12,99 €
Zwei ungleiche Rivalen in einem sehr unkorrekten Wettbewerb - lustig, schräg und herzerwärmend Steve Stevenson ist ein Arschloch. Das sollte man nicht sagen über jemanden, der Krebs hat, aber es ist wahr. Ja, er veranstaltet legendäre Partys, aber er liebt auch demütigende Pranks, und er recycelt nichts. Am schlimmsten ist jedoch, dass er mit Kaia zusammen ist – von der Cam träumt. Hinterlistig bietet er an, eine riesige Spendenkampagne für Steve zu organisieren. Vielleicht begreift Kaia dann endlich, dass Cam perfekt für sie ist. Doch Steve ist nicht blöd. Er durchschaut Cams Plan sofort. Bevor er sich von ihm die Freundin wegnehmen lässt, unternimmt er alles, was ihm einfällt, um Cams Leben genauso mies zu gestalten, wie sein eigenes jetzt ist. Und das ist eine ganze Menge.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 412
Jenni Hendriks | Ted Caplan
Rettet Steve! … und die Welt
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Kattrin Stier
FISCHER E-Books
Für Chuck
Heute war der Tag gekommen, an dem ich Kaia Gonzales endlich fragen würde.
Ich sah, wie sie ihrem frisch gestrichenen Schließfach einen Save-the-Wetlands-Stickerverpasste. Es war unser vorletztes Schuljahr, erster Schultag. Und das war unser Sticker.
Die Rettung der Santa Clara Wetlands hatte uns den ganzen Sommer über beschäftigt. Zusammen mit einer lokalen Aktivistengruppe, (die meisten viel älter als wir), hatten wir eine Mahnwache am Rand des Marschlandes gehalten, wo eine neue Luxus-Wohnanlage gebaut werden sollte. Kaia kam immer ein bisschen zu spät, aber meistens hatte sie dann für alle ein Eis am Stiel dabei oder Sprühflaschen mit Wasser, und sie war diejenige, die bei weitem am lautesten skandierte. Wie sie mit dem Megaphon gegen den vorbeifahrenden Verkehr anbrüllte, gehörte zum Schönsten, was ich je gesehen hatte. Zusammen hatten wir sengende Sonne, zerschmolzene Peanut-Butter-and-Jelly-Sandwichs und jede Menge Gleichgültigkeit ertragen. Aber es gab wenig Gelegenheit zu reden – bis zu jenem Abend … Zusammen mit einer kleinen Gruppe von Erwachsenen waren wir auserwählt worden, auf dem Gelände zu kampieren, damit sich während der nächtlichen Protestpause nicht klammheimlich ein Bulldozer einschleichen konnte. Unter dem schimmernden Nachthimmel wurden wir bei lebendigem Leib von Mücken gefressen, während wir uns wachzuhalten versuchten, indem wir einander Die unbewohnbare Erde – Leben nach der Erderwärmung vorlasen. Einer nach dem anderen nickte ein, bis gegen Mitternacht nur noch Kaia und ich übrig waren. Gemeinsam beendeten wir das Buch. Seite an Seite sahen wir die Sonne über dem Marschland aufgehen und dachten darüber nach, wie viele Sonnenaufgänge die Menschheit wohl noch erleben würde. Ich hätte sie gleich dort fragen sollen. Das wäre der perfekte Augenblick gewesen, doch dann tauchte die Polizei auf, und wir wurden allesamt festgenommen. Anschließend bekam ich eine heftige allergische Reaktion auf die Mückenstiche, wegen der ich eine Woche zu Hause bleiben musste. Und währenddessen wurde das Bauprojekt durch einen Gerichtsbeschluss gestoppt. Was natürlich toll war, abgesehen von der Tatsache, dass ich Kaia seither nicht mehr gesehen habe.
Bis heute auf dem Flur in der Schule, wo ich auf der Suche nach meinem neuen Schließfach war. Sie hatte mich zuerst bemerkt und kam zu mir herübergelaufen. Ihre langen braunen Haare reichten dabei knapp bis zu dem March-for-our-Lives-Schriftzug auf ihrem T-Shirt. Ich hatte mir ein genuscheltes »Hi« abgerungen und sie hatte meinen Gruß nicht nur erwidert, sondern ihn auch noch mit einem High-Five gekrönt. Wie krass!
Und nun war unser Sticker das Erste, was Kaia auf ihre nigelnagelneue Schließfachtür klebte. Das war doch der Beweis, dass die Sache ihr genau so viel bedeutete wie mir. Oder etwa nicht? Das Problem war, dass sie sich überall so sehr engagierte. So konnte unser Anliegen jederzeit durch ein anderes Thema verdrängt werden. Heute war der perfekte Tag, um sie zu fragen. Und jetzt musste ich nur noch den perfekten Augenblick finden.
Heute war der Tag gekommen, an dem ich Kaia Gonzales endlich fragen würde.
Sie stand vorne an der Tafel im Sozialkunde-Raum von Ms. Hahn, wo sie das erste Treffen der Diversity Alliance leitete. Es war jetzt einen Monat her, dass ich vor ihrem Schließfach das erste Mal gekniffen hatte. Der richtige Augenblick war nie gekommen.
Ich hatte überlegt, es beim Treffen der Gay-Hetero Alliance zu tun, aber da war es mir zu heterozentrisch erschienen.
Als Nächstes hätte ich sie beinahe beim School Safety Committee gefragt, aber das ganze Gerede von Schießereien in Schulen hatte nicht für eine besonders romantische Stimmung gesorgt.
Natürlich war es keine Überraschung, dass sie bei diesem Treffen der Diversity Alliance auftauchte und sofort entschlossenen Schrittes nach vorne marschierte, um alle Anwesenden zur Ordnung zu rufen, aber dennoch jagte mir ihr Anblick Schauer über den Rücken. Als sie mich ganz hinten im Raum entdeckte, (ich hatte mich absichtlich etwas im Hintergrund gehalten), streckte sie den Daumen in die Höhe und machte eine anerkennende Bemerkung über mein White-People-for-Black-Lives-Shirt. Und jetzt regte sie sich gerade darüber auf, wie sehr es der Gruppe selbst an Inklusion mangelte. Die Hitzestrahlung ihrer Empörung umströmte mich wie ein warmer Sommerwind.
Bingo. Nach dem Treffen würde ich ihr sagen, wie sehr sie mich inspirierte. Und dann würde ich in Erfahrung bringen, ob sie den neuesten Dokumentarfilm von Ava DuVernay schon gesehen hatte. Und dann würde ich sie fragen. Das wäre der richtige Augenblick. Der perfekte Augenblick.
Heute war der Tag gekommen, an dem ich Kaia Gonzales endlich fragen würde.
Ich klappte einen Karton mit Plakaten auf und hängte eines an die Mauer auf dem Schulhof. Dann trat ich einen Schritt zurück und bewunderte mein Design und den Slogan für eine strohhalmfreie San-Buanaventura-Highschool – es zeigte einen Jungen, der mit schuldbewusstem Gesicht einen Milchshake durch einen dicken, fetten Plastikstrohhalm trank mit den Worten »Mach’s ohne!« Das Motiv war nach harter Konkurrenz vom Plastikfrei-Ausschuss der Schule ausgewählt worden und würde jetzt endlich überall in der Schule plakatiert werden. Ich hatte eines beiseitegelegt und signiert, (was selbstverständlich nur ironisch gemeint war). Ich wollte es Kaia überreichen, und sie würde meine Kombination von Humor und Umweltbewusstsein zu schätzen wissen, und dann würde ich sie definitiv endlich fragen. Alle anderen Gelegenheiten waren letztlich doch nicht ganz passend gewesen. Aber jetzt standen die Winterferien vor der Tür, und was konnte besser sein, als sich bei mexikanischen Teigtaschen und heißem Punsch näher kennenzulernen?
