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Eine dystopische Umweltkatastrophe – eine einzige Rettung. Es beginnt mit dem Sterben der Wale … Alex sieht die toten Giganten auf den Stränden von Lissabon – kurz darauf wird sein Vater von einem Vortrag auf einer Physiker-Konferenz entführt, als er gerade an die Wissenschaftler appelliert, endlich die Wahrheit zu sagen … Während Stürme und Erdbeben die Welt erschüttern, das Mobilfunknetz zusammenbricht und die Regierungen aller Nationen in Panik verfallen, erhält Alex die letzte Nachricht seines Vaters: einen Auftrag, den einzigen Physiker zu finden, der jetzt noch die Menschheit retten kann. Doch ein Einsatztrupp, der vor nichts Halt machen wird, ist ihm dicht auf den Fersen … Ein packender Klimathriller für Fans von Wolf Harlander.
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Seitenzahl: 292
Über dieses Buch:
Es beginnt mit dem Sterben der Wale … Alex sieht die toten Giganten auf den Stränden von Lissabon – kurz darauf wird sein Vater von einem Vortrag auf einer Physiker-Konferenz entführt, als er gerade an die Wissenschaftler appelliert, endlich die Wahrheit zu sagen … Während Stürme und Erdbeben die Welt erschüttern, das Mobilfunknetz zusammenbricht und die Regierungen aller Nationen in Panik verfallen, erhält Alex die letzte Nachricht seines Vaters: einen Auftrag, den einzigen Physiker zu finden, der jetzt noch die Menschheit retten kann. Doch ein Einsatztrupp, der vor nichts Halt machen wird, ist ihm dicht auf den Fersen …
Über den Autor:
Daniel Westland schreibt Sachbücher und Thriller. Er war für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert und ist überzeugt, dass zwei Dinge die Welt besser machen: Wissen und Träumen! Er lebt in Hamburg, ist verheiratet und hat drei Kinder.
Die Website des Autors: danielwestland.de
Bei dotbooks veröffentlichte der Autor »RISK – Die Todesformel«, »REVERSE« und »Das Raum-Paradoxon«.
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eBook-Neuausgabe Dezember 2024
Dieses Buch erschien bereits 2011 unter dem Titel »Polsprung – Die Welt spielt verrückt« bei Lübbe.
Copyright © der Originalausgabe 2011 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/sergio 34, Miloje
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (lj)
ISBN 978-3-98952-560-3
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Daniel Westland
REVERSE
Thriller
dotbooks.
»Für dich und immer für dich. Für immer und dich.«
(Rio Reiser)
In der Nacht war ein Unwetter über die Stadt hinweggezogen und noch am Morgen waren die Straßen teilweise überflutet. Alex stand allein am Strand von Cascais, einem Vorort der portugiesischen Hauptstadt Lissabon.
Der Himmel über ihm war von einem so intensiven Blau, dass es beinah schmerzte, und der Wind blies Alex dermaßen heftig ins Gesicht, dass seine Augen begonnen hatten zu tränen. Jedenfalls versuchte er sich einzureden, dass es am Wind lag und nicht an der Sache mit Isa. Er drehte sich um und betrachtete nachdenklich den riesigen, tonnenschweren Pottwal, der direkt hinter ihm lag. Er hatte das Tier mit Schritten abgemessen ‒ der Wal war mindestens acht Meter lang, vielleicht zehn. Eine Möwe saß auf einer der Flossen, die unter dem Koloss hervorlugten, und pickte vorsichtig daran herum.
Alex umrundete den Pottwal ein zweites Mal. Ganz schön groß, so ein Wal, schoss es ihm durch den Kopf. Die größten Tiere, die er bisher in natura gesehen hatte, waren Zooelefanten gewesen ‒ und somit kein Vergleich zu diesem Ungetüm. Ihm war klar, dass Wale zu den Säugetieren zählten, dennoch stank das tote Tier nach Fisch.
Alex zog sein Handy aus der Hosentasche, um Isa anzurufen, hatte aber kein Netz. Er war sich nicht sicher, ob sie überhaupt drangehen würde, nachdem er vorhin so plötzlich davongestürmt war, aber er wusste, dass sie den Wal bestimmt sehen wollte. Also ging er hoch zur Strandpromenade, die nahezu menschenleer war. Noch immer kein Netz. Alex schüttelte das Handy frustriert, auch wenn ihm klar war, dass das nicht viel bringen würde. Zu allem Übel waren seine Finger vom Wind so durchgefroren, dass ihm das Gerät aus der Hand glitt und in einem kleinen Sandhaufen zu seinen Füßen landete. Na toll. Sand und Hightech passten bekanntlich extrem gut zusammen.
Er hob das Handy auf und blies vorsichtig den Sand von der Tastatur. Er musste sich dazu umdrehen, denn der Wind trug feine Sandkörner mit sich, die ihm in die Augen stachen und zwischen seinen Zähnen knirschten. Das Handy hatte hier oben einen recht guten Empfang: drei von fünf Balken auf dem Display. Er drückte die Zwei ‒ Kurzwahl für Isa ‒, kam aber nicht durch. Besetzt. Komisch, sonst klopfte es immer an bei ihr, und wenn sie keinen Empfang hatte, landete er auf der Mailbox. Er versuchte es erneut, aber dieses Mal hörte er nur ein eigenartiges Klicken, danach war die Leitung tot.
