Retterin bei Nacht - Kay Walsh - E-Book

Retterin bei Nacht E-Book

Kay Walsh

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Beschreibung

Der beeindruckende Lebenslauf einer außergewöhnlichen irischen IndienmissionarinSie war in Japan, China, Ceylon und kam schließlich nach Indien. Es klingt nach einem Abenteuer, und tatsächlich ist es auch eine sehr spannende Geschichte, oft mit vielen Ängsten verbunden, dennoch mit einem festen Vertrauen auf Gott.Amy Carmichael ging als Missionarin nach Indien, angetrieben von tiefer Liebe und Glauben in Jesus Christus. Anfangs schien alles gut und fröhlich zuzugehen, doch bald erkannte Amy dort eine Welt von Kindesentführung, Folter und Zauberei. Aber sie erlebte auch erstaunliche Gebetserhörungen und wunderbare Befreiungen. Zahlreiche Tempelkinder, die als Opfergabe für hinduistische Götter preisgegeben wurden, entriss sie ihrem Verderben und sorgte für einen Zufluchtsort für sie.Amys Leben ist gekennzeichnet von bedingungsloser Liebe und Gehorsam gegenüber dem einen Herrn Jesus Christus!Dieses Buch ist der dritte Band der Buchreihe »Glaubensvorbilder« für Kinder und Jugendliche.

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Amy Carmichael

Retterin bei Nacht

3

Kay Walsh

Originaltitel: Rescuer by Night© 2004 Kay WalshVeröffentlicht bei Christian Focus PublicationsAlle Rechte vorbehalten© der deutschen Ausgabe by Verlag Voice of Hope, 2018Eckenhagener Str. 4351580 Reichshof-Mittelaggerwww.voh-shop.deÜbersetzung: Bettina BräulLektorat, Cover und Satz: Voice of HopeCoverbild: Helen SmithISBN 978-3-947102-78-5 – E-BookISBN 978-3-947102-33-4 – Hardcover-BuchAlle Bibelstellen sind gemäß der Schlachter-Bibel 2000.

In die Dunkelheit

1

»Ich kann nichts sehen! Es ist so dunkel überall. Was ist das für ein Ort? Wo bin ich?« Jeya versuchte um sich zu spähen. Ihr Mund fühlte sich trocken an. Sie wusste, dass sie lange Zeit geschlafen haben musste, denn sie verspürte gerade großen Hunger und Durst. Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie große Steinpfeiler erkennen. Befremdende, unheimliche Konturen ragten in der Finsternis auf. Zwischen den Säulen befand sich ein riesiger Steinkörper. Sie schauderte, als sie dessen Gesicht sah. Die strengen, bösen Züge waren mit roten und schwarzen Beschriftungen ausgestaltet. Das war, wie sie wusste, Kali, die Göttin des Todes und der Zerstörung.

Das kleine Mädchen zitterte. Sie begriff, dass sie in einem Tempel sein musste. Sie versuchte sich zu bewegen, doch ihre Beine waren zusammengebunden. Die Gitterstäbe ihres Käfigs waren dick und fest. Sie versuchte sich zu entsinnen, was sie den Priester zu ihrer Mutter hatte sagen hören.

»Ihr kleines Mädchen wird bei uns glücklich sein. Sie wird reichlich zu essen haben. Wir werden sie lehren, vor unseren Göttern zu tanzen. Sie wird den Himmel für Ihre gesamte Familie erwerben, wenn sie die Götter erfreut.«

»Da bin ich mir jetzt nicht mehr so sicher. Als ich vor ein paar Tagen zustimmte, hatte ich nicht nachgedacht. Meine Jeya ist so jung und klein.« Die Stimme ihrer Mutter hatte besorgt und ängstlich geklungen. Die schmalen Augen des Priesters hatten vor Wut geflackert, als sie das sagte.

