mit denen sie nicht befreundet war: die beliebtesten Kids, den Jungen, mit dem sie zusammen war, den Jahrgangssprecher, die Sportcracks und die Mathecracks. Ihre gesamte Cheerleader-Truppe. Niemand wurde verschont. Ich war nur überrascht, weil es mir nicht an die Gurgel ging – vermutlich war der Akku leer, ehe ich an der Reihe war.
Das Video hätte eigentlich gar nicht in meinem Besitz sein sollen, aber hier saß ich und staunte, als hielte ich einen Picasso in der Hand. Gleichzeitig schön und grotesk.
Die Welt musste dieses Kunstwerk sehen.
Wenn ich schon den Kopf hinhalten musste und mein gesamtes Geld auf dem Bankkonto verlieren würde, dann verdiente die Schule, Samantha so zu erleben, wie sie wirklich war. Jedenfalls konnte sie dann vergessen, weiterhin die Miss Perfekt zu spielen.
Also öffnete ich meine Limbo-App und lud das Video von einem anonymen Account hoch. Dann klickte ich schließlich auf Posten, veröffentlichte das Video auf Limbo, ließ alle schlechten Gefühle des Tages damit entschwinden. Ich teilte es mit Mimi, stellte mein Handy auf lautlos und ging unter die Dusche. Das Wasser spülte die üblen Vibes weg, und ich sagte mir, dass ich morgen einen Neuanfang vor mir hatte. Die Chance, die Vergangenheit hinter mir zu lassen. Sie am ersten Schultag zum Schweigen zu bringen. Und ich redete mir ein, meine Probleme könnten nicht noch größer werden. Ich ahnte nicht, dass sie zu Monstern heranwachsen würden.
The Verve
In der Psychologie gibt es diese Sache mit der Bedürfnishierarchie von Maslow. Diese Theorie handelt davon, dass man, um sein ganzes Potenzial auszuschöpfen, sämtliche Bausteine seines Lebens übereinander anordnen muss, und wie bei allen coolen Dingen geschieht das in Form einer Pyramide. Ganz unten stehen die physiologischen Bedürfnisse, also Essen und Wasser; dann folgen Sicherheit, Liebe und Wertschätzung. Angenommen, dein Kühlschrank ist leer. Am nächsten Tag stiehlst du deiner Freundin den Lunch, aber dann wirst du unbeliebt. Und ohne Unterstützung deiner Freunde kannst du niemals deinen Traum verwirklichen, Präsidentin zu werden und Taco-Dienstag zum Nationalfeiertag zu erklären. Einer nach dem anderen geraten deine Bausteine in Gefahr, bis deine gesamte Pyramide einstürzt.
Genau das passierte mir am ersten Schultag.
An dem Morgen erwachte ich von einem besonders fröhlichen Klingelton meines Handys. Mein Gestern-Ich hatte immer so lustige Ideen, wie es mein Morgen-Ich quälen konnte. Ich stieg in meine Schuhe und malte mir dickes Make-up ins Gesicht. Nichts würde mich aufhalten, gleichgültig, wie verwundet ich mich fühlte. Ich würde mich nicht mehr mit dem beschäftigen, was gestern passiert war, und definitiv würde ich meine Mutter nicht damit behelligen. Das hatte sie nun überhaupt nicht verdient.
»Luna! ¡Hija! Komm, trink deinen Saft, sonst verliert er die Vitamine!«, rief meine Mom von unten.
»Bin in fünf Sekunden da!«, rief ich zurück und genehmigte mir fünf weitere Minuten. Ich räumte das Chaos auf, das ich am Abend zuvor angerichtet hatte, sprühte mich mit meinem Lieblingsparfüm ein und flog die Treppe hinunter, während ich durch meinen Limbo-Feed scrollte.
Ich fand die typischen Schulanfangs-Posts: zwei Avocadotoasts, ein Chihuahua, der in Zeitlupe zu Rap-Musik hüpfte, und perfekte Stundenpläne, die nur noch ausgefüllt werden mussten. Die ganze Zeit hatte ich ein komisches Gefühl, weil ich dieses Video auf meinem Spam-Account hochgeladen hatte – meinem Zweitaccount, mit dem ich Leute ausspionierte, in die ich verknallt war. Obwohl er anonym war, bedauerte ich so langsam, was ich getan hatte.
Also löschte ich das Video und damit den Fehler, den ich in meiner Wut gemacht hatte.
