Revenge of the Underworld - Loredana Bursch - E-Book

Revenge of the Underworld E-Book

Loredana Bursch

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Beschreibung

Anivarem. Wenn sich zwei Seelen begegnen, die zueinander gehören. Nach dem Aufstand der Unterwelt wünscht sich Janay nichts mehr als einen Neustart. Wäre da nicht eine dunkle Prophezeiung, die einen erneuten Krieg weissagt. Ein mysteriöser Mann namens Ari stürzt aus dem Himmel und die Vorhersage scheint sich zu bewahrheiten. Als Janay ihm gegenübersteht, entfacht zwischen ihnen ein magischer Nebel, der das fremde Verhältnis in tiefstes Vertrauen wandelt. Von Ari erfährt Janay, dass der Vater aller Götter eine Schöpfergottheit gefangen hält. Erneut steht die Menschheit vor einem todbringenden Aufstand. Hat Janay eine Wahl, obwohl ihr Schicksal bereits besiegelt ist? Teil 2 der düsteren Revenge of the Underworld Trilogie.

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Loredana Bursch

REVENGE OF THE UNDERWORLD

Der Gefallene

Teil 2

Copyright © 2018 by

Loredana Bursch 1. Auflage, 2018

Impressum: Loredana Bursch Gippenzaun 6 50374 Erftstadt [email protected]

Lektorat: Senta Herrmann Korrektorat: Sabrina Steets Korrektorat Latein: Laricola Buchsatz: Loredana Bursch Illustrationen: Loredana Bursch Cover: Loredana Bursch Bildmaterial: Depositphotos Konvertierung: sabine abels | www.e-book-erstellung.de

ISBN:9783748143451

Alle Rechte, insbesondere der Vervielfältigung und Verbreitung in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dieses Buch widme ich dir, Chiara. Breite deine Flügel aus, denn du kannst sein, wer du willst.

An alle Draufgänger und Machos dieser Welt: Ich weißt, dass ihr einen weichen Kern habt.

An alle, die ihren Seelenverwandten gefunden haben, oder die, die ihn finden werden: Anivarem.

Erstes Kapitel

Nah und doch so fern

Elaine

Irgendetwas musste ich übersehen haben, doch mir fiel nichts ein, was ich falsch gemacht hatte. Die Straßen, Pflanzen und Details passten. Es war definitiv dieser Ort. Vielleicht musste ich die unschöne Wahrheit akzeptieren, mich getäuscht zu haben. Dass meine Halluzinationen relativ waren. Ich musste akzeptieren, dass Cyrian tot war. Er war im Abgrund ums Leben gekommen. Hatte nicht überlebt. Nur weil mein Leben nicht normal war, sondern geprägt von überirdischen Dingen, hieß es nicht, dass auch alle Halluzinationen echt waren. Dass Cyrian auf übernatürliche Weise überlebt hatte, war mein Wunsch. Ein Wunsch, den ich so sehr hegte, dass ich mir selbst etwas vorspielte. Cyrian war zwar tot und für immer fort. Aber er war für die Ewigkeit in meinem Herzen. Und das konnte mir keiner mehr nehmen. Mir lief eine Träne heiß über die pochende Wange. Sofort strich ich mir unters Auge.

»Ich habe mich geirrt«, sagte ich und ging zurück zum Auto.

»Haben Sie nach mir gefragt?«, erklang eine männliche Stimme im Hintergrund, die mich vom Gehen abhielt. Einer inneren Eingebung folgend, drehte ich mich noch einmal um und glaubte meinen Augen nicht zu trauen.

»Du lebst«, flüsterte ich und spürte, wie mir Tränen die Sicht verschleierten. Cyrian stand quicklebendig da und schaute mich genauso sprachlos an wie ich ihn. Es dauerte einen Moment, bis er mich hinter den braunen, lockigen Haaren erkannte. »Elaine?«

Während ich vergaß zu atmen, spürte ich, wie sich ein Kloß in meinem Hals formte. Die Geräusche der Autos und das Gezwitscher der Vögel verstummten, bis ich nur noch ein dumpfes Piepsen hörte. Bevor ich etwas sagen und mich den Gefühlen hingeben konnte, sah ich, wie Janay ihm kreischend in die Arme lief. Sie löste die Umarmung, umschloss seine Wangen mit ihren Händen. »Bei Hera, du lebst!«, stieß sie vor Freude weinend aus.

Daikin nahm meine Hand, wodurch ich innerlich zusammenzuckte. Mit seiner Berührung endete das Piepsen in meinen Ohren und ich begriff, dass das hier echt war.

»Du hattest recht«, gestand Daikin, dessen Blick ich an mir haften spürte.

Wegen meines schmerzenden Halses nicht fähig zu sprechen, nickte ich nur. Mit langsamen Schritten näherte sich mir Cyrian, während Janay mir zulächelte. Ihn nach fast einem Jahr wiederzusehen, versetzte mir einen Schlag und mir wurde schwindlig.

Sanft lächelte er auf mich hinab und suchte sehnsüchtig meinen Blick.

Cyrian schien mein innerliches Zittern zu bemerken und legte seine Finger auf meinen Handrücken. Der Schwindel verschwand und machte Platz für eine seltsame Ansammlung von Emotionen. Da waren Fragen, Freude, aber auch Enttäuschung. Sekundenlang suchte ich in seinen Augen nach einer Erklärung. Nach einer Erklärung, warum er fort gewesen war.

Ich studierte jeden Zentimeter seiner Person. Seine Haare waren kurz geschnitten und die längere Partie am Oberkopf lag ordentlich zurückgekämmt, was ich ihm wohl nie verzeihen würde. Ich hatte sein schulterlanges, leicht gewelltes Haar geliebt.

»Du hast mir gefehlt«, brach er die Stille mit seiner vertraut rauen Stimme.

Weiterhin schweigend blickte ich über seine Schulter hinweg zur Wohngemeinschaft, deren Anblick eine Sehnsucht, aber auch Wut in mir aufsteigen ließ. Die Tränen, die sich erneut in meinen Augen angestaut hatten, flossen über meine Wangen. »Du scheinst dir ein neues Leben aufgebaut zu haben«, sagte ich dunkel und riss meine Hand zurück.

Der Gedanke, dass Cyrian hier in aller Seelenruhe weitergelebt hatte, erzeugte einen stechenden Schmerz in meiner Brustgegend. Mein Atem beschleunigte sich. Ich ballte meine Hände zu Fäusten und presste die Lippen aufeinander.

Cyrians bernsteinfarbene Augen funkelten wie gewohnt golden und treu, aber ich sah, wie er nach einer Erklärung suchte. »Ich stand kurz davor, euch aufzusuchen.«

Abblockend nickte ich und stieß einen genervten Seufzer aus. Ich sah Janay zu uns kommen. Es war besser so. In Momenten wie diesen war es sinnvoller, mir aus dem Weg zu gehen, bevor die Situation eskalieren konnte. Janay legte ihre Hand auf Cyrians Schulter und suchte begütigend meinen Blick. »Cyrian, komm mit uns. Ich will dich nicht hierlassen.«

Seiner Schwester zunickend, wandte er seinen Blick von mir ab. Nachdem Cyrian seine Habseligkeiten geholt hatte und erstaunlich schnell zurück gekommen war, gingen wir zum Auto.

Inzwischen hatte ich mich an mein neues Leben in New York gewöhnt. Kurz nachdem ich Janay im College wiedergesehen hatte, waren Daikin und ich zu ihr in die WG gezogen. Ich mochte ihre beiden Mitbewohner Ryan und Leysa, die ebenfalls hier studierten. Jedoch hätte ich niemals damit gerechnet, dass Janay in einer Wohngemeinschaft aufblühen würde. Aber gerade in New York, wo jede Wohnung überteuert war, bat es die beste Möglichkeit neben dem Campus. Und ich war definitiv nicht der Campus-Typ. Mit Olivia hatte ich es nicht lange ausgehalten. Ständig war ich nach einem anstrengenden Unitag erschöpft auf mein Zimmer gegangen und hatte feststellen müssen, dass sie wieder einen Typen im Bett hatte. Als einer dann sogar in meinem Bett geschlafen hatte, war mein Geduldsfaden endgültig gerissen.

Aber ich war froh, dass es so gekommen war. Was wollte ich mehr? Ich konnte mich nicht darüber beklagen, mit meiner besten Freundin und gleichzeitig mit Daikin zusammenzuleben. Ich schätzte sehr an ihm, dass er für mich mitgekommen war und wollte daher unbeschwert die Zeit mit ihm genießen. Morgens aufstehen, auf seine geschlossenen Lider blicken und wissen, dass ich ihn nie wieder gehen lassen wollte. Jeden Morgen gemeinsam mit meiner besten Freundin zur Uni gehen. Was gab es Schöneres? Jedenfalls wollte ich beide nicht mehr missen und einfach ständig bei ihnen sein. Alles war perfekt, wäre da nicht eines: Cyrian. Mit meiner Vermutung hatte ich recht gehabt. Ich war froh darüber, von der Tatsache abgesehen, dass er meine Gefühlswelt in ein völliges Chaos warf. Sobald ich an ihn dachte, verspürte ich Sehnsucht, Wut und hatte etliche Fragen. Das brachte mich ihm gegenüber auf Distanz. Einerseits war ich sauer, andererseits hatte ich Angst vor der Wahrheit. Vermutlich, weil ich mir ausmalte, wie er sich ohne uns ein komplett neues Leben aufgebaut hatte. Neue Freunde, einen Neustart. Vielleicht sogar eine neue Liebe. In meinem Kopf gingen die merkwürdigsten Dinge vor.