»Aber ich habe das Geld mitgebracht. Ihre anderen Kinder werden damit ein besseres Zuhause und gutes Essen haben. Wie kann eine arme Witwe wie Sie drei Kindern all das geben?! Und nun streiten sie nicht weiter. Wir haben ja eine Vereinbarung!«

Jeya konnte die Tränen in den Augen ihrer Mutter noch sehen. Sie hörte wieder das klimpernde Geräusch, als das Geld übergeben wurde. Eine letzte Umarmung mit ihrer Mutter, und sie war fortgegangen. Der Priester hob die Vierjährige, die er soeben gekauft hatte, auf seinen Karren, und sie verließen ihr Heim. Auf der Reise gab er ihr etwas zu trinken, das süß und klebrig war. Daraufhin hatte sie sich sehr schläfrig gefühlt und muss in den Schlaf gesunken sein.

»Wach auf, Mädchen! Ich bin gekommen, um dich zu holen.« Durchdringende Augen starrten zu Jeya hinein. Eine kleine, hagere Frau war vor den Käfig getreten. Sie war sehr alt, und ihre dunkelbraune Haut war runzlig und lederartig.

Sie hob draußen einen Riegel an und steckte ihre Hände hinein, um die Lumpenbänder an Jeyas Füßen aufzuschnüren. »Komm mit mir«, ordnete sie an. »Du wirst deine ersten paar Monate mit mir in meinem Haus verbringen und deine Tempelpflichten erlernen.«

Ihre Hütte war schmutzig und stinkend. Sie gab dem kleinen Mädchen zwei Mahlzeiten pro Tag und begann ihr beizubringen, die langen Sprechgesänge auswendig zu lernen, die sie den Göttern vortragen musste. Wenn Jeya einen Fehler machte, schlug die alte Frau sie heftig. »Wie geht es meiner Mutter? Ist mein kleiner Bruder wieder gesund?«, fragte sie die Frau. »Vergiss alles über sie. Dein Leben spielt sich jetzt hier ab. Du musst hart arbeiten, sonst wird der Priester dich schlagen.« – Jeya weinte sich jede Nacht in den Schlaf.

Jeden Nachmittag schickte die Frau sie zum Fluss, um Wasser zu holen, während sie selbst ein gutes langes Schläfchen machte. An ihrem sechsten Tag dort war Jeya allein unten am Fluss. Sie setzte sich ein wenig länger als gewöhnlich ans Flussufer. Der Wassertopf war schwer, und sie hatte bereits drei lange Gänge damit gemacht.

»Du siehst müde aus, Kleine. Jemand, der dich liebt, hat mir erzählt, dass du an den Priester verkauft worden bist. Ich kann dich von hier wegbringen an einen sicheren Ort.« Die Stimme klang sanft und freundlich. Jeya schaute in ein lächelndes Gesicht auf. Die dunkelbraunen Augen der Frau, die sie anblickten, ließen sie so gütig aussehen. »Wir können mit dem Ochsenkarren dorthin fahren«, sagte sie.

Jeya schaute in die Richtung, in welche sie zeigte, und sah eine ältere Frau und einen Fahrer unweit der Bäume warten. Kein Sprechgesang mehr, keine Schläge, kein Arbeiten mehr in diesem furchterregenden Tempel – welch ein Ausblick! »Oh ja, bitte«, antwortete sie. Die Frau in dem Sari hob sie hoch und trug sie zum Karren hinüber.

Nachdem sie einige Stunden gefahren waren, trafen sie an einem niedrigen Gebäude hinter einem Bungalow ein. Jeya war so müde, dass sie ihre neue Umgebung kaum wahrnahm. Die ältere Frau sprach jetzt. »Amy, bring du sie ins Bett, und ich hole eine Tasse Milch für sie.« Jeya wurde in ein Schlafzimmer getragen, umgezogen und von derselben Frau, die sie am Fluss angesprochen hatte, in ein Kinderbett gelegt.