Heute war der Tag gekommen, an dem ich Kaia Gonzales endlich fragen würde.
Ich stand hinter ihr in der Schlange bei der Earth First Coffee Company. Ich konnte mein Glück kaum fassen, dass ich ihr während der Schulferien zufällig über den Weg gelaufen war. Wir hatten gerade ein dreiminütiges Gespräch über Fairtrade-Kaffee aus Schattenanbau hinter uns. Sobald ich meinen Iced-Blended-Mochaccino bestellt hatte, würde ich sie definitiv fragen. Das war der perfekte Augenblick.
Obwohl es hier irgendwie ziemlich laut war. Und sie wirkte, als hätte sie es eher eilig und …
Heute war der Tag gekommen, an dem ich Kaia Gonzales endlich fragen würde.
Es war Mittwoch. Mittwoche mochten wir beide gerne.
Heute war der Tag gekommen, an dem ich Kaia Gonzales endlich fragen würde.
Wir marschierten schleppend im Kreis, um gegen das neue Schaubecken mit einem großen weißen Hai im Channel Islands Aqua-Park zu protestieren. Der Park war Venturas Variante von SeaWorld, eben nur kleiner und mit einem schlechteren Ruf.
Ich hielt den Blick auf Kaias Pferdeschwanz gerichtet, der hypnotisierend hin und her schwang, während sie »Rettet! Den! Hai!« skandierte. In meinen Augen konnte sie gar nicht noch schöner werden, aber der Wind vom Meer her hatte ein paar Locken gelöst, und nach mehr als dreistündigem Protest glitzerten winzige Schweißperlen auf ihrer Haut. Wir hatten gemeinsam drei Sprechchöre angestimmt (»Freiheit statt Gefangenschaft«, »Hai, Hai, Hai – lasst ihn endlich frei!« und »What do we want? Free the shark! When do we want it? Before it gets dark!«) Sie hatte natürlich das Banner gesehen, an dem ich die ganze Nacht gebastelt hatte, und ich war ziemlich sicher, dass sie beeindruckt war. Sie schaute es immer wieder an und lächelte mir dann zu. Flirtete sie etwa mit mir?
Wieder kam sie an mir vorbei. Moment mal! Hatte sie mir gerade zugezwinkert? Vielleicht war es eine Allergie? Führten Allergien dazu, dass Leute nur ein Auge zukniffen? Nein. Sie hatte gezwinkert. Sie hatte mir eindeutig zugezwinkert. Das musste ein Zeichen sein, dass sie darauf wartete, von mir gefragt zu werden. O Gott. Was, wenn sie schon seit Monaten darauf wartete, dass ich etwas sagte? War es irgendwie komisch zwischen uns, weil da dieses große unausgesprochene Ding war, das ich aus unerfindlichen Gründen einfach nicht über die Lippen brachte? Aber heute würde ich sie definitiv fragen. Es war offensichtlich, dass sie nur darauf wartete.
»Hey, Cam, geh weiter!«, sagte eine Stimme und ich merkte, dass ich – ganz in Gedanken – vergessen hatte zu gehen. Hinter mir schob sich die Gruppe wie eine Ziehharmonika zusammen. Todd Moon, ein alternder Surfer-Typ mit Pferdeschwanz und Anführer der Non-Human Rights Group, die diesen Protestmarsch organisiert hatte, scheuchte mich mit einer freundlichen Geste vorwärts. Er war immer besonders nett, wenn Leute von der Highschool auftauchten. Er meinte, durch uns bekäme der Protest einen »schrägen Vibe«. Noch nie hat mich jemand als »schräg« bezeichnet, aber es gefiel mir gar nicht so schlecht.
»Sorry«, sagte ich entschuldigend und eilte weiter, diesmal ohne einen Blick zu Kaia hinüber zu wagen. Ich musste mich eindeutig mehr auf das Marschieren konzentrieren. »Rettet! Den! Hai!«, skandierte ich und ließ mich von der winterlichen Brise kühlen.
»Trau dich, Mann.« Todd deutete auf Kaia. »Du checkst die Kleine doch schon seit Stunden aus. Nirgendwo kann man so gut abschleppen wie auf Demos.«
»Abschleppen?« Patrice schob sich die geflochtenen Zöpfe über die Schulter und bedachte Todd mit einem strengen Blick. »Echt jetzt? Du sprichst immer noch von ›abschleppen‹?« Patrice Woodson war zweite Vorsitzende der Gruppe und ließ sich nichts gefallen, weder von Todd noch von sonst irgendjemandem.
Der wiederholte Gebrauch des Wortes abschleppen schürte meine Angst nur noch mehr und ich bemühte mich, das klarzustellen: »Sie ist nicht – ich versuche nicht – das ist … Ich will sie einfach nur fragen, ob wir mal was zusammen machen.« Todd zuckte angesichts dieser Erklärung enttäuscht die Schultern.
»Hey!«, tönte Kaias leidenschaftliche Stimme vom Eingang des Parks herüber. Ich blickte mich um und sah, wie sie ein Paar mittleren Alters zurechtwies, das gerade an ihr vorüberging. »Mit dem Kauf dieser Eintrittskarten unterstützen Sie den langsamen Tod einer komplexen und intelligenten Form des Lebens! An Ihren Händen klebt Blut!« Die beiden ignorierten sie einfach und Kaia streckte ihr Protestschild vor, um ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen.
O mein Gott. Sie war einfach vollkommen.
»Wisst ihr was? Wir machen Schluss für heute«, verkündete Todd an die Gruppe gewandt, was offenbar erleichtert zur Kenntnis genommen wurde, denn der Kreis löste sich umgehend auf.
Mist. Ich war noch nicht so weit. Ich meine, ich hatte mich den ganzen Tag darauf vorbereitet. Eigentlich schon das ganze Schuljahr über. Aber … jetzt war ich nicht so weit. Glücklicherweise verfolgte Kaia weiter mit finsterer Miene, wie das Paar seine Eintrittskarten kaufte, sodass mir zumindest noch ein kurzer Augenblick blieb. Ich versuchte mich zu fassen und einmal tief Luft zu holen, bevor sie sich umwandte.
»Also, worauf wartest du noch? Die Welt wird nicht kälter.« Todd gab mir einen Schubs in ihre Richtung.
Ich machte ein paar zaghafte Schritte. War jetzt der richtige Augenblick? Ich studierte das Setting. Da war zwar ein Brunnen in Form einer vollgekackten Riesenmuschel, aber der Aqua-Park lag an einer weitläufigen Bucht und die Luft war erfüllt vom sanften Rauschen der Wellen und dem Rufen der Möwen, so sanft und süß wie in einem Bon-Iver-Song. Die Sonne war schon fast im Meer untergegangen und am dunkelblauen Himmel hingen rosafarbene Fetzen von Kondensstreifen. Kaia stand neben einem Pflanzkübel voller Blumen, deren Namen ich nicht kannte, die aber wunderbar dufteten. Es hatte etwas Magisches. Und mein Plakat hatte ihr auch gefallen. Vermutlich hatte sie mir sogar zugezwinkert. Und wieder waren wir gemeinsam unterwegs, um etwas zu retten, genau wie bei den Wetlands.
Aber je mehr ich mich vorwärts zwang, desto mehr spannte sich mein Körper an, während eine gewaltige, unlösbare Frage drohend über mir hing, dieselbe Frage, die jedes Mal, wenn ich mich fast getraut hatte, sie anzusprechen, über mir zusammengebrochen war: Was war, wenn sie nein sagte? Ich versuchte, mir ein Leben danach vorzustellen, konnte aber nichts als endlose Leere vor mir sehen. Vollkommene Auslöschung.
Mir zog sich der Magen zusammen. Meine Beine gaben nach. Mein Brustkorb krampfte. Die Atmung setzte aus. Ich biss die Zähne zusammen. Sonnenuntergang, Blumen, Möwen – diesen Augenblick konnte ich mir nicht entgehen lassen. Ich würde sie fragen. Sobald mir wieder einfiel, wie sich meine Zunge bewegen ließ
Und dann drehte sie sich um.