Alex starrte mit gerunzelter Stirn auf das Display, das plötzlich zu flackern begann. Es schien, als würde sein Handy den Geist aufgeben, die Anzeige leuchtete jedenfalls nur noch sehr schwach ‒ vielleicht war ein Sandhaufen eben doch nicht der ideale Landeplatz. Aber dann klingelte es plötzlich, und auf dem Display erschien: ISA.
»Hi!«, meldete sich Alex.
»Hi! Ich bin’s. Du hast versucht, mich anzurufen?«
»Das stimmt, aber woher weißt du das? Ich bin nicht durchgekommen.«
»Bei mir hat es geklingelt, aber immer nur einmal, danach stand da: ›Hat aufgelegt‹.«
Alex zuckte mit den Achseln. »Hm. Keine Ahnung.«
»Wo bist du?«, fragte Isa. Ist alles in Ordnung?«
Die Frage überforderte Alex völlig. Wie konnte Isa so schnell auf besorgte Freundin umschalten? Dass sie vorhin nicht bemerkt hatte, dass etwas nicht stimmte, hielt er für ausgeschlossen. Und dennoch plauderte sie irritierend locker mit ihm. Aber jetzt am Telefon war nicht der richtige Moment, um sie darauf anzusprechen.
»Hier liegt ein Wal!«, sagte er. »Ein Riesending. Willst du ihn sehen?«
»Lebt er noch?«
»Nein, er ist tot. Aber ich scheine bislang der Einzige zu sein, der ihn bemerkt hat. Jedenfalls dachte ich, das interessiert dich bestimmt.«
»Klar. Es geht doch nichts über einen toten Wal!«, sagte Isa und lachte.
Machte sie sich lustig über ihn?
Isa fragte: »Wo genau bist du denn? Wale findet man ja wohl am häufigsten am Strand …«
»Ich bin in Cascais. Ist in unserem Fahrschein mit drin. Nimm den Zug vom Rossio, es sind nur zwanzig Minuten bis hierher. Ich hol dich dann am Bahnhof ab.«
»Alles klar«, sagte Isa, und ihre Stimme klang plötzlich ganz warm. »Ich freu mich auf dich!«
»Super, bis gleich«, sagte Alex, und auch aus seiner Stimme war nun fast alle Anspannung verschwunden.
Alex Fitshen war bis über beide Ohren verliebt. Aber er war sich nicht sicher, ob Isa seine Gefühle in gleicher Intensität erwiderte. Er und Isa verbrachten mit seiner Familie ein langes Wochenende in Lissabon. Alex’ Vater besuchte hier einen Kongress ‒ sie wohnten bei Alex’ Tante, die mit dem deutschen Botschafter verheiratet war.
Nach dem Frühstück waren Isa und er Hand in Hand durch die Altstadt geschlendert. Alex war schon öfter in Lissabon gewesen, aber diesmal erschien ihm die Stadt vollkommen anders als sonst: nicht groß, laut und hektisch, sondern malerisch-verwunschen und herrlich romantisch, obwohl nach den Schauern der vergangenen Nacht eine feuchte Kälte in der Luft lag, mit der sie nicht gerechnet hatten. Irgendwann hatte Isa vorgeschlagen: »Lass uns doch noch mal zu GameStop gehen, da ist es wenigstens warm.«
»Schon wieder? Da waren wir doch erst gestern!«
»Aber immer nur in Cafés rumsitzen ist auch langweilig. Außerdem suche ich noch ein Spiel für den Rückflug. Und mir ist wirklich kalt!« Isa formte mit den Lippen einen unwiderstehlichen Kussmund. »Ach, bitte … «
Alex lächelte. »Na klar, schon gut … «
Aber dann, im Laden, hatte er sich doch geärgert ‒ Isa konnte nicht einfach nach dem Spiel fragen, das sie suchte, und den Laden wieder verlassen, wenn es nicht da war. Nein, sie musste alle Regale durchsehen und verwickelte den Verkäufer oder ein paar Kunden (oder alle auf einmal) in endlose Diskussionen über irgendwelche Charaktere und Levels und sonst noch was. Alex hatte ein paar Mal mit ihr Singstar und Autorennen gespielt, aber spätestens bei Fantasy-Rollenspielen war für ihn Schluss.
In einer Ecke des Ladens stand ein Schlagzeug, und ein ganz in Schwarz gekleideter Junge mit etlichen Piercings saß dahinter und trommelte wie ein Verrückter. Alex bekam Kopfschmerzen.
Er stellte sich an eine Gamekonsole und drückte auf ein paar Knöpfen herum, machte dann aber Leuten Platz, die sich damit auskannten. Eine Weile sah er zwei Skatern zu, die auf einem geteilten Bildschirm um die Wette fuhren, dann fragte er Isa: »Können wir jetzt gehen?«
»Gleich!«
Erst musste sie noch einem Zwölfjährigen, der wahrscheinlich kaum ein Wort Englisch verstand, die Vorteile der Fortsetzung von irgendwas klarmachen. Der Junge starrte Isa mit offenem Mund an. Das wiederum konnte Alex nur zu gut verstehen. Wenn er selbst in ihre beinah grasgrünen Augen sah, wollte er am liebsten einen Kopfsprung hinein machen. Er liebte es, sich mit ihr über alles Mögliche zu unterhalten. Während er ein Grübler war, der nicht aus dem Quark kam, engagierte sie sich leidenschaftlich und brachte ihre Ansichten auf den Punkt. Ihr kritischer Blick schien alles zu durchdringen, alles zu durchschauen, und dass er diesem Blick bislang standgehalten hatte, war schon Belohnung genug für ihn.