Plötzlich kamen alle Ängste in Jeya wieder hoch, und sie rief aus: »Du wirst mich nicht schlagen, oder? Ich werde gut sein und hart für dich arbeiten!« Zu ihrer Verwunderung fühlte sie, wie die Arme der Frau sie umschlangen, und eine liebevolle Stimme sagte: »Du wirst hier nicht hart arbeiten müssen. Heute Nacht wirst du in meinem Zimmer schlafen. Du wirst Brüder und Schwestern haben, mit denen du morgen im Garten spielen kannst. Unser Gott ist die Liebe. Niemand wird dich hier verletzen.«

Obwohl die Augen der Frau braun waren, konnte Jeya jetzt sehen, dass sie keine braune Haut hatte. »Warum bist du hierhergekommen? Wie heißt du? Kommst du aus einem Dorf hinter den Bergen?«, fragte Jeya sie. Daraufhin lachte die Frau und sagte: »Mein Name ist Amy Carmichael; aber du kannst mich Amma nennen. Mein Zuhause ist hinter den Bergen und auch hinter dem Meer. Große Schiffe sind durch stürmische Gewässer gesegelt, um mich an diesen Ort zu bringen. Ich komme aus einem Land, das Großbritannien genannt wird. Aber jetzt schließ deine Augen, und morgen früh stelle ich dich deinen neuen Freunden vor.«

Jeya war jetzt weniger ängstlich. Ihr Bett war weich, und die Milch hatte ihr so gutgetan. Sie begann sich schläfrig zu fühlen. »Hinter dem Meer – das klingt, als wäre das sehr weit weg«, dachte sie. »Ich frage mich, was das ›Meer‹ ist. Ist es sicher? Vielleicht ist es gefährlich? Aber ich brauche mir um solche Sachen keine Sorgen zu machen. Ich weiß, dass diese Frau auf mich aufpassen wird. Ich habe mich nie zuvor so beschützt gefühlt – ich fange an, mich hier wohlzufühlen.« Und das kleine Mädchen schloss seine Augen und sank in den Schlaf.

Gerettet

2

»Hilfe! Hilfe! Die Strömung hat uns erwischt! Sie ist zu stark für uns«, gellte Normans Stimme. Er packte sein Ruder noch fester an. Ebenso tat es sein Bruder Ernest. Deren Schwester Amy stand nur wie erstarrt auf der Stelle und fragte sich, was ihre Eltern sagen würden, wenn sie herausfänden, dass sie ungehorsam gewesen waren. Wie oft war es den Carmichael-Kindern schon gesagt worden: »Der Ozean ist gefährlich! Seid vorsichtig und fahrt auf keinen Fall selbst mit dem Boot hinaus!« Doch Amy, Norman und Ernest hatten einfach nicht darauf gehört, und nun wünschten sie sich, sie hätten es doch getan. Die dunkelgrünen Fluten der See hatten sie in ihren Fängen, und die Kinder wurden rasch aus der Sicherheit des Hafens hinausgezogen.

Beide Jungen wussten, dass sie sich der Sandbank an der Zufahrt zum Meer näherten. Auf der anderen Seite lagen die offenen Wasser der Irischen See.

»Halte dich so fest, wie du kannst, Amy!«, riefen die Jungen ihrer Schwester zu. Sie tat, was sie sagten. »Mache ich, mache ich. Wir sind hier auch früher schon mal gerudert, und es ging alles gut. Wir müssen irgendwie ein bisschen zu weit abgekommen sein. Es ist fast schon Abendzeit. Vielleicht verhält sich dann die Strömung anders«, antwortete Amy.

Norman dachte angestrengt nach. »Amy, fang so laut wie möglich an zu singen! Jemand könnte uns dann hören. Ernest und ich müssen weiterrudern. Wir können vielleicht das Boot genügend abbremsen, um zu verhindern, dass wir aufs Meer hinaustreiben.« Amy begann zu singen.

»Was immer ich tu, was immer ich bin,

dennoch weiß ich, dass es Gottes Hand ist,

die mich führt.«

Dieses Lied war das Erste, was ihr eingefallen war. Inzwischen hatten sich über ihnen dunkle Wolken gebildet. Wie klein wirkte ihr Boot auf den mächtigen Fluten der See!