»Oh, hey, Cam.«
Worte. Sag einfach Worte. »Hey …« Okay, nicht gerade die stärkste Einleitung, aber durchaus noch zu retten.
»Weißt du, dein Plakat … das wollte ich dir schon den ganzen Tag sagen …«
»Was ist damit?« Das waren schon drei Worte. Ein Fortschritt.
»… da ist ein Schreibfehler.« Kaia lächelte und deutete nach oben. Meine Augen folgten ihrem Blick, bis ich zum ersten Mal bemerkte, dass die Wörter »Rettet den weißen Hai« so verschmiert waren, dass man sie kaum noch entziffern konnte und es eher aussah wie »Scheiß Hai«. Und das Schlimmste war, dass die Zeichnung des Hais, bei der ich mir so viel Mühe gegeben hatte, ihn möglichst harmlos und sympathisch aussehen zu lassen, jetzt einen Fleck hatte, den man als dicken, fetten Scheißhaufen interpretieren konnte.
Kaia unterdrückte ein Lächeln. »Ich glaube nicht, dass die anderen es bemerkt haben, aber mich hat es den ganzen Tag irritiert!« Ich nahm das Plakat runter, wollte es verstecken, es zerstören, es verschwinden lassen. »Ich finde es irgendwie witzig.«
»Ja, total witzig.« Ich bemühte mich, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und wischte wie wild an dem Fleck herum. Ich hoffte, es war irgendwelcher Dreck, der während unseres Protestmarsches aus der Luft gekommen war, und ärgerte mich, dass ich es nicht selbst bemerkt hatte. Aber je mehr ich daran herumwischte, desto mehr verschmierte ich alles. Und je mehr es verschmierte, desto weiter entfernte sich der Augenblick, auf den ich den ganzen Tag … das ganze Jahr … gewartet hatte.
Kaia nahm einen großen Schluck aus ihrer Wasserflasche und seufzte. »Tja, ich glaube, ich habe für heute genug geschrien.«
Sie war dabei, unsere Unterhaltung zu beenden. Ich musste mich wieder ins Spiel bringen, bevor sie ging. »Allerdings. Bestimmt brauchst du heute Abend einen Tee mit Honig. Für deinen Hals.« Na toll, Cam. Jetzt hörst du dich an wie ihre Mutter.
»Ich bezweifle allerdings, dass es so was bei Steve Stevensons Party geben wird. Aber man weiß ja nie. Kommst du auch?«, fragte sie, während sie den Deckel auf ihre Wasserflasche schraubte.
»Zu Steve Stevenson? Du meinst, den Typ, der es nicht schafft an einem Schließfach vorbeizugehen, ohne einen Penis draufzumalen? Als ob. Alkoholvergiftung und Date Rape sind eigentlich nicht so mein Ding.« Ich lachte und war mir sicher, sie würde einstimmen.
Doch das tat sie nicht.
Stattdessen griff sie einfach nach ihrer Tasche und fuhr fort: »Ja, ich weiß. Nicht deine Welt. Aber, äh, vielleicht kommst du trotzdem? Dann hätte ich wenigstens jemanden zum Reden.«
Moment mal. Hatte sie etwa vor, zu Steve Stevensons Party zu gehen? Und hatte sie eben …? Wollte sie, … dass ich mitkam?
»Dein Plakat …«, warnte Kaia mich. Ich schaute nach unten und sah, dass ich ganz in Gedanken mein Schild losgelassen hatte. Ein Windstoß hatte es erfasst und durch die Luft zum Wasser hinübergeweht.
»O mein Gott. Nein. Halt!«, flehte ich das Schild an. Aber es war schon zu spät. Es landete im kalten Wasser und trieb dort wie ein giftiges, vollgeschissenes Surfboard.
»Umweltverschmutzer!«, brüllte einer der anderen Demonstranten.
»Du solltest es lieber zurückholen. Die Bucht ist ohnehin schon verdreckt genug durch die ganzen Abwässer.« Kaia verzog das Gesicht. Sie schämte sich offensichtlich für mich.
Ich war hin- und hergerissen und versicherte ihr: »Ich weiß! Ich – äh – das mache ich, aber ja, ich werde da sein …« Und während ich bereits zum Wasser hinunterrannte, stellte ich klar: »Bei der Party, meine ich! Ich komme zu der Party …«
Zu einer Party bei Steve Stevenson zu gehen, wäre mir normalerweise ungefähr so reizvoll erschienen wie die Teilnahme an einem Treffen des Schusswaffenverbandes in einem Strip Club. Steves Partys galten zwar als »legendär«, aber ich war mir ziemlich sicher, dass sie außer einer Mischung aus öder Wichtigtuerei und alkoholgetriebener Geilheit nicht viel zu bieten hatten. Aber mit Kaia zusammen könnte es möglicherweise der perfekte Ort werden, wo wir uns gemeinsam fehl am Platze fühlen und uns von dem üblichen Highschool-Blödsinn distanzieren konnten. Und so breitete ich eine Auswahl meiner besten T-Shirts auf meinem Bett aus und suchte nach dem einen mit dem genau passenden Aufdruck, der Anlass zu einem Gespräch sein oder über den sie sich lustig machen konnte. Vielleicht würden wir ja sogar zufällig beide dasselbe Shirt tragen.
Dafür wäre die naheliegende Wahl das Save-the-Wetlands-Shirt. Das war unser größter Erfolg gewesen. Wir hatten zusammen Mahnwache gehalten. Das konnte sie gar nicht vergessen haben! Doch als ich bemerkte, dass das T-Shirt noch einen hartnäckigen Schweißfleck hatte vom letzten Mal, als ich Kaia fast gefragt hätte, dachte ich, dass ich mich vielleicht doch lieber für eine alternative Strategie entscheiden sollte.
Ich hielt mein Baby-Yoda-2020-Shirt in die Höhe. Klar, Baby Yoda war einfach unwiderstehlich, aber ich da ich Star Wars noch nie wirklich gesehen hatte, könnte das auch etwas oberflächlich rüberkommen. (Meine Mom hatte nie besonders viel für Fantasy und Science-Fiction übrig gehabt und hat mir stattdessen lieber Geschichten über Kinder mit Behinderungen oder die Anliegen von Minderheiten zu lesen gegeben.)
Destroy the Patriarchy, Not the Planet, fühlte sich auch nicht richtig an für eine Party. Ich ging nicht davon aus, dass wir da irgendwo auf den Tischen tanzen würden, aber ich wollte auch nicht den Anschein erwecken, als wäre ich nur gekommen, um allen anderen den Spaß zu verderben.
Bücher statt Waffen fühlte sich ebenso falsch an wie das Trikot der Weltmeisterschaft im Frauenfußball.
Das Kein-Mensch-ist-illegal-Shirt zog ich ernsthaft in Erwägung, aber da Kaia einen Latinx-Migrationshintergrund hatte, wollte ich keinesfalls den Eindruck erwecken, ich würde mich anbiedern.
Schließlich hielt ich ein laubgrünes Shirt in die Höhe, auf dem ein Baum und darunter die Aufschrift Hugger zu sehen war. Das erschien mir als der richtige Mix aus Humor und Tiefsinn, den ich anstrebte. Und das mit dem Umarmen wäre auf keinen Fall verkehrt.
Heute Abend war es endlich so weit, ich würde Kaia Gonzales fragen.
Ich hatte in meinen Leben schon viele schreckliche Dinge gesehen – Ölunfälle, vermüllte Flussbetten, in Netzen gefangene Meeresschildkrötenbabys – die allesamt viel schlimmer waren als das, was ich gerade sah, aber mein Hirn war dennoch nicht in der Lage, das so anzunehmen. Dieser Anblick hier musste schlimmer sein.