Oh, Alex war nicht auf den Kopf gefallen, er hatte nur einfach keinen Bock auf Schule. »Manchmal braucht man einen neuen Start«, hatte sein Vater überraschend verständnisvoll gesagt und sich für einen Schulwechsel starkgemacht.
Isa war gut ein Jahr jünger als Alex. Manchmal frustrierte es ihn, dass sie nicht nur irre gut in der Schule war, sondern auch noch Mitglied in der Politik-AG und im Theaterclub.
Nach dem Besuch im GameStop fuhren sie mit dem Elevador de Santa Justa, einem antiken Fahrstuhl, hoch zur Praça do Carmo und machten es sich im Café Olivier bequem. Von dort hatte man einen wundervollen Blick über das Schachbrettmuster der Straßen des Stadtteils Baixa.
Sie bestellten sich Galões ‒ portugiesischen Kaffee mit viel Milch, der in einem hohen Glas serviert wurde ‒ und dazu die berühmten Pastéis de Nata, kleine Vanilletörtchen.
Isa loggte ihre PSP und ihr Smartphone in das kostenlose WLAN ein. Sie saßen eine Weile da, er las sein Buch, sie spielte. Isa schob sich abwesend eine blonde Strähne hinters Ohr. Mit gerunzelter Stirn versuchte sie, eine besonders schwierige Spiel-Situation zu meistern. Dann ballte sie triumphierend die Faust und schaute auf. »Ha!«, rief sie aus und strahlte ihn an.
Alex musste lachen. Isa legte zufrieden ihre PSP beiseite und griff nach dem Handy. Doch bevor sie dazu übergehen konnte, ihre neuesten Nachrichten zu lesen, nahm Alex rasch ihre Hand. Hinterher fragte er sich, ob es vielleicht ein ungünstiger Zeitpunkt gewesen war. Aber was er ihr sagen wollte, konnte einfach nicht länger warten. Sie waren heute auf den Tag genau seit sechs Monaten ein Paar.
»Ich liebe dich!«, sagte er.
Isa lächelte und drückte wortlos seine Hand. Aus dem Nichts schoss draußen plötzlich ein kleiner rötlicher Vogel heran. Er prallte gegen die Fensterscheibe und stürzte zu Boden. Isa schrie entsetzt auf, doch dem Vogel war offenbar nichts geschehen. Er schüttelte benommen sein Köpfchen, öffnete ein paar Mal den Schnabel, als wollte er ausprobieren, ob der noch funktionierte, spreizte dann die Flügel und flatterte in die Höhe. Eine Windbö kam und trug ihn davon.
Isa lächelte wieder, aber der romantische Augenblick war dahin. Sie ließ seine Hand los und begann, irgendwas in ihr Handy zu tippen. Wahrscheinlich schickte sie ihrem Exfreund eine SMS, um zu erzählen, was Alex gerade gesagt hatte. Haha! Die beiden verstanden sich für seinen Geschmack viel zu gut. Nikolai war selbst ein Gamer und hatte Isa die PSP geschenkt, als sie noch zusammen gewesen waren. Sie sagte zwar, zwischen ihnen laufe nichts mehr und dass sie bloß noch Freunde seien, aber die beiden teilten eine große Leidenschaft ‒ so viel stand fest.
Alex wartete noch eine Weile. Einmal streifte Isa mit ihrem Fuß seinen Unterschenkel, aber das konnte auch Zufall gewesen sein. Er versuchte weiterzulesen, doch die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Schließlich legte er einen Zehner auf den Tisch und sagte: »Ich geh mal ein bisschen an die frische Luft. Findest du allein nach Hause?«
Isa blickte überrascht auf ‒ er konnte sehen, dass sie nicht verstand, warum er sie so plötzlich allein ließ. Er hatte ja selbst keine Erklärung dafür, er wusste auch nicht recht, was mit ihm los war.
»Sicher«, sagte sie. »Ist alles in Ordnung?«
»Klar.« Er nickte. »Ich muss nur mal raus hier, und dir ist es ja draußen zu kalt in deinem Sommerjäckchen.«
Alex’ Jacke war zwar ebenfalls dünn, aber im Gegensatz zu Isas winddicht.
»Okay, bis später dann.«
Als er sich an der Tür noch einmal zu ihr umdrehte, hatte sie den Blick bereits wieder auf ihre PSP gesenkt.
Auch jetzt, in Cascais, war Alex immer noch irritiert über Isas Verhalten. Konnte das Ganze ein Missverständnis gewesen sein? Am Telefon hatte sie sich zumindest angehört wie immer. Noch konnte er sich nicht recht vorstellen, warum sie mit keinem Wort auf sein Liebesgeständnis eingegangen war. Na ja. Insofern hatte der Wal auch sein Gutes. Andernfalls hätte er keinen Grund gehabt, sich so schnell wieder bei Isa zu melden.