Plötzlich kreischte meine Mutter und erschreckte mich zu Tode. Sie zeigte auf meine Ripped-Jeans. »¡Ay, Dios mìo! Warum läuft meine hübsche Tochter herum wie ein Zombie?« Sie packte mein Gesicht und musterte es. »Diese verschwollenen Augen. Und die Tränensäcke? Hast du nicht gut geschlafen?«
Das waren eindeutig die Restgefühle von gestern – die mir gar nicht aufgefallen waren, aber einer spanischen Mutter entgeht nichts, und mi mamá, Gloria, bildete da keine Ausnahme.
»Alles super«, sagte ich zwischen zwei Schlucken Orangensaft, dann kräuselte ich die sauren Lippen. »Das sind nur Ideen, die sich dort gesammelt haben.«
Meine Mutter schlug in die Luft und gab so zu verstehen, dass sie kapitulierte. »Schön, bei so vielen Ideen erwarte ich gute Noten, Señorita. Und vergiss deine Jacke nicht!« Das sagte sie immer, gleichgültig, wie warm oder kalt es draußen war. Sie Helikoptermutter zu nennen, war die reinste Untertreibung.
»Ich habe dich lieb, Mamá. Danke für die Fürsorge, aber ich schwitze mich tot.«
»Ich habe dich auch lieb, hija, aber du schwitzt nicht. Du glänzt. Jetzt nimm die Jacke.« Meine Mutter knutschte mich ab.
Der Unterschied zwischen einem Terroristen und meiner Mutter ist folgender: Mit einem Terroristen kann man verhandeln.
Ehe ich losfuhr, stellte ich ihr noch einen Kaffee auf den Tisch, mit einer Prise Zimt und Vanille, so wie sie ihn mag – denn auch Mütter haben es morgens schwer. Besonders verwitwete. Dann ging ich mit Steppjacke nach draußen, sah aus wie das Michelin-Männchen und sprang in meinen prähistorischen SUV, der alt genug war, um »alt« auszusehen, aber nicht alt genug, um »cool« zu wirken. Genau wie diese peinliche Phase vor dem nächsten Friseurtermin. Ich packte das Lenkrad, hob den Kopf und machte mich für den Tag bereit – ob ich nun Samantha gegenübertreten musste oder nicht.
Ich kam.
Ich parkte.
Ich schlenderte – einen Gang entlang zwischen buntlackierten Schließfächern, wo man uns zum Schulbeginn mit Bannern in der magischen Welt der öffentlichen Bildung willkommen hieß. Jeder präsentierte sein neues Outfit oder seine kürzlich entwickelten Körperteile, und das führte zu einem aufgeregten Tumult. Energie lag in der Luft, wie am Schwarzen Freitag vor den Gewalttätigkeiten. Ein Kid hinterließ sogar seine Biosignatur auf einer Wand, indem es sie anspuckte.
Das reinste Chaos.
Ich ging zur El Dorado High. Auf Spanisch heißt das »golden«, aber auf Englisch bedeutet es wohl eher »chronische Amnesie«, denn ich kann mir einfach nicht erklären, wieso wir so viele Planeten in unserem Sonnensystem haben und sich die Idioten trotzdem alle bei uns sammeln. Der erste Schultag machte da keine Ausnahme, denn die Schüler der El Dorado High hatten sich bereits in ihren entsprechenden sozialen Gruppen gefunden – Athleten genauso wie Mathleten. Und an den Automaten hing natürlich die beliebteste Gruppe herum: die Goldenen.
Die waren schlimmere Fakes als das Frühstück eines Influencers.
Glücklicherweise gehörte ich zu keiner dieser Gruppen.
Als ich an meinem Schließfach ankam, hörte ich jemanden rufen.
»Loony! Da bist du ja!« Mimi umarmte mich von hinten wie ein Lemur. »Ich muss echt sagen, das Video, das du mir geschickt hast, ist next Level! Samantha tut immer so, als würde sie Regenbogen kotzen, aber sie ist genauso eine schlichte Sterbliche wie wir.«
»Ja, ich weiß, genau …«, antwortete ich und fühlte mich immer noch schuldig wegen des Posts.
»Weißt du, für dich würde ich jeden beißen, wenn es sein muss.« Mimi grinste.