Steve Stevenson stand ganz vorne auf dem Sprungbrett, nur mit einer knappen Badehose in den Farben der amerikanischen Flagge, Sonnenbrille und einer Blumenkette aus Plastik bekleidet. Er hielt ein Mikro umklammert und »rappte« zur Musik von … war das Cardi B? Durch das markerschütternde Wummern der Bässe hörte ich so etwas wie little bitch und shoes und making money move. Ja. Das war definitiv Cardi B. In der anderen Hand hielt er einen roten Einweg-Becher, aus dem Bier in das dampfende türkisfarbene Wasser unter ihm schwappte. Der übrige Pool war voller Leute, die sich auf diversen Schwimmtieren lümmelten und ihm johlend mit ihren eigenen Einwegbechern zuprosteten. O Mann, der Typ verkörperte echt alles, was ich in meinem Leben nicht sein wollte. Was hatte er der Welt zu bieten außer ein paar langweiligen SpongeBob-Memes und der Gewissheit, dass die Bierwirtschaft solvent bleiben würde? Doch alle vergötterten ihn. Warum nur?
»Steve Stevenson ist einfach so krass witzig«, sagte das Mädchen neben mir. Ich drehte mich zu ihr. Sie trug einen Flamingo-Schwimmreifen um den Bauch und eine Blumengirlande um den Kopf gewickelt.
»Äh. Ich glaube, du meinst eher, ziemlich rassistisch.«
Sie blinzelte verwirrt: »Häh?«
Ich deutete in Richtung der unsäglichen Gestalt, die da auf dem Sprungbrett herumhüpfte. Steve ging gerade in die Knie und präsentierte der Menge seinen Arsch. »Klar, er lässt manche Worte aus, aber ich meine, das ist doch der Inbegriff kultureller Aneignung. Was für einen Bezug hat ein wohlhabender weißer Junge aus Ventura zur Hip-Hop-Kultur?«
»Vielleicht mag er Cardi einfach. Ich steh jedenfalls voll auf die!« Dabei wackelte sie in ihrem Schwimmreif mit den Hüften und stieß mit dem Flamingokopf gegen mich.
»Wirklich? Du wählst eine ehemalige Stripperin als dein großes Vorbild?« Das Mädchen, mit dem ich letztes Schuljahr zusammen Spanisch gehabt hatte, schaute wieder nur verwirrt drein. »Ich meine, hast du dir jemals ihre Texte angehört? Was ist das denn für eine Message, die sie jungen Frauen vermittelt?« Steve war ein hoffnungsloser Fall, doch bei diesem Mädchen konnte ich vielleicht noch etwas erreichen. Sie verdrehte aber nur die Augen, zog ihren Schwimmreifen in die Höhe und marschierte davon. Ich seufzte. Kaia hätte verstanden, was ich meinte. Ich musste sie finden. Bestimmt fühlte sie sich hier ebenso unwohl wie ich.
Ich ließ meinen Blick über die Anwesenden schweifen. Es sah so aus, als wären die meisten aus unserem Jahrgang hier. Ständig wurde ich angerempelt, weil sich jemand zum Bierfass durchdrängelte. Die einzige Beleuchtung kam vom Pool und den kleinen Lichterketten, die um die Palmen gewickelt waren, und so konnte man die Gesichter kaum erkennen. Warmes Wasser schwappte über meine Füße und durchtränkte meine Schuhe, während ich mich langsam voranschob. Ich sah Conner, mit dem ich zusammen Sport hatte, und fragte: »Hast du Kaia gesehen?« Aber er zuckte nur die Schultern, brüllte »Holz!« und kippte wie ein gefällter Baumstamm ins Becken. Ich tastete mich weiter an der glitschigen Betonkante voran. Vor mir war es etwas leerer. Vielleicht würde ich von dort aus mehr sehen können. Immer weiter am Beckenrand entlang drängelte ich mich an den letzten Gestalten vorbei. »Kaia?«
Auf dem Sprungbrett hörte Steve auf zu rappen. Er warf einem seiner Kumpels das Mikro zu, kippte den letzten Schluck Bier hinunter und schmiss den Becher in einen Busch. Dann zog er etwas von der Schulter. Der schwarze Riemen quer über seiner Brust war mir zuvor gar nicht aufgefallen. Jetzt allerdings schon. Weil er nämlich an einem Gewehr befestigt war.
Einem großen Gewehr. Wie ich es bisher nur in Filmen oder Videospielen gesehen hatte. War das etwas ein Sturmgewehr? Was zum Teufel hatte er vor …? Warum schrie niemand? Warum rannte niemand davon? Steve stützte den Gewehrkolben an der Schulter ab, kniff ein Auge zusammen und zielte.
Auf mich.
Er betätigte den Abzug. Mit einem Aufschrei ließ ich mich zu Boden fallen, während ich reflexartig meinen Nacken bedeckte und mich zu einer Kugel zusammenrollte.
Splash. Splash. Splash. Etwas zerplatzte über meinem Kopf. Spritzer trafen auf meine Hand. Im ersten Augenblick konnte ich nur das Blut hören, das in meinen Ohren rauschte. Erst dann wurde es von einem anderen Geräusch verdrängt: Gelächter. Ich entrollte mich. Ich blickte auf und sah, wie sich alle um mich herum vor Lachen krümmten und das Bier aus ihren Einwegbechern verschütteten, während sie nach Luft schnappten. Und dann sah ich es. Hinter mir war zwischen zwei Palmen ein riesiges Laken aufgespannt, auf das eine Zielscheibe gesprüht war. Das Ganze war über und über voll mit neonfarbenen Klecksen. Genau die Farbe, mit der jetzt auch meine Hände bespritzt waren. Ich war direkt in die Schusslinie marschiert.
Steve schleuderte das Paintball-Gewehr beiseite und machte eine Arschbombe in den Pool. Die Leute kreischten, als die Welle sie traf. Und noch bevor ich weiterdenken konnte, war er am tiefen Ende herausgeklettert und stand nun triefend nass neben mir auf den Terrassendielen. Die Sonnenbrille hatte er eingebüßt, aber die Blumenkette hing noch immer schlaff und etwas mitgenommen um seinen Hals. Eilig rappelte ich mich auf, nur um festzustellen, dass die Vorderseite meiner Hose nass war, weil ich auf dem nassen Beton gekauert hatte. Steve grinste breit und zufrieden.
»Fuck Mann, das war echt witzig.«
Na klar. Na klar kam da keine Entschuldigung von ihm. »O ja. Ha ha. Total witzig. Das war nur eine ganz normale Reaktion, wenn man plötzlich unter Beschuss gerät.« Ich zupfte an meiner Hose herum und merkte, wie der Stoff an meinen Schienbeinen klebte.
»Ich wusste gar nicht, dass ein Kerl so hoch kreischen kann.«
Frauenfeindlich war er also auch noch. »Äh, auch ›Kerle‹ verfügen über ein breites Spektrum an Stimmregistern«, erwiderte ich mit einem finsteren Blick. Ich würde ihm das nicht durchgehen lassen. Wenn ihm hier sonst keiner Paroli bot, würde ich das eben übernehmen. »Etwas, das primär weiblich konnotiert ist, gleich als schlecht oder minderwertig hinzustellen, ist wirklich nicht …«
Steve legte den Kopf schief und sah mich zum ersten Mal richtig an. »Sag mal … kenne ich dich?«
Mein Magen machte einen Satz. Rein theoretisch hatte ich ja keine Einladung. Aber ich war davon ausgegangen, dass es eine von den Partys war, wo man einfach so aufkreuzen konnte. So lief es doch in der Regel, oder? Ich meine, es gab schließlich keinen Türsteher. Okay, mal abgesehen von dem Typen in einem Einhorn-Onesie mit Feenflügeln, der da neben einer halb gegessenen Pizza zusammengesackt war. Aber da war auf jeden Fall keiner gewesen, der einen nach dem Namen fragte oder auf einer Liste abhakte. Und auch keine Eltern.