Alex warf noch einen Blick hinunter zum Strand mit dem riesigen schlaffen Fleischkloß, aber ihm war mittlerweile so kalt, dass er beschloss, für eine erneute Besichtigung auf Isa zu warten. Der Wal würde ihm schließlich nicht weglaufen. Er steckte sein Handy in die Hosentasche und machte sich auf den Weg zum Bahnhof.
Eine halbe Stunde später beobachtete er mit Herzklopfen und einem Lächeln im Gesicht, wie Isa aus dem blaugrauen Waggon stieg. So ging es ihm immer, wenn er sie sah. Jedes Mal aufs Neue. Sie kam auf ihn zu und nahm seine Hand. Er wollte schon losgehen, aber sie blieb stehen und zog ihn an sich. Dann gab sie ihm einen Kuss, schob ihren Mund dicht an sein Ohr und flüsterte: »Ich dich auch!«
Alex hatte ein Gefühl, als wüchsen ihm Flügel. Er seufzte erleichtert.
»Ich habe mich total gefreut, als du mir vorhin gesagt hast, dass du mich liebst«, erklärte Isa. »Ich habe es einfach genossen, wie gut sich das anfühlt. Weißt du, Nikolai hat mir so was nie gesagt. Ich hatte also keine Ahnung, wie ich reagieren soll, verstehst du? Aber ich wollte dich auf keinen Fall verletzen. Es tut mir echt leid. Bist du sehr sauer deswegen?«
Immer wieder Nikolai. Er war es so leid. Wann würden Isa und er endlich aus dem Schatten dieser Beziehung treten? Alex drückte sie fest an sich. »War ich. Aber jetzt nicht mehr«, sagte er und bekräftigte seine Worte mit einem Kuss. Hand in Hand spazierten sie dann in Richtung Strand. Doch als sie die Promenade erreichten, kniff er irritiert die Augen zusammen. »Da war doch eben … Das kann doch nicht … «, stammelte Alex. Sie gingen die kleine Treppe zum Strand hinunter, wo er ratlos dastand und sich verwirrt umsah. Er lief ein paar Schritte in die Richtung, aus der er vorhin gekommen war. Er drehte sich im Kreis, dann schaute er Isa entgeistert an. Der Wind wehte ebenso kühl wie zuvor, im Sand waren breite Schleifspuren zu sehen ‒ meerwärts. Aber kein Wal. Nur ein paar Möwen hüpften herum. Der Wal war spurlos verschwunden. Wie konnte das sein?
Isa guckte zunächst ein bisschen skeptisch, doch dann nahm sie seine Hand und sagte mit einem liebevollen Lächeln: »Tut mir leid. Hast du echt geglaubt, du musst dir so was Schräges ausdenken, damit ich herkomme?«
Der beste Weg, dafür zu sorgen, dass alles nach Plan verlief, bestand darin, es selbst zu erledigen. Deshalb stand Patrick Milford breitbeinig auf dem Rücken des toten Wals, den seine Männer und er gerade in internationale Gewässer geschleppt hatten.
Dummerweise ragte der Rücken des Wals zwar wie ein Fels aus den gischtumflorten Wellenkämmen ‒ wenn man darauf stand, war es aber leider eine verdammt wackelige Angelegenheit. Milford durfte sich jedoch keine Blöße geben. Mit dreiundzwanzig Jahren war er der jüngste Kommandant eines Schleppers der weltweiten Eingreiftruppe Operation Polsprung und fest entschlossen, unter Beweis zu stellen, dass er der Aufgabe gewachsen war. Was den Blicken nach zu urteilen sogar seine eigenen Leute zu bezweifeln schienen.
»Brauchen Sie Hilfe, Sir?«, fragte Unteroffizier Simko und streckte Milford die Hand entgegen.
»Nein! Sieht es etwa so aus, als bräuchte ich Hilfe?«, blaffte er zurück. Simko ließ den Arm sinken. Milford nahm die letzten zwei Dynamitstangen aus der Plastikkiste, die neben ihm auf dem Walrücken stand, und schob sie in das Blasloch des toten Tiers. Danach zog er die Folie von der Klebeseite des Zünders und befestigte ihn direkt über dem Loch.
Zufrieden trat Milford einen Schritt in Richtung des kleinen Schlauchbootes mit Außenbordmotor, in dem Simko stand und darauf wartete, ihn zurück zur MS 4267TS zu befördern. Der Zusatz TS im Namen des Schleppers stand für Top Secret, aber Milfords Vater ‒ der oberste Leiter ihrer streng geheimen Mission ‒ hatte darüber nur gelacht. »Das soll bloß die Verwaltung vereinfachen, falls die Sache auffliegt«, hatte er in seinem heiseren Bariton verkündet. »Dann löschen sie einfach alle Einsatzfahrzeuge mit dem Kürzel TS aus dem System und können behaupten, von nichts gewusst zu haben.«
Patrick Milfords linker Fuß rutschte auf dem schmierigen Rücken des Pottwals ab. Er verlor das Gleichgewicht, ruderte verzweifelt mit den Armen und wäre beinah ins Wasser gefallen. Im letzten Augenblick packte ihn Simko am Arm und zog ihn zu sich ins Boot. »Sir!«
»Zurück zum Schiff«, befahl Milford. Simko ließ den Motor aufheulen. Wenige Minuten später kletterten sie an Bord der MS4267 TS, wo ein weiterer Unteroffizier Milford den Auslöser reichte, mit dem per Funk der Sprengsatz gezündet werden konnte. Milford holte tief Luft, dann drückte er auf den Knopf. Erst geschah gar nichts, doch dann war plötzlich ein dumpfes Donnern zu hören, und als die Druckwelle den Schiffsrumpf erreichte, ächzten und dröhnten die Metallwände für einen Moment.
