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Grigori Perelman ist gelandet. Von seinem ehemaligen Professor und freundschaftlichen Förderer Sergej mit dem Fallschirm über dem Stadttheater abgesetzt, hat der berühmteste Mathematiker der Welt das Schauspiel gewaltsam unter seine Kontrolle gebracht und hält die Zuschauer als Geiseln gefangen. Niemand soll entkommen, wenn die Dynamitladungen den Kulturbunker in ein Massengrab verwandeln. Weltekel bestimmt das Handeln des spleenigen Rechengenies bei der Suche nach der Weltformel, die Regie führt in diesem Endzeittheater aber längst der Tod. Thomas Herget hat mit "Revolverfressen" ein Monster geschaffen, einen Monolog, der als vielstimmig-fröstelndes Kammerspiel die mannigfach-düsteren Zeitebenen durchschreitet, auf denen die irregeleitete Hauptfigur in selbstsezierender Weise die Dekadenz des Kulturbetriebs und der in ihm Handelnden ad absurdum führt. Perelman geriert sich in diesem Theater im Theater nur vordergründig als ein von Katharsis durchdrungener Weltenretter, nachdrücklicher wütet er als inkarnierter Schlächter seiner selbst. Bevor in diesem Traumspiel der letzte Vorhang gefallen ist, schält sich hinter der Maske des genialen Berserkers langsam die kranke Seele eines gebrochenen Schauspielers heraus, der den letzten Akt als Rachefeldzug für eine apodiktische Privatvorstellung nutzt.
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Seitenzahl: 93
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Revolverfressen. Der weltberühmte Mathematiker Grigori Perelman und sein geistiger Förderer Sergej haben das Stadttheater unter ihre Kontrolle gebracht. Während Sergej die Zuschauer in der Oper mit sadistischen Folterspielen verhöhnt, setzt Perelman im Schauspiel auf einen bombensicheren und zynischen Schlussakt: Im Zuge der Selbstauslöschung soll am Ende der ganze Kulturtempel mitsamt dem Publikum in Schutt und Asche versinken. In der absurd wirkenden Kulisse von Zweigs „Schachnovelle“ bricht sich der antisemitische und rassistische Furor Bahn. Perelmans Schweigen entlädt sich nach Jahren der Demütigungen in einer rastlosen Beichte, die sich dem Zuschauer wie eine Schlinge um den Hals legt. Bobby Fisher, Bob Dylan, Margot Honecker, ein Mann ohne Gesicht, eine aufblasbare Erotikpuppe und letztlich Gott selbst sind nur einige der Figuren, die jetzt aus und mit diesem geschundenen Erzählkörper korrespondieren und Perelman an der Rampe wüten lassen.
Thomas Hergets packendes Beinahe-Monodrama kennt kein gutes Ende. Perelmans Sehnsucht nach Anschluss in einer von allen guten Geistern verlassenen Welt lässt zwischenzeitlich sogar den aberwitzigen Akt eines Terroranschlags als humanen und inkarnierten Teil einer Selbstreinigung erscheinen, in deren Verlauf sich der gebrochene Protagonist zu einem Erlöser aufschwingt. Aber ist dieser Kenner der Weltformel tatsächlich jenes Rechengenie, für das er sich ausgibt? Oder spricht aus all den aufgesetzten Posen nur ein desillusionierter Staatsschauspieler, der den letzten Vorhang zu einer blutigen Privatvorstellung nutzt, um es noch einmal richtig krachen zu lassen?
„Revolverfressen“ ist ein Monster aus schrillen Kopfstimmen, deutschen Schlagern und übersinnlichen Begegnungen. Aber auch das zarte Porträt eines Mannes, der sich von einem zunehmend seichter werdenden Kulturbetrieb missbraucht und ausgekotzt fühlt und nun als beschädigter Racheengel im Rampenlicht berserkert. Unverdaulich und doppelbödig bleibt dieses Theater im Theater nach allen Richtungen, eindeutig ist es nur in seiner Wirkkraft. Denn keiner, der das Stück gelesen oder gesehen hat, wird je wieder verächtlich über die Wissenschaft reden oder achtlos auf Schauspieler blicken.