»Ich kann da vorn etwas sehen. Ich glaube, das ist ein Boot. Ja, es ist die Küstenwache! Hier rüber! Wir sind hier hinten! – Sie kommen! Wir sind gerettet!«, schrie Amy.

Wie froh waren die drei, als sie an diesem Abend sicher nach Hause kamen. Eine erschöpfte Amy rollte sich zusammen, um es sich im Bett bequem zu machen. Sie liebte ihr altes Haus mit seinen grauen Steinmauern. Dem Raunen des Windes draußen zu lauschen, machte ihr Schlafzimmer erst recht gemütlich.

Es dauerte jedoch nicht lange, bis die Kinder wieder in Schwierigkeiten waren. Ihr Vater war Miteigentümer der großen Kornmühle in ihrem Dorf an der Küste. Das bedeutete, dass ein großes Haus mit Garten für ihn erschwinglich geworden war. Da konnten Amy und ihre vier Brüder und zwei Schwestern so viel spielen, wie sie wollten. Sie liebte all die Blumen und Bäume; doch konnte sie es nicht lassen, mit einigen davon zu experimentieren. Eines Tages genossen sie einige reife Pflaumen vom Garten. »Lasst uns auch mal die Kerne essen!«, schlug Amy vor.

»Hört auf! Ich sehe schon, was ihr machen wollt.« Die Kinder blickten auf. Ihr Kindermädchen Bessie stand an der Hintertür. »Wenn ihr die hinunterschluckt, dann wird ein Pflaumenbaum aus euren Köpfen wachsen, aus jedem Kern, den ihr gegessen habt!«

»Das hört sich nicht gut an«, sagte einer.

„Ich werde zwölf Kerne essen und schauen, ob ich morgen zwölf Bäume aus dem Kopf wachsen sehe«, verkündete Amy herausfordernd. Am nächsten Morgen fragte eine besorgte Bessie: »Geht’s dir gut, Amy?«

»Nein, ich habe Magenschmerzen; es fühlt sich an, als würden in mir zwölf Pflaumenbäume wachsen.«

Nicht, dass ihr dies eine Lektion erteilt hätte. Einige Tage später schaukelten Norman, Ernest und Amy an der Eingangspforte. Über ihnen wehten die hellgelben Blütenstände des Goldregenbaumes hin und her. »Bessie sagt nur unsinnige Sachen, um uns Angst einzujagen; da bin ich mir sicher. Sie sagte, wir würden sterben, wenn wir Goldregenschoten essen würden. Lasst uns zählen, wie viele wir essen können, bevor wir sterben«, sagte Amy. Wie üblich machten die anderen beiden mit.

Einige Minuten später begann es allen Dreien übel zu werden. Ernest, der Jüngste, wurde sehr blass. Er rannte ins Haus. »Mama, ich fühle mich so krank und irgendwie komisch. Ich glaube, das kommt daher, weil ich vom Goldregenbaum gegessen habe.«

Frau Carmichael rannte erschrocken auf ihn zu. »Amy, Norman, kommt sofort ins Esszimmer!« Da stand auf einem Tablett das rosa Pulver, das sie alle kannten und fürchteten. Sie füllte drei Teetassen mit heißem Wasser und rührte das Pulver ein. Sie alle wussten genau, wie widerlich das schmecken würde.

»Trinkt es komplett aus, bis auf den letzten Tropfen! Wir werden bald dieses Gift aus eurem Körper herausbekommen.« Ihre Mutter hatte Recht damit! Alle drei erbrachen sich mehrmals und waren sehr, sehr froh, dass ihre Strafe nur darin bestand, früher ins Bett zu gehen, ohne ihr Abendbrot gegessen zu haben.