Steve starrte mich noch immer abwartend an, ich streckte ihm meine Hand entgegen. »Ich bin Cam. Cam Webber. Kaia hat mich eingeladen.« Das kam alles in einem Atemzug heraus, was scheiße war, weil es dadurch so nervös klang. Was ich nicht war. Jedenfalls nicht besonders. Ich versuchte nicht an diese alten Filme zu denken, in denen der Nerd mit der geklebten Brille von dem großen, beliebten Typen mit den coolen Haaren ohne viel Umschweife einfach vor die Tür gesetzt wurde. Warum war mein Mund auf einmal so trocken?
Steve ergriff meine Hand und schüttelte sie, wobei er sogar noch verwirrter wirkte, falls das überhaupt möglich war. »Kaia?« Er schien in seinem Gedächtnis zu kramen.
»Ja, genau. Kaia Gonzales. Hast du sie gesehen?«
»Kaia … Kaia …« Er legte eine Hand ans Kinn, um eine Denkerpose zu imitieren. »Wie sieht sie aus?«
Ich gab mir Mühe, nicht die Augen zu verdrehen. Er hatte ganz offensichtlich keine Ahnung, wer sie war. Dieser Typ hatte vermutlich die komplette Mädchen-Volleyballmannschaft in seinem Handy eingespeichert, aber ich bezweifelte, dass ein Mädchen wie Kaia einen bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen würde. Andererseits waren etwa zweihundert Leute hier und es war dunkel und er war hier zu Hause. Alleine hatte ich wenig Chancen, sie zu finden, und vielleicht hatte er sie ja gesehen. »Äh, dunkle, lockige Haare? Braune Augen? Etwa so groß?« Ich streckte die Hand ein wenig unterhalb meiner Augenbrauen aus.
Steve schüttelte den Kopf. »Da musst du schon etwas genauer werden. Ist sie mehr der Typ Kardashian oder eher der Typ Swift? Was hat sie so zu bieten?«
»Es wäre mir unangenehm, Fragen auf diesem Niveau zu beantworten.«
Steve lachte vor Überraschung kurz und bellend auf, bevor er mit Schwung den Arm um mich legte. Ich zuckte zusammen. Aus der Nähe konnte ich Chlor und Bier riechen. Ich merkte, wie mein T-Shirt feucht wurde. Plötzlich war sein Gesicht ganz nah vor meinem. Seine Augen leuchteten leicht manisch. Er grinste. »Ich mag dich. Du bist witzig. Komm, wir gehen sie suchen.«
Bevor ich antworten konnte, marschierte er bereits los, den Arm weiter um meine Schulter gelegt. Ich war gezwungen, neben ihm herzustolpern. Die Menge vor uns teilte sich, ohne dass Steve irgendetwas tun musste. Die Leute machten ihm ganz automatisch Platz.
Anscheinend hatte Steve jetzt eine Mission und durchquerte zielgerichtet den Garten. »Sind krass viele Leute hier. Keine Ahnung, ob dir das klar ist, aber ich bin ziemlich beliebt. Die Leute kommen von überallher. Manche kenne ich nicht einmal. So wie dich! Aber wir hören uns mal um.« Beim Pool-Haus angekommen, riss er die Glas-Schiebetür auf und schob mich nach drinnen.
Drinnen war es noch dunkler als draußen, und die Musik war noch lauter, und die Luft war schwül durch die vielen feuchten Körper. Verdammt viele feuchte Körper. Was ging hier hinten ab? Meine Blicke schossen durch den Raum, aber ich erkannte überall nur Gliedmaßen. Ineinander verschlungen. Von Sofas hängend. In Ecken gedrückt. Gottseidank war die Musik so laut, denn wer weiß, was ich sonst hier gehört hätte. Ganz gleich, wohin man blickte, lief man immer Gefahr, irgendjemandes Privatsphäre zu verletzen.
Steve ging in die Mitte des Raumes und stieg dabei ganz locker über Arme und Beine, während er mich hinter sich herzerrte. Ich nuschelte Entschuldigungen zu den Händen und Zehen, auf die ich trat, aber keiner schien es zu bemerken. »Kommen dir irgendwelche von diesen Körperteilen bekannt vor?«, brüllte er in mein Ohr.
»Oh, äh …« Vor lauter Angst, was ich zu sehen bekäme, wenn ich den Blick etwas tiefer richtete, starrte ich auf ein Poster mit einem Papagei und einer Margarita an der rückwärtigen Wand.
»Cam, Cam, Cam. Du machst es mir ja nicht gerade leicht.« Er legte eine Hand an den Mund und rief: »Yo, Leute! Ist hier jemand, der sich gerade über Kaia hermacht?« Gelächter ertöne aus allen Ecken des Raumes. »Ist das hier Kaia?«, fragte ein Typ, woraufhin die Rothaarige, mit der er gerade rummachte, ihm eine klebte und lachte: »Hal’sss Maul.« Wieder Gelächter. Steve sah mich an und zuckte übertrieben mit den Schultern. »Offenbar nicht.« Dann packte er mich am Arm und zerrte mich zurück zu der Glasschiebetür.
»Ich finde es geradezu fahrlässig, wie hier mit dem Thema Consent umgegangen wird, Steve!«, brüllte ich gegen die Musik an, während mein Fuß einen leeren Plastikbecher umstieß. »Hier wird ja Alkohol getrunken!«
Steve blieb stehen und riss überrascht die Augen auf. »Oh, danke, Cam. Das hätte ich beinahe übersehen!« Er drehte sich noch einmal um und rief in den Raum: »Hey, Leute! Seid ihr alle hier einvernehmlich beim Vögeln? Cam ist diesbezüglich sehr besorgt!«
Als Antwort ertönte nur ein »Wooooohooooo!« aus dem Haufen von Körpern, gefolgt von weiterem Gelächter. Ein paar Fäuste reckten sich in die Luft. Steve legte erneut den Arm um mich und strahlte mich an.
»Prima, jetzt fühle ich mich besser! Die Suche geht weiter …«
Er zerrte mich zurück auf die Terrasse am Pool. Die kühle Nachtluft blies mir ins Gesicht, ein Schock nach der klebrigen Wärme des Pool-Hauses. Meine Wangen glühten. Mir war klar, dass sie knallrot sein mussten. Nur nervig. Schließlich hatte ich keinerlei Grund mich zu schämen. Ich hatte das Richtige getan, dass ich etwas gesagt hatte. Doch meine Wangen blieben rot. Und das fiel auch Steve auf. Na klar. Sein Grinsen wurde noch breiter. Er ließ den Arm von meinen Schultern gleiten, schnappte sich einen Becher, der oben auf dem Bierfass in unsere Nähe stand und zapfte gekonnt ein Bier.
»Willst du? Du siehst aus, als wär dir ein bisschen warm.« Seine Augen funkelten amüsiert.
»Nein.«
Mit einem Schulterzucken trank Steve das Bier. Alkohol-Gruppenzwang schien nicht sein Ding zu sein. Er wischte sich den Schaum von der Oberlippe und lehnte sich dann gegen das Fass, um sich eingehender mit mir zu unterhalten. »Also, hast du was mit Kaia?«
»Äh, hmm, wir sind befreundet.«
»Aber du willst was von ihr, oder? Du willst deinen schmächtigen kleinen Körper an ihr reiben.«
»Nein!«, widersprach ich sowohl dem »schmächtig« als auch dem »reiben«. Nicht, dass nicht schon mal den einen oder anderen Gedanken … aber das war nicht … und ich würde immer … »So ist das gar nicht«, nuschelte ich.