Thomas Herget wurde 1964 in Frankfurt am Main geboren. Neben seinem Studium in Darmstadt schrieb er bereits als Autor für Zeitungen und Zeitschriften im deutschsprachigen Raum. Es folgten literarische Förderpreise und Stipendien in den Achtziger- und Neunzigerjahren. Danach war er vorwiegend journalistisch tätig, publizierte in den Bereichen Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft unter anderem für taz, Frankfurter Rundschau und diverse Magazine. Außerdem veröffentlichte er Film- und Theaterrezensionen, etwa für die Passauer Neue Presse und Junge Welt.
„Wahrlich, keiner ist weise, der nicht das Dunkel kennt“Hermann Hesse
Revolverfressen
Synopsis
Nachwort des Autors
Personen
GRIGORI PERELMAN
MANN OHNE GESICHT(stumm, eine Vision)
Diverse Stimmen, Geräusche und Musik. Das Stück
spielt in einem Theater. Bis auf eine Ansage aus dem Off, ist es nur Perelman, der spricht.
Um Details besser abzubilden, zu akzentuieren oder zu verfremden, sollten Teile der Inszenierung als Live-Projektion auf Monitoren oder Leinwänden gezeigt werden. Stationäre Kameras. Alternativ oder ergänzend
dazu verwackelte Handkamerabilder, im Stil einer sehr freien Dokumentation.
Werkstattbühne in einem Theater. Zu hören ist das musikalische Fragment „Ferdinand VIII“ aus Alfred Schnittkes Ballettzyklus „Sketches“. In der Kulisse von Stefan Zweigs „Schachnovelle“ zeichnet sich das Oberdeck eines Passagierdampfers ab, maritime Dekoration mit Rettungsringen, Tauen und allerlei Kreuzfahrtfolklore. Ein Schachspiel mit Riesenfiguren, wie es gerne von Rentnern in Parkanlagen bespielt wird. Eine Kinderschaukel. Ringsum sind Kameras auf Stativen auf die Szenerie ausgerichtet. Mit den letzten Textfetzen der Musik, die Gogols Geschichte „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“ in Ausschnitten wiedergibt, schält sich ganz bedächtig Grigori Perelman unter der eingefallenen Ballonseide eines Fallschirms heraus, ein abgerissener Typ von fünfzig in einem öligen Fliegeroverall. In der einen Hand hält er einen Apfel, in den er beißt, in der anderen einen Schundroman, in dem er liest.
… Sie geben ihren Kindern jetzt jüdische Namen, sagt Sergej. Er blickt auf. Nicht Hans oder Ingrid, nein Grigori, Elias, Hortensia und Joshua nennen sie die Brut. Die siegfriedblonde. Auf den Straßen wimmelt es nur von sabbernd-plärrenden Wiedergutmachungsversuchen. Ein Opa bei der SS, an dem man sich moralisch abarbeiten kann, gehört bereits zum Identitätsgerüst aller Bußfertigen. Was ist mit dir, Grigori, fragt mich Sergej, gibt dein Stammbaum nichts her? Ariernachweise? Ein deutscher Schäferhund? Opa fiel bei Brjansk, sag ich in fliegender Hast. Herbst Einundvierzig. Ganz schlecht, sagt Sergej. Ein jüdischer Großvater, und dann hat der es noch nicht mal bis Stalingrad geschafft, sondern nur bis in dieses Schlammloch vor Moskau. Er ist gefallen, sag ich, er ist gestorben für das russische Volk, für dich und für mich. Einer von Dreißigmillionen. Aber erfroren ist er beileibe nicht, wirft Sergej ein, erfroren im vaterländischen Krieg, im ruhmreichen Bewusstsein, die sechste Armee in die Kanalisation von Stalingrad gescheucht zu haben. Ich will dich nicht diskreditieren, Grigori, noch zweifle ich an deinem guten Willen. Aber mir scheint, dir fehlt es an Überzeugung, was wohl in der Familie liegt, sonst wäre der Opa vermutlich kaum mit seinem besoffenen Kopf in diese Pfütze gefallen. Die falschen Gene können einen richtig übel mitspielen, mein Freund, vielleicht hast du davon gehört, Grigori? Wenigstens sind dem alten Judd Stalins Häscher erspart geblieben, die dunklen Folterkeller, so durch den Wind, wie der war, hätte der doch bei der erstbesten Gelegenheit gesungen wie ein Vögelchen …
Er legt den Groschenroman zur Seite, robbt nach vorne.