Ich presste die Lippen zusammen, zerknüllte das Papier, während ich am Schreibtisch saß und in den großen Garten blickte. Genervt warf ich es gegen die Scheibe und verschränkte die Arme.

Ein Klopfen an meiner Zimmertür ließ mich zusammenfahren. Ich hörte, wie sich die Tür öffnete. »Elaine?« Die tiefe, wohlbekannte Stimme elektrisierte jeden Zentimeter meiner Haut.

Ich drehte mich langsam um und blickte auf das römische Gesicht. Cyrian.

Es dauerte eine Weile, bis einer von uns zu sprechen begann. Derweil tauschten wir intensive, irgendwie mystische Blicke aus. Ich kochte innerlich.

»Ja?«, sagte ich ernst, einzig zu diesem Wort fähig. Ich stand auf, lehnte mich gegen den Stuhlrücken. Bereit zur Flucht.

Gekleidet in ein weißes Hemd und eine dunkle Jeans, wartete er am Türrahmen, als hätte ich eine unsichtbare Barriere vor seine Füße gelegt. »Es tut mir leid. Alles was ich dir angetan habe, war nicht fair. Aber ich hatte einen Grund.« Seine Augen schimmerten golden wie die Abendsonne auf den Seen im Central Park.

Kritisch studierte ich sein erwachsener gewordenes Gesicht. Ich sah immer noch den jungen Mann, der im Flugzeug gesessen hatte und mich anlächelte, als ob alles gut werden würde. Wäre meine Sturheit nicht so ein großes Hindernis gewesen, hätte ich mich auf der Stelle in seine Arme geschmissen. Aber mich machte diese Ungewissheit verrückt und mein Ego war nun einmal eine Barriere.

»Die ganze Zeit male ich mir in Gedanken aus, warum du fort warst. Weißt du, ich will es gar nicht erst wissen«, kamen die Worte wie von selbst über meine Lippen. Ich war den Tränen nahe und mein Hals schmerzte vor Enttäuschung. In meinem Kopf schwirrten die absurdesten und ebenso traurigsten Vorstellungen. Mit aller Mühe verkniff ich es mir, zu weinen. Ich wollte stärker und erwachsener wirken. Nicht jedes Mal wollte ich in seiner Gegenwart die Beherrschung verlieren.

»Janay hat mir erzählt, dass du sie alle gerettet hast.« Cyrian überquerte nun die unsichtbare Barriere und schloss die Tür hinter sich.

Die Worte fehlten mir, weshalb ich bejahend nickte.

»Und du bist eine Halbgöttin. Du bist ein Empath, richtig?« Er lächelte sanft und ehrlich, wie er es immer getan hatte.

»Ist schon verrückt, ich bin eine halbe Außerirdische«, witzelte ich, darum bemüht, mich zu öffnen.

Als wäre ein Schalter umgelegt worden, wirkte Cyrian auf einmal ernster. Er näherte sich mir ein ganzes Stück, bis er mir dicht vor mir stand und ich seinen warmen Atem auf meiner Haut spürte. Wollte er mich etwa küssen? Mein Herz hämmerte mir warnend gegen die Brust. Cyrian wusste doch, dass ich mit Daikin zusammen war. Doch er rührte sich nicht, sondern sah eindringlich auf mich hinab. »Ich glaube nicht, dass Worte alleine reichen. Darf ich es dir zeigen? Den Grund meines Verschwindens?«

Meine Lippen öffneten sich vor Erstaunen, während ich die elektrische Luft zwischen uns spürte. Ich hatte beinahe vergessen, wie sich seine Gegenwart anfühlte. Ich hörte nichts als seine Stimme und meinen hektischen Herzschlag.

»Okay«, flüsterte ich vollkommen von seiner Aura ergriffen. In seiner Gegenwart schien es, als hätte er mir den kompletten Wortschatz gestohlen oder als würden die Momente in Zeitlupe an mir vorbeiziehen.

Schweigend hob ich meine Hände, in die er nun seine rauen Finger legte. Eine Gänsehaut durchflutete meinen Körper, wodurch sich meine Nackenhaare aufstellten und ich das erdrückende Bedürfnis hatte, mich ihm hinzugeben. Meine Augen schlossen sich dabei wie von selbst.

»Bis zu jenem Tag in Schottland«, sagte er beruhigend und ich öffnete wieder meine Augen. Ich erhaschte mir einen Blick in die seine, was für mich das Aus bedeutete. Ich wollte ihn, hier und jetzt. Innerlich den Kopf schüttelnd, beschimpfte ich mich und predigte mir selbst: Er ist ein Arschloch, Elaine. Lieg ihm nicht zu Füßen. Du weißt nicht, warum er das getan hat.

Schluckend nickte ich meinem zweiten Ich zu. Eigentlich wollte ich diese Erinnerung nie wieder aufrufen, doch was tat man nicht alles, um der Wahrheit näher zu kommen?

»Es wird sich für dich etwas unangenehm anfühlen. Wehr dich einfach nicht und lass es zu.« Hoffentlich ist es ihm unangenehm, dachte ich schadenfroh.

Ein sanftes Lächeln zog sich über seine schwungvollen Lippen. Wir setzten uns auf meinen Bettrand. Als unsere Blicke einander fesselten, schloss ich die Augen.

Inzwischen war ich trainierter in meiner Fähigkeit, der Janay den Begriff ›Tiefsehen‹ gegeben hatte. Daher war es nicht allzu mühsam, mich durch die einzelnen Erinnerungsebenen zu schlagen. Wie vermutet fiel es Cyrian nicht schwer, mir seine Erinnerungen zu offenbaren. Ich spürte einzig, wie er sich etwas versteifte. Dann, am Tag in Schottland auf der Isle of Skye, hielt ich schwermütig in Cyrians Erinnerung an:

»Elaine lauf weg!«, presste ich fast ohne Stimme diese Worte heraus. Aber Elaine lag benommen auf dem Boden, während Hades mich noch höher hievte. Ich wollte sie dazu bringen, zu verschwinden, doch aufgrund seines festen Griffes stockte mir der Atem. Ich hoffte so sehr, dass sie fortrennen würde. Aber sie regte sich nicht.

»Du Narr!« Mit den Worten holte Hades Schwung und warf mich in die Schlucht. Ich hatte Elaine nicht beschützt, sie zurückgelassen und ein Versprechen gebrochen.

Fast verlor ich die Verbindung zu Cyrian. Diesen Augenblick nochmals durchleben zu müssen, erzeugte stechende Gefühle in meiner Brustgegend. Ich fühlte, wie Cyrian meine Hände streichelte und konzentrierte mich wieder auf seine Erinnerung.

Elaines verzweifelte Schreie waren das Letzte, was ich hörte. Vor mir lag die unendliche Tiefe. Der Moment, in dem ich fiel, schien mir ewig zu dauern. Plötzlich spürte ich ein unangenehmes Rütteln, dann einen festen Hieb von der Seite, als hätte jemand einen riesigen Baumstamm gegen mich geschleudert. Benommen schlug ich mit der Schulter auf rauen Gesteinsboden auf. Beim Aufprall stieß ich mir in der fast lichtlosen Höhle den Kopf am Geröll. Hüstelnd windete ich mich, spürte am ganzen Körper einen enorm stechenden und ziehenden Schmerz. Mit letzter Kraft schaffte ich es, bei Bewusstsein zu bleiben. Eine dunkelhaarige Frau, die mich in diese Höhle geschleudert haben musste und mir somit das Leben gerettet hatte, ragte über mir auf. Ihre Lippen formten Worte, die nicht zu mir durchdrangen, doch als ihr Erscheinungsbild immer mehr verschwamm, fielen mir die Augen zu.

Grelles Tageslicht weckte mich und brannte wie Feuer auf meiner Haut. Nur schwer hoben sich meine Lider. Der Raum, in dem ich lag, war ein einfaches, blendend weiß gestaltetes Zimmer. Es war ein befremdliches Gefühl, in einem Bett an einem fremden Ort zu liegen. Die Sonnenstrahlen waren so hell, sodass ich nur blinzeln konnte.

Beim Aufrichten entdeckte ich neben mir ein Tablett mit Orangensaft, Wasser und einigen Tabletten. Auch frisch belegtes Toastbrot lag daneben.