Der dunkle Buckel des Wals war auch über die etwa hundert Meter Entfernung noch deutlich zu sehen. Von einem Augenblick zum anderen jedoch verschwand er, und eine milchigweiße Brühe breitete sich im Wasser aus. »Das Fett«, sagte Simko beeindruckt. Milford hatte mit Fleischfetzen und vielleicht auch Blut gerechnet, aber nicht damit, dass die Überreste eines gesprengten Wals aussahen, als hätte jemand bloß reichlich geschmolzene Butter ins Meer gequirlt.
Er zuckte mit den Achseln und gab ein zufriedenes Grunzen von sich, dann griff er zu seinem Funkgerät und meldete den Erfolg der Mission. Milford klopfte seinen Männern auf die Schultern und ging unter Deck, wo es wärmer war. Sein Vater würde zufrieden mit ihm sein.
Der nächste Morgen ließ das Unwetter vom Tag zuvor wie einen schlechten Traum erscheinen. Der Sturm hatte sich gelegt, die Erde war trocken, und es war so warm geworden, dass sie schon beim Frühstück das Fenster öffnen konnten. »Komisches Wetter.« Alex’ Tante Conny schüttelte irritiert den Kopf. »Wir leben jetzt seit drei Jahren hier, aber so was habe ich noch nicht erlebt.« Sie schaute hinüber in den kleinen Park auf der anderen Straßenseite. Gestern war der Spielplatz verlassen gewesen, was bei dem Wetter nicht weiter verwundert hatte, jetzt saß schon eine ganze Reihe Kleinkinder in der Sandkiste, andere turnten an den Spielgeräten herum, und die Mütter und Kindermädchen trugen wieder Sommerkleider in hellen Farben.
Sabine machte Rührei ‒ ein Zeichen dafür, dass es ihr besonders gut ging, denn Rühren und Wenden gehörten zu den Tätigkeiten, die ihr nach wie vor sehr schwerfielen. Seit einem Autounfall vor sieben Jahren hatte sie phasenweise Schwierigkeiten, die rechte Körperhälfte zu steuern ‒ vor allem der Arm und das Gesicht entzogen sich oft ihrer Kontrolle. Heute jedoch summte sie einen Song im Radio mit und setzte dann und wann sogar gedankenverloren zum Pfeifen an. Aber so präzise konnte sie ihre Lippen nicht mehr spitzen, also kam kein Ton heraus. Ihre Laune verschlechterte sich dadurch jedoch nicht, sie summte einfach weiter.
Conny steckte Toasts in den Toaster und nahm die weichen portugiesischen Croissants aus einer Tüte, die die Haushälterin mitgebracht hatte. Die gläserne Kaffeekanne war beinah voll, schon ertönte das typische Zischen und Prusten, mit dem die Maschine ankündigte, dass ihr das Wasser ausging.
Isa hatte sich einen grünen Tee gekocht und nippte bereits daran, Alex deckte den Tisch. In die Freude, die er an diesem Morgen empfand, mischte sich Erleichterung. Oft war ihm gar nicht bewusst, wie sehr die Tagesform seiner Mutter ihn beeinflusste und häufig auch bedrückte.
Sein Vater hatte das Haus bereits verlassen. David Fitshens Frühstück würde aus einem weichen Brötchen mit Marmelade und einer Bica ‒ dem portugiesischen Espresso ‒ in einer der Bars in der Nähe des Konferenzzentrums bestehen.
Alex’ achtjährige Schwester Leonie zeichnete mit Bleistift in ihrem Skizzenblock. Niemand wusste, was sie da malte, denn sie bewachte den Block, als wäre er ihr geheimes Tagebuch. »Können wir nachher zum Leuchtturm fahren?«, fragte sie.
Der Leuchtturm von Cabo da Roca, dem westlichsten Zipfel Europas, war ihr Lieblingsausflugsziel, weil man von dort aus so weit gucken konnte. Bei ihrem ersten Besuch in Lissabon hatte sie sich in den Turm und die Klippen, die Vögel und die kleinen bunten Blümchen auf den kargen Steinen verliebt, ebenso wie in die weiße Gischt der blaugrauen Wellen weit unter ihnen. Der Leuchtturmwärter hatte Leonie sofort in sein Herz geschlossen, und als er sich beim nächsten Besuch tatsächlich noch an sie erinnern konnte, war es endgültig um sie geschehen gewesen.
Wenn sie es einmal nicht schafften, zum Leuchtturm hinauszufahren, war Leonie untröstlich und schimpfte: »Ihr habt mich gar nicht lieb! Ich komm nie wieder mit euch mit!«
Conny und Sabine sahen sich an. Dann zuckte Conny mit den Achseln und sagte: »Von mir aus gerne. Die Sonne scheint, und ich habe nichts vor, was nicht auch bis morgen warten könnte.«
Leonie strahlte, und obwohl Alex sich das nicht hatte vorstellen können, nahm das Glücksgefühl in seiner Brust noch einmal zu.