»Also bitte! Du willst auf ihr reiten wie Neptun auf einem Delfin.« Steve begann anzüglich mit den Hüften zu wippen. Ich wandte den Blick ab, aber er wippte einfach näher zu mir. »Kaia …« Er schloss die Augen und ließ den Unterkiefer nach unten sacken. Ich wich einen Schritt zurück. Er wippte hinterher. »Mmmmmm. Kaia …« Steve fing an zu stöhnen. Die Leute drehte sich um und kicherten.
»Es geht doch nicht immer nur um Sex, ja? Kaia ist einfach cool!«
Steve riss die Augen auf und ließ das Wippen sein. »Komm, wir suchen drinnen weiter«, schlug er vor, auf einmal wieder ganz sachlich.
Wir kamen in einen Raum, den die meisten Leute wohl als Fernsehzimmer bezeichnet hätten. Oder auch als Männerhöhle. Ich war mir da nicht so sicher, weil es bei mir zu Hause schlicht und einfach ein Wohnzimmer gab, in dem man »abhängen« konnte. Und selbst dort war noch ein Esstisch in die Ecke gequetscht. Vermutlich hätte unser Wohnzimmer zweimal in den Raum gepasst, in dem wir uns jetzt befanden. In der Mitte thronte ein gewaltiges L-förmiges Ledersofa. Eingerahmte Spielertrikots zierten die Wände – Lakers, Dodgers, Rams. Alle signiert. In einer Ecke stand eine vergessene und unbenutzte Popcornmaschine.
Auf dem Sofa saßen ein paar Typen vornübergebeugt mit Controllern in den Händen. Ich versuchte zu erraten, welches Spiel sie spielten, aber ich erkannte es nicht. Irgendwas mit Lasern und Aliens. Plötzlich wurde mir schwarz vor Augen.
»Waffenstillstand! Waffenstillstand! Sicheres Geleit für Cam! Er hat nämlich Angst vor Waffen!« Steve hatte mir die Hände über die Augen gelegt. Ich versuchte, mich seinem Griff zu entwinden, doch er packte einfach noch fester zu.
»Hör auf! Lass mich los!« Als es mir endlich gelang, seine Hände nach unten zu ziehen, sah ich, dass mich alle Anwesenden anstarrten. Das Spiel war pausiert, und die Stille unterstrich die genervten Blicke der Spieler. Super!
Steve gab mir einen Schubs. »Vielleicht weiß einer von denen was«, flüsterte er laut hörbar.
»Äh …« Ich überlegte rasch, wie ich mit möglichst wenig Peinlichkeit aus dieser Situation herauskommen konnte. Bedauerlicherweise schien Nachgeben die einfachste Lösung zu sein. »Hat einer von euch Kaia Gonzales gesehen?«
Leere Blicke. Ein paar desinteressierte Laute. Steve schlug mir auf die Schulter. »Sorry, Alter. Pech gehabt.« Er machte eine theatralische Geste durch den Raum. »Macht ruhig weiter mit dem Blutvergießen!« Jemand drückte auf Play und sogleich dröhnten wieder Laserfeuer und Explosionen. Irgendein Wesen mit Fangarmen zerbarst in eine Million Pixelstücke und dann wurde erneut alles schwarz, als Steve mir die Augen zuhielt und mich aus dem Raum zerrte.
Erst als wir in einen weiträumigen, gefliesten Flur hinaustraten, konnte ich mich seinem Griff entwinden. Der Flur war so breit, dass alle paar Meter ein einer von diesen komischen Klapptischen an der Wand stand. Steve strich mir über den Rücken.
»Schschsch. Alles gut. Die bösen Bumm-bumm-Stöcke sind weg.«
Ich riss mich los. »Mann, ey. Das ist eine ganz natürliche Fluchtreaktion, und die ist mir nicht peinlich. Es ist total okay, wenn man Angst hat.«
Steve zuckte die Schultern. »Angst haben ist langweilig.«
»Tu doch nicht so, als hättest du vor gar nichts Angst.«
Steve überlegte einen Augenblick. »Stimmt. Ich habe Angst, dass du mir die Party versauen könntest.« Er öffnete eine der vielen Türen entlang des Flures und verschwand.
Ich folgte ihm in den Raum und musste sofort husten. Die Luft war so voller Rauch, dass man nur Umrisse sehen konnte. Der Gestank nach Gras war überwältigend. Mit Mühe konnte ich einen Billardtisch ausmachen, auf dem diverse Bongs ausgebreitet lagen. Offenbar waren Steves Freunde eher oldschool. »Du bist so scheiße!«, stieß ich schließlich nach einigen weiteren Hustenanfällen hervor.
Steve wandte sich zu mir um. Er war nahe genug, dass ich den gespielt verletzten Gesichtsausdruck erkennen konnte. »Das ist ganz schön hart, Mann. Und das, wo ich mir solche Mühe gebe, dass du deine Lady findest!« Er drehte sich zurück und ging weiter in den Dunst hinein. »Hört mal her, ihr Kiffer! Hat jemand Kaia gesehen? Cam hier will mir nicht verraten, mit was wir es titten- und arschmäßig zu tun haben, deswegen kann nicht mit einer näheren Beschreibung dienen.« Ich merkte, dass sich mir hier eine Gelegenheit zur Flucht bot, duckte mich unter der Gras-Wolke hindurch und ging zurück zur Tür. Kaia würde ich auch alleine finden. Steve fuhr fort. »Und kennt einer von euch diesen Cam? Irgendeiner? Ich hab nämlich langsam das Gefühl, als wäre der Kerl ein Gespenst.«
Ich wedelte den Rauch beiseite, fand die Tür und taumelte auf den Flur zurück.
Wo ich mit einer beigefarbenen Stoffhose zusammenstieß.
Ein Erwachsener.
Shit.
Ich richtete mich auf, wobei mir bewusst war, dass der Grasgeruch noch in meinen Klamotten hing. Hoffentlich hatte ich nicht auch noch gerötete Augen.
Er war groß und breitschultrig mit trainierten Brustmuskeln, über denen sich sein allzu enges T-Shirt spannte. Kurz geschnittene graue Haare und eine supergerade Haltung, die schwer nach Ex-Militär aussah, machten den Look komplett. Keine Frage, wer dieser Mann war: Es war Steves Dad.
»Äh, sorry, Mr. …«
»Hast du was getrunken?«, unterbrach er mich und kniff die Augen zusammen.
»Nein!« Ich war noch nie so froh gewesen, dass ich keinen Alkohol trank. Ich hatte das Gefühl, dieser Typ war ein menschlicher Lügendetektor.
»Wo sind deine Autoschlüssel?« Er musterte mich weiter misstrauisch.
»Vorne in der Schale am Eingang. Da, wo das Schild steht, dass man sie da ablegen soll.« Ich schluckte.
Auf Mr. Stevensons Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus. »Und warum trinkst du dann nichts?« Er schlug mir auf den Rücken und drückte mir ein Dosenbier in die Hand, das er anscheinend aus dem Nichts herbeigezaubert hatte. Ich starrte es verblüfft an und konnte im ersten Augenblick nichts tun, als die Kühle des Kondenswassers auf meiner Handfläche zu spüren. Mr. Stevenson schlenderte zu einem Fenster am Ende des Flurs und schaute nach draußen, während er sein eigenes Bier öffnete. »Sieh dir das an.«
Ich war etwas zurückgeblieben, doch er bedeutete mir, näher zu kommen. Zögernd trat ich ans Fenster, von dem aus sich mir ein freier Blick auf das volle Chaos dieser Party bot. Die Leute jagten sich gegenseitig im Badezeug über den Rasen, schubsten einander in den Pool oder knutschten gegen die Palmen gelehnt herum und tanzten mit hoch erhobenen Plastikbechern zu einer Musik, die ich kaum wahrnehmen konnte. Mr Stevenson seufzte. »Also das nenn ich mal eine echte Highschool-Party, was? Das sind Erinnerungen!« Er prostete mir mit seiner Bierdose zu und richtete den Blick dann mit stolzer Miene wieder nach draußen auf die Party. Das war meine Chance zum Rückzug. Ich gab mir noch ein paar Minuten, um Kaia zu finden, ansonsten würde ich meine Schlüssel schnappen und abhauen. Vorsichtig machte ich einen Schritt rückwärts. Steves Dad wandte sich vom Fenster ab und musterte mich streng. »Du trinkst ja gar nichts«, sagte er mit einem Blick auf meine Dose.