Reflexartig ertastete ich meinen Körper und sah am anderen Ende des Raumes meine Kleidung und die Waffen, die ich zuletzt getragen hatte. Sofort dachte ich an Elaine zurück und daran, dass Hades mich eigentlich von der Klippe geworfen hatte. Bevor ich aufstehen und von hier verschwinden konnte, trat eine junge Frau hinein. Sie schloss die Zimmertür hinter sich. Innehaltend blickte ich auf die braun gewellten Haare und die dazu passend dunkel geschminkten Augen. Wegen des grellen Sonnenlichts konnte ich keine Einzelheiten erkennen, aber ich vermutete, dass es die Frau war, die mich gerettet hatte.

»Wo bin ich? Und wer sind Sie?« Meine Stimme klang erschreckend fremd, mitgenommen und rau.

Die Unbekannte lehnte sich gegen den Türrahmen, während ich das Gefühl hatte, dass sie mich neutral betrachtete. »In Sicherheit«, erklang ihre attraktive Stimme im ernsten Ton.

»Ich muss sofort gehen.« Beim Versuch, mich komplett aufzurichten, fasste ich mir mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Stirn. Mein Kopf dröhnte grauenvoll, als wolle er mich für meine Überheblichkeit bestrafen. Neben dem Verband an meiner Stirn bemerkte ich erst jetzt die vielen Schläuche an meinen Handgelenken.

»Das würde ich an deiner Stelle sein lassen. Du hattest eine starke Verletzung am Hinterkopf und warst über einen sehr langen Zeitraum im Koma. Du kannst von Glück sprechen, dass du noch lebst.«

Ich verstand den Zusammenhang nicht. Wer war diese Frau? Und wie kam ich von der Klippe hierher? Wo war Elaine? »Wie lange war ich fort und warum haben Sie mich gerettet? Und wie?« Meine Erinnerungen glichen einem schwarzen Raum, der sich langsam lichtete.

»Ich weiß. Mein Name ist Lilith und ich habe Elaine ein wenig unter die Arme gegriffen. Es gibt keinen Grund zur Sorge. Es geht ihr bestens. Genau wie Janay und deinem Vater. Alle sind wohlauf.«

Trotz der Schmerzen richtete ich mich jetzt auf. Ich war mehr als verwirrt, denn ihre Worte warfen nur weitere Fragen auf.

Unnatürlich schnell kam Lilith zu mir herüber und hielt mir die flache Hand gegen die Brust, was mich veranlasste, liegen zu bleiben. »Du bist hier sicher. Ruh dich aus, komm wieder zu Kräften und danach kannst du gehen.«

Irritiert schüttelte ich den Kopf. »Warum haben Sie mich gerettet und Elaine geholfen?«

In ihren geradlinigen Augen glitzerte eine Antwort, die sie jedoch nicht aussprach und die ich nicht zu deuten vermochte. »Sagen wir es mal so: Hades’ Vorhaben zu unterstützen, wäre nicht richtig gewesen. Ich konnte nicht zulassen, dass die Erde zerstört wird.«

Obwohl ich mir keinen Reim darauf machen konnte, schwieg ich. Dass sie uns gerettet hatte, war Grund genug, um ihr dankbar zu sein. Auf ewig dankbar zu sein. »Wie kann ich mich bei Ihnen bedanken?« Ich wusste genau, dass es nichts gab, was ihrem Handeln gleichkäme.

Lilith lächelte gütig, schüttelte den Kopf und beugte sich zu mir herab, als würde sie mir ein großes Geheimnis anvertrauen wollen. In ihren Augen schwang Besorgnis. »Cyrian, ihr seid die letzte Hoffnung. Ihr dürft niemals aufgeben.«

Über ihre Worte nachdenkend, senkte ich meine Augenbrauen. »Woher wissen Sie all das? Wieso können Sie mir nicht erklären, was es mit all dem auf sich hat?«

Lilith biss auf ihre rötlich geschminkten Lippen. Das Zucken ihrer Augen verriet mir, dass sie weiterhin verschwiegen blieb. »Irgendwann werdet ihr es verstehen können. Der richtige Zeitpunkt wird kommen.« Um weitere Fragen zu unterbinden, wandte sie sich von mir ab und holte etwas vom Nachttisch. Sie reichte mir die darauf liegenden Tabletten sowie den Saft. »Ich werde jetzt gehen. Im Haus wirst du auf Liraa und Erebos treffen. Sie sind verfluchte Patonier.«

»Verfluchte Pa-?«

»Urteile nicht«, unterbrach sie mich mit eindringlichem Blick. Ihre weiche Stimme hatte plötzlich einen strengen Ton. »Ich bin ebenso verflucht. Im Olymp geht es nicht mit rechten Dingen zu. Verfluchte Patonier sind meistens gegen Zeus’ Macht. Er hat unrealistische und gefährliche Ziele. Die Verfluchten stellen für euch Menschen keine Gefahr dar. Du kannst Liraa und Erebos vertrauen. Sie sind nur etwas eigen. Ihr müsst wieder lernen, zu vertrauen.«

Da ich sah, dass ihr dieses Thema naheging, entschied ich mich, zu schweigen. Einzig mit einem Nicken deutete ich ihr, dass ich verstanden hatte. Warum Lilith uns half, blieb mir weiterhin ein Rätsel.

Sie wandte sich zum Gehen. Gesellschaft schien nicht ihr Fall zu sein. »Hier lebt auch ein junger Mann. Er ist ein Mensch und weiß über uns Bescheid. Er ist ein Freund von Liraa und Erebos. Nur, damit du dich nicht wunderst.«

Sie wollte gerade den Raum verlassen, als ich meine Sprache wiederfand. »Danke, Lilith. Wir werden niemals aufgeben. Das verspreche ich dir«, versicherte ich freundlich, weil ich spürte, wie wichtig ihr all das war. Als wäre es ihr einziger Wunsch, dass wir nicht scheiterten. Um was auch immer es gehen mochte. Es war ein seltsames Gefühl, jemandem ein Versprechen zu geben, dessen Inhalt man nicht kannte.

Ein kaum sichtbares Lächeln zog sich über ihr liebliches Gesicht. »Behaltet den Himmel im Auge.« Dann verließ sie den tristen Raum.

Mit neuer Erkenntnis öffnete ich meine Augen. Ich atmete tief durch. Behaltet den Himmel im Auge, gingen mir Liliths Worte durch den Kopf.

»Das war der Grund. Ich lag monatelang im Koma. Als ich wieder auf den Füßen war, stellte ich fest, dass ich in Amerika war. Dann habe ich die Patonier Liraa und Erebos kennengelernt. Sie haben mir auch nicht viel über Lilith erzählen können. Sie scheint ein richtiges Mysterium zu sein. Ich versuchte, herauszufinden, was ihre Worte zu bedeuten hatten. Aber es gibt nichts, das ihre Worte behaltet den Himmel im Auge erklären konnte. Es könnte eine Metapher oder auf realer Ebene gemeint sein. Ich kam zu keinem wirklichen Schluss, außer, dass die Patonier etwas im Schilde führen müssen.«

»Du denkst, es wird einen weiteren Aufstand geben?«, platzte es aus mir heraus. Beunruhigt über seine Worte, stand ich auf und fasste mir an die Stirn. Allein der Gedanke an einen weiteren Aufstand bereitete mir Unwohlsein und Angst.

Cyrian nickte aufmerksam. Er erhob sich ebenfalls und legte seine Hand auf meine Schulter, was mich verdutzt schlucken ließ.

»So klang es jedenfalls für mich. Wir müssen ihr vertrauen und dürfen ihre Worte und Taten nicht vergessen.«

Wenn Cyrian das sagte, musste etwas dran sein. Langsam kam Licht ins Dunkel, denn Cyrian hatte selbst eine sehr schwierige Zeit durchlebt. Ich hob den Kopf, um in seine vertrauten Augen zu schauen, ehe ich mich in seine Arme schmiegte. Es gab keinen Grund mehr, sauer auf ihn zu sein, denn sein Verschwinden ergab für mich Sinn. »Ich bin so glücklich, dass du lebst.«

Cyrian legte seine Hand auf meinen Rücken und schaute zu mir hinab. Unsere Blicke suchten einander sehnsüchtig. Mein Magen zog sich beklommen zusammen.

Ich lächelte bedrückt. »Dieses Mal teilen wir uns nicht in zwei Gruppen auf.«

»Nie wieder. Versprochen.«

Ich schloss die Augen und mich durchfuhr eine Gänsehaut, als ich seine Hand über meinen Rücken streicheln spürte.

»Du musst eine schlimme Zeit durchleben haben.«

Seinen frischen Duft einatmend, nickte ich, während ich mich an seine Schulter schmiegte. »Unbeschreiblich. Aber das spielt keine Rolle mehr. Außerdem muss es für dich auch schlimm gewesen sein. Ich stelle es mir sehr verstörend vor, aufzustehen und zu realisieren, dass man fast ein Jahr lang im Koma lag.«

Ich spürte, wie er grinste. »Wie hast du mich gefunden?«

»Ich hatte so etwas wie eine Vision«, erklärte ich zu ihm hinaufschauend und verlor mich in seinen bernsteinfarbenen Augen. Bisher hatte ich noch nie die feinen Sommersprossen auf seiner Nasenpartie bemerkt. Sie waren so blass, dass ich sie auch nur aus dieser Nähe erkennen konnte.