»Stell dir das mal in echt vor.« Wir lachten, und ich schlang die Arme um sie. »Danke, dass du zu mir hältst, aber ehrlich gesagt würde ich den gestrigen Tag am liebsten vergessen.«
»Dafür kenn ich genau das Richtige.« Mimi griff in die Tasche und holte eine Tüte mit Jelly Beans hervor. »Sollen wir?«
»Bitte, bitte, Erdbeere«, bettelte ich, als ich in die Tüte griff.
Mimi war überzeugt, dass die Geschmacksrichtung, die man am ersten Schultag herausholte, einem das Schicksal voraussagte. Und obwohl ich das nicht beschwören würde, konnte ich nicht das Risiko eingehen, die Zukunft nicht zu kennen – sogar schon als Samantha noch zu uns gehörte. Aber in den letzten Jahren hatte ich immer den gleichen Geschmack gezogen.
Zitrone-Limette.
Voll typisch. Ein bisschen süß, ein bisschen sauer, und fast niemand mag es.
Sicher, ich hatte Freundinnen, aber die meisten Leute übersahen mich einfach. Ich war schlau genug, um in Erweiterungskurse aufgenommen zu werden, aber meine Zensuren reichten nicht für ein akademisches Stipendium, deshalb hatte ich nur über den Fußball Chancen, aufs College zu kommen. Doch während ich in der Tüte umhertastete, beschlich mich so ein Gefühl, dass in diesem Jahr alles anders sein würde. Und der Beweis kam, als ich mein Jelly Bean herausholte.
»Lakritz«, sagte ich.
Mimi schnappte nach Luft und schlug es mir aus der Hand.
»Was bedeutet das?!«
»Keine Ahnung. Aber beim letzten Mal, als ich eins davon hatte, wäre ich fast ertrunken«, erklärte Mimi. »Weißt du noch, meine Eltern haben den Wasserpark verklagt, und wir haben das ganze Geld bekommen. Sagen wir mal, es bedeutet, dass alles Mögliche passieren kann.«
Wir waren auf dem Weg zur ersten Stunde, als wir den Lärm hörten. Lautes Gelächter – und während wir an der Regenbogenreihe der Schließfächer vorbeigingen, stellten wir fest, dass überall Handys brummten. Die Kids standen zusammen, tuschelten, lachten … Erst jetzt bemerkte ich, dass sich die positiven Vibes von vorhin in etwas verwandelt hatten, das deutlich weniger unschuldig wirkte.
Ich sah Mimi an. »Was ist denn los?«
Sie hatte genauso wenig Ahnung wie ich, aber dann brummte auch ihr Handy. Es war Limbo.
Mir schoss das Adrenalin durch den Körper. Mimi scrollte, und wir sahen bearbeitete Bilder und zusammengeschnittene Videos einer schimpfenden Samantha, die von allen möglichen Texten kommentiert wurden:
WENN MAN MIT JOHNNY WALKER VON ZU HAUSE WEGLÄUFT.
HELFT IHR! 1–800–55–4357. DROGEN- UND ALKOHOL-HOTLINE.
BITTE DAS KRANKENZIMMER ANRUFEN. JEDE MENGE OPFER VON RUFMORD.
ENDLICH BIN ICH NICHT MEHR DIE EINZIGE, DIE DIE GESAMTE EL DORADO HIGH HASST.
Ehrlich gesagt lachte ich zuerst, denn einige der Kommentare waren echt lustig. Aber als Mimi weiterscrollte, sah ich, dass manche Limbo-Videos schon Zehntausende Male angeklickt worden waren.
Das raubte mir den Atem.
Denn Samantha trendete.
»Hm, hast du das Video mit irgendwem geteilt?«, fragte ich Mimi.
»Nur mit ein paar Freunden aus dem Jahrbuch-Club … und mit Miranda …« Schuldbewusst schlug sie die Augen nieder.
»Und mit wem haben die es geteilt?«
»Keine Ahnung, mit Freundinnen, ihren Freunden vielleicht …«, fuhr sie fort. »Aber, Luna, der Algorithmus sucht sich aus, was er will. Samantha hat Müll über ihre Freundinnen erzählt, und die haben tonnenweise Follower. Vielleicht wurde es dadurch gepusht.«
Ich sah mich um. Samanthas Freundinnen hatten sich über ein Handy gebeugt und lachten. Und in ihrem Zentrum stand der unbestrittene König der Goldenen.