»Äh … ich …«
Eine Tür ging auf und eine Rauchwolke strömte heraus, gefolgt von Steve. Sobald er mich mit seinem Dad am Ende des Flurs erblickte, schlenderte er heran. »Hey, Dad. Dieses Granddaddy Purple Zeug ist echt der Hammer. Danke. Aber ich muss dir Cam jetzt entführen. Wir haben eine geheime Mission.« Damit legte er mir den Arm um die Schulter.
Mr. Stevenson lächelte seinen Sohn mit unverhohlenem Stolz an. »Amüsiert euch gut, Jungs. Tut nichts, was ich nicht auch tun würde.« Er gluckste in sich hinein. Abstoßend.
Steve führte mich fort, nahm mir die Bierdose aus der Hand und stellte sie auf einem Tisch ab. »Wir wollen doch diesen Tempel der Rechtschaffenheit nicht beschmutzen.« Einen kurzen Augenblick lang war ich froh gewesen, dass er mich aus den Fängen seines Vaters befreit hatte, doch sobald Steve mich den Flur entlangzerrte, reichte es schon wieder. Ich löste mich aus seinem Griff.
»Weißt du was, Steve? Ich komme klar, Steve. Du kannst wieder zu deinem Karaoke oder zum Zielschießen oder wozu auch immer zurückkehren.«
Steve tat empört. »Was? Auf keinen Fall! Was wäre ich denn für ein Gastgeber? Ich meine, es ist doch offensichtlich, dass du keine Freunde hast. Dich kennt hier keiner, das habe ich überprüft.«
»Schließlich ist ja auch nicht die ganze Schule hier.«
»Naja, beinahe schon.«
»Ich habe auch Freunde außerhalb der Schule«, sagte ich und dachte dabei an Todd und Patrice.
Steve schlug sich mit den Händen an die Wangen. »Oooh. Sind die aus Kanada?«
Ich verschränkte die Arme. »Kaia ist eine Freundin.«
»Stimmt. Die berühmte Kaia. Das hattest du schon erwähnt. Dann wollen wir sie mal suchen! Schließlich möchte ich nicht, dass du dich einsam fühlst, Cam.« Steve klang höchst besorgt. Ich war ja Pazifist, aber er brachte mich ernsthaft an meine Grenzen.
Wir bogen in noch einen Flur ein.
»Wie groß ist euer Haus eigentlich?« Ich fragte mich das schon die ganze Zeit, aber jetzt musste ich es laut aussprechen. Ich hatte inzwischen komplett die Orientierung verloren. Ein beigefarben gefliester Flur reihte sich an den nächsten.
»Hmmmm, 530 Quadratmeter plus das Poolhaus?«, schätzte Steve. »Mein Dad ist Bauunternehmer. Baut alles Mögliche in Calabasas. Dieses Haus hier ist quasi ein Abschreibungsobjekt.«
Er zog mich einen weiteren Flur entlang, während ich überlegte, wie es sich anfühlen mochte, in so einem Palast zu leben. »So langsam haben wir alle Räume durch …«, trällerte Steve. »Wo könnte die sensationelle Kaia nur sein?« Ich machte mir nicht die Mühe zu antworten.
Als wir um eine Ecke gingen, wurde die Musik, die bislang in der Ferne pulsiert hatte, plötzlich lauter. Hinter einem weiten Bogen lag ein Esszimmer mit einem Tisch, der so groß war, dass zwei Kronleuchter darüberhingen. An normalen Tagen sah das bestimmt äußerst eindrucksvoll und vornehm aus, aber heute diente er als Tanzfläche. Auf dem glänzenden Holz standen ein paar Mädchen und bewegten sich im Takt der Musik, wobei die Drinks, die sie in den Händen hielten, von Zeit zu Zeit auf den Tisch schwappten.
»Da sind jede Menge mittelgroße, braunhaarige Mädels, Cam«, bemerkte Steve. »Gehört eine davon zu dir?«
»Kaia gehört nicht zu mir.«
»Ich hoffe nicht, weil du nämlich vollkommen unfähig bist, sie im Blick zu behalten.« Er ging zum Tisch hinüber, half ein paar Mädels beim Hinuntersteigen, damit mehr Platz war. Dann klopfte er auf die Tischplatte. »Hopp, rauf mit dir, Alter. Dann frag drauflos!«
Ich verschränkte die Arme. »Sag mir nicht, was ich zu tun habe.«
Steve zog nur eine Augenbraue in die Höhe und wartete. Mit einem Seufzer kletterte ich auf den Tisch.
»Hi. Ich bin auf der Suche nach Kaia.«
Ein Mädchen, das unten auf dem Boden tanzte, blinzelte zu mir empor. »Wer bist du?«
»Ich bin Cam, Sadie. Wir sind zusammen im Bio-Kurs.«
Sie zog die Nase kraus. »Glaub ich nicht.«
»Das ist der, der was gegen Cardi B hat!« Ich drehte mich um. Das Mädchen, mit dem ich zu Beginn meiner Suche gesprochen hatte, kam aus der Ecke gestolpert, wo sie neben (oder möglicherweise auch mit) einer XXL-Vase samt kunstvollem Arrangement aus Holzstäben getanzt hatte.
Entgeistert fuhr Steve zu mir herum. »Was? Ein Cardi-B-Hasser? Wie bist du hier reingekommen?«
»Er meinte, sie wäre ein schlechtes Vorbild für mich«, jammerte das Mädchen.
Schockiert griff Steve sich an die Brust. »Nein!«
»Sie tut so, als wäre es toll, eine Stripperin zu sein! Was soll daran gut sein?« Das klang zwar ziemlich defensiv, aber mal ehrlich!
Steve nickte. »Aaaaaah! Jetzt kapiere ich es. Du bist hier, um Kaia vor meinem schlechten Einfluss zu retten!«
»Was? Nein …«
»Vor dem Bier. Vor Cardi. Vor dem Spaß. Ich meine, sieh dich doch mal um.« Er deutete auf die Ausschweifungen um uns herum. »Die arme Kaia. Bestimmt hat sie solche Angst.«
»Darum geht es doch gar nicht … Kaia kann sich sehr gut selbst …«
Steve legte die Hände wie einen Trichter um den Mund. »Weiß hier jemand, wo diese Kaia ist, damit Cam sie retten kann?«
»Ich bin nicht hier, um irgendjemanden zu retten!« Wirklich nicht. Kaia war ganz gewiss die Letzte, die es nötig hatte, sich von irgendjemandem retten zu lassen. Wobei Steve sich natürlich überhaupt nicht vorstellen konnte, dass es Mädchen gab, die so stark und unabhängig waren wie sie. Der Einzige, der hier im Augenblick gerettet werden musste, war ich. Und zwar vor Steve. Ich musste so schnell wie möglich von diesem Tisch runter und nach Hause. Ich war mir nämlich nicht einmal mehr sicher, dass Kaia überhaupt hier war. Es war so gar nicht ihre Szene. Beim nächsten Treffen der Hai-Aktivisten würden wir gemeinsam darüber lachen.
»Kaia ist in der Küche! Ein Mädchen kam durch einen weiteren Bogen hereingerannt und wedelte leicht besoffen mit den Armen herum. Hinter ihr konnte ich den Schein von Deckenstrahlern und die Ecke einer Arbeitsplatte aus Granit erkennen. Mir blieb das Herz stehen. »Ich hab sie gefunden!«, rief das Mädchen voller Aufregung. »Sie ist in der …«, und damit kotzte sie direkt auf den Boden vor dem Tisch und die Umstehenden sprangen kreischend zur Seite.