»Du hast mir gefehlt, Cyrian.«

»Und du mir«, flüsterte er. »Gibt es etwas, das ich noch wissen sollte?«

Mir wich die Farbe aus dem Gesicht und ich musste schlucken, denn mein erster Gedanke galt Carey.

»Du musst nicht-«

»Schon gut«, besänftigte ich. Es war, als würde er mich blind verstehen. Oder es lag einfach nur daran, dass meine Augen feucht wurden? »Hades … Carey … Sie ist nicht mehr da«, suchte ich nach der richtigen Ausdrucksweise, ohne die Worte tot oder ermordet erwähnen zu müssen. Ich senkte den Blick, obwohl ich mir sicher war, dass Cyrian meine Trauer bereits erkannt hatte.

Er legte seine schlanken Finger unter mein Kinn und hob meinen Kopf. »Mein Beileid. Sie war eine sehr besondere junge Frau. Aber ich bin mir sicher, dass sie für dich dort oben lächelt, weil sie jetzt an einem Ort ist, an dem es keine Schmerzen mehr gibt. Sie würde nicht wollen, dass du dir dafür die Schuld gibst.«

Eine Träne bahnte sich einen Weg über meine Wange. »Danke«, hauchte ich.

Cyrians Daumen strich die Träne fort und legte mir eine ins Gesicht fallende Strähne hinters Ohr. Einen weichen Kuss auf meine Schläfe legend, flüsterte er: »Braunes Haar und grüne Augen.«

Ich schloss die Augen und schluckte, während mein Atem unregelmäßiger und tiefer wurde.

Zögerlich entfernte sich Cyrian von meinem Gesicht. Er schenkte mir ein vertrautes, ehrliches Lächeln, das ich ewig vermisst hatte.

»Bin auch kein großer Fan davon«, flüsterte ich beinahe. Was auch immer Cyrian mit mir anstellte, ich verstand es nicht. Ich verstand nicht, welche Magie er besaß, die mich verzauberte.

Er wandte den Blick nicht ab und schüttelte den Kopf. »Du bist immer noch du.«

Zweites Kapitel

Unsichtbare Narben

Janay

Ein himmlischer Duft erfüllte den großen Raum der Unikantine, während ich mit Elaine an einem der Tische saß. Vor dem Panoramafenster erstreckte sich eine weite Wiese mit plätscherndem Brunnen, die für New Yorker Verhältnisse eine Seltenheit war. New York war ganz anders als England und erst recht als meine alte Heimat St. Mary, in der es nichts Anderes als Land und Vieh gab. Für mich war es ein kultureller Schock gewesen. Inzwischen hatte ich mich allerdings eingewöhnt. Für Elaine war es eine nicht ganz so große Veränderung. Sie erinnerte es wohl an London, war die stark befahrenen Straßen und das laute Drumherum gewohnt. Ich hingegen war einfach nur heilfroh, wenn ich lebend über die Straße kam. Die New Yorker fuhren wie die Wahnsinnigen. Alles in allem mochte ich aber diese Umstellung. Es tat gut, nach langem ein normales Leben führen zu können, sich wieder wie eine junge Erwachsene zu fühlen. Ich wollte weder meine Kampffähigkeiten weiter ausbauen, noch gegen Dämonen kämpfen. Klar schätzte ich die Zeit, in der mein Vater meinen Bruder und mich ausgebildet hatte. Aber vermissen tat ich sie keineswegs. Im Moment war mir nur eines wichtig: meinen Bachelor in Ballett erfolgreich zu absolvieren. Und mit dem Teilstipendium, das ich mir hart erkämpft hatte, konnte der Neuanfang nicht besser werden. Wäre da nicht das Ereignis zwischen meinem Bruder und Lilith gewesen. Alles sprach dafür, dass es einen weiteren Aufstand geben würde. Also musste ich in Betracht ziehen, dass es dazu kommen könnte. Ob ich wollte oder nicht. Meine misstrauische Seite beharrte bereits darauf, dass es eintreten würde.

Das Klingeln von Elaines Handy riss mich aus dem Gedankenwirrwarr. Blinzelnd hob ich meinen Kopf, den ich auf die Fäuste meiner aufgestellten Armen gelegt hatte.

»Hallo Mr. Coleman«, nahm Elaine den Anruf freundlich entgegen. Derweil betrachtete ich ihre braune Lockenpracht, die in den letzten Monaten noch länger geworden war. »Aber natürlich. Wir haben um fünfzehn Uhr Unischluss und könnten um sechzehn Uhr bei Ihnen sein«, erklärte sie lächelnd. »Auf Wiedersehen Mr. Coleman.«

»Was gibt's?«, erkundigte ich mich.

Mr. Coleman besaß eine altmodische, atemberaubende Bibliothek, in der Elaine und ich einmal in der Woche arbeiteten. Jedes Mal musste ich mich zusammenzureißen, nicht nur auf Entdeckungstour zu gehen, sondern mich der Arbeit zu widmen. Bücher über Mythologien, Magie und Symbolik, sofern sie alt waren, zogen mich in ihren Bann.

Elaine nickte und schob sich das Handy in die Hosentasche ihrer dunklen Jeans. »Er hat gefragt, ob es bei Donnerstag bleibt.«

»Ah okay.« Ich nahm einen Bissen meines Donuts. »Habe ich dir eigentlich gesagt, dass du unglaublich bist?«, fragte ich mit vollem Mund und lächelte sie begeistert an.

Mit fragendem Blick hob Elaine eine Augenbraue. »Ich kann dir nicht folgen.«

Kopfschüttelnd lehnte ich mich über den runden Tisch und schluckte den letzten Bissen hinunter. »Du. Hast. Cyrian. Gefunden. Klingelt’s?«

Sie verdrehte die Augen, dennoch erkannte ich da ein winziges Lächeln im Mundwinkel.

»Es ist wie das größte Geschenk auf Erden. Mein Vater ist in Tränen ausgebrochen, wobei er nie, wirklich nie, sensibel ist.«

Ihr Blick verriet mir, dass sie geschmeichelt war, während sie die Blätter ihres Collegeblocks rollte, der vor ihr auf dem Tisch lag. »Es ist angenehm, wenn eine meiner Halluzinationen mal etwas Schönes zeigt.«

»Für mich sind es eher Einblicke in die Zukunft oder das Schicksal. Du hast wertvolle Gaben.«

»Schön, dass du das so siehst.«

Ich schüttelte den Kopf und rollte die Augen wegen Elaines Sturheit, ehe ich mich in die Stuhllehne sinken ließ und meinen Schokomilkshake schlürfte.

»Cyrian hat mir seine Erinnerung gezeigt«, sagte Elaine etwas verklemmt und schlug ein Bein übers andere. Lob oder Themen, die in Richtung Götter und ihre Fähigkeiten gingen, waren Elaine immer unangenehm. Es war nicht das erste Mal, dass sie mit einem Themenwechsel die Flucht ergriff.

»Du verstehst ihn jetzt also?«, fragte ich konzentrierter. Cyrian hatte mir bereits alles erzählt. Ich wusste, dass Lilith ihn gerettet und er im Koma gelegen hatte. Aber es gab bestimmt noch einige wichtige Details, die Elaine in seiner Erinnerung erlebt hatte.

»Lilith hat ihm etwas gesagt, bevor sie verschwunden ist. Mich lassen diese Worte nicht mehr los.«

Nun wissend, dass mein Bruder mir etwas vorenthalten hatte, senkte ich die Brauen. »Was hat sie gesagt? Cyrian hat mir nur mitgeteilt, dass es nicht zu Ende sei und es einen weiteren Aufstand geben würde.«

»Es zu zeigen ist auch leichter und man kann nichts vergessen«, erinnerte sie mich. »Jedenfalls waren Liliths Worte: Behalte den Himmel im Auge. Sie sagte auch, dass wir die letzte Hoffnung seien und dass es nicht zu Ende wäre. Sie klang wirklich sehr besorgt.«

Eine blonde Strähne, die mir vor ein Auge gefallen war, warf ich achtlos nach hinten. »Das klingt in der Tat nicht gut.«

Plötzlich interessierter lehnte Elaine sich über den kleinen Tisch. »Was denkst du darüber?«

Ich schlug ein Bein über das andere und presste die Luft aus meinen Wangen. »Ich hoffe, es gibt nicht einen erneuten Aufstand. Aber Hades wird so schnell nicht mehr auf die Beine kommen. Er wird an dem Geschehenen noch eine Weile zu knabbern haben.«

Elaine war immer noch mit den Blättern ihres Collegeblocks zugange. Eine typische Geste, die mich wissen ließ, dass sie nervös war. »Wieso nicht? Wäre es nicht trotzdem möglich? Diesem Mistkerl traue ich alles zu«, murmelte sie die letzten Worte voller Verachtung.