Am nächsten Morgen trat Amy nach draußen und atmete tief durch. »Ich fühle mich jetzt schon viel besser«, dachte sie, »auch wenn Mutter mir eine ordentliche Standpauke gehalten hat. Ich nehme an, ich habe das verdient; ich bin ja die Älteste. Doch wenn sie nur wüsste, wie viel frecher ich sein könnte, dann würde sie mich jetzt überhaupt nicht für frech gehalten haben.«

Erst dann hörte sie auf einmal ein »Plop« in dem Eimer an der Tür. Sie schaute hinein und sah dort eine kleine Feldmaus. »Oh, ich kann dich nicht ertrinken lassen! – Oh nein! Da schellt die Glocke zum Gebet. Ich muss rechtzeitig da sein, sonst gibt es noch mehr Probleme!« Als sie das sagte, zog sie schnell die Maus aus dem Wasser und versteckte sie in ihrer Schürzentasche.

Sie nahm am Tisch Platz, und der Vater begann zu beten. Nach dem Vaterunser, das sie alle gemeinsam beteten, las er ihnen eine biblische Geschichte vor. Als er gerade für die Familie und ihre Freunde zu beten begann, setzte ein quietschendes Geräusch ein. Alle drehten sich zu Amy um.

»Sie wäre sonst ertrunken! Ich hoffte nur, dass sie leise sein würde.«

Ihre jüngeren Brüder und Schwestern begannen zu kichern. Sie drehte sich um und rannte hinaus in den Garten, wo sie die Maus freiließ.

»Es ist kein Wunder, dass die Hauslehrerinnen, die ich einstelle, um euch zu unterrichten, nicht sehr lange bleiben«, sagte der Vater zu seiner Familie, als die ganze Aufregung sich wieder gelegt hatte. »Diese arme englische Frau aber hatte es nur sehr kurz ausgehalten. Ich erinnere mich, dass ihr alle gekommen seid, um sie zu verabschieden. Warum habt ihr das getan? Ich weiß, dass ihr sie nicht mochtet.«

»Wir wollten sicher sein, dass sie auch wirklich geht«, erklärte Amy.

Amys Vater lachte. »Was für spitzbübische Kinder ihr doch seid!«

Eines Morgens hatte Amys Vater interessante Neuigkeiten. »Wir bekommen einen neuen Nachbarn«, erzählte er ihnen. »Er ist Missionar in Indien, aber er und seine Familie nehmen sich für ein Jahr Urlaub. Ich bin sicher, dass er euch viele faszinierende Geschichten erzählen wird; benehmt euch deshalb gut, wenn er hier ist!«

Die Eltern empfanden es als ein Glück, dass Amy ihren schlimmsten Streich noch zu einer Zeit ausführte, bevor die neuen Nachbarn eingezogen waren. Sie wusste, dass ihre Brüder, genau wie sie, eine ganz bestimmte Stelle im Sinn hatten, wo sie hinaufzuklettern wünschten – das Dach. Sie entschlossen sich, vom Dachfenster im Badezimmer aus hochzusteigen. Dieses Dachfenster befand sich genau über der Badewanne und war ziemlich schmal. Amy musste jedem ihrer Brüder einen starken Schubs durchs Fenster geben, bevor sie sich selbst durchquetschte. Nacheinander glitten sie das Schieferdach hinunter, bis sie zur Dachrinne gelangten.

»Was für eine Aussicht!«, rief Amy aus, als sie auf das Meer hinausschaute. Bodenlos tiefes blaues Wasser glitzerte im Sonnenschein. Die Irische See war ein beachtlicher Anblick – besonders vom Dachgipfel aus.

Alle drei marschierten dann um das Dach herum – lachend und kichernd. Dieses Spiel machte riesigen Spaß, fanden sie. Als sie die Hausfront erreichten, schauten sie wieder hinunter. Welchen Ausblick sie aus diesem Blickwinkel wohl bekommen würden?, fragten sie sich. Es war ein Anblick, den niemand von ihnen erwartet hatte. Amy rang nach Luft. Und genauso auch – ihre Eltern!

»Bleibt da stehen, wo ihr seid!«, schrie ihr Vater gellend. »Ich komme hoch zum Badezimmer und hole euch.« Minuten später waren Amy und ihre Brüder wieder durch die Dachluke geklettert und hörten sich schon die nächste Standpauke an.