Axel. Alphastar der sozialen Medien. Jede Schule hatte einen – und manche hatten sogar einen großen Star. Aber Axel war eine Legende. Der hatte, sagen wir, eine Million Follower. Seine Freunde liebten ihn, weil alle, die in seinem Orbit kreisten, selbst Follower gewannen, nachdem er groß rausgekommen war, und die ganze Stadt liebte ihn, weil er die El Dorado berühmt gemacht hatte. Seine Fans fuhren voll ab auf seine kleinen Kreolen und das perfekt zerzauste Haar, aber ich konnte sein arrogantes Lächeln nicht leiden, und außerdem nannten er und seine Freunde Mimi das freakige Eidechsenmädchen. Als wäre es schlimm, anders zu sein als sie.
Er und seine Freundin Jade Laurent waren praktisch unsere Royals. Sie wurde bewundert, weil sie die Cheerleader letztes Jahr zur Staatsmeisterschaft geführt hatte, und dadurch hatte die Schule einen großen Sportzuschuss bekommen, mit dem sie eine neue Turnhalle bauen konnte. Sie waren die Sorte Superpärchen, das um die Welt reiste und Zahnweißstreifen verkaufte. Und sie hatten die Macht, Samantha das Leben zur Hölle zu machen und gleichzeitig Zahnweißstreifen mit Promotioncode zu verkaufen.
Wenn Samantha das Video sähe, würde sie wissen, dass ich es geleakt hatte. Doch das alles hatte ich nicht beabsichtigt. Ich tröstete mich und dachte, wenigstens war die Wahrheit jetzt raus, und vielleicht würde sich Samantha jetzt nicht mehr so ernst nehmen. Sie hatte ihr ganzes Leben damit verbracht, sich ein perfektes Image zu konstruieren, und vielleicht brauchte sie sich jetzt nicht mehr so hineinzusteigern. Vielleicht könnte sie sich endlich ein bisschen lockermachen und mit sich selbst glücklich werden.
Leider war dies nicht so eine Art von Geschichte.
U2
Mit dem Geruch von Blut kamen auch die Haie. Es gab immer jemanden, der ein bisschen weniger beliebt war als Samantha, schlechtere Noten hatte oder nicht mit so viel Geld protzen konnte. Und weil Samantha nun mal das Gegenteil von bescheiden war, wollten alle, die sie je angefeindet hatte, die Chance zur Revanche nutzen.
In der dritten Stunde erreichte die Sache ein neues Level.
Wir taten so, als würden wir uns wahnsinnig für das Liebesleben unseres Lehrers interessieren, um Unterrichtszeit zu vertrödeln, als ich sah, dass Samantha viral ging. Sie hatte sogar ihren eigenen Hashtag:
#VerräterinSamantha.
Inzwischen gab es 1,3 Millionen Limbo-Posts.
Emotionaler Missbrauch in mehr als einer Sprache – das Ganze wurde international. Alle mischten mit.
Ich versuchte, die Videos zu melden, doch gleichgültig, wie viele ich markierte, es hatte keinen Zweck, weil immer mehr kamen. Also begann ich, den Ärschen zu antworten, damit sie damit aufhörten, aber selbst das hatte wenig Aussicht auf Erfolg. Klar, Samantha hatte mich verraten, doch das war jetzt kein harmloser Schlagabtausch mehr. Das war eine öffentliche Hinrichtung.
Die ganze Stunde stritt ich mich heimlich unter dem Tisch mit Fremden, und es war klar, dass alles nur noch schlimmer werden würde.
Doch die Axt ging erst in der Mittagspause nieder.
Die Welt war in den letzten Jahren ein verrückter Ort gewesen, und ich hatte gelernt, dass eine der größten Bedrohungen in jedem Augenblick der Katastrophe aus Falschinformation besteht. Man nennt das Infodemie. Lügen verbreiten und vervielfältigen sich in alarmierender Geschwindigkeit und prasseln so lange auf uns ein, bis wir nicht mehr sagen können, was richtig und was falsch ist.
Mimi und ich rückten langsam in der Essensschlange vor.
»Luna, warum essen wir diesen Cafeteria-Fraß aus Chemie, wenn Seife aus Honig, Kokosnuss und Vitaminen gemacht wird?«, fragte Mimi, zupfte nervös an ihrem Ärmel und vermied es sorgsam, unsere lachenden Klassenkameraden anzusehen.
Ich hatte weder Geduld noch Zeit, es ihr zu erklären. Mir ging es kaum besser, ich zerlegte eine Serviette in Fetzen. Beinahe konnte ich Samanthas Leid körperlich fühlen, aber das ist wahrscheinlich normal nach zehn Jahren Freundschaft.