»Hades’ Ziel war es, auf die Erde zu kommen. Jetzt, wo er daran gescheitert ist, weiß jeder Bescheid. Und die Mittel, die ihm zur Verfügung stehen, sind mehr als dürftig. Außerdem hast du ihm ganz schön den Hintern versohlt«, kicherte ich, um den angespannten Gedanken zu entfliehen.

Elaine grummelte. »Aber was meint Lilith?«

»Vieles ist daraus zu schließen. Wer weiß, vielleicht kommt Zeus auf einem Mutterschiff runter und wirft ein paar seiner Blitze.« Ich lachte lauter als zuvor bei diesem Gedanken.

»Du bist so albern. Eindeutige Überzuckerung.«

Ich kicherte erneut und nahm den letzten Donut in Angriff.

»Denkst du wirklich«, setzte Elaine kurz aus, als ein paar Mitstudenten an uns vorbeigingen, um zum Kurs zurückzukehren, »die Patonier kommen auf die Erde?«

Ungläubig schüttelte ich den Kopf und betrachtete das schokolierte Gebäck, als wäre es ein reinstes Kunstwerk. »Was gäbe es für einen Grund? Keinen. Sie wollen nichts von der Erde oder den Menschen. Sie haben ihren eigenen Planeten und halfen uns Menschen in der Frühzeit. Damit sind sie fertig. Der Mensch hat sein Handwerk gelernt.«

Elaine fuhr sich erschöpft durchs Haar und rieb sich über die angestrengte Stirn. »Lilith hat Cyrian gesagt, dass die Verfluchten nicht immer böse seien. Sie würden sich von Zeus abwenden, weil er dunkle Pläne schmiede. Denkst du nicht, dass er etwas im Schilde führt?«

Ich schob meinen Teller beiseite und legte meine Arme auf dem Tisch ab. »Ich will es nicht glauben. Aber es könnte sein. Bleibt nur eine Frage: Was würden die Patonier von uns wollen? Sie sind uns in allem überlegen. Technik, Wissen und sogar der Unsterblichkeit. Zeus scheint alles zu besitzen. Einen eigenen Planeten. Was würde ihm da fehlen? Es ergibt doch überhaupt keinen Sinn.«

Elaine verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf. »Ich weiß auch nicht. Ich grüble nur so viel.«

»Ist verständlich nach den Worten von Lilith. Hoffen wir mal, dass wir es herausfinden, bevor die Gefahr hier ist.« Ich warf ihr ein Lächeln zu, konnte aber nicht verleugnen, dass mich das Ungewisse nicht mindestens genauso verunsicherte.

Meine Dozentin, Mrs. Baldwin, war die Königin des Balletts. Sie schwang und tanzte wahrhaftig wie ein Schwan, der durch die Lüfte glitt. Zum Beneiden fantastisch.

Reih in Reih standen meine Mitstudenten und ich an der Übungsstange vor der gigantischen Spiegelwand. Es war ein absolutes Muss im Ballett, hautenge Strumpfhosen sowie Ballettschuhe zu tragen. Tat dies nur einmal jemand nicht, gab die sonst sehr freundliche Mrs. Baldwin auch mal eine Verwarnung. Ich nahm es ihr nicht übel, denn diese Frau lebte und liebte das Ballett. Insgeheim hoffte ich, eines Tages so gut wie sie zu werden.

»Hannah, zeigen Sie mir die ›Glissade‹«, ordnete Mrs. Baldwin erwartungsvoll der brünetten jungen Frau an, die zaghaft in den Vordergrund trat. Trotz des nervösen Gesichtsausdrucks sprang Hannah federleicht gleitend durch den Raum.

»Nicht schlecht. Aber mir scheint es, als wüssten Sie nicht, was eine ›Glissade‹ ist. Wer weiß es?«, fragte unsere Dozentin, deren Haare zu einem hohen Dutt gesteckt waren, in die Runde. Mit leichtfüßigen Bewegungen ging die hochgewachsene Mrs. Baldwin lautlos an jedem Studenten vorbei, wobei Hannah enttäuscht zurücktrat. Auf ihre Frage hin meldeten sich einige Studenten mit hochgerissenen Armen, in der Hoffnung, aufgerufen zu werden. Ich gehörte zu denen, die sich eher dezent meldeten.

»Janay, bitte«, hörte ich sie meinen Namen nennen, sodass ich automatisch nach vorne trat. Angespannt nahm ich die Anfangsposition ein und stellte mich auf die Zehenspitzen. Obwohl es alltäglich war, in Ballett inmitten eines Raums zu stehen, empfand ich es in diesem Augenblick als etwas unangenehm. In Gedanken war ich immer noch bei Elaine und den Worten von Lilith. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen und vielleicht begründete das meine Anspannung.

Konzentrierter versuchte ich, mich zu entspannen und begann das Parkett entlang zu gleiten. Bei jedem Schritt umtanzten meine Füße einander, schoben sich abwechselnd vor den anderen, während ich sanft über den Boden schritt. Als ich das kurze Stück beendete, schaute ich angespannt zu Mrs. Baldwin. Ihr stets aufmerksamer Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert und sie wirkte immer noch ernst. »Beeindruckend. Jetzt zeigen Sie mir bitte einen ›Adagio mit Attitude‹.«

Einen kurzen Moment verschnaufte ich. Mir war klar, dass auf mir eine große Last wegen des Teilstipendiums lag.

Den gedanklichen Druck beiseiteschiebend, führte ich lautlose Tanzbewegungen aus. Auf einem Bein stehend, drehte mich dabei wie von allein, bis ich wieder eine aufrechte Haltung einnahm. Dies wiederholte ich ein weiteres Mal, diesmal mit dem anderen Bein, und schloss den ›Adagio Attitude‹ bemüht kunstvoll ab.

Mrs. Baldwin warf mir ein vielsagendes Nicken zu, ehe sie sich meinen Mitstudenten zuwandte. »Jetzt, wo jeder weiß, was eine ›Glissade‹ ist, ist der Kurs für heute beendet. Merken Sie sich das für die nächste Stunde und üben Sie dieses Kunststück.«

Lautlos folgte ich den Anderen auf dem Weg zur Umkleide, bis ich Mrs. Baldwin meinen Namen rufen hörte.

Der freundlichen Stimme folgend, machte ich auf dem Absatz kehrt und blickte in ihr schmales, mit zarten Fältchen gezeichnetes Gesicht. »Ja, Mrs. Baldwin?«

»Ich bin sehr beeindruckt von Ihnen. Ich weiß, dass das Teilstipendium im Ballett Druck auf Sie ausübt. Aber machen Sie sich nicht mehr Stress dadurch.«

»Natürlich nicht«, stimmte ich freundlich zu.

Mrs. Baldwins Blick musterte mich kurz. »Wie lange tanzen sie schon?«

So vergesslich wie ich war, dachte ich lieber einen Moment länger nach, bevor ich ihr eine falsche Jahreszahl angab. »Seit ich drei war. Fünfzehn Jahre also.«

Beeindruckt nickte Mrs. Baldwin. »Das ist sehr gut, denn man sieht es sofort an ihrer Körperhaltung. Auch an der Art, wie sie sich bewegen. Machen Sie weiter so.«

Dankbar über ihre lobenden Worte, nickte ich geschmeichelt. Ich konnte spüren, wie Hitze meine Wangen hinaufkroch.

»Oh je, meinetwegen schlagen Sie noch Wurzeln. Gehen Sie und ziehen Sie sich um. Mrs. Parker hält mir sonst eine Standpauke, wenn ich vergesse, ihr das Theoriebuch zurückzugeben«, sagte sie herzlichst, als sie sie von mir abwandte.

Ich nickte. »Natürlich. Hat mich gefreut.«

Mrs. Parker, unsere Dozentin in Sport als Prävention, konnte richtig biestig werden. Der Kurs an sich war schon anstrengend, aber durch Mrs. Parkers schwierigen Charakter konnte dieser schnell unerträglich werden.

Drittes Kapitel

Fragen um Fragen

»Wenn der Körper kraftlos erscheint, heißt es jedoch nicht, dass die Seele keine Kraft mehr hat! Es hat alles mit unserem Gehirn zu tun. Der Mensch ist so viel stärker als angenommen. Theorien bestätigen dies!«

Mr. Graham. Unser wahrhaftig gruseligster Dozent der Jennings Universität. Wir bekamen ihn regelmäßig in Motorikwissenschaft zu Gesicht. Obwohl dieser Kurs schon öde an sich war, wurde er durch Mr. Graham noch abgedrehter.

»Sein Blutdruck tut mir wirklich leid. Er erreicht bestimmt ständig die Obergrenze«, witzelte ich und Elaine unterdrückte ein Lachen.

»Und die Theorien bestätigen dies«, ahmte Elaine unseren Dozent mit verstellter Stimme nach. Ich musste ebenfalls lachen, wobei Mr. Graham zu mir herüber sah. »Janay, was ist an dieser Theorie so lustig?« Er wirkte fast beleidigt, fixierte mich dabei mit einem ›Sie werden hier nie wieder lebend rauskommen‹-Blick. Oh je, ich musste mir eingestehen, dass ich mich wegen Elaine in solchen Situationen wieder wie zwölf fühlte. Für einen Moment war meine Welt unbeschwerter denn je und ich sah das Leben mit Humor und voller Späße. Bis ich dann wieder im Hier und Jetzt ankam.