Eigensinnig, tollkühn, wild – Amy hatte all diese Beschreibungen von ihrer Person gehört. Jetzt, wo sie sich auf den großen Sessel im Zimmer ihrer Mutter setzte, überdachte sie einige ihrer vergangenen »Heldentaten«. »Ich bin sehr eigensinnig gewesen, aber es tut mir nicht wirklich leid; ich genieße es, spannende Dinge zu erleben.«

Doch Amy begriff nicht, dass wegen dieser Dinge, obwohl sie reizvoll für sie waren, eine Person des Hauses sehr besorgt war. Ihre Mutter saß vor dem Spiegel ihrer Frisierkommode und setzte sich gerade einen Hut auf.

»Was machst du da?«, fragte Amy sie.

»Ich mache mich fertig zum Ausgehen«, war die leise Antwort ihrer Mutter.

Amy schaute auf das Spiegelbild ihrer Mutter und sah die müde, gekränkt aussehende Miene auf ihrem Gesicht. »Bin ich etwa die Ursache für diese Miene auf ihrem Gesicht?« Amy überlegte, und als sie dann ein weiteres Mal in die traurigen Augen ihrer Mutter blickte, hielt sie den Atem an. »Was habe ich getan?!« Schluchzend rannte Amy quer durchs Zimmer und warf sich in die Arme ihrer Mutter.

»Es tut mir wirklich leid. Ich kann es nicht ertragen, dich zu kränken. Ich möchte gut sein.«

Amys Mutter beugte sich vor, um ihre kleine stürmische Tochter zu umarmen.

»Beruhige dich jetzt. Es ist in Ordnung. Ich weiß, dass du es gut meinst. Ich wünschte nur, du würdest besser aufpassen. Ich habe jetzt schon viel zu viele graue Haare!« Amys Mutter lachte, als sie ein weiteres Mal in den Spiegel schaute.

Amy schniefte leise und lächelte unter Tränen. »Ich will mit allen diesen dummen Abenteuern und unsinnigen Reibereien aufhören«, versprach sie sich. – Doch natürlich gab Amy nicht alle ihre alten Manieren mit einem Mal auf. Dennoch begann sie ihrer Mutter mit den jüngeren Kindern zu helfen und bemühte sich, ihr durch besseres Benehmen einiges an Leid zu ersparen – meistens jedenfalls. Um einiges von ihrem maßlosen Energievorrat loszuwerden, ritt Amy oft auf dem Pony aus. Sie liebte es, über die festen Sandflächen des nahegelegenen Strandes zu galoppieren, während ihr dichtes braunes Haar hinter ihr auf und ab wehte. Wenn das Pony plötzlich erschrak, konnte sie es besänftigen, indem sie ihm leise ins Ohr sang. Als sie jedoch eines Tages auf der Hauptstraße ausritt, gelang dieser kleine Trick von Amy nicht. Das Pony bäumte sich auf, bockte und warf schlussendlich seine junge Reiterin geradlinig gegen die Seite einer Mauer. Amys Körper wurde dagegengeschmettert und lag dann schwer verletzt auf dem Boden, während das Pony am Horizont verschwand. Amy war sich kaum des leisen Flüsterns der besorgten Ärzte bewusst, die gekommen waren, um sie zu behandeln. »Sie wird für einige Wochen im Bett bleiben müssen«, war die Diagnose. »Das ist ein ernster Unfall.« Doch als die Verletzungen geheilt waren und das junge Mädchen wieder gesund war, da ritt sie bald wieder aus.

Und eines Tages, als Amy von einem weiteren energiegeladenen Ponyausritt zurückkam, bekam sie zufällig den Plan ihrer Eltern für ihre Zukunft mit.

»Amy wird bald schon zwölf Jahre alt sein«, sagte ihr Vater nickend. »Sie ist durchaus alt genug, um ins Internat zu gehen, und England ist nicht so weit entfernt. Ich glaube, das ist genau das, was unser kleines Mädchen braucht.«

Amy war fasziniert. »Eine Internatsschule könnte lustig werden«, dachte sie bei sich. Als sie jedoch im Jahr 1879 schließlich dort ankam, merkte Amy, dass sie eigentlich großes Heimweh hatte – sehr großes Heimweh sogar.