Und dann sah ich sie.
Zum allerersten Mal aß Samantha allein. Normalerweise saß sie bei den Goldenen, doch heute hockte sie in der Ecke an einem Tisch, der immer leer war, hinten bei den Mülleimern, und schob Erbsen und Möhren hin und her, und niemand war bei ihr, um mit ihr zu reden.
Samantha war ganz allein.
Die gesamte Schule schien wieder Social Distancing zu betreiben, nur diesmal war sie das Virus. In der Luft lag eine Spannung, die so dick war, dass man eine Machete brauchte, um die Cafeteria zu durchqueren. Überall wurde geflüstert und getuschelt, und Samantha wurde aus der Ferne beäugt wie eine Laborprobe unter dem Mikroskop.
Dann sah Samantha auf, entdeckte mich und erhaschte meinen Blick durch die Menge. Es dauerte nur einen Moment, doch das genügte. Ihre Augen schrien: Ich bin verloren, Luna, und ich weiß nicht, wie ich das aufhalten kann.
Im Zentrum des Gelächters befand sich jemand, den Samantha sehr gut kannte – jemand, der früher Samanthas Stellung bei den Goldenen gesichert hatte. Der Kapitän des Wrestling-Teams. Eins der heftigsten Aggro-Arschlöcher an der El Dorado: ihr Exfreund Vince.
Er gehörte zu denen, die erst spät in die Pubertät gekommen waren und danach ständig beweisen mussten, dass sie ein echter Mann sind, auch wenn sie sich damit komplett zum Volldeppen machten. Kennt ihr die Theorie, dass wir alle vom gleichen Affen abstammen? Vince war der lebende Beweis.
Seine Freunde stichelten.
»Alter, Samantha ist immer noch meilenweit von deiner Liga entfernt, sogar nach dem üblen Rant.«
»Ich meine, sie hat gesagt, du hättest nicht mal genug Muskeln, um ein T-Shirt in Größe S auszufüllen. Du würdest in der Kinderabteilung shoppen! Lässt du dir das gefallen?«
»Ey, sie hat sogar gesagt, du hättest einen kleinen –«
»ES REICHT!«, brüllte Vince. Die Sticheleien konnte er wohl kaum ertragen.
Dann stand er plötzlich auf, packte sein Essenstablett und bewegte sich auf Samantha zu wie eine düstere Wolke vor dem Sturm. Und es dauerte nicht lange, da hatte er alle Blicke auf sich gezogen, auf seine College-Jacke und das Grinsen im Gesicht.
Was als Nächstes geschah, spielte sich innerhalb von Sekunden ab, vor meinem inneren Auge entspann es sich allerdings in Zeitlupe. Vince hielt geradewegs auf den Mülleimer zu. Ich hoffte, er würde einfach nur sein Mittagessen wegwerfen und es dabei belassen. Aber in dem Augenblick machte er einen der widerwärtigsten Moves, die ich jemals gesehen habe. Kein Mensch verdient es, wie ein Tier behandelt – oder so gefüttert – zu werden.
Vince warf seine Pizza nach Samantha.
»Jetzt bist du von außen so hässlich wie von innen«, schnaubte er.
Samantha zerfloss in roter Soße.
Im ersten Moment herrschte Totenstille in der Cafeteria. Dann füllte sich der Raum mit Geschnatter.
»Oh. Ups.« Vince konnte das Lachen kaum zurückhalten. »Wow, ich habe richtig gut getroffen.«
»Sei nicht so ein Arschloch, Vince«, rief Jade von ihrem Thron am Tisch der Goldenen.
»Tja, das habe ich ja auch nicht gewollt«, höhnte Vince. Aber so war er – er konnte einem Gegner auf der Wrestling-Matte den Arm brechen und hinterher behaupten, es sei ein Unfall gewesen. Die Goldenen hatten sich bei der Trennung auf keine Seite gestellt, doch heute sorgte Vince für klare Verhältnisse. Alle starrten Samantha an. Was würde sie als Nächstes tun?
Langsam stand sie auf, mit Pizzasoße beschmiert, und begann, verletzt und hilflos zu winseln. Sie kniff die Augen zu, damit das alles einfach verschwinden würde. Und aus dieser hoffnungslosen Leere begannen Tränen zu rinnen.