»Gar nichts. Ich lache nur, weil … weil sie recht haben. So habe ich es noch nie betrachtet.«

Neben mir hörte ich Elaine sich ein weiteres Lachen verkneifen. Vermutlich steckte sie gerade ebenfalls in dem Körper einer Zwölfjährigen.

Mit kritischem Blick widmete sich der Dozent wieder seiner Theorie. Es folgten langatmige Texte, die er sich von der Seele redete. Er fuchtelte dabei herum, als würde er jeden Moment in dem Quatsch ertrinken, den er von sich gab. Meine Güte, er war nicht Feuer und Flamme. Dieser Mann war ein Waldbrand in Person.

»Ich habe gestern mit Daikin geredet. Er ist der festen Überzeugung, dass ich Ares rufen soll«, begann Elaine plötzlich leise.

Verblüfft darüber, dass sie dieses Thema von selbst begann, suchte ich ihren Blick. Tatsache war, dass Elaine ihre patonische Kette immer noch nicht trug.

»Diese Meinung teile ich mit ihm«, brachte ich vertieft heraus, während ich zum wahnsinnig gewordenen Mr. Graham sah. Er war jetzt schon so weit, dass er die Arme des menschlichen Skelettmodells dermaßen stark bewegte, dass es jeden Moment zusammen zu fallen drohte.

»Ich weiß, dass du es nur gut meinst, Janay«, flüsterte Elaine, die das Geschehen des Dozenten gar nicht bemerkte, sondern ungeduldig mit dem Bein wippte. »Aber ich möchte die Kette ungern tragen. Irgendwie kann ich es nicht. Es ist wie … eine innere Blockade.«

Ich wandte entgeistert den Blick vom Dozenten ab. »Das mit der Kette verstehe ich ja. Du hast eine Abneigung. Aber sie ist nicht nur irgendeine Symbolik. Sie könnte dir helfen, mit deinen Kräften umzugehen. Eine andere Frage: Willst du Ares auf ewig abschieben?«, tuschelte ich.

Elaine brummte vor sich hin, während sie zur Tafel schaute, an der Mr. Graham unlesbar Kursivsätze niederschrieb. Der Mann war vollkommen irre.

»Ich will nicht mit ihm reden. Er ist mir so … fremd.«

Mein Kopf fühlte sich zu schwer an, also stützte ich ihn auf meinen aufgestellten Arm. »Das versteh ich auch. Du hast Angst, mit ihm zu reden. Denk nochmal drüber nach. Schließlich hat er eine Chance verdient. Er ist dein leiblicher Vater. Vergiss das nicht, Elaine.«

»Ich wünschte Dad … Ash, wäre mein Vater«, verbesserte sie sich und mir tat es in der Seele weh, wie sie den, der sie aufgezogen hatte, jetzt Ash nannte. Es musste sie sehr belasten.

»Wie gesagt, trag die Kette«, riet ich ihr, während Mr. Graham die Kreide auf sein Pult schmiss. Sie rollte zu Boden. »Das Gehirn ist der Schlüssel unseres Körpers. Das Wichtigste überhaupt! Es steuert unsere Sinne und Bewegungen und sogar unsere Sprache. Einfach alles!«

Ah, jetzt identifizierte ich das Gekritzel an der Tafel als Gehirn. Ich hob die Hand.

»Bitte Janay«, winkte er hastig und wartete mit stechendem Blick in den Augen ungeduldig auf meine Frage.

»Gibt es nicht mehrere Organe, die wichtig sind? Ich meine, sie alle zusammen unterstützen einander, sodass keines davon als wichtigstes Or-«

»Falsch!«, schrie er mit aufgerissenen Augen, wobei ich leicht erschrak. Um Himmels Willen …

Er legte seine Hand auf den Mund, als hätte ich ein Schimpfwort ausgesprochen.

»Das Herz hält uns zwar am Leben, doch es funktioniert nur durch das Gehirn, denn es ist die Zentrale. Das Gehirn steuert alle lebenswichtigen Körperfunktionen des Nervensystems. Verstehen Sie es jetzt? Können Sie mir folgen?« Die Frage galt allen Studenten. Als keine Reaktion kam, kritzelte er weitere Organe an die Tafel. Nur anhand der Aufteilung hätte ich diese zuordnen können. Sein Gezeichnetes ähnelte dem eines dreijährigen Kindes. Das war aber ein typisches Merkmal von Mr. Graham. Er war wie besessen von der Motorikwissenschaft.

Als ich zusammen mit Elaine zu Hause ankam, empfing Daikin sie mit einem innigen Kuss. Die beiden begrüßten sich jedes Mal, als hätten sie sich tagelang nicht gesehen. Grinsend schob ich mich an den Turteltauben vorbei und warf den Rucksack an den Garderobenhaken. Volltreffer!

»Na ihr zwei. Alles klar?«, fragte meine Mitbewohnerin Leysa, die in der offenen Küche am Tresen ein Fachbuch beiseitelegte, als sie uns kommen sah.

Lächelnd ging ich zu ihr rüber. »Ja, danke. Wie war dein Tag?«

Ley, wie ich sie meistens nannte, und ich waren in der kurzen Zeit zu guten Freundinnen geworden. Mit ihren zwanzig Jahren war sie bereits im zweiten Semester und studierte in einem naheliegenden College Psychologie, wofür ich sie bewunderte. In der Psychologie sah ich eine schwierige Tätigkeit, Menschen zu einem besseren Leben zu verhelfen. Aber so wie Ley war, nämlich ehrlich und hilfsbereit, hatte ich großen Respekt für ihre Berufswahl. Was zwischen ihr und mir für genug Gesprächsstoff sorgte, war, dass Leysa sich tiefgehend mit Symbolik beschäftigte.

Ihre blonden, kinnlangen Haare wippten etwas, als sie auf mich zukam und mich umarmte. »Der heutige Tag war interessant. Wir werden bald einen Einblick in eine psychiatrischen Klinik bekommen. Ich kann es kaum erwarten«, erzählte sie freudig.

»Für dich ein Traum. Für mich schon bei der Vorstellung der reinste Horror«, kicherte ich und ließ mich auf einen der Barhocker nieder.

Ich hörte die Tür ins Schloss fallen und sah Ryan hereintreten. Ryan war neunzehn, studierte Kunst. Was ich immer wieder an ihm bewunderte, waren die beiden grauschwarzen Tattoos an den Armen. Am meisten mochte ich den Raben auf seinem Oberarm, der über Wasser flog und im Hintergrund mit einem Viking Symbol verziert war, das so viel bedeutete wie: Wenn es einen Willen gibt, dann gibt es einen Weg. Wie ich seine Kreativität und besonders seinen starken Willen bewunderte.

Elaine glaubte, ich himmelte Ryan an. Ich sah das etwas anders. Ryan war zwar superheiß, großgebaut, muskulös und ein total ehrlicher, netter Typ, aber er war nur ein Freund für mich.

»Hi Leute«, begrüßte er uns wie gewohnt ernst.

»Hey Ryan«, entgegnete Elaine freundlich. Von Daikin ablassend, kam sie grinsend zu mir herüber. »Mein Gott, er ist so mega heiß. Das denke ich jedes Mal, wenn ich ihn sehe«, flüsterte sie mir zu, als sie sich mit den Armen auf die Theke lehnte.

Daikin stand inzwischen in der Küche und holte ein paar kühle Getränke heraus. Er und Ryan verstanden sich bestens. Beide hatten die selbe Wellenlänge und und hingen gerne miteinander ab.

Auf Elaines Bemerkung hin rollte ich mit den Augen. »Ja, er ist wirklich sexy«, gestand ich, dabei zu Daikin und Ryan linsend, die mit dem Rücken zu uns standen. Sie unterhielten sich wohl über Cocktails, weil Ryan ein Cocktailbuch in den Händen hielt. Er überragte Daikin ein gutes Stück.

Lautlos gesellte Leysa sich zu uns. »Redet ihr über Mr. Supersexy? Was habe ich verpasst?«, flüsterte sie keck und wackelte mit ihren blassen Augenbrauen.

Ich schlug mir auf die Stirn, weil sich bei Elaine und Leysa dieser Kosename eingebürgert hatte. »Ihr zwei könnt euch wirklich die Hand geben.«

»Und du könntest Ryan für dich haben, wenn du seine Hingabe erwidern würdest«, hackte Elaine auf mich ein, während ihre blassgrünen Augen mit einer Selbstverständlichkeit auf mich einstachen.

»Wir sind nur Freunde, Elaine. Wie oft muss ich dir das noch sagen?«

»Bis ich Beweise sehe«, meinte sie frech.

»Er steht auf dich. Elaine hat Recht«, untermauerte Ley Elaines Behauptung flüsternd. Leys braune, treuen Augen sahen mich mit einer Ehrlichkeit an, wie nur ein Rehkitz hätte schauen können. Meinten sie das beide ernst? Ryan stand auf mich? Ich war überfordert, weil ich mir bisher um Beziehungen keine Gedanken gemacht hatte.