»Ich möchte nach Hause!«, schluchzte sie eines Nachts in ihr Kissen im Wohnheim. »Ich will zurück zum Strand, zum Boot und zu meinem Pony und dem Goldregenbaum! Ich möchte aufs Dach klettern und mit meinen Brüdern spielen! Ich vermisse sie alle so sehr!«

Die ganze Woche im Internat war sehr schwer für Amy. Es verging kein einziger Tag, an dem sie Irland nicht vermisste. Doch von allen Tagen der Woche war der Sonntag der schwierigste.

In Irland hatte ihre Großmutter jeden Sonntagmorgen einen Strauß süßduftender Blumen für sie gebunden.

»Ich weiß noch, wie ich, als ich noch sehr klein war, diese Blumen in der Kirche gehalten habe. Sie waren das Einzige, was mich während des langen Gottesdienstes hatte still sitzen lassen.« Amy seufzte nochmals. »Ich finde überhaupt nicht, dass das Internat Spaß macht«, stöhnte sie. »Hier gibt es keine Jungen, und alle sind total streng! Ich vermisse es sogar, meiner Mutter zu helfen, den alten Menschen im Dorf eine Suppe anzubieten. Es ist witzig, dass es gerade die alltäglichen Dinge sind, die ich am meisten vermisse. Wie unsere Sonntagsspaziergänge mit Vater, und die Katze Daisy zu streicheln. Der einzige Unterricht hier, der ein bisschen gut ist, ist Biologie. Ich nehme an, das ist so, weil ich Blumen so sehr liebe.«

Zum Glück wusste Amys Mutter, wie sehr ihre Tochter Blumen liebte, und sie schickte Amy eine Schachtel voll bunter Chrysanthemen aus ihrem Gewächshaus, um sie aufzuheitern. Mit der Zeit fühlte Amy sich immer weniger einsam, lebte sich ein und wurde zu ihrer Überraschung bei den anderen Mädchen beliebt. In gewisser Weise war es das, was Amy regelrecht zu ihrem nächsten Streich verführte, was ihr somit auch einigen Ärger mit der Direktorin einhandelte.

»Ich habe gehört, dass dieser Komet ein einmaliger Anblick sein soll. Jeder sollte sich den ansehen!«, sagte Amys Freundin Meg zu ihr. »Schade, dass er hier erst nach Mitternacht vorbeifliegen wird. Vielleicht wird uns die Direktorin erlauben, länger aufzubleiben, damit wir das sehen können. Frag sie mal, Amy! Du bist mutiger als jede von uns.«

Fünf Minuten später war Amy aus dem Büro der Direktorin zurück. »Sie hat die Idee glattweg abgelehnt. Aber ich habe eine andere Idee. Wenn ich es arrangiere, alle in unserem Wohnheim rechtzeitig zu wecken, um es zu sehen, dann lasst uns doch dann auf den Dachboden steigen! Da werden wir durch das große Dachfenster sicher eine gute Aussicht haben!«

»Das ist großartig!«, antwortete Meg. »Lasst uns das machen! Aber wie können wir es schaffen, wach zu bleiben?«

»Also, hier ist mein Plan«, flüsterte Amy. »Ich habe alle diese Stücke Garn zurechtgeschnitten, und die werde ich an je einen eurer Zehen festbinden.«

»An unseren Zehen?«, rief Meg aus.

»Ja, hör zu, ich erzähl dir warum. Wenn ihr alle eingeschlafen seid, werde ich wach bleiben, und wenn es Zeit ist zum Aufstehen, um auf den Dachboden zu gehen, dann ziehe ich an allen Fäden; ihr werdet den Zug an eurem Zeh spüren und alle genau rechtzeitig für die Show aufwachen.«

»Das ist eine geniale Idee, Amy!«, verkündete Meg. »Ich kann es kaum erwarten, das den anderen zu erzählen!«