Und dann hob Isa auch noch den Blick und lächelte ihn an. Seine Knie verwandelten sich in Wackelpudding.
Sie frühstückten, anschließend packten Conny und Sabine einen Picknickkorb. Als sie endlich alle fünf vor dem Haus standen und gerade ins Auto steigen wollten, klingelte Sabines Handy. Sie hörte einen Moment schweigend zu, dann hielt sie die Hand vors Mikrofon und flüsterte: »Frau Spieker.« Frau Spieker war die Mutter einer Schulfreundin von Leonie, die zu Hause nach dem Rechten sah und die Blumen goss, wenn sie weg waren. Sabine gab Conny mit einer Handbewegung zu verstehen, dass es nicht lange dauern würde, und ging ein paar Schritte zur Seite. Alex, Isa und Leonie machten es sich schon mal auf der Rückbank bequem. Es war eng, aber solange nicht Leonie neben ihm saß, sondern Isa, hatte Alex nichts dagegen. Conny setzte sich ans Steuer, Isa zog ihre PSP heraus. Leonie reckte den Hals und schaute Isa beim Spielen zu.
Sabines Telefonat dauerte länger als erwartet. Als sie schließlich zum Wagen zurückkam, sah sie ganz blass aus. »Wir müssen noch mal rein. Ich kriege gleich ein Fax. Es ist wichtig«, sagte sie.
»Was ist denn los? Ist etwas passiert?«, fragte Conny besorgt.
Sabine zögerte, sie schluckte. »Frau Spieker sagt, Alex’ neue Schule habe geschrieben, sie könnten ihn doch nicht aufnehmen. Weil er in seiner vorigen Schule wegen Drogenhandels aktenkundig geworden sei!«
Der Blick, mit dem sie Alex ansah, lag irgendwo zwischen grenzenlosem Vertrauen und ratloser Verzweiflung. Alex hatte das Gefühl, als zöge ihm jemand den Boden unter den Füßen weg. Es war nicht leicht gewesen, eine Zulassung für die Berliner Privatschule zu bekommen. Man hatte drei Gespräche mit ihm geführt und ihn zwei Tests in verschiedenen Wissensbereichen schreiben lassen. »Wir möchten sicherstellen, dass Schule und Schüler gut miteinander harmonieren«, hatte es geheißen. Dabei war allen klar gewesen, dass es nur darum ging, ob er in ihr elitäres Konzept passte. Am Ende hatte Alex’ Vater einige Kollegen bitten müssen, Empfehlungsschreiben für seinen Sohn zu verfassen, obwohl sie ihn nur von gemeinsamen Mittagessen im Labor her kannten, und wenige Tage später war tatsächlich das ersehnte Bestätigungsschreiben eingetroffen.
Alex wusste, dass es seine letzte Chance auf einen regulären Schulabschluss war.
»Was?! Sie muss sich verlesen haben!«, sagte er jetzt entgeistert. Im Wagen war es verdammt still geworden, und alle sahen ihn an.
»Deswegen habe ich Frau Spieker ja auch gebeten, das Schreiben herzufaxen«, sagte Sabine.
Sie stiegen aus und gingen schweigend zurück ins Haus.
»Hast du wirklich gedealt?«, fragte Isa leise, als sie ein wenig abseits standen, und er war nicht sicher, ob sie besorgt klang oder beeindruckt.
»Nein! Nie!«, sagte Alex und schüttelte entrüstet den Kopf. »Ich war mal auf einer Party, und in einem Nebenzimmer saßen diese Typen, die komplett neben der Spur waren, so hatten sie sich zugedröhnt. Das hat mir richtig Angst gemacht. Ich schwöre dir, näher bin ich in meinem ganzen Leben nicht an Drogen herangekommen!«
»Ist ja schon gut«, sagte Isa und nahm seine Hand. »Ich glaube dir. Es ist bestimmt eine Verwechslung.«
Conny holte das Fax aus dem Büro und überflog es, bevor sie es an Sabine weiterreichte. Die wurde beim Lesen noch blasser. Dann zog sie ihr Handy heraus und wählte.
»Verdammt. Keiner da.« Sie schaute auf das Fax. »Das Schreiben ist von letzter Woche. Abgeschickt am letzten Tag vor den Ferien.«
Ihr rechter Arm begann zu zittern, sie musste sich setzen und legte das Handy auf den Tisch.
Alex fragte: »Darf ich das auch mal lesen? Immerhin geht es ja um mich.«
»Hier«, sagte Sabine und reichte ihm das Fax. »Tut mir leid.« Sie atmete tief durch.
Alex las: » … bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen … aufgrund von neu vorliegenden Informationen … insbesondere der aktenkundig gewordene Handel mit verschiedenen Drogen … «
Isa rückte dicht an ihn heran, beugte sich vor und las mit. Sabine drückte mit der linken Hand ein paar Tasten auf dem Handy, das vor ihr auf dem Tisch lag. Damit alle mithören konnten, hatte sie den Lautsprecher eingeschaltet. Das Freizeichen ertönte, dann die Ansage: »Vielen Dank für Ihren Anruf! In den ersten beiden Wochen der Berliner Sommerferien sind auch wir im Urlaub. Danach erreichen Sie uns zu unseren üblichen Geschäftszeiten … « Alex erkannte die Stimme der Frau vom Schulsekretariat wieder.