»O je, was für ein Zufall. Ich muss noch lernen«, spielte ich schockiert, ehe ich die Flucht in mein Zimmer ergriff.

»Ja, ja«, hörte ich Elaine hinter mir her rufen.

Am nächsten Morgen saß ich mit Elaine am hohen Küchentresen, der mein Lieblingsort in der Wohnung war.

Hungrig schmierte ich mir einen Bagel mit Honig. Elaine trank derweil wie jeden Morgen einen Cappuccino.

Ich hörte jemanden die Treppe hinunterkommen und sah, dass es mein Bruder war. Das Knistern zwischen den Blicken von Elaine und Cyrian war unverkennbar. Für jeden von uns war es ungewohnt, Cyrian hier zu wissen. Ein unglaublich erfüllendes Gefühl.

»Guten Morgen, Brüderchen«, begrüßte ich ihn und biss in meinen mit Honig beschmierten Bagel. Cyrian war bereits in Schale geschmissen und ich sah, wie Elaine sein weißes Hemd begutachtete. Ihr Blick klebte ohnehin an Cyrian, während sie ihn bis aufs kleinste Detail beäugte. Mir wurde es fast unangenehm, wie sich die beiden ständig ansahen, als wollten sie sich dem Gegenüber an den Hals werfen und einander nie wieder loslassen. Bei diesem Gedanken schmunzelte ich vor mich hin.

»Hey«, brach Elaine endlich das Schweigen zwischen ihnen.

Cyrians Augen fixierten sie weiterhin. »Gut geschlafen?«

Sie nickte. »Seltsam. Jetzt wohnen wir allesamt zusammen. Ist ungewohnt, aber schön, dich hier zu wissen.«

Damit ich verdeckt teilhaben konnte, schlug ich die Wochenzeitung auf und tat so, als würde ich interessiert den Politikbereich lesen.

»Mich wirst du nicht mehr los«, witzelte Cyrian.

Elaine kicherte. »Wie lange hast du eigentlich dort gelebt?«

»Offensichtlich lange. Aber für mich erst wenige Tage, nachdem ich aufgewacht war. Liraa und Erebos haben mich nicht gehen lassen. Liraa kann ganz schön beharrlich sein, wenn sie etwas beschlossen hat. In meiner Genesungszeit habe ich versucht herauszufinden, warum Lilith mich gerettet hat und was ihre Worte zu bedeuten haben.«

Elaine strich sich eine Locke hinters Ohr. »Und ist dir das inzwischen gelungen?«

Er schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Über Lilith findet man nichts heraus. Es gibt Patonier und Unterweltler, über die keine Schriften existieren. Aber Lilith ist wie ein unbeschriebenes Blatt. Ich sehe keinen Zusammenhang zu all dem.«

»Geht mir genauso. Ich verstehe es nicht. Sie hat uns unter die Arme gegriffen und sogar mit Daikin alles geplant, um uns zu helfen. Aber auch er weiß nichts über sie.«

Ich legte die Zeitung beiseite. »Aus ihren Worten ist zu schließen, dass etwas geschehen wird. Vielleicht will Lilith, dass wir darauf vorbereitet sind.«

»Oder es hat etwas mit Elaine zutun. Damals hat sie auch eine wichtige Rolle gespielt«, warf mein Bruder in den Raum.

Ich knabberte nachdenklich an meiner Oberlippe, deren Fülle ein starker Kontrast zu meiner Unterlippe war. »Das kann auch sein.«

»Ich wüsste nicht, was es mit mir zu tun haben könnte. Damals ging es ihr einzig darum, Hades zu stürzen«, protestierte Elaine kopfschüttelnd.

»Weiß dein Vater nichts über Lilith?«, wandte sich Cyrian an Elaine.

Ihr wich die Farbe aus dem Gesicht. Das beliebte Ares-Thema. »Nein. Das habe ich ihn schon gefragt. Sinnlos.«

»Kurz gesagt: Ares ist ein unkooperatives Arschloch. Das passiert, wenn zwei Sturköpfe aufeinander treffen«, gab ich meinen Senf dazu.

Cyrian nickte verwundert.

»Heute so vorlaut«, feixte Elaine mich mit warnendem Blick an.

Inzwischen griff ich schmunzelnd nach einem Glas Nussnougatcreme und bestrich mir einen weiteren Bagel.

»Du hast dich verändert, Cyrian«, hörte ich Elaine sagen und blickte kurz auf. »Ich meine äußerlich. Wie konntest du nur deine Haare abschneiden?«

Er grinste. »Das klingt wie ein Vorwurf.«

»Das ist es auch«, warf ich dazwischen, ohne aufzuschauen.

»Autsch. Ich schätze, ich brauchte genauso einen Neustart wie du«, erklärte mein Bruder und legte sich die Umhängetasche über die Schulter.

Elaine schwieg kurz. »Es steht dir aber. Sehr gut sogar.«

»Kann ich nur zurückgeben.« Ihre Blicke konnten einander nicht loslassen. »Ich breche dann mal auf. Bis später.«

»Wohin geht es denn in diesem Aufzug?«, fragte Elaine neugierig und musterte erneut seine elegante Kleidung.

»Ich muss noch ein paar wichtige Dinge regeln, wegen der Uni. Ich will wieder Fuß fassen, jetzt wo ich bei euch bin.«

Erstaunt hob Elaine eine Augenbraue. »Was für eine Initiative!«

Er schmunzelte. »So schnell lasse ich mich doch nicht vom Weg abbringen. Na ja, wie dem auch sei. Bis später, die Damen.«

»Bis später, der Herr«, erwiderte Elaine nachdenklich und schaute ihm beim Verlassen der Wohnung nach. »Was will er denn studieren?«

Ich genoss ihre Neugierde irgendwie. »Hattest du etwa Angst, ihn das selbst zu fragen?«

»Nein. Ich wollte ihn nicht weiter aufhalten.«

»Er wird Kulturwissenschaft studieren und hatte schon vorm Aufstand eine Zusage. Den Bachelor hat er bereits und jetzt wird er den Master machen und den Doktor hintendran hängen. Er würde also irgendwann Dr. Cyrian Coahoma heißen«, erzählte ich ihr bewusst jedes Detail, weil ich die schwärmende Ader an Elaine viel zu gerne sah.

Sie atmete hörbar aus. »Wow. Dr. Cyrian Coahoma. Sexy. Er ist ja ein totales Genie.«

»Wer ist ein Genie?«, brachte uns die melodische Stimme von Daikin plötzlich zum Verstummen.

Elaine wandte beschämt ihren Blick ab, woraufhin Daikin plötzlich belustigt lächelte. »Na klar, der Klugscheißer Cyrian«, erschloss er und stellte sich gegenüber von uns. »Habt ihr herausgefunden, was es mit Liliths Worten auf sich hat oder müssen wir abwarten?«

Ich nickte schmunzelnd. »Leider abwarten.«

Daikin drehte den Schlüssel seines Wagens um den Finger. »Vielleicht kommen die Raix mit einem Mutterschiff.«

Seine Freundin schüttelte den Kopf. »Du und Janay könnt euch wirklich die Hände geben.«

Daikin sah mich daraufhin humorvoll an und zuckte mit den Schultern. »Ich fahr euch gern zum College. Ich werde heute früher auf der Arbeit verlangt. Dafür bin ich eher zurück«, erklärte der Schwarzhaarige und wandte die letzten Worte seiner Freundin, die daraufhin aufstand und ihm einen Kuss gab. Sie flüsterte ihm etwas zu, das ich nicht verstehen konnte. »Okay, Babe«, flüsterte er zurück und stahl sich noch einen letzten Kuss, bevor er nach draußen verschwand.

Derweil griff ich nach einem weiteren Bagel, doch Elaine schlug mir leicht auf die Finger. »Jetzt reicht es, du Nimmersatt! Los, aufstehen, du Vielfraß. Sonst kommen wir noch zu spät zu Trainingswissenschaft«, zog sie mich am Arm hoch.

»Die Uni fängt heute aber erst um neun an und ich hab Hunger. Außerdem hat Daikin angeboten uns mitzunehmen.«

Elaine zog sich den dünnen Mantel über. »Ich wollte etwas früher da sein. Mrs. Havering hat mich wegen letztem Mal auf dem Kieker. Etwas Fußmarsch tut dir Faulpelz gut. Los.«

»Immer diese Ausreden«, faselte ich und griff nach dem unbelegten Bagel.

Bevor wir zu unseren praktischen Kursen gingen, umarmte Elaine mich. »Sehen wir uns zu Hause? Bei dir entfallen ja die letzten beiden Stunden.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich warte auf dich. Wenn Mrs. Baldwin es mir erlaubt, übe ich noch etwas im Ballettraum.«

Sie lächelte dankbar, ehe sich unsere Wege zu den Kursen trennten.