Niemand kam ihr zu Hilfe – alle hatten zu viel Angst, selbst zum Ziel zu werden. Zum ersten Mal im Leben erfuhr ich den Zuschauereffekt am eigenen Leib: Warum ein Risiko eingehen und helfen, wenn das auch jemand anderes machen könnte? Sogar Mimi war sprachlos, reglos.
Niemand bot Hilfe an.
Stattdessen gingen die Telefone in die Höhe und begannen zu filmen.
Samantha taumelte durch die Menge auf einen Ausgang zu. Sie stolperte und musste sich abstützen. Bald war sie vom Gedränge verschluckt. Alle waren so geil auf Unterhaltung, dass sie bereit waren, von der herzlosen Szene vor ihren Augen ein Video zu machen.
Dieser Anblick schlug in mir einen Schalter um. Ich empfand nur noch Wut. In meinen roten Augen brannten Tränen. Denn ausnahmsweise hatte ich das Gefühl, ich hätte nichts zu verlieren.
Ich stürmte durch die Cafeteria, baute mich vor Vince auf und starrte ihm in die Augen. »Du bist ein Monster«, sagte ich.
Aber Vince brach nur in Gelächter aus. Lachte mir ins Gesicht. »Hast du keine Zahnspangen mehr, was? Lola?«
»Luna«, korrigierte ich ihn.
»Tja, Luna, du warst viel hübscher, ehe du den Mund aufgemacht hast«, höhnte er, und hinter ihm kicherten seine Freunde. »Geh und iss deinen Lunch mit deinen Loserfreunden und lass mich in Ruhe.«
Vince drehte sich um und wollte seinen Nachtisch essen, was mich noch wütender machte, deshalb schlug ich ihm den Joghurt aus den Händen und verteilte lecker gemischte Früchte über seine strahlend weißen Nikes.
Jetzt hatte ich alle Blicke für mich.
Ich machte ihm offiziell eine Szene.
»Nein. Nicht ehe ich mit dir fertig bin«, sagte ich. Aber dann tat er etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Diese düstere Miene breitete sich auf seinem Gesicht aus, und er trat gefährlich dicht an mich heran. Einen Sekundenbruchteil lang hatte ich Angst.
War vielleicht ein weiblicher Instinkt.
Mir war nicht klar, was ich tun sollte, nur eins auf gar keinen Fall: zurückweichen.
»Ach, lass sein, Vince. Die Sache ist es nicht wert.« Jemand legte ihm von hinten eine Hand auf die Schulter, und zwar Vince’ bester Freund, der große Anführer der Goldenen mit seinen braunen Augen. »Das ist keine Bitte«, warnte Axel.
Axel und seine Buddys lebten für Herausforderungen, Autorennen, Partys oder Pranks – und wurden dafür oft vom Unterricht ausgeschlossen –, ein Kampf wäre also nichts Neues. Aber Axel war ein Jahr älter und dementsprechend ein Jahr in der Entwicklung weiter als jeder andere. Vince war ganz offensichtlich eingeschüchtert, denn er wich zurück und trollte sich schnaubend.
Axel wirkte aufgeblasen, als erwartete er Applaus und Dank von mir, aber ich glaube, er versuchte nur, sich besser zu fühlen, weil er mit solchen Ärschen herumhing. Dann wandte er sich an mich. »Was geht es dich überhaupt an? Samantha hat über alle hergezogen.«
»Sagst du nie was, was du so nicht meinst, wenn du besoffen bist? Bist du perfekt, oder was? Am besten reagiert man auf so was gar nicht. Niemand hat verdient, was Samantha durchmacht.«
»Na ja, find dich damit ab. Weißt du, es war ihr peinlich, dass du ihre Freundin bist.«
Das saß, und zwar tief. Ehe ich ging, starrte ich ihm in die Augen und holte zum Gegenschlag aus, denn ich wollte ihm genauso weh tun wie er mir. »Die Gerüchte sind wohl wahr – das einzig Smarte an dir ist dein Telefon«, sagte ich. »Ohne deine ganzen Follower würdest du auch ganz allein dastehen.«
Ich drehte mich um und stolzierte aus der Cafeteria. Mimi folgte mir und kriegte sich gar nicht mehr ein, wie episch das gewesen sei, doch ich konnte nur daran denken, was meiner ältesten Freundin zugestoßen war. Dem Mädchen mit dem verrückten Zwergspitz, den ich manchmal ausführen durfte, der Freundin, der ich in meinem Zimmer Flamenco beigebracht hatte, mit Mango-Chili-Lutscher im Mund. Derjenigen, die mich abgezockt hatte, aber so ein Desaster trotzdem nicht verdiente.