Sabine hinterließ keine Nachricht.
»Ich habe nie … «, begann Alex.
Seine Mutter legte ihre Hand auf seine: »Ich weiß. Ich glaube dir. Aber trotzdem müssen wir die Sache so schnell wie möglich klären, sonst vergeben sie den Platz noch an jemand anderen.« Ihre Stimme klang gepresst. Alex hatte bislang gar nicht bedacht, wie sehr es seine Eltern stresste, dass er mit siebzehn nun schon zum zweiten Mal auf eine neue Schule musste, weil seine Noten so abgesackt waren. Sie wünschten sich ja auch nur das Beste für ihn.
Conny setzte ein betont zuversichtliches Lächeln auf und sagte: »Es wird schon gutgehen. Das lässt sich bestimmt alles wieder geradebiegen.« Ihr Blick wanderte zu ihrer Schwester. »Und vielleicht kann Peter uns auch helfen, er kennt schließlich eine Menge einflussreicher Leute in Berlin. ‒ Also«, sie stemmte die Hände in die Hüften und tat, als könnte selbst diese Katastrophe ihr die gute Laune nicht nehmen, »wer will einen Ausflug machen?!«
»Ich!«, kreischte Leonie und reckte den Finger in die Luft. »Ich!«
Die anderen mussten lachen, was nach dem Schreck richtig gut tat.
Aber auf der Fahrt zum Cabo da Roca herrschte dennoch eine gedrückte Stimmung im Wagen. Alex hing düsteren Gedanken nach, er fürchtete sich insgeheim vor der Reaktion seines Vaters. Der würde sicher nicht wütend werden, sondern nur unendlich enttäuscht sein, aber das war im Grunde genommen viel schlimmer zu ertragen. Leonie schaute zum Fenster hinaus, obwohl ihr davon meistens schlecht wurde, und Conny und Sabine unterhielten sich vorne über Belangloses, machten aber immer wieder lange Pausen. Isa spielte, doch zwischendurch fluchte sie leise, weil ihr Manöver misslangen, die sonst ein Kinderspiel für sie waren.
Am Cabo da Roca fiel der abrupte Wetterumschwung noch stärker auf: Hatte Alex vor nicht einmal 24 Stunden noch allein im kalten Wind gestanden, so war es jetzt fast unangenehm warm, und jede Menge Touristen und Einheimische nutzten das schöne Wetter für einen Strandspaziergang. Der Parkplatz war bereits halb voll.
Leonie freute sich schon auf ein Wiedersehen mit dem Leuchtturmwärter. »Meinst du, er erinnert sich noch an mich?«, fragte sie aufgeregt.
Alex lächelte. »Ganz bestimmt! Wer könnte dich denn schon vergessen?«
Leonie sprang aus dem Wagen und lief voraus, die anderen schlenderten langsam hinterher. Plötzlich blieb Alex stehen und packte Isa am Arm. Er deutete die Klippen hinunter. »Siehst du das?«, fragte er aufgeregt. »Sind das etwa …?«
Isa nickte. »Ich glaube schon«, sagte sie verblüfft.
Dort unten lagen drei Orcas, so genannte Killerwale, mit ihrem unverkennbaren schwarz-weißen Muster. Zwei dicht nebeneinander, ein weiterer, etwas kleinerer Wal lag etwa zwanzig Meter entfernt. Zahlreiche Schaulustige drängten sich um die verendeten Tiere und machten Fotos ‒ Alex und Isa konnten erkennen, wie ein Pärchen jemandem eine Kamera in die Hand drückte und sich dann vor den beiden toten Walen in Position stellte.
Alex schüttelte den Kopf.
Isa sagte leise: »Schon wieder Wale … «
»Ja, aber der gestern war mehr als doppelt so groß.«
»Trotzdem.«
Alex nickte. Sie sahen schweigend hinunter zum Strand. Inzwischen brannte die Sonne so sehr, dass Alex Schweißperlen auf die Stirn traten. Nach einer Weile fragte Isa: »Meinst du, das war eine Walfamilie?« Sie deutete nacheinander auf die drei Tiere: »Papa, Mama und Baby?«
Alex zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung.«
»Vielleicht haben sie sich einfach nur verschwommen«, sagte Isa.
»Und sind versehentlich am Strand gelandet?« Alex lachte auf. »Glaub ich nicht.«
»Wollen wir sie uns mal ansehen?«
»Unbedingt. Aber ich möchte nicht, dass Leonie etwas von der ganzen Sache mitbekommt. Warte, ich sag Mama Bescheid.« Alex zog sein Handy aus der Hosentasche und wählte die Nummer seiner Mutter, die mit Conny und Leonie schon weitergegangen war. Besetzt. Merkwürdig, mit wem telefonierte sie wohl gerade? Aber vielleicht war auch nur das Netz überlastet ‒ sie standen am Ende der Welt, hier gab es bestimmt nicht viele Sendemasten, und die Leute riefen wahrscheinlich gerade alle ihre Oma an, um ihr von den toten Walen zu erzählen. Er schüttelte das Handy und versuchte es erneut, diesmal kam er durch.