»O mein Gott! Wie aufregend!«, krähte Steve. »Unsere lange Reise kommt nun zum Ende. Nun gilt es nur noch ein Hindernis zu überwinden. Den See aus Kotze!« Das sagte er mit einer tief dröhnenden Stimme und schubste mich an den Rand des Tisches. »Los, hol sie dir, Großer!«
Holy Shit. Kaia war hier.
Den Schubs von Steve hätte es nicht gebraucht. Ich sprang vom Tisch und über das Erbrochene und trat durch den Torbogen.
Kaia. Ich brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass sie tatsächlich hier war. Aber so war es. Kaia stand über den Mülleimer gebeugt, wo sie recyclingfähiges Material herausklaubte und in eine Tasche stopfte. Ich war überzeugt, dass mein Herz gleich aus meiner Brust heraushüpfen würde.
Okay. Das war es also. Ich war hier. Der Grund, aus dem ich überhaupt zu dieser Party gegangen war, stand hier vor mir. Ich musste nur zu ihr hingehen und hallo sagen. Sie würde mich anlächeln, so wie sie es immer tat. Und ich würde versuchen, nicht vor Glück zu platzen. Wir würden über die Party sprechen und über die Demo heute und dann könnte ich darauf zu sprechen kommen, wie wir uns bei den Wetlands kennengelernt hatten. Sie würde sich erinnern und lachen. Und dann … Dann würde ich sie einfach fragen. Und sie würde ja sagen. Das würde sie doch? Natürlich würde sie. Und falls nicht – nein. Diese endlose schwarze Leere wollte ich mir jetzt nicht vorstellen. Diesmal nicht. Weil alles gut gehen würde. Diesmal ja. Da gab es keine Schreibfehler. Keine Flecken auf meinem T-Shirt. Nichts, was Kaia einen schlechten Eindruck von mir vermitteln konnte. Ich war bereit. Es war einfach. Hi. Party. Demo. Wetlands. Date. Hi. Party. Demo. Wetlands. Date. Und los.
Aber mein Magen revoltierte. Meine Beine gaben unter mir nach. Mein Brustkorb zog sich zusammen. Und Atmen erschien auf einmal als unbekannte Tätigkeit. Mist. Es passierte schon wieder.
Dabei musste ich einfach nur zu Kaia hinübergehen.
Ich machte einen Schritt. In Richtung der Leere.
Mein Schuh quietsche auf dem glänzenden Fliesenboden. Kaia blickte auf.
»Cam?« Klöternd fiel ihr der Recyclingbeutel aus der Hand. »Du bist gekommen!« Das Lächeln auf ihrem Gesicht war so breit und echt, dass es schmerzte. Und, o mein Gott, auf ihrem T-Shirt war ein Baum abgebildet. Auf meinem T-Shirt war ebenfalls ein Baum! Ich hatte das richtige ausgesucht. Und warum schmerzte mein Körper dann so sehr? Ich hatte endlich den richtigen Augenblick getroffen. Den perfekten Augenblick. Wir trugen beide Baum-Shirts. Auf dieser unsäglichen Party. Alleine zu zweit. Und ich schnappte noch immer nach Luft, als sie näherkam.
Hi. Party. Demo. Wetlands. Void.
Nein!
Hi. Party. Demo. Wetlands. Date.
»Hi, Kaia.« Schon das Sprechen verursachte mir Schmerzen. Aber ich brachte noch ein paar Worte hervor. »Was für eine schreckliche Party, was?«
Ich spürte einen Luftzug, als etwas an mir vorüberrauschte.
Kaias Blick löste sich von meinem. Ihr Lächeln wurde noch … strahlender. Und sie streckte die Arme aus nach …
Steve.
Und dann war er da, hob sie in die Höhe. Wirbelte sie im Kreis herum. Ich hörte Lachen. Klar und fröhlich. War es ihres? Es musste ihres sein. Meines war es nicht. Dann schlang sie die Beine um seine Taille. Die Arme um seinen Hals.
No.
No no no no no no no no no.
Sie neigte ihr Gesicht nach unten zu Steve, und ihr Lächeln wurde dabei ganz weich. Steve erwiderte mit seinem Lächeln und blickte ihr verträumt in die Augen. Sie beugte sich hinab und … küsste ihn.
Kaia küsste Steve Stevenson.
Sie küsste ihn. Ich stand da in Steves Küche inmitten von leeren Getränkedosen auf dem Boden und küsste sie nicht. Weil sie Steve küsste. Warum küsste sie Steve?
»Da bist du!«, sagte Steve zu ihr, als sie sich schließlich voneinander lösten. »Ich habe überall nach dir gesucht!«
Dieses. Arschloch.
Kaia lachte. »Oh, sorry. Ich hab nur gemerkt, dass die Leute hier ihren Müll nicht trennen und das hat mich abgelenkt.«
Lächelnd schüttelte Steve den Kopf und drehte zärtlich eine ihrer Haarsträhnen um seinen Finger. »Mein Gott, du bist einfach so toll.«
Dieses. Verfickte. Arschloch.
Kaia kicherte. Und dann beugte sie sich vor und küsste ihn. Schon wieder. Steve zog sie noch näher an sich und vertiefte den Kuss. O Gott. Mit Zunge. Kaia berührte Steve Stevensons Zunge mit ihrer Zunge. Schlimmer ging es kaum. Denn in mir war jetzt ein riesiges Loch. Und es war voller Zungen.
Während sie sich küssten, drehte Steve sie um, sodass Kaia mit dem Rücken zu mir stand. Er löste einen Arm und hob seine Hand. Und dann rollte er langsam, ganz, ganz langsam seinen Mittelfinger aus.
Ich gab einen Laut von mir. Einen jämmerlichen, erbärmlichen Laut. Und dann floh ich.
Die Wut trieb mich voran, und ich stürmte quer über den Rasen des Vorgartens. Er hatte mich vorgeführt. Von dem Augenblick an, als ich ihn nach Kaia gefragt hatte, hatte Steve mich vorgeführt. Und dabei bestimmt die ganze Zeit in sich hineingelacht. Jedes Mal, wenn ich einen Raum gekommen war und er mich aufgefordert hatte, nach Kaia zu fragen, hatte er mich ausgelacht. Und dazu noch alle anderen aus unserem Jahrgang ebenfalls angestiftet. Weil bestimmt alle wussten, dass die beiden ein Paar waren. Na klar wussten sie das. Schließlich war es Steve Stevenson. Der beliebteste Typ der ganzen Schule. Mein Gott, was war ich nur für ein Vollidiot.
Aber schlimmer als die Wut war das andere Gefühl. Das drohte, mich zu überwältigen, sobald die wilde Wut ein wenig nachließ. Denn sobald ich aufhörte, über Steve nachzudenken, fing ich an, über Kaia nachzudenken. Im Geiste spielte ich in Endlosschleife immer wieder jede einzelne Gelegenheit durch, bei der ich sie beinahe gefragt hätte. Bei den Schließfächern. Bei einer Versammlung. Im Coffee Shop. Bei der Protestkundgebung. An jenem Mittwoch. Nie war es der richtige Augenblick gewesen. Ich wollte eben, dass es perfekt war. Ich hatte gewartet, bis alles perfekt war, aber jetzt … Jetzt war sie mit Steve zusammen. Wann? Wie? Warum? Die Fragen überstürzten sich in meinem Kopf.
Auf der Suche nach meinem blassblauen Prius schlängelte ich mich durch die Autos, die quasi übereinander parkten, manche standen sogar auf dem Rasen.
Zungen.
Das Bild von Kaia und Steve, die sich küssten, tauchte in meinem Kopf auf, und ich wollte nur noch sterben. Verdammt. Wo war mein Auto? Ich musste nach Hause. Bevor ich ganz durchdrehte.
Zungen.