Und ich dachte, dass ich nicht mehr einfach nur kategorielos schlicht und Zitrone-Limone war.
Am ersten Schultag hatte ich ohne jede Absicht meine eigene Kategorie aufgemacht, die sich von allen anderen an der El Dorado High unterschied. Ob ich wollte oder nicht, ich zog alle Blicke auf mich.
Denn so gefährlich Vince und seine Freunde waren, die Regeln der Highschool würden in Kürze auf den Kopf gestellt werden – nur wusste es von uns noch niemand.
Wir hatten oft darüber geredet, wie tödlich das Klicken einer Waffe sein kann, aber niemand spricht je über den Klick bei einem Smartphone. Ob nun ein Gewehrschuss oder ein Schnappschuss, er kann ein Leben für immer verändern. Er hat die Power, sogar deine Lieblingshamburgerkette in die Pleite zu treiben. Die Firma deiner Eltern zu erpressen. Oder den Ruf deiner ältesten Freundin zu vernichten.
Ich steuerte das Klo an, das mit Glitzergraffiti und ausgekauten Kaugummis übersät war, und stieß die letzte Tür auf der linken Seite auf. Dort versteckte sich Samantha immer, wenn das Drama zu dramatisch wurde. Diesmal war die Kabine leer. Und ich konnte mir vorstellen, was für verdrehte Gedanken ihr durch den Kopf gingen. Denn Samantha glaubte, sie müsse perfekt und erfolgreich sein, um ihre Eltern stolz zu machen, und jetzt war ihr Leben gelaufen. Wegen meines Videos.
Ich stürmte in den Wissenschaftstrakt. Durch die Schließfachgänge. Kein Glück. Kurz bevor ich überlegte, die Sicherheitsleute oder einen Lehrer zu suchen, dämmerte mir, wo sie steckte.
Ihr Wagen stand auf dem Parkplatz, der für die Schülervizepräsidentin reserviert war. Der niedliche orangefarbene Fiat 500 mit schwarz-goldenem Cheerleading-Aufkleber auf der hinteren Stoßstange.
Ich ging zum Fenster, und da saß sie auf dem Fahrersitz und hatte den Kopf in den Händen vergraben. Am Boden zerstört. Ich streckte die Hand zu ihr aus, doch wir waren durchs Glas getrennt. »Samantha, es tut mir so leid.«
Sie reagierte nicht.
»Das habe ich echt nicht gewollt. Du kennst mich doch …«
Schweigen.
Dann hörte ich ein gedämpftes Sprechen aus ihrem Telefon.
Aus ihrer Limbo-App.
Sie bekam eine Flut von PNs.
Die hörten einfach nicht auf. Und mit jeder wurde Samanthas Schluchzen lauter und lauter. Weil es keine Textnachrichten waren.
Eher so was wie Kugeln.
Jede durchbohrte Samanthas Herz. Bombardierte ein gebrochenes Mädchen mit den fiesesten Kommentaren, die man sich vorstellen konnte.
DU VERRÄTERIN!
NIEMAND WILL DICH AN DER EL DORADO.
SCHÄM DICH.
MIT FREUNDEN WIE DIR BRAUCHT MAN KEINE FEINDE.
Ich drückte meine Hand aufs Fenster und versuchte, sie auf mich aufmerksam zu machen. »Samantha, diese Schule ist scheiße. Die ganze Welt ist scheiße. Die Menschen sind innerlich schlecht. Vergiss sie.« Ich bemühte mich, sie aufzumuntern. »Die haben alle verdient, mit Göffeln erstochen zu werden! Ich helfe dir dabei!«
Endlich hob Samantha den Kopf, drehte sich um und sah mir in die Augen. Sie legte die Hand ans Glas, genau gegen meine, und in einer anderen Welt hätten wir uns berührt.
»Raffst du es nicht?« Sie lächelte schwach. »Ich bin nicht besser als die. Vielleicht habe ich es verdient. Nach dem, wie ich dich behandelt habe.«
Und damit legte Samantha den Gang ein und raste los.
Ich rannte dem Fiat hinterher.