... Die Physik begann mich zu faszinieren. Weniger die Mathematik, die wurde Brotberuf, na schön. Zum ersten Mal aber setzte die Physik meinem nebulösen Denken konkrete Grenzen. Zum ersten Mal ahnte ich, was exakte Begriffe bedeuten, nicht eine Wahrheit, die es nur dank der Vernunft gibt, von ihr kunstvoll und listenreich erstellt, eine menschliche Wahrheit, als solche gewiss unendlich anspruchsloser als die göttliche Wahrheit, aber dafür unendlich gewisser, weil sie nachprüfbar und widerlegbar ist und keinen Glauben verlangt. Steht auf. Beißt in den Apfel, kaut herausfordernd. Der Künstler hingegen ist frei. Er weiß nichts, deshalb ist er ebenso frei von Skrupeln. Jetzt wird der Einwand aufgeworfen, es sei unerlaubt, das zu schildern, was man nicht selber erlebt hat, als ob Leiden etwa eine Art Monopol zum Dichten schüfe, aber war Dante in der Hölle? Ich verzweifle nicht, aber ich stelle die Verzweiflung dar. Ich bin verschont geblieben, aber ich beschreibe den Untergang. Es ist mir plötzlich klargeworden, dass etwas an mich herangetreten ist, dass ich Glauben nennen möchte. Ich glaube daran, dass ich ohne Rücksicht und ohne Angst den Weg gehen muss, den ich sehe. Ich weiß nur, dass etwas Elementares in mir geschah, das mir nun unfassbar geworden ist, dass mich aber verändert hat, so dass es keinen Weg zurück mehr geben darf. Seelenfrieden kann einer wie ich nicht finden. So haben es mir die Erdgeister und der Mann ohne Gesicht eingeflüstert. Geht ehrfürchtig auf die Knie, legt ein Ohr auf den Boden. Hört. Spricht ergriffen weiter. Sergejs Zweifel beschämen mich. Er stellt meine Glaubensstärke offen infrage, was in Anbetracht meiner Herkunft einleuchtet. Ich werde töten, gütiger Gönner, möchte ich ihm nachrufen … ach was, wüten werde ich! Wie ein Teufel in Menschengestalt pochende Organe aus warmen Körpern herausreißen. Heute … nein, nicht heute … morgen vielleicht … sicher aber zu gegebener Zeit. Gott ist mein Zeuge und Henker, nur die Reue fehlt im Marschgepäck. Sergej, du kannst dich auf mich verlassen, das Leben ist geborgen unter treuen Freunden …
Steht auf. Kommt weiter nach vorne. Wirkt ernüchtert auf den Boden der Tatsachen zurückgekehrt.
… Verzeihung, das ist alles eine riesengroße Scheiße. Er kaut noch auf einem Stück Apfel herum, schluckt den Rest herunter. Noch zwei Minuten bis zum Absprung, ruft Sergej, aber ich sehe nur Lichter dort unten. Rote. Weiße. Blinkende. Das ganze Elend. Du bist nicht bei Verstand, brülle ich hinauf ins Cockpit, da haben wir diesen fliegenden Seelenverkäufer durch feindliche Funkfeuer und undurchdringliche Nebelbänke geprügelt und … und jetzt willst du mich mit dem Fallschirm über einer Müllverbrennungsanlage absetzen? Das dort unten ist doch hoffentlich kein Atomkraftwerk, auf dem es so scheußlich flackert? Es sind die Positionsleuchten des Stadttheaters, plärrt Sergej zurück, das Ziel unserer Mission. Wir sind keine Minute zu früh, die Funzeln sehen sich zum Verwechseln ähnlich. Verzeihung, sag ich, aber das ist alles eine riesengroße Scheiße …
Er legt das Kerngehäuse des Apfels und den Schundroman beiseite. Vor der Türe, über der das grüne Notausgang-Schild glimmt, platziert er einen Standventilator, der ein laues Lüftchen verströmt. Er stülpt sich die Fliegerbrille über und hängt sich mit beiden Armen draufgängerisch in den Türrahmen ein. Alles soll authentisch wirken, als probe er todesmutig in voller Fallschirm-Montur einen Flugzeugabsprung aus großer Höhe. Die ventilierte Luft zerrt zwar nur schwach an Haaren und Kleidung, aber er muss lauter sprechen, damit man ihn versteht.