Minuten später in der Umkleide angekommen, zog ich mir meine Ballettkleidung über, die aus einer weißen Strumpfhose, einem schwarzen Ballettanzug sowie meinen heiß geliebten, rosafarbenen Ballettschläppchen bestand. Zuletzt band ich meine Haare zu einem strammen Dutt und ging in den Ballettraum.

Die Studenten stellten sich wie zu jeder Kursstunde an die Übungsstange.

»Üben Sie alle den Spagat auf dem Parkett. Aber dehnen Sie sich vorher«, begann unsere Dozentin Mrs. Baldwin.

Während wir mit dem Spagat begannen, begutachtete Mrs. Baldwin uns genauestens. Sie entdeckte jeden kleinen Fehler und war wie eine Katze auf der Hut.

»Pete, Sie sind nicht exakt in einer Linie. Der Rücken ist krumm, Ihre Haltung ist wackelig und ein Spagat ist das auch nicht ganz.«

Pete warf Mrs. Baldwin einen hilflosen Blick zu. »Tut mir leid, Mrs Baldwin. Aber ich als Mann habe da etwas, was die Frauen nicht haben.«

Die Menge kicherte und ich erkannte auch ein unterdrücktes Grinsen bei Mrs. Baldwin. »Mag sein. Aber ich hatte schon Männer in Ballett, die haben bessere Spagate als manche Frauen hingelegt trotz ihrer Männlichkeit.«

Auf diese Bemerkung hin schwieg Pete. Er war der einzige Mann in unserem Jahrgang. Ihn deprimierte es erstaunlicherweise kein bisschen, nur unter Frauen zu sein. Im Gegenteil, er galt als der Spaßvogel im Kurs.

Derweil ging Mrs. Baldwin mit Adlerblick weiter durch den Raum und verbesserte einige Studenten. Ich war erstaunt, dass sie bei meinem Spagat nichts auszusetzen hatte.

»Und jetzt machen Sie den ›Grand Jete‹.«

Erneut stellte ich mich zur Menge, dann begann jeder hoch zu springen und dabei einen Spagat in der Luft zu machen. Immer wieder, mit mehr Sicherheit, wiederholte ich diese Übung, konzentriert darauf, die Balance zu halten. Hin und wieder fielen manche zu Boden oder verloren das Gleichgewicht.

»Janay.« Mrs. Baldwins Stimme ließ mich nach hinten blicken. »Ihre Sprungkraft ist bemerkenswert. Allerdings ist Ihr Spagat nicht ganz auf einer Linie, sobald Sie in der Luft sind. Anders als die Position auf dem Parkett. Dort war er hervorragend. An Ihrer Rückenhaltung müssen Sie etwas arbeiten.« Ihre Worte trafen mich wie Nadelstiche, dennoch nickte ich und übte umso motivierter weiter.

Am Ende des Kurses richtete Mrs. Baldwin letzte Worte an uns: »Ich rate Ihnen, die Schwerpunkte für den perfekten ›Grand Jete‹ zu Hause weiter zu üben. In den nächsten Kursstunden beschäftigen wir uns dann mit der Vorbereitung auf die Endprüfung dieses Semesters, welche in drei Monaten stattfinden wird.« Sie vollführte eine schwungvolle Handbewegung zum Ausgang. »Bis zum nächsten Mal, meine Lieben.«

Ich wartete, bis alle den Ballettraum verlassen hatten. »Entschuldigen Sie, Mrs. Baldwin, ist es in Ordnung, wenn ich noch etwas übe?«

»Natürlich, überstrapazieren Sie nur ihren Körper nicht, Janay. Ihr Körper braucht auch Pausen und Entspannung.«

»Ballett ist Entspannung für mich.«

Sie lächelte. »Meinetwegen. Aber üben Sie nicht mehr all zu lange.«

Ich nickte dankbar und als sie den Raum verließ, stellte ich mich in die Mitte des Ballettraumes, um den ›Grant Jete‹ erneut zu üben. Eine weitere Stunde verging wie im Flug. Im Spiegel betrachtete ich jedes Mal meinen Luftsprung mit Spagat, versucht, die Tipps von Mrs. Baldwin bestmöglich umzusetzen. Im Anschluss übte ich auf dem Parkett den Spagat. Konzentriert, die perfekte Haltung umzusetzen, riss mich der Nachrichtenton meines Handys aus den Gedanken. Verdutzt griff ich nach meinem Smartphone. Elaine hatte mir geschrieben.

»Hey, ich muss heute noch zu Mr. Coleman in die Bibliothek. Sorry, Süße!!!!«

»Kein Ding. Dann sehen wir uns zu Hause.«

Viertes Kapitel

Einer griechischen Statue gleich

Als ich mein Handy in die Tasche geschoben und sie mir über die Schulter geworfen hatte, verließ ich den Ballettsaal. Nachdem ich duschen gegangen war und anschließend die Universität verlassen hatte, kam mir draußen eine angenehme Kälte in Begleitung sanfter Sonnenstrahlen entgegen.

»Janay!«, hörte ich eine bekannte Stimme meinen Namen rufen, als ich den Zebrastreifen vor der Uni überquerte. Beim Umdrehen blickte ich in unverkennbar dunkelbraune Augen, die nur von Ryan hätten sein können. Samt seiner Kunstmappe unterm Arm und einem Rucksack auf dem Rücken, stand er da und lächelte mich an. »Hi, Kleine.«

Sein Lächeln erwidernd, umarmte ich ihn. »Ryan. Was machst du denn hier?« Ich dachte an Elaines und Leysas Worte vom Vortag zurück, die sie ja unbedingt hatten loswerden müssen.

»Na, ich hab gerade den letzten Kurs hinter mir. Was machst du schon so früh hier?«, fragte er zurück und ich erinnerte mich daran, dass Ryan an diesem Tag der Woche immer früher Unischluss hatte als Elaine und ich. »Ich hab heute früher Schluss.«

»Ah, dachte ich’s mir. So einen Luxus gibt’s ja nur auf der Jennings.«

»Ha ha ha. Wir Sportler brauchen Pausen. Ihr Künstler … eher nicht«, neckte ich zurück und musterte ihn dabei gespielt abwertend.

Ryans breites Lächeln schmeichelte seinem Gesicht. Seine symmetrischen Züge und der jugendliche Touch erinnerten mich an eine griechische Statue. Nur seine verwuschelten, schokobraunen Haare hoben sich von diesem Erscheinungsbild ab. Wenn Ryan lächelte, strahlte er Wärme und eine ansteckende Energie aus. Anders war es, wenn er ernst war. Dann wirkte er im Zusammenspiel mit seinen dunklen Augen düster und nachdenklich. Zwei Gegensätze.

Um ihm in die Augen schauen zu können, musste ich meinen Kopf in den Nacken legen.

»Elaine hilft bei Mr. Coleman aus, deswegen. Deswegen wird es bei ihr heute etwas später.«

Nickend sah er zu mir herab. »Wie war Ballett? Wie läuft’s eigentlich?«

Seltsamerweise hatte ich das Gefühl, wir hätten uns ewig nicht mehr unterhalten, was mir irgendwie leidtat. Ryan war ein Freund, der sich ständig für mich interessierte und mir seine volle Aufmerksamkeit schenkte. Ich hingegen war oftmals verträumt oder vergesslich. Aber Ryan schien mich zu kennen und störte sich nicht an diesen Eigenschaften.

»Anstrengend. Einfach nur anstrengend. Aber dafür bin ich selbst verantwortlich. Ich habe nach der Praxis weiter geübt und jetzt sitzt das Stück so gut wie. Und wie ist es bei dir so, Da Vinci?«, stupste ich ihn mit dem Ellbogen an, wobei ich frech die Nase rümpfte.

Er kratzte sich am Hinterkopf. Eine niedliche Angewohnheit, wenn er nachdenklich oder planlos war. »Ja, geht so. Heute mehr Theorie als Praxis. Kurz gesagt, es war verdammt langatmig und öde.«

Ich kicherte. »Gehen wir miteinander?«

Einen gescheiten Moment des Schweigens später weiteten sich Ryans Augen und er starrte mich perplex an. »Was?«

»Na, nach Hause.« Ich warf einen Blick nach hinten, als ich mich auf dem Weg machte.

»Oh, klar.« Wieder kratzte er sich am Hinterkopf und wirkte etwas unbeholfen. Mir entwich erneut ein Kichern. Die zerstreute Art passte so gar nicht zu ihm. Das war eher mein Part.

Zu Hause angekommen öffnete ich die Tür und hielt sie ihm auf. Er blieb jedoch stehen, hatte ein sanftes Grinsen im Mundwinkel.

»Was ist?«

»Ich muss noch arbeiten.«

»Ehrlich? Wieso hast du nicht vorhin gesagt, dass du-«

»Das habe ich gerne gemacht«, unterbrach er mich aufrichtig.

Wow, wie höflich … »Äh, danke. Du arbeitest nochmal wo?«

»In einem kleinen Restaurant. Ist echt mies da. Aber was soll’s. Ein indischer Italiener, wenn du verstehst«, sagte er schulterzuckend und ließ seine Hände in die hellblaue, lockersitzende Jeans sinken.

Ich lachte zu laut.