Aber sie war schon weg. Da stand ich, allein auf dem Parkplatz, und verfluchte mich, weil ich nicht mehr gesagt hatte. Weil ich nicht mehr getan hatte. Ich hätte schneller sein müssen. Ich hätte mich in den Wagen zwängen müssen. Sie hatte jemanden gebraucht, der ihr voller Liebe in die Augen schaute, sie umarmte und sie wie ein Burrito in eine Decke wickelte, so wie wir es bei unseren Pyjamapartys gemacht hatten. Sie brauchte eine Freundin.
Es ist verrückt, aber in jedem Jahr gehen wir, ohne es zu wissen, über den Kalendertag hinweg, an dem wir irgendwann sterben werden. In jener Nacht entschied Samantha, sich ihrem Tod zu stellen. Wir würden erst viel später erfahren, was sie als Nächstes tat, doch es würde unser Leben in ein Davor und ein Danach teilen. Denn oben im Medizinschränkchen ihrer Mutter befand sich ein Fläschchen mit verschreibungspflichtigen Tabletten – und nachdem ihre Mom eingeschlafen war, nahm Samantha eine davon für jede Message, die sie an dem Tag gesehen hatte.
Bis das Fläschchen leer war.
Siebenunddreißig Stück.
Mir passt es gar nicht, den Soundtrack auf diese Art zu unterbrechen – besonders angesichts dessen, was Samantha getan hat, aber darauf kommen wir zurück, versprochen. Im Augenblick blute ich erst mal, und zwar übel. Und wenn ich zu viel Blut verliere, breche ich zusammen, und ihr erfahrt nie, warum ich in dieser sterilen weißen Höllenzelle sitze. Ich will ja niemanden enttäuschen, okay?
Ich werde die Glasscherbe jetzt aus meiner Hüfte ziehen, und WOW! – das tut echt weh. Ich stöhne vor Schmerz. Ironie des Ganzen: Ich habe das Glas selbst in das Gummi meiner Unterwäsche gesteckt, als ich ihnen das letzte Mal an der El Dorado High gegenübergetreten bin. Die Kante hat sich wohl so stark in meine Haut gedrückt, dass sie sich ins Fleisch geschnitten hat. Lustig, in Filmen stecken sich die harten Leute ihre Waffen hinten in die Hose und laufen cool herum, und ich muss mir schon das Schild aus der Jeans schneiden, weil sonst meine Sensibelchen-Haut juckt.
Was meine kleine Glasscherbe angeht, ist das Beste daran, dass niemand etwas davon weiß. Ich frage mich im Nachhinein, ob ich sie hätte bedrohen sollen.
Oder sogar nach ihnen stechen.
Bitte, beurteilt meine Gedanken jetzt noch nicht. Wartet, bis ihr den Rest gehört habt. Das ist erst der Anfang. Nach allem, was die mir angetan haben – uns allen –, würdet ihr mich verstehen, glaubt mir. Trotzdem bin ich eigentlich nicht so ein Typ Mensch. Ich bin ein gutes Mädchen.
Oder zumindest war ich eins.
Die Wahrheit besteht nicht immer aus Schwarz und Weiß.
Tut mir leid, wenn meine Gedanken wenig Sinn ergeben. Ich bin benebelt und völlig mit den Nerven runter. Ich fühle mich an diesem Ort fremd. Es ist dieses unangenehme Gefühl, wenn man bei einer Freundin übernachtet und vor ihr aufwacht und ohne sie wunderbar mit ihren Eltern frühstückt.
Wartet mal …
Wie konnte ich das bisher übersehen? In den Putz der Wand sind Kerben geritzt, aufgereihte Markierungen für Tage, die jemand anderes in diesem Raum verbracht hat – jemand, der hier gelandet ist wie ich. Das hat definitiv etwas zu bedeuten. Plötzlich begreife ich, dass ich nicht die erste Person bin, die hier eingesperrt wurde.
Ich betrachte das blutige Glas in meiner Hand und fange an, in stummem Trotz meine eigene Kerbe zu ritzen, für meinen ersten Tag. Denn wenn noch andere in diesem Raum festgehalten werden, wissen sie dann wenigstens, dass sie nicht allein sind.
Jetzt passt mal gut auf, denn was als Nächstes kommt, hat so unglaublich weh getan, dass meine Stimme zittert, wenn ich drüber spreche: Am nächsten Tag erfuhren wir, in welchem Zustand Samantha sich befand.
Sie war im Krankenhaus.
Und lag im Sterben.
Tina Turner