… Ich mach das nicht für mich, sag ich, ich mach das auch nicht für irgendjemand. Nur der Sache wegen, hörst du? Der großen Aufgabe wegen. Durchdrungen von dem Ideal, in keinem Auftrag unterwegs zu sein, hast du das verstanden? Frei wie Kinder, das muss die Botschaft sein. Und unschuldig! Unschuld geht immer. Es muss … es muss jedenfalls der Eindruck vermieden werden, wir agierten aus niederen Beweggründen. Alles, nur das nicht! Was wird heute Abend denn gegeben? „La Traviata“ in der Oper, sagt Sergej, die „Schachnovelle“ in der Werkstatt, und im Schauspiel bringen sie was mit Nazis und einem geläuterten Piloten. Vergangenheitsbewältigung als Dauerbuße, sag ich, kein übles Rahmenprogramm zum Sterben, sind die Nazis wenigstens echt? Das … das wird man von diesen Kulturmenschen hoffentlich noch erwarten dürfen, dass sie den Aufrechten im Lande halbwegs authentische Feindbilder an die Rampe stellen. Schwer zu beschaffen, sagt Sergej, die Zeiten, in denen gestandene Burschenschaftler beherzt vom Leder ziehen durften, sind längst vorüber. Nach dem Niedergang des Konservatismus müssen sich die Schauspieler ihre Gesinnung wieder hart antrainieren. Wie Türsteher ihre Muckis. Unter den Theaterpädagogen kurieren bereits Statistiken über die Eignung zum Nazi. Wer braun sein darf, das entscheidet nicht mehr das Los. Seitdem der Zentralrat der Juden eine Quotenregelung eingeführt hat und jede Aufführung filmt, haben die nichts mehr zu lachen, die Pädagogen. Deshalb spielen sie an Weihnachten normalerweise amerikanische Kindermärchen mit Untertitelung. Das Publikum schätzt es kaum noch, angespuckt zu werden. Und beleidigt schon gar nicht. Die haben den Aufführungen die Provokationen und der Literatur die Sprache ausgetrieben, sag ich, kein Handke, kein Bernhard, der spielende Mensch, wo ist er geblieben? Heute tragen Schauspieler Mikrofone, sagt Sergej, die können nicht mehr sprechen, sie werden über Monitore gezeigt. Den Hamlet räumen sie in sechzig Minuten ab, und den Heinrich Faust spielt eine Mulattin mit Hitlerbärtchen und rollendem R. Peymann, sag ich, früher gab es diesen Peymann, der war zwar links, aber das kehren wir jetzt mal unter den Teppich, der hat für die Ensslin gesammelt. Für neue Zähne. Und der Christian Klar durfte als Bühnentechniker bei dem arbeiten, der hatte noch ein Herz für Bombenbastler, der Peymann. Lange tot, sagt Sergej, heute ist nichts mehr politisch, die jungen Wilden haben alles ironisiert, was es nur schlimmer macht, weil keine Sau mehr diese verdammte Ironie versteht. Die stellen den König Lear als Schwuchtel mit Migrationshintergrund an die Rampe, Cordelia und Goneril sind Taubstumme mit Down-Syndrom. Geisterwesen von jenseits der Milchstraße. Claudia Roth hat bei der Premiere applaudiert wie eine Bekloppte. Das ist doch verdächtig, wenn eine wie die Roth da klatscht wie bescheuert? …
Tritt vor den Ventilator, macht ihn aus. Lehnt sich entspannt zurück in den Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt. Nachdenklich.