»Hi! Unten am Strand liegen ein paar tote Wale, die wollen wir uns gern mal anschauen, aber ich möchte lieber nicht, dass Leonie das sieht. Kannst du mit ihr schon mal zum Leuchtturm gehen, und wir kommen in … « Er schaute zu den Walen hinunter und überlegte, wie lange es dauern würde, zum Strand runter und wieder rauf zu steigen. » … einer halben Stunde nach?«
Sie stiegen den schmalen Weg hinunter, der sich im Zickzack über die Meerseite der Klippen schlängelte. Kaum waren Isa und er bei den Walen angelangt, zog Alex sein Handy wieder hervor und schoss einige Fotos. Wenn diese drei Tiere jetzt auch verschwanden, hatte er zumindest einen Beweis. Sie umrundeten die beiden größeren Tiere, dann sahen sie sich den kleineren Wal an. Vermutlich handelte es sich tatsächlich um ein Jungtier, aber selbst das war schon über fünf Meter lang, und Alex konnte kaum über seinen Rücken hinwegschauen.
»Merkwürdig, oder?«, meinte er und rieb sich unwillkürlich eine Stelle an der linken Seite seines Unterkiefers.
Isa nickte. »Allerdings. Also hast du gestern doch einen Wal gesehen … «
»Hast du mir etwa nicht geglaubt?« Alex war beleidigt.
»Na ja, ich weiß nicht. Wo hätte er denn hin sein sollen, dein Wal? Wegschwimmen konnte er ja schlecht, wo er doch tot war.«
»Hm«, brummte Alex und vergrub die Hände in den Hosentaschen. Dann warf er einen Blick auf seine Uhr. »Wir müssen.« Stumm marschierten sie den steilen Weg vom Strand wieder hoch zur Promenade. Als sie oben ankamen, war Alex’ Hemd durchgeschwitzt.
Plötzlich hörten sie ein Dröhnen. Isa und Alex schauten hinunter in die kleine Bucht. Drei Motorboote mit flachem Rumpf kamen herangeschossen, sie brausten auf den Strand zu. Im seichten Wasser bremsten sie ab, und sechs Männer in schwarzen Neoprenanzügen sprangen heraus. Je einer pro Boot zog ein Seil hinter sich her. Sie brüllten den Menschen am Strand barsche Befehle zu, ihre aggressiven Stimmen hallten die Klippen hoch, aber Alex konnte nicht verstehen, was sie riefen. Ein Junge hob seine Kamera und schoss ein Foto, aber einer der Männer trat auf ihn zu, riss ihm die Kamera aus der Hand und warf sie gegen die Felsklippen. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab. Alex nahm sein Handy in die Hand und aktivierte die Videofunktion. Leider waren die schwarz gekleideten Männer aus dieser Entfernung nicht viel mehr als kleine Pünktchen. Sie schlangen den Walen die Seile um die Schwanzflossen und verknoteten sie, dann stiegen sie zurück in die Boote. Sie ließen die Motoren an und zogen die Wale langsam ins Wasser zurück. Hätte Alex nicht mit eigenen Augen gesehen, dass die Tiere tot waren, hätte man glauben können, einer Rettungsaktion beizuwohnen. Als sie im tieferen Wasser waren, gaben die Männer Vollgas und steuerten gen Norden, und obwohl sie eine ganze Walfamilie im Schlepptau hatten, waren sie schnell hinter den Klippen verschwunden.
*
Milford starrte auf den Live-Satellitenfeed. Seine Männer hatten die Wale vertäut und vom Strand evakuiert. Weil es sich um Orcas handelte, eine recht kleine Walart, die nur etwa acht Meter lang wurde, waren sie zu spät gekommen. Die schwarzweiße Färbung erschwerte es zusätzlich, sie auf den Feeds zu entdecken. Der zuständige Offizier hatte die Flecken für Felsbrocken gehalten ‒ Milford selbst hatte die Wale nur zufällig entdeckt, als er den Männern in der Überwachungszentrale einen Besuch abgestattet hatte.
Die Anzeige auf den Monitoren versorgte sie mit Bildern der weit über 1000 Küstenkilometer, für die er zuständig war. Aus dem Augenwinkel hatte er etwas bemerkt, das ihm eigenartig vorgekommen war, und das Bild vergrößern lassen.
Wenn man nicht alles selber machte.
Er ließ die Aufzeichnungen zurückspulen. Auch beim letzten Kontrollbild vor dreißig Minuten waren die gestrandeten Wale schon zu sehen gewesen.
Wenigstens hatte er richtig gelegen mit seiner Einschätzung der Strömungsverhältnisse. Der Einsatzbefehl sah vor, dass sie ständig vor der Küste Portugals auf und ab fuhren, von der Grenze zu Spanien ganz im Norden bis fast nach Marokko. Er aber war die letzten Tage vor Lissabon gekreuzt, weil die Atlantikströmung seiner Meinung nach hier die stärksten Auswirkungen hatte. Und er hatte recht behalten.
In diesem Fall war es jedoch schlecht, recht gehabt zu haben, denn es bedeutete, dass weitere Wale gestrandet waren und im Rahmen der Operation Polsprung vernichtet werden mussten.
»Drei Schlauchboote, Typ eins«, befahl er. »Handlungsfreigabe Kategorie A.«
Das war die höchste Freigabe ‒ die Männer durften alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um ihre Aufgabe zu Ende zu führen, außer